heimweg - Heimatmagazin

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Ausgabe #01/2014

Menschen. Geschichten. Kultur.

«Hie kritt mich kinner dännen.» Heimat Dhünn.

Kulturschock Neue Heimat Villeurbanne

Lebensläufer Eine Fotostrecke





Heimat heiĂ&#x;t fĂźr mich Geborgenheit. Andrea (45)


Vorwort Wo die Wälder noch rauschen. Wo es regnet. Wo ich mich wohlfühle. Wo ich herausgefordert werde. Wo ich zu Boden gehe. Wo ich wieder aufstehe. Da ist Heimat.

Text: Miriam Roth Foto: Walter Roth

Heimat. Wer sich da nicht schon alles den Kopf drüber zerbrochen hat. Wo, wer, wie, was ist Heimat? Zuerst dachte ich, ist ja ganz einfach zu sagen, wo Heimat ist. Der Ort der Kindheit, dort wo die Familie lebt, wo man gerne hin zurück kommt. Doch spätestens als ich für vier Monate für ein Auslandssemester nach Aberdeen in Schottland zog, lernte ich viele Menschen kennen, die schon ihr Leben lang nur unterwegs sind. Geboren in Finnland, aber aufgewachsen außerdem in Italien und Holland, nun zum Studium nach Schottland und Ziele wie Thailand im Blick. Auf die Frage, was er denn sei, antwortete er „European“. Immerhin, könnte man sagen. Wenn er einige Zeit in Thailand verbracht hat ändert sich das wohl zur ganzen Welt. Geht denn das?

Dieser und andere Menschen haben mich zum Nachdenken gebracht und so entschloss ich mich dazu, meine Bachelor Arbeit diesem Thema zu widmen. Menschen, die mich kennen, wundern sich vielleicht über die Themenwahl. Bin ich doch immer unterwegs, will am liebsten wieder weg, wenn ich angekommen bin und kann nicht genug von der Welt sehen. Kenne Menschen in vielen Teilen der Welt und wäre das liebe Geld nicht, so würde ich sie, so oft es geht besuchen. Andere wiederum wissen, dass mich sehr viel mit dem Ort, an dem ich aufgewachsen bin, verbindet. Und ihn ganz eindeutig als meine Heimat bezeichnen kann. Die Tatsache, dass andere sich nicht unbedingt festlegen können, hat mich neugierig gemacht.


Am Ende meines Studium möchte ich das wertschätzen, was mir in dem 1/4 Jahrhundert, in dem ich mich auf dieser Erde bewege, wichtig war, ist und bleibt. Geborgenheit in der Familie und bei Freunden, die in ganz Deutschland oder sogar auf der ganzen Welt verteilt wohnen, und auf der anderen Seite auch eine geistliche Heimat, mein christlicher Glaube, der mir eine Heimat schenkt für die Ewigkeit, aber auch jetzt schon auf Erden. Eine Heimat, die stärker ist als nur irgendwelche Koordinaten auf einer Landkarte. Trotzdem konzentriere ich mich in meiner Abschlussarbeit auf den Ort, mit dem ich viel verbinde und in dem ich aufgewachsen bin und geprägt wurde: Dhünn, im Bergischen Land. Ich mache mich auf meinen Heimweg. Dabei treffe ich auf Menschen, die auch unterwegs sind. Manche haben ihre Heimat verlassen müssen, manche wollten sich eine neue Heimat aufbauen. Andere kenne ich nur flüchtig. Auf meinem Heimweg laufe ich an Häusern vorbei. Sie wecken Erinnerungen, ich frage mich, was hinter den Fenstern vorgeht. Früher konnte ich nicht verstehen, was meine Mama roch, wenn sie sagte, es riecht nach Frühling. Heute rieche ich es, ein Duft der Heimat. Regentropfen auf Asphalt, Treckerabgase, den Wald um uns herum. Angekommen in meinem Elternhaus duftet es nach frisch gebackenen Waffeln und altem Fett in der Pfanne vom Mittagessen. Man freut sich, mich zu sehen. Es werden Späße gemacht, über die nur wir lachen.

Vorwort

Heimat ist so viel mehr als nur ein Ort. Was ist deine Heimat? Wo führt dich dein Heimweg entlang?

Editorial

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Eine Heimat, die stärker ist, als nur irgendwelche Koordinaten auf einer Landkarte.


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Inhalt

Gesichter meiner Heimat Heimat heißt Alltag. Heimat sind Menschen. Wen du kennst, wer dich kennt. Wer dir über den Weg läuft und wer an dich denkt.

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Die Ausreißer Wenn die Heimat nicht mehr heimisch ist und die Sehnsucht und das Fernweh größer werden. Heiko Scholz und Margit Tief wollen aus der DDR raus und fliehen in den goldenen Westen.

Foto: Privat Scholz/Tief

Foto: Privat Meinhild Selbach

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Kulturschock Kultur ist Heimat. Meinhild Selbach wurde in Dhünn geboren, lebt heute als Missionarin in Frankreich. Sie erzählt, was ihr Heimat bedeutet.


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«Hie kritt mich kinner dännen.» Heimat als Raum. Helmut Thomas hat fast sein ganzes Leben auf seinem Hof verbracht und miterlebt, wie andere ihre Heimat verlassen mussten. Das Leben im Dhünntal als Erinnerung. Foto: limpio/photocase.com

Editorial Inhalt

Erinnerung. Was Heimat sein kann Kakao und Kandiszucker «Wolln werr enz saaren, ett hätt jot jeschmaat»

Mensch. «Heimwert/s» von Albrecht Keller

Gesichter meiner Heimat Lebensläufer von Martin Buchholz

Raum. Mikrokosmos vs. Großstadtflair von Franziska Rüsing

«Hie kritt mich kinner dännen.» – Helmut Thomas Unser Dhünntal von Christel Schulze

Kultur. Die Ausreißer Flucht aus der Heimat Heimat: Welt – Heiko Scholz & Margit Tief

Kulturschock – Meinhild Selbach L‘anima della casa – Benito Romeo Impressum

74 77 80 86 92

103

06 08 15 18

24 26 28 44

58 60 67 72

02 04

Inhalt

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Erinnerung

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Erinnerung.


Reibekuchen brutzeln im heißen Öl. Ein wohliger Geruch füllt die Luft. Am Esstisch werden hitzige Diskussionen über Gott und die Welt geführt, die Kinder laufen kreischend der Katze hinterher. Meine Oma in Schürze und Kopftuch flitzt durch die Küche, mein Onkel spielt am verstimmten Klavier.

Erinnerung

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Foto: Miriam Roth, don limpio/photocase.com

Heimat.


Was Heimat sein kann Warum fühlt man sich nicht überall heimisch? Was macht eine Heimat so besonders? Was prägt einen, was hält einen an dem selben Ort? Ist Heimat überhaupt an einen Ort gebunden? Fragen über Fragen.

Was Heimat sein kann

Text: Miriam Roth Fotos: Marga Hinterholzer; Walter Roth (S. 11)

Erinnerung

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Heimweh vs. Fernweh Nicht selten hört man Menschen sagen, „nur wenn man einmal fort gewesen ist, weiß man die Heimat wieder zu schätzen“, und so habe ich es auch selbst erfahren als ich nach dem Abitur für ein Jahr nach Amerika ging, oder auch während meines Auslandssemesters in Schottland. Heimat „verweist auf einen jeweils unterschiedlichen Erfahrungsraum und individuell ausgeprägte Raumvorstellungen“ und ist zuallererst „nicht überzeitlich“ festgelegt, betont Eric Piltz in seinem Buch „Heimat“. Die Raumerfahrungen haben sich mit der Zeit verändert. Die Welteroberer zeigen uns, was es noch zu sehen gibt und die Vermarktung von Reiseführern, Reiseangebote und Berichte aus aller Welt nehmen zu. Das Raumempfinden der Menschen verändert sich. Nicht zuletzt ist die Globalisierung ein großer Faktor, der unser Heimatdenken verändert und entwickelt.

Bernd Hüppauf

Was Heimat sein kann

Im Lexikon findet man unter Heimat Wörter wie Vaterland, Geburtsort und wo jemand daheim ist. Heimat, da bin ich daheim. Recht einfallslos. Hier sieht man schon, wie schwierig es anscheinend ist, Heimat ohne den Begriff selbst oder davon abgeleitete Wörter zu definieren. Möglicherweise ist das so, weil sich das deutsche „Heimat“ nur schwer in andere Sprachen übersetzen lässt. Übersetzungen ins englische wie „home“, homeland“ oder „home country“ meinen jedoch nicht das, was wir mit „Heimat“ meinen und beschreiben wollen. Ähnlich intim wie das deutsche Wort Heimat scheint die tschechische Vokabel „domov“, sie enthält denselben Wortstamm wie dum „Haus“ und domek „Häuschen“. Auf Ungarisch heißt „Heimat“ „szül föld“, was soviel wie „Elternerde“ bedeute. Immer wieder stößt man auf Wörter, die in anderen Sprachen nicht so einfach zu übersetzen sind. Bedeutet das im Fall „Heimat“, dass andere Kulturen alles, was wir mit dem Begriff „Heimat“ verbinden, nicht kennen oder es dort erst gar nicht existiert?

«Es gibt Fragen, die, wenn man nur lange und intensiv genug nachdenkt und forscht, eine klare Antwort zulassen. Die Frage nach Heimat gehört nicht in diese Gruppe.»

13 Erinnerung

Schon viele Ethnologen, Autoren, Psychologen und andere schlaue Menschen haben sich diesem Thema gewidmet. Der Begriff „Heimat“ scheint zunächst etwas, was aus verschiedenen Blickwinkeln ganz unterschiedlich erklärbar ist. Er ist gleichzeitig diffus und doch eindeutig, und schwer von der emotionalen, persönlichen Ebene zu lösen. Wenn wir an Heimat denken, denken wir auch immer an erlebte Geschichten, Gefühle und Erinnerungen.


Was Heimat sein kann

Woran wir uns erinnern, fand in einem Raum statt. Der selbe Raum kann somit in Augen eines anderen Betrachters völlig unterschiedlich geschildert und gefüllt werden. Bernd Hüppauf behauptet in seinem Artikel „Heimat – Die Wiederkehr eines verpönten Wortes“, um von einer Heimat zu sprechen und Heimatgefühle aufzubauen, sei es nötig zuerst einen Raum zu bestimmen. Der Geburtsort oder allein die Stadt in der man aufgewachsen sei macht aber noch keine Heimat. Hierzu, sagt Hüppauf, braucht es Bilder, Erinnerungen, wie „eine regionale Sprache, Geräusche, Gerüche, Farben, Gesten, Stimmungen und entsprechende Dinge“, die „tief im Gedächtnis verankert“ (Hüppauf, S. 112) sind. Diese Bilder entstehen normalerweise schon in der Kindheit und setzen sich dann fest. Was aber, wenn die Kindheit nicht durch Erlebnisse geprägt ist, an die man sich gern zurück erinnert, wenn diese Angst und Hass hervorrufen. Reden wir dann trotzdem noch von Heimat? Ist Heimat immer etwas positives? „In den frühen Verknüpfungen des entstehenden Ichs mit einer nahen Umwelt entsteht ein Raum, der sich nicht mehr vergisst.“ (Hüppauf, S. 112) Heißt also, auch wenn die Erfahrungen der Kindheit nicht nur positive sind, bleiben sie ein wichtiger Bestandteil der Entwicklung und darüber hinaus. Auch wenn diese bleibenden Erinnerungen und Situationen im Nachhinein betrachtet falsch und schlecht scheinen, waren sie in der Kindheit doch die einzigen, die es gab und wurden somit zu Idealen und etwas, was wir als Kind noch nicht bewerten konnten. Um sich von diesen Idealen zu lösen und zu normalisieren ist ein „willentlicher Akt des Verstandes“ (Hüppauf, S. 112) nötig, um sich von einem beispielsweise zu stark ausgeprägten Nationalbewusstsein zu distanzieren und Nationalismus nicht mit Heimat zu verwechseln. Scheinbar hat man somit keinen Einfluss darauf, was man als Heimat empfindet, und was nicht. Oder kann man sich seine Heimat selbst gestalten, zusammensetzen und entscheiden, wo ich mich heimisch fühle?

Erinnerung

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Das was wir erlebt haben und woran wir uns erinnern, prägt unser Raumdenken, sowie Raum Erinnerung prägt.


Erinnerung

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Was Heimat sein kann


Was Heimat sein kann

Fühlt sich wie Heimat an

Erinnerung

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Heimat ist dann ortsunabhängig, wenn das was einem Sicherheit und Geborgenheit gibt, nicht mehr auf den Raum bestimmt ist, sondern abhängig von dem sozialen Gefüge ist, das einen umgibt. Besonders in der Kindheit ist es notwendig, dass Kinder sich geborgen wissen. Diese Geborgenheit erfahren sie auch durch die Fokussierung auf einen bestimmten Raum, aber vielmehr noch auf die Beziehungen, die das Kind prägen. Verwandtschaft, Freunde und Bekannte sind in diesem Fall Heimat gebend. „Die Gefühle, die mit Heimat verbunden werden, sind scheinbar eindeutig positiv belegt: es geht um Sicherheit, Vertrautheit und Geborgenheit, die man in Bezug auf eine bestimmte Umgebung erlebt.“, schreibt Beate Mitzscherlich, eine moderne Vertreterin der Sozialpsychologie, in ihrem Buch „Heimat ist etwas, was ich mache“. Des weiteren ist sie der Ansicht, dass dieses Heimatgefühl auch – besonders im Jugendalter – einengende Auswirkungen haben kann und sich eine Sehnsucht nach Neuem entwickelt. Irgendwann will man erstmal einfach nur noch weg. Da sind die liebevoll gemeinten Ratschläge nur noch nervig und Papas Sprüche hängen einem zum Hals raus. Um aber überhaupt ein Urteil und Verständnis zu Heimat zu entwickeln, bedarf es der „Basis“, der individuellen Biographie. (Mitzscherlich, S. 226) Wie wir Heimat fühlen, erleben und beschreiben kann nur subjektiv bewertet werden. Für den einen ist es das Plätschern des Baches und die Erinnerung daran, wie sich die alte Tanne vor dem Haus im Wind biegt. Für den anderen sind es Lieder, Melodien oder Gerüche, die einem ein Gefühl von Geborgenheit geben. Etwas, das man kennt

und schätzt. Dort, wo ich sein kann wie ich bin und mich einsetzen kann, die Möglichkeit habe, mir meine kleine Welt zu schaffen. Es scheint für viele kein Problem, ein Leben lang an einem Ort zu verweilen, jedoch ändert sich dies schlagartig, wenn es zu einem Zwang wird, zu einem Gefängnis, das keine Fluchtmöglichkeit bietet. Menschen haben das grundlegende „Bedürfnis, irgendwo anzukommen, von wo man dann auch möglichst wieder weg kann.“ (Mitzscherlich, S. 24) Die Suche dorthin, gestaltet sich nicht immer einfach. Nicht jeder wird dort geboren, wo man diese Heimat für sich fest machen kann. Oder ist man dann einfach nicht in der Lage diesen Raum für sich zu gestalten? Was ist, wenn einem keinerlei Wärme und Halt gegeben wird? Geht man dann nicht auf die Suche nach einem neuen Ort, wo man diese Geborgenheit spürt?

«Ich mach mir die Welt, widdewidde wie sie mir gefällt» In Bezug auf die Verhaltenspsychologie ordnet Mitzscherlich Heimat in den Prozess des Lernens ein. Für eine bestimmte Umgebung, in der man aufgewachsen ist, eignet man sich demnach Verhaltensmuster an, welche über die Jahre immer wieder neu angewendet und erlernt werden und sich so positiv verstärken. (Mitzscherlich, S.106) Demzufolge entwickelt sich Heimat dort, wo jemand die größte „Verstärkung“ erlebt hat. Familienrituale, die alljährliche Radeltour oder der tägliche Weg zur Schule mit der besten Freundin. All das kann dazu beitragen, dass Heimat „erlernt“ wird. In diesem Zusammenhang kann man, laut Mitzscherlich, auch sagen, dass sich eine Heimat neu aufbauen kann


Immer noch schein Heimat schwierig zu definieren oder zu erklären. Wir sind alle anders und so auch unsere Heimaten. Jeder hat seine eigene Geschichte zu erzählen und eine eigene Heimat, die ihm teils in die Wiege gelegt wurde, aber auch selbst gestaltet und erweitert werden kann. Ob sich jemand anders in dieser Heimat zurecht finden oder wohl fühlen könnte ist fraglich. Aber gerade deshalb bleibt das Thema ja so interessant und unerschöpflich.

Was Heimat sein kann

und man lernen kann, sich woanders heimisch zu fühlen, auch wenn es sich dann nicht mehr um den Ort der Geburt handelt. Im Sinne von: „Der Mensch ist ein Gewohnheitstier“ behauptet Mitzscherlich, dass man sich überall heimisch fühlen kann, solange „irgendeine Art von Verstärkung erfahrbar ist“. (Mitzscherlich S. 107) Sie versucht den Heimatbegriff durch den Begriff der Beheimatung zu ersetzen, der ihrer Meinung nach bei der Behandlung des Themas von Vorteil zu sein scheint. Beheimatung beschreibt im Gegensatz zu Heimat, einen Prozess und Werdegang, etwas, das noch nicht vollständig abgeschlossen ist und auch nicht zu einem Ende kommen muss. Beheimatung ist eine individuelle Reise. Durch den Begriffswechsel wird Heimat nicht zu einem einzigen Ort, sondern zu einer „Vielfalt von lebensweltlichen Bezügen“, die sich ergänzen, aber auch Konflikte hervorrufen können. (Mitzscherlich, S. 138)

Erinnerung

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«Heimat bedeutet für verschiedene Leute Verschiedenes.» Alfred Schütz, Der Heimkehrer (1945)


Erinnerung

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Kakao und Kandiszucker Meine Heimat. Ein Haus. Ein Dorf, das mich gepr채gt hat. Von den meisten Bewohnern liebevoll als das Herz der Welt bezeichnet. Klingt subjektiv? Ist es auch.

Text: Miriam Roth Fotos: Walter Roth


Als ich sieben Jahre alt wurde, schmiedeten meine Eltern einen Plan. Sie wollten aus unserer Mietwohnung ausziehen und an das Haus meiner Großeltern anbauen. Das war eine aufregende Zeit. Ich war natürlich einverstanden – nicht dass ich irgendein Mitspracherecht gehabt hätte. Aber mein Schulweg hatte sich um einige Minuten verkürzt und im Wald waren wir auch sofort. Außerdem konnte ich so viel öfter bei Oma Kakao schlürfen und meine Geschwister immer Kandiszuckerstücke schnorren. Guter Plan also. Dieses Haus, das steht im Herzen der Welt. Hier bin ich groß geworden, habe gelacht, geweint und gelernt. Meine ersten Freundschaften geschlossen und Buden gebaut. Im Winter mit unseren Schlitten den Hügel im Garten unsicher gemacht. Basketball gespielt und Schieferplatten zertrümmert, bin mit dem Fahrrad durch die Wälder geheizt und habe dem Regen an der Fensterscheibe zugeschaut. „Mama? Hört das denn mal wieder auf zu regnen? Sonst werden wir noch weggeschwemmt.“ Sie konnte mich beruhigen. Der viele Regen ist normal im Bergischen. Ich weiß nicht, wie viele Steine ich in die Dhünn geworfen habe. Dhünn, das ist nicht nur das Dorf, sondern auch ein kleiner Fluss, nachdem das Dorf benannt wurde.

Kakao und Kandiszucker

Vollkornbrot und Gemüseeintopf

Erinnerung

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Als Kind scheint es wie ein Paradies. Doch obwohl es mir an nichts zu fehlen schien, wollte ich auch mal etwas anderes sehen. Ich wollte wissen, was es außer „meinem“ Dorf, Rügen und den Alpen sonst noch zu sehen gibt und machte mich auf den Weg nach Chicago. Dort lebte ich bei einer Gastfamilie mit drei Jungen, die mir die meiste Zeit eine gute Ersatzfamilie waren. Doch tatsächlich erlebte ich in diesem Jahr das erste Mal, wie sich Heimweh anfühlen kann. Sehnsucht nach dem Gewohnten, Vertrauten und Menschen, die einen länger kennen, als nur ein paar Monate. Häufig war es auch einfach ein gutes Vollkornbrot vom Bäcker meines Vertrauens oder ein deftiger Gemüseeintopf von meiner Oma. Als ich nach 13 Monaten wieder zurück nach Dhünn kam, war alles irgendwie gleich und doch anders. Wieder auf altbekanntes zu stoßen schmerzte und irritierte, zeigte mir aber auch, wie viel ich in der Zwischenzeit geleistet und gelernt hatte. Mein Opa und meine Ur-Oma waren gestorben, manch ein Freund hatte die Bezeichnung nicht mehr verdient. Manchmal fühlte es sich an wie ein Purzelbaum rückwärts, bei dem ich mir den Kopf am Schrank stoße. Dafür hatte ich neue Freunde dazu gewonnen und gute Freundschaften haben sich vertieft. Ich habe gelernt, dass Heimat auch zerbrechen kann, wenn man sie nicht behütet und pflegt. Heimat kann aber auch neu entstehen, dort wo ich sein will, kann sie wachsen. Es ist ein Privileg.

Ein Purzelbaum rückwärts, bei dem ich mir den Kopf stoße.


Erinnerung

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Kakao und Kandiszucker


«Wolln werr enz saaren, ett hätt jot jeschmaat»

«Wolln werr enz saaren, ett hätt jot jeschmaat.» Heimat und Essen zu trennen, ist eigentlich gar nicht möglich. Schon beim Klang des Wortes Heimat denke ich an den Geruch von frischem Kaffee — obwohl ich gar keinen Kaffee trinke — selbstgebackenem Kuchen oder Omas Reibekuchen. Und um genau die soll es nun gehen.

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Text (Dhünnsch Platt): Marianne Roth Fotos: Miriam Roth


Erinnerung

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ÂŤWollen wir mal sagen, es hat gut geschmecktÂť


Erinnerung

«Wolln werr enz saaren, ett hätt jot jeschmaat»

Riefkoochen

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4 Ejepel 2 Eier 2 EL Mäll 1 TL Saalz 2 EL Jötte


Erinnerung

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ÂŤWollen wir mal sagen, es hat gut geschmecktÂť


«Wolln werr enz saaren, ett hätt jot jeschmaat»

Alles durjeen rührn. Dann düschtisch Ollisch in de Pann un ontlich heiß werden lossen. Mit een Esslöffel klejn Plätzja in de Pann un von lenks un räts schön brung broden. Nemm en Schief Schwazbruet un en Strisch Röbenkrut drupp. Jetz kannse dich an et Essen jewen.

Erinnerung

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Reibekuchen 4 Kartoffeln, 2 Eier, 2 EL Mehl, 1 TL Salz, 2 EL Haferflocken // Alles miteinander vermengen. Viel Öl in eine Pfanne geben und erhitzen. Dann mit einem Esslöffel kleine Plätzchen in die Pfanne geben und von links und rechts knusprig braten. Mit einer Scheibe Schwarzbrot und Zuckerrübensirup genießen. Guten Appetit!


Erinnerung

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ÂŤWollen wir mal sagen, es hat gut geschmecktÂť


Ich laufe die ruhige Straße hinunter. Menschen grüßen mich, manche bleiben stehen und erzählen. Wolken werden größer, der Himmel dunkler. Regen kündigt sich an und ich habe mal wieder meinen Schirm vergessen.

Mensch

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Heimat.


Foto: hketch/photocase.com Mensch

Mensch. 29


«Heimwert/s» Schon der alte Cicero wusste es: Patria est, ubicumque est bene. Oder kurz: Ubi bene, ibi patria. Und der hat es bei Aristophanes geklaut. Es stimmt wohl trotzdem: Wo immer es (dir) gutgeht, da ist (deine) Heimat.

Heimwert/s

Text: Albrecht Keller Foto: Miriam Roth

Mensch

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Über Heimat (oder gar das Heimat- oder Vaterland) überhaupt zu sprechen, galt lange als zweifelhaft — und trotzdem weiß jeder: Ohne Heimat kann niemand leben. Fast jede Landschaft hat ihre Heimatlieder und pflegt sie, denn sie geben ein Lebensgefühl und einen gewissen Stolz der Menschen wieder, die in einer (hoffentlich) ansprechenden Landschaft und Kultur zusammenleben. Weil es dort in der Heimat eine Gruppenidentität gibt, bilden wir dort auch Teile unserer eigenen Identität aus.

Heimat prägt Denn da, wo ich zuhause bin, habe ich Prägung und Zugehörigkeit erlebt, verschiedene Menschen, unterschiedlich gute und schlechte Zeiten, bin ich im besten Falle am richtigen Ort zur richtigen Zeit gewesen — ohne Heimat wäre niemand, wer er/sie ist. Weil rückblickend doch die guten Zeiten viel schwerer wiegen, werden Erinnerungen auch gern glorifiziert. Ist das bedenklich? Bestimmt nicht. Denn: Was Heimat ist und welchen Wert sie hat, lernt man erst wirklich schätzen, wenn man irgendwo fremd ist — sich und den eigenen Standpunkt noch erarbeiten muss. Das geht nicht immer einfach und schnell, wenn alle(s) fremd sind (ist) oder scheint, entwickeln wir Heimweh. Ausgelöst durch Mangel: an Menschen, an Gewohntem, Kultur, Sprache, Dialekt. Wer als rheinländischer Student nach 430 km Autobahn in der schwäbischen Provinz landet und nirgends mehr abends eine Currywurst bekommt, sondern nur noch Maultaschen mit warmem(!) Kartoffelsalat, versteht das wohl…

Heimat (und sie eben nicht zu „haben“) ist auch in der Bibel ein ständiges Thema: die Vertreibung aus dem „Paradies“, die Stammväter Abraham, Isaak und Jakob mussten `raus aus der Heimat, die Verbannung des Volkes 597/587 ins babylonische Exil, Mose und das Herumirren des Volkes in der Wüste, die Propheten und Könige, die außerhalb ihres Vaterlandes leben musste, Jesus, der Heimatlose (vgl. Matthäus 8, 20f). Meistens steht die Heimat für das Gute, Einschätzbare, Bekannte, für Erinnerungen an Menschen und bestimmte Situationen, die ortsgebunden sind, die ich eben nur dort erinnern kann.

Alles bleibt anders Die Heimat zu verlassen ist mutig und bringt es mit sich, überhaupt Heimatgefühle wahrzunehmen und zu entwickeln. Habe ich mich verändert, nervt vielleicht manches, wenn ich zurückkomme? Oft gibt es eine Sehnsucht nach bekannten Menschen, Geräuschen, Gerüchen oder Gewohnheiten. Sind sie noch da? Nicht immer — da fehlen Häuser und Menschen, Geschäfte sind geschlossen und ehemals bewohnte Fenster blind. Kann „Fremdes Land“ zum Zuhause werden? Sicher. Dann, wenn ich mir selbst als sich wandelnder Mensch wiederbegegne im Gewohnten. Ein Stück Heimat habe ich, wenn ich mich prägen lasse und einlasse — dann erlebe ich: (Dein) Zuhause ist da, wo man sich auf Dich freut, und da, wo Du Dich freust über die Menschen, mit denen Du zu tun hast.


Mensch

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Heimwert/s


Gesichter meiner Heimat Mensch

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Gesichter meiner Heimat Heimat sind wertvolle Gespräche, jemand der mir zuwinkt. Kaffee trinken und die Zeit vergessen. Aufräumen, putzen, Heimat heißt Alltag. Heimat riecht nach Omas Couch, nassem Hundefell, Tannenduft. Wie du lachst, mit wem zu weinst. Heimat sind Menschen.

Text: Miriam Roth Fotos: Miriam Roth


«Dhünn ist seit 35 Jahren meine Heimat.» Lieselotte* *Name geändert


«Heimat ist da, wo ich verwurzelt bin. Eins der höchsten Güter auf dieser Erde. Heimat gibt mir Geborgenheit und Frieden.»

Gesichter meiner Heimat

Ute, 65

Mensch

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Helmut, 72

Gesichter meiner Heimat Mensch

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«Vor allen Dingen wichtig, um eine Heimat zu definieren, sind die Verbindungen und Beziehungen zu den Leuten. Meine Familie, mein guter Freund und langjähriger Nachbar F. Hollerbach. Das sind ja die Wurzeln. Und was mich noch mehr mit meiner Heimat verbindet ist sicher auch der Beruf. Ich bin auf dem Hof geboren und in die Landwirtschaft rein gewachsen.»

Interview mit Helmut auf S. 67




Else, 97 älteste Bewohnerin Dhünns

*11km Fußmarsch

39 Mensch

In Dhünn bin ich aufgewachsen, 8 Jahre zur Schule gegangen. Bis auf Zeiten während der Kriegsgefangenschaft und ein paar Reisen war ich immer hier. Nachdem ich per Kaiserschnitt auf die Welt gekommen bin, musste meine Mutter mit mir von Remscheid zu Fuß nach Dhünn gehen*. Das wäre heute ja unvorstellbar.»

Gesichter meiner Heimat

«Dhünn ist Heimat. Es ist ein besonderer Ort. Dhünn ist eben ein Örtchen für sich. In dieser Gegend Deutschlands können wir uns glücklich schätzen, von Unwetterkatastrophen wurden wir immer verschont.


Gesichter meiner Heimat Mensch

40

«Heimat, der Ort, an dem ich mich wohlfühle – hier bin ich aufgewachsen, habe meine Freunde, Familie, meine Wurzeln.» Susanne, 38


Gesichter meiner Heimat

«Wir haben nie flüchten müssen und sind nie durch Bomben im Krieg geschädigt worden. Wir haben immer im Bergischen gewohnt. Weiß ich überhaupt was Heimat heißt? Wenn ich mal woanders war, bekam ich Heimweh. Danach zu urteilen, fällt Heimat auch unter die Begriffe Geborgenheit, Wohlfühlen, Versorgtsein. Heimat ist für mich, glücklich zu sein.» Hannelore* *Name geändert

«Heimat bedeutet für mich in vierter Generation in meinem Elternhaus zu wohnen.» Paul* *Name geändert

Mensch

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ÂŤHeimat ist fĂźr mich an einen Ort zu kommen, an dem ich willkommen bin und so geliebt werde, wie ich bin. Dort kann ich abschalten und zur Ruhe kommen.Âť Vany, 18


«Also Dhünn ist vielleicht noch Ursprung, da bin ich groß geworden, aber ich bezeichne es nicht mehr als Heimat. Und das schon viele, viele Jahre.» Meinhild, 47

Interview mit Meinhild auf S. 86


Interview mit Benito auf S. 92


«Heimat ist, wenn die Menschen meine Sprache sprechen und meinen Zungenschlag verstehen. Wenn mich die anderen im Auto grüßen und im Gottesdienst erkennen und sich freuen, mich zu sehen.» *Name geändert

Gesichter meiner Heimat

Wilhelm*

Mensch

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«Wenn die Mutter nicht mehr da ist, dann zerfällt eine Familie. Ich habe das selbst auch erlebt, als meine Mutter gestorben ist. Da wo die Mutter ist, da ist Heimat.» Benito, 52


Gesichter meiner Heimat

Heimat ist da, wo man mit den Menschen verbunden ist. Die Herkunftsregion ist aber auch nicht unwichtig. Elisabeth, 52

Mensch

46

Heimat ist f端r mich, wo meine Sprache verstanden wird. Reinald, 56



Lebensläufer Mensch

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Lebensläufer Wie viel Schicksal und Geschichten bei uns wohnen. Wie viel Lebensläufer ruh‘n sich abends aus von den Dingen, die uns strafen und belohnen. Tagein, tagaus.

Text: Martin Buchholz © 2001 Felsenfest Musikverlag Fotos: Miriam Roth


Mensch

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Lebensl채ufer



Mensch

51

Lebensl채ufer


Mensch

52 Lebensl채ufer



Abends fällt da aus ihren Fens ErgieĂ&#x;t sich g warm auf den Dazwischen Schatten vo wo ein Ged andern pra


as Licht stern. gelb und n Asphalt. spielen on Gespenstern, danke auf den allt.


Lebensl채ufer

Im Mietshaus gegen체ber leu ein Zimmer-Mosaik zur Str Und an den T체ren h채ngen wo ich so oft vorbei gelauf

Mensch

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uchten Bilder, raĂ&#x;e hin. Namensschilder, ufen bin.


Die Fernseher f manche Leute Ein Mann sitz und sinniert. Dar체ber tanz selbstverges Und jemand h채lt inne u


flimmern, essen. zt am Computer . nzt ein M채dchen ssen. d schreibt, und radiert.


Mensch

60 Lebensl채ufer



Raum

62

Der Wind weht mir ins Gesicht, letzte Sonnenstrahlen lassen die B채ume gelb und orange erstrahlen. Das Ge채st knackt unter meinen Reifen, Wassertropfen spritzen hoch, als ich durch den Bach fahre. Wir geben Gas, vorbei an Wanderern, die sich noch aufregen, aber schon sind wir wieder hinter dem n채chsten Baum verschwunden. Heimat.


Foto: Alexander Netz, Miriam Roth Raum

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Raum.


Mikrokosmos vs. Großstadtflair Raum

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Mikrokosmos vs. Großstadtflair Wenn ich nach meiner Heimat gefragt werde, dann stürmen sehr viele schöne und warme Gefühle auf mich ein und ich kann es mir dann manchmal nicht verkneifen die ersten Zeilen des Bergischen Heimatliedes anzustimmen, oft zum großen Erstaunen und Schrecken meines Gegenübers.

Text: Franziska Rüsing Fotos: Privat Franziska Rüsing; Miriam Roth (S.62)

Dhünn ist ein hübsches kleines Dorf im Bergischen Land und liegt, etwas abseits von den größeren Städten des Bergischen, in einem Tal, eingebettet in die umliegenden Wälder. Ich verbinde mit meiner Heimat die Nähe zur Natur, den Geruch von Tannen und Erde und die vielen Füchse und Rehe, die sich hin und wieder vom Wald in unseren Garten verirrten. Wie das bei kleinen Dörfern oft der Fall ist, ist auch Dhünn ein Mikrokosmos für sich, in dem man sehr viele Leute kennt und in dem sich die Menschen für ihre Mitmenschen interessieren und ihnen in schweren Lebenslagen unterstützend zur Seite stehen. Besonders wichtig für meinen Heimatbegriff ist auch meine Kirchengemeinde, in der ich getauft und konfirmiert wurde. Da mein Vater Pfarrer in Dhünn ist und

meine Familie im christlichen Verein junger Menschen aktiv ist, hatte ich als Kind immer das Gefühl zwei Familien zu haben: Meine biologische Familie und meine gemeindliche Familie. Ich bin in einem sehr starken, dicht gewobenen und liebevollen Netz groß geworden. Wie diese Menschen Christ Sein lebten, hat mich inspiriert und beeindruckt und meinen Weg zum Glauben stark beeinflusst. In Dhünn liegt also eindeutig meine geistliche Heimat.


Raum

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Mikrokosmos vs. GroĂ&#x;stadtflair


Raum

66 Mikrokosmos vs. GroĂ&#x;stadtflair


Mikrokosmos vs. Großstadtflair

Und die so: «What the f***?!!»

67 Raum

Ich so: «Wo die Wälder noch rauschen, die Nachtigall singt, die Berge hoch ragen, der Amboss erklingt. Wo die Quelle noch rinnet aus moosigem Stein,...»


«Jedes Mal, wenn ich in London aus dem Zug steige, den Cockney Slang höre, die verbrauchte U-Bahnluft rieche und an den Schulen vorbeifahre, in denen ich gearbeitet und Kinder in ihrem Lernprozess begleitet habe, spüre ich dieses Kribbeln im Bauch, das mir sagt, dass ein Teil von mir immer noch hier ist.»


Die große weite Welt

Heimatliebe Mein Verlobter, der mit mir in Aachen wohnt, ist natürlich in besonderem Maße mein zu Hause geworden. Das wurde mir besonders während unseres halbjährigen Erasmusaufenthaltes klar. Da er in Nancy studierte und ich in Nottingham, besuchten wir uns immer an Orten, an denen der jeweils andere noch nie gewesen war. Obwohl wir theoretische in der „Fremde“ waren, haben wir es nicht so empfunden. Wir waren zusammen und waren uns in diesem Moment gegenseitig eine Art seelische Heimat. Aus diesen Erfahrungen heraus denke ich, dass die Heimat kein Ort sein muss, sondern dass auch bestimmte Menschen Heimat sein können. Mit Heimat verbinde ich im ersten Moment den Ort, an dem ich aufgewachsen bin, meine schöne Kindheit, meine Jugendjahre und meine alten Freunde aber ich begrenze meinen Heimatbegriff nicht darauf. Ich bin noch jung und ich weiß nicht, wo mich das Leben hinführen wird, aber ich hoffe, dass ich überall, durch Menschen, die mir wichtig sind und durch Orte, die mich prägen und die ich wiederum präge, das Gefühl haben werde, eine Heimat zu haben.

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Nach dieser wunderbaren Erfahrung, dass ich mich auch woanders zu Hause fühlen kann, als in meiner Erstheimat, begann ich mein Studium in Aachen. Ich lebe dort nun schon seit einigen Jahren und fühle mich mittlerweile auch sehr zu Hause. Am Anfang tat ich mich etwas schwer damit, mich mit der Stadt zu identifizieren, weil sie mir weder das Großstadtflair Londons, noch die Naturnähe und die schöne Architektur Dhünns zu bieten schien. Allerdings traf ich im Rahmen meines Studiums wunderbare Menschen, die mich immer noch inspirieren und die ich mittlerweile wie meine Schwestern und Brüder ansehe. Wenn mich gute Freunde umgeben, dann fühle ich mich zu Hause.

Mikrokosmos vs. Großstadtflair

Gegen Ende meiner Schulzeit wurde ich aber dennoch innerlich unruhig und wollte mich draußen in der „großen weiten Welt“ – als solche erschien sie mir damals – beweisen und sehen wie ich dort, allein auf mich gestellt, zurecht kommen würde. Meine erste Station war ein FSJ in London. Nachdem ich den ersten Schock des kompletten Alleinseins überwunden hatte, schaffte ich mir dort ein neues soziales Netz und hatte nach einem halben Jahr das Gefühl in dieser Großstadt zu Hause zu sein. Ich nenne London manchmal meine zweite Heimat, weil dort ein wichtiger Teil von meinem heutigen Ich entstanden ist und ich dort wirklich erwachsen geworden bin. Jedes Mal, wenn ich in London aus dem Zug steige, den Cockney Slang höre, die verbrauchte U-Bahnluft rieche und an den Schulen vorbeifahre, in denen ich gearbeitet und Kinder in ihrem Lernprozess begleitet habe, spüre ich dieses Kribbeln im Bauch, das mir sagt, dass ein Teil von mir immer noch hier ist. Heimat muss nicht immer der Ort sein, an dem man geboren ist, sondern es kann auch ein Ort sein, der einen geprägt hat und in den man viel Herzblut gesteckt hat.


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70 «Hie kritt mich kinner dännen»


«Hie kritt mich kinner dännen.» Helmut Thomas hat fast sein ganzes Leben auf seinem Hof verbracht und miterlebt, wie andere ihre Heimat verlassen mussten. Das Leben im Dhünntal als Erinnerung.

Ich bin vor zweieinhalb Jahren 70 geworden und meine Heimat bleibt hier auf der Erde Unterberg in Dhünn, nahe der Dhünntalsperre. Da bin ich geboren und habe mein ganzes Leben verbracht, bis ich dann als Rentner meinen Beruf als Landwirt aufgegeben habe und nach Tente, Wermelskirchen gezogen bin. Wir haben meinen 70. Geburtstag groß gefeiert, da sind Leute aus Unterberg gekommen, die ich schon lange kenne und auch hier aus der Wohnsiedlung in Tente, wo ich nun seit ein paar Jahren wohne. Und ich bin hier auch gut angekommen, habe hier nun auch ein gutes zu Hause, das bedeutet mir sehr viel. Vor allen Dingen wichtig, um eine Heimat zu definieren, sind die Verbindungen und Beziehungen zu den Leuten. Meine Familie, mein guter Freund und langjähriger Nachbar F. Hollerbach, mit dem ich dann auch die Dhünntal-Treffen organisiert habe. Das sind ja die Wurzeln. Und was mich noch mehr mit meiner Heimat verbindet ist sicher auch der Beruf. Ich bin auf dem Hof geboren und in die Landwirtschaft rein gewachsen. Mein Bruder ist zum Beispiel mit 14 Jahren raus und hat eine Lehre als Zahntechniker angefangen. Wir hatten immer eine gute Beziehung, aber er hatte nie so eine starke Verbindung zu Unterberg und dem Hof. Ich denke, das ist auch ein Stück weit eine Mentalitätsfrage.

Sie waren also ihr ganzes Leben an einem Ort? Ja. Bis 2007 habe ich auf dem Hof in Unterberg gelebt. Und das wirklich rund um die Uhr. Ich glaube, ich war drei Mal ca. eine Woche jeweils unterwegs, das aber dann auch meist beruflich. Ich war der Jüngste und ich wollte auch gerne Landwirt werden, da gibt es gar nichts zu diskutieren, aber ich bin unverheiratet und war praktisch alleine. Als meine Eltern dann 1979 gestor-

ben sind, habe ich den Hof noch alleine weitergeführt. Das ist ja eine klare Sache, wenn man Tiere hat, vor allem Milchkühe, da gibt es 365 Tage Arbeit am Morgen und Abend. Es ist ja auch nicht so leicht, jemanden zu finden, der solch eine Aufgabe übernehmen und diese Verantwortung tragen will.

Hatten Sie denn schon einmal die Sehnsucht nach etwas anderem? Nein. Ich habe nie etwas vermisst. Das war einfach mein Leben. Ich kann aber gut damit umgehen. Das tut mir jetzt auch ganz gut, dass ich nun nicht mehr die Verpflichtung habe und auch mal eine Woche weg sein kann. Also hol ich das jetzt nach, was mir all die Jahre nicht möglich war. Gut gefallen hat mir ein Urlaub mit Freunden nach Irland, da sind wir dann gewandert, das war sehr schön.

War der Schritt hier her zu ziehen und den Hof zu verlassen sehr schwierig? Das hört sich jetzt vielleicht ein bisschen philosophisch an. Aber ich bin ja freiwillig gegangen. Ich musste ja damals nicht unbedingt durch den Bau der Talsperre weg. Mein Hof wurde nicht abgerissen und ich habe das Stück Land, was ursprünglich meinem Nachbarn Hollerbach gehörte, welcher sein zu Hause verlassen musste, noch dazu bekommen. Für mich war dann aber irgendwann klar, dass ich, wenn ich 65 werde, eine Lösung finden muss. Es kann nicht sein, dass man dann da unten allein ist und vielleicht nicht mehr Auto fahren kann und auf andere angewiesen ist, die Sachen nicht mehr in Ordnung halten kann. Das war für mich undenkbar. Und dann habe ich jemanden gefunden, der bereit war den Hof zu übernehmen. Ich hätte dort noch zehn Jahre wohnen bleiben kön-

71 Raum

Was bedeutet Heimat für Sie?

«Hier kriegt mich keiner weg»

Text: Miriam Roth Fotos: Marga Hinterholzer, Eleonore Blaschke


nen, so hatten wir das vertraglich vereinbart, aber dann habe ich ihnen sofort gesagt, so lange bleibe ich nicht mehr hier. Ich zieh hier weg, ich suche eine andere Lösung. Aus den 10 Jahren ist dann etwas mehr als ein Jahr geworden. Inzwischen ist mein Haus auch wieder vermietet und bewohnt. Wenn ich sagen würde, dass war locker und eine einfache Entscheidung, dann wäre das nicht richtig. Aber ich habe es zu einer Zeit getan, wo ich das vom Kopf und Körper her noch selber umsetzen konnte und bin mit den positiven Dingen und Erinnerungen dort rausgegangen. Meiner Meinung nach, sollte man solche Entscheidungen wenn noch möglich, selbst treffen. Als ich mir dann diese neue Wohnung angesehen habe, fand ich es erst sehr eng und das war für mich sehr schwierig. Da habe ich zu mir gesagt, hier landest du nicht. Nur Garagen, alles so eng beieinander und gepflastert, ohne grün. Aber die Wohnung hat mir dann doch zugesagt und ich bin auch froh, dass ich es hier so gut angetroffen habe und ich mich mit den Nachbarn verstehe.

«Hie kritt mich kinner dännen»

Was fällt Ihnen denn Besonderes ein, wenn Sie ans Dhünntal denken?

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Da gibt es natürlich viele Erinnerungen und Geschichten, die einem durch den Kopf gehen. Erlebnisse auf dem Hof und mit Freunden in der Schule. Die Gemeinschaft auf den Höfen war besonders. Da war man aufeinander angewiesen. Das ist auch heute nicht mehr so wie früher. Um 1928 ist ja erst der Strom ins Dhünntal gekommen, um Motoren anzutreiben. Und da gab es einige Mühlen, die durch ausreichende Wasserkraft Schwarzpulver herstellten. So wurden Arbeitsplätze geschafft, aber keine ungefährlichen. Nicht selten sind viele Mühlen auch explodiert und es gab einige Tote. Dann wurde der Sprengstoff von den Pulvermühlen sogar mit Pferdefuhrwerken aus dem Dhünntal bis ins Ruhrgebiet gefahren. Bei Pulver gab es ja besondere Vorschriften. Nur ein Beispiel: Früher durften die Pferde eigentlich keine Eisen haben, wegen des Funkenflugs. Auf festem Boden konnte es da ja Funken geben. Die Fuhrmänner verwendeten meistens Holzsohlen mit Nägeln drin, damit die sich nicht so schnell abnutzten, aber die Fuhrwerke, die Pulver transportierten, durften diese dann nicht benutzen. Der Weg, der früher genommen wurde wird sogar heute noch „Stahlweg“ genannt. Was ich noch so richtig mitbekommen habe, war eine besondere Sache. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Es gab eine Ortschaft, die gehörte mit zwei bis drei anderen zur Gemeinde Grunewald und war katholisch. In diese eine Ortschaft durfte kein Evangelischer rein. Ich weiß das von einer Mitschülerin. Die kamen damals als Flüchtlinge und wurden drei Tage in der Ortschaft untergebracht und geduldet, aber dann mussten sie wieder raus. Andersrum war das aber so, die lebten als richtige Gemeinschaft. Früher wurden Obst und Gemüse in Steinkrüge gefüllt. Wenn einer im Herbst ein Fass öffnete, dann probierte die gesamte Ortschaft. Als die sich dann beim Bau der Talsperre auflösten, sind die meisten in Richtung Dabringhausen gezogen. Bildung prägt natürlich auch. Einmal wird man durch die Erziehung geprägt, aber auch durch die Schulbildung entwickelt sich dann ein gewisses Heimatverständnis. Und früher gab es ja evangelische und katholische Schulen. Eine Familie aus dieser katholischen Ortschaft hatte acht Kinder, und die sind alle immer jeden Tag durch den Wald nach Dabringhausen zur Schule gegangen. Es gab auch einen Campingplatz im Dhünntal. Da gab es einige, die aus Köln und Umgebung dahin kamen, die dann auch in der Dhünn schwimmen konnten.


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ÂŤHier kriegt mich keiner wegÂť


Leben Ihre Geschwister noch? Von meinen drei Geschwistern leben nur noch mein Bruder und ich. Ich habe auch noch einen guten Kontakt zu Neffen und anderen Verwandten. Es gab immer jemanden, wo ich hingehen konnte und noch kann. Da muss ich sagen, ich bin zwar alleine, aber noch nicht einsam. Ich gehe viel raus und habe nun auch seit einigen Jahren eine Partnerin.

«Hie kritt mich kinner dännen»

Gibt es für Sie einen Unterschied zwischen Heimat und einem „zu Hause“?

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Ja, Heimat ist die Verwurzelung zu dem Ort, wo man groß geworden ist und da muss ich auch in meinem Fall nochmal den Beruf betonen. Ich denke, wenn man so mit der Natur verbunden ist, dann lässt das einen nicht so schnell los. Ich gehe da gerne spazieren und helfe auch hin und wieder auf dem Hof und bei der Ernte. Das klappt körperlich noch ganz gut und macht mir Freude.

Haben Sie zugeschaut, als die Bagger anrollten und das Tal platt machten? Ich bin immer da gewesen. Ich war einer derjenigen, da ich ja am Rand gewohnt habe, der am längsten dabei war und alles mitbekommen hat. Es gab Forstwirte oder Aufsichtspersonal, die mich dann auch schon einmal angerempelt haben und mir sagten, das wäre hier gesperrt. Für mich ist da gar nichts gesperrt. Nur da, wo das Wasser zu tief ist, sonst lauf ich überall und so lang ich kann. Was die darüber denken ist mir egal. Ich denke, wenn man so lange da gelebt hat, hat man auch ein gewisses Recht dazu. Was ich ein bisschen bereue ist, dass ich nie fotografiert habe. Die Dinge so aus meiner Perspektive festzuhalten. Für meine Generation kann ich vielleicht sprechen und behaupten, wir haben uns mit der Tatsache Talsperre abgefunden und alle auch etwas Neues gefunden. Aber für die, die damals im Beruf standen oder noch älter waren und sich dann aus dem Tal noch neu orientieren mussten, war es sicher nicht leicht. Im Nachhinein ist es für die meisten sicher besser gekommen, als wenn sie im Dhünntal geblieben wären. Die beruflichen Möglichkeiten waren ja nicht besonders gut und in den naheliegenden Städten haben sich da dann neue Dinge ergeben. Auch durch den Bau der Talsperre wurden neue Arbeitsplätze geschaffen.

Wie kam es dann zu diesen Treffen mit ehemaligen Dhünntal-Bewohnern? Mit meinem Freund und Nachbarn Hollerbach haben wir schon öfter darüber nachgedacht und dann sagte ich zu ihm, wenn es niemand in die Hand nimmt, dann wird da nichts draus. Und dann bin ich hingegangen und habe ein paar Leute angerufen, mit denen wir uns dann mal zusammengesetzt und überlegt haben, wie ein solches Treffen aussehen könnte. 2008 und 2011 gab es dann die ersten Treffen. Wir haben nur über Presse und Handzettel die Leute eingeladen und wussten gar nicht, wie viele dann letztendlich kommen würden. Beim ersten Treffen waren es 130 und beim zweiten Mal sogar 150 Leute, also ganz schön viele. Das zeigt ja auch das große Interesse. Es war toll zu sehen, wie Geschichten und Erinnerungen ausgetauscht wurden. Man glaubt gar nicht, was da für eine Lautstärke herrschte! Ich bin froh, dass wir diese Treffen organisiert haben und das nächste haben wir für 2015 geplant. Ich freue mich schon darauf!

Vielen Dank für das Gespräch.


«Für mich ist da gar nichts gesperrt. Nur da, wo das Wasser zu tief ist, sonst lauf ich überall und so lang ich kann. Was die darüber denken ist mir egal.»


Still ruht der See im Talesgrund, ein Land im anderen Gesicht. Ein Fremder steht am Waldesrain, «wie wunderschön», er zu sich spricht

Unser Dhünntal

Er weiß ja nicht, wie‘s früher war, ein Tal mit satten grünen Auen, der Dhünnbach zog dort seine Bahn, noch schöner war es anzuschau‘n.

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So viele Höfe mussten weichen, so manches schöne alte Gut. Der Klang der alten Wassermühl im See nun alles ruht.

Die Menschen mussten weiterz eine wirklich große Schar – umsonst waren alle ihre Müh denen dieses Tal doch Heima

Da wo sich einst auf grünen noch freuen konnte Alt und doch was ist davon geblie Es bleibt nur noch Erinne


Unser Dh端nntal

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n Auen d Jung, eben? erung. Text: Christel Schulze Foto: Ilse-Marie Roth


Kultur

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Kultur.


Ich steige aus dem Zug und rieche den Duft der Großstadt. Um mich herum höre ich Menschen Englisch sprechen. Die Wolkenkratzer türmen sich auf und scheinen kein Ende zu nehmen. An einer Ecke sitzen vier Jugendliche, die auf Plastikeimern trommeln. Ich tauche meine Füße in den Lake Michigan.

Kultur

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Foto: Miriam Roth

Heimat.


Kultur

80 Die AusreiĂ&#x;er


Die Ausreißer Wenn die Heimat nicht mehr heimisch ist und die Sehnsucht und das Fernweh größer werden. Heiko und Margit flohen 1989 aus der damaligen DDR in den Westen.

Heiko Scholz und Margit Tief wuchsen in Riesa auf, welches in der Nähe von Dresden liegt und lernten sich auch dort kennen und lieben. Wie auch bei vielen anderen DDR-Bürgern wuchs in ihnen der Wunsch in den blühenden Westen zu fliehen und ihre Heimat hinter sich zu lassen. Zu Beginn war die DDR noch eines der wirtschaftlich führenden Länder. Das änderte sich allerdings und Konsum- und Luxusgüter waren knapp, sodass die Bürger der DDR beispielsweise mehrere Jahre auf ihren Trabi oder Wartburg warten mussten. Heiko beantragte am 03.12.1985 seinen Trabi. Zur Benutzung dieses Autos sollte es jedoch nicht mehr kommen. Obwohl Heiko stark durch seine Mutter und seinen Stiefvater geprägt und sich mit dem sozialistischen System verbunden fühlte – auch durch seinen Dienst in der Armee – betrachtete er einiges kritisch. Als er im

Frühjahr 1989 vom Armeedienst nach Hause kam, war sein weiterer Weg eigentlich schon geschrieben. Im September wollte er ein Bauingenieur Studium in Dresden beginnen. Doch Ende Juli fassten Heiko und seine damalige Freundin Margit den Entschluss die DDR zu verlassen. Mit einem offiziellen Ausreiseantrag hätten sie es nicht geschafft, da einer Ausreise eines unverheirateten Paares niemals zugestimmt worden wäre. Also blieb nur noch die Flucht. Immer wieder hörte man in den Medien von Fluchtversuchen und sie wie dabei gefasst oder sogar erschossen wurden. Diese Geschichten wurden nicht selten aufgebauscht und sollten somit hauptsächlich die Fluchtgedanken der Bürger auslöschen und abschrecken.

Aufbruch in die Freiheit Trotzdem war die Sehnsucht nach Freiheit und der Wunsch, mehr von der Welt zu sehen und zu erleben größer als die Angst und so machte sich das Paar am 23. September 1989 mit Rucksack, Tarnplane und 100 Westdeutscher Mark, die Heiko seinen Eltern stibitzte, auf einem Motorrad (MZ ETZ 250ccm) auf Richtung Dresden. Um kein Risiko einzugehen erzählten sie niemandem von diesem Vorhaben, sondern ließen Familie und Freunde in dem Glauben, die beiden besuchten Heikos leiblichen Vater. Bespitzelung durch die Stasi und Abhörung von Telefonaten war durchaus auch in familiären Kreisen üblich, sodass diese Notlüge das letzte war, was sie zu ihren Familien sagten. Außer diesem Vorwand war diese fixe und risikoreiche Idee nicht im Detail durchdacht. Es gab weder einen konkreten Fluchtplan noch eine sorgfältige Vorbereitung. Ihre Überlegungen führten sie letztlich dazu, zunächst in die CSSR zu reisen und von da aus weiter nach Ungarn. Die „Reise“ begann!

81 Kultur

Die DDR. Die Deutsche Demokratische Republik. Sie wurde 1949 gegründet und entstand aus der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands und dem Ostsektor Berlins. Viele Menschen dort waren unzufrieden und wagten den Blick über den Tellerrand und machten sich auf den Weg Richtung Westen. Durch den Mauerbau 1961 wurde die „Republikflucht“ vieler junger Menschen, die in der westlichen Welt bessere Zukunftsperspektiven sahen, schlagartig gestoppt. Nicht nur eine Mauer wurde errichtet, sondern auch unzählige Zäune und Sperranlagen, die verhindern sollten, dass jemand die DDR verließ. Aus Angst zuzugeben, dass das aufgebaute System nicht funktionierte. Der Drang nach Freiheit, Unabhängigkeit und Wohlstand war aber bei vielen Menschen so groß, dass mehr und mehr illegale Abwanderungen in den Westen über die benachbarten, kommunistischen Länder, insbesondere über Ungarn, registriert wurden.

Die Ausreißer

Text: Heiko Scholz/Miriam Roth Foto: johny schorle/photocase.com Illustration: Miriam Roth


Die Ausreißer

«Natürlich war uns bewusst, dass wir unsere Familie vielleicht nicht wieder sehen können. Aber das haben wir in Kauf genommen, oder auch verdrängt. Wir wollten einfach Diskussionen vermeiden und den Abschied für uns nicht noch schlimmer machen. Wir waren jung und verliebt, da fallen Entscheidungen manchmal anders aus. Wir wollten in den Westen, in die große Freiheit.»

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Nach über acht Stunden auf dem Motorrad erreichten sie den österreichischen Grenzübergang nahe Eisenstadt. Nun gab es für das junge Paar kein Zurück mehr. Die Urlaubsreise wurde endgültig zur Flucht. Der Grenzübertritt nach Österreich war trotz der Bemühungen der ungarischen Regierung, die alten Grenzanlagen nach und nach abzubauen, immer noch riskant und in der Regel nur mit Hilfe von Fluchthelfern zu bewältigen. Heiko musste schweren Herzens seine MZ 250ccm zurücklassen und an einem Parkplatz nahe der Grenze trafen sie auf viele andere DDR-Bürger, die ihre Trabis und Wartburgs abstellten. Es wurde aber kaum miteinander gesprochen, denn die anderen hätten ja auch Stasi-Spitzel sein können. Man ahnte natürlich, dass alle das gleiche Ziel vor Augen hatten: Die Freiheit über Österreich.

Endlich frei Als sie dann näher zur österreichischen Grenze kamen trafen sie auf einen Tschechen, der ein wenig deutsch sprach und der seine Flucht offensichtlich bis ins kleinste Detail geplant und durchdacht hatte. In seinem Handgebäck befanden sich Salamiwürste für die an der Grenze wachenden Hunde und ein Baseballschläger zur Verteidigung beziehungsweise Abwehr. In der Nacht zum 24. August begann dann die eigentliche Flucht. Auch wenn sie den Tschechen erst gera-

de kennengelernt hatten vertrauten sie ihm ohne lang zu zögern und gemeinsam machten sie sich vorsichtig auf den Weg in Richtung Grenzübergang durch Maisund Sonnenblumenfelder. Eine Tarnplane, die noch aus Heikos NVA-Zeiten stammte, machte es außerdem möglich unentdeckt zu bleiben. Die eigentliche Grenze zwischen Ungarn und Österreich war durch einen fein geharkten Sandstreifen gekennzeichnet, auf dem Spuren von Flüchtenden leicht zu erkennen waren. Die drei hörten in der Stille Motorengeräusche von Militärfahrzeugen. Nun hieß es, die Geschwindigkeit zu erhöhen, um ans Ziel zu kommen. Die Zollstationen lagen etwa 3 bis 5 km auseinander. Im Halbbogen versuchten sie, diese zu umgehen. Nach ungefähr sechs Stunden beschwerlichen Fußmarsches erreichten sie im Morgengrauen erschöpft ihr Ziel: die österreichische Grenze. Unmittelbar an der Grenze trennten sich die Wege des jungen Paares und des Tschechen — wohl für immer. Jetzt galt es, die alte Grenz-Zaunanlage zu überqueren. Dabei blieb Heiko noch am Stacheldrahtzaun hängen und riss sich in der Eile seine Kleidung auf. Aber da hörte er auch schon gedämpfte Rufe von der anderen Grenzseite: „Kommt hier rüber!“ Die Stimmen kamen von Österreichern, die dem Paar und anderen Flüchtlingen halfen und auf der anderen Seite warteten. So gelang Heiko und Margit tatsächlich die Flucht nach Österreich in die Freiheit — irgendwo zwischen Sopron und Eisenstadt. Nun waren sie also frei. Der Schritt aus der Heimat war ein mutiger und beschwerlicher. Familie und Freunde wurden zurückgelassen und ein neues Leben sollte beginnen. In Wien sammelten die beiden erste westliche Eindrücke außerhalb der „grauen DDR“. Sie hatten noch etwa zwei Stunden Aufenthalt, bis ihr Zug nach Gießen abfahren würde. Deshalb besuchten sie in Österreichs Hauptstadt ein riesiges Kaufhaus, wie sie es noch nie zuvor gesehen hatten. Das große Sortiment, die bunten Farben und der intensiv-angenehme Duft überwältigte sie sehr und sie kauften ihren ersten Joghurt und ein Paar Schuhe. Das Auffanglager in Gießen war so überfüllt, dass sie mit dem Bus nach Münster gebracht wurden. Dort verbrachten sie ein paar Tage in einem weiteren Flüchtlingslager, in dem ihre Personalien erfasst und weitere Formalitäten erledigt wurden. Außerdem standen zahlreiche Lebensmittel, Küchenutensilien und Kleidung zur Verfügung, welche Heiko und Margit jedoch nicht für sich behielten, sondern ihrer Familie zuschickten. Heikos Onkel nahm das Paar in Bergisch Gladbach auf, wo sie sich ihre erste kleine Heimat aufbauten. 1992 zogen sie dann nach Halzenberg (Dhünn) und gründeten eine Familie.

Die Ausreißer

In Teplice, an der Grenze zur CSSR wurden sie vom Zoll gefragt, wo ihr Gepäck sei und sie behaupteten, ihre Schwester habe es schon mit dem Auto nach Ungarn gebracht, damit sie mit dem Motorrad hinterher reisen konnten. Diese Notlüge wurde ihnen abgekauft und so konnten sie problemlos in die Tschechoslowakei einreisen. Bereits an der Grenze zur CSSR hatten Heiko und Margit das Gefühl, dass sie nicht alleine in Richtung Ungarn, mit dem Ziel die DDR zu verlassen, waren. Vor allem in Margit machten sich Zweifel breit, ob ihre Entscheidung die DDR zu verlassen, richtig gewesen sei und sie hielten am Seitenstreifen der tschechischen Autobahn um die Situation noch einmal zu überdenken. Die beiden berieten sich und auch wenn sie nicht wussten, wie es weitergeht und was noch auf sie zukommen sollte, überwog doch der Traum der Freiheit und die Gewissheit, dass die Chance wohl kaum größer werden würde als an diesem Tag, diesen Traum wahr zu machen, denn sie waren schon nahe der ungarischen Grenze. Als dann noch die Autobahnpolizei der CSSR ein Zeichen gab, sie sollten weiterfahren und nicht am Rand stehen bleiben, nahmen sie allen Mut zusammen und fuhren Richtung Sopron in Ungarn. „Jetzt oder nie“ war das Motto – mit dem Westen im Blick.

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Jetzt oder nie


Heimat: Welt Riesa, Dhünn, Shanghai und jetzt Pittsburgh. Heiko Scholz und Margit Tief konnten schon bereits auf drei Kontinenten herausfinden, was und wo Heimat für sie sein kann.

Fotos: Privat/Scholz&Tief; dmouse/photocase.com (S. 83)

Was ist für Euch Heimat, wie beschreibt Ihr sie? Wo seht ihr eure Heimat?

Ist „Heimat“ für Euch ein durchweg positiver Begriff? Verbindet Ihr damit (nur) gute Erinnerungen/Dinge?

Gute Frage, ist nicht leicht zu beantworten. Für uns gibt es mehrere Heimaten. Da wo wir aufgewachsen sind, bei unseren Eltern in Riesa/Sachsen ist unsere “erste” Heimat. Aber auch Dhünn ist unsere Heimat, die “zweite” Heimat, da sind unsere Kinder aufgewachsen, wir haben einen neuen Freundeskreis gefunden, da leben wir, wir haben uns ein Haus gebaut. Und wo man ein Haus baut, will man ja eigentlich auch bleiben.

Ja, Heimat ist für uns ein positiver Begriff. Wir haben sowohl gute Erinnerungen an unsere Heimat, an unsere Kindheit in der ehemaligen DDR und natürlich auch an Dhünn, da wo unsere Kinder groß geworden sind. Als Kind ist man in der DDR behütet aufgewachsen, als Jugendlicher stellten sich dann Fragen hinsichtlich der eingeschränkten Freiheit.

Nach den langen 20 Jahren in Dhünn können wir sagen, dass Dhünn unsere Wahlheimat ist. Wir haben gewählt hier zu leben.

Als 1989 die Mauer fiel und die Grenzen wieder offen waren, hattet ihr da den Wunsch wieder zurück zu gehen? In der BRD angekommen haben wir schnell Fuß gefasst und unser Leben in die eigene Hand genommen. Ich bekam schnell einen Job und habe gutes West-Geld als


Das heimisch fühlen hat allerdings eine Weile gedauert. Vor allem Margit hatte anfangs damit Probleme. Das war aber auch zu erwarten, alleine in einer fremden Umgebung. Für uns war alles neu, wir hatten ja nur uns. Wir hatten ein kleines Zimmer im Dachgeschoss bei meinem Onkel in Bergisch Gladbach. Die Beziehung zu meinem Onkel und der Tante konnte unser gutes Verhältnis zu unseren Eltern nicht annähernd ersetzten. Da kam schon mal Heimweh auf, aber eigentlich waren wir — zumindest ich, Heiko — zu sehr beschäftigt um Gedanken an Rückkehr aufkommen zu lassen.

Nach vielen Jahren in Dhünn habt ihr dann doch wieder einen Schritt Richtung Osten gemacht, noch viel östlicher als die damalige DDR. Was hat Euch zu diesem Schritt bewegt? Inwiefern fiel Euch dieser Schritt schwer oder auch leicht? In meinem Job bei Bayer war es eigentlich keine Überraschung mal gefragt zu werden, ins Ausland zu gehen. Vor vielen Jahren hatte ich meine Bereitschaft dazu gegeben. Und dann wurde es konkret, im Sommer 2011. Mittlerweile waren wir schon fast 10 Jahre in unserem “neuen” Haus. Damit fiel die Entscheidung nach Shanghai zu gehen nicht ganz so schwer. Für die Kinder war es auch ein guter Zeitpunkt — das dachten jedenfalls wir. Julia war damals in Chicago als AuPair und Anna hatte die 10. Klasse beendet. Also aus dem Gröbsten raus. Wahrscheinlich war das die letzte Chance in meinem Berufsleben diesen Schritt zu gehen und wir haben beschlossen gemeinsam dieses Abenteuer anzupacken. Anna war anfangs gar nicht begeistert, sie wollten ihre Freunde nicht verlassen und hatte keine Lust auf China. Vielleicht war es auch an der Zeit nach 20 Jahren in Dhünn etwas anderes zu machen, einfach mal raus zu kommen. Zeit für Veränderung!

Shanghai, China

In Shanghai haben wir insbesondere Familie und Freunde vermisst. Wir haben unser Haus und die Umgebung vermisst, natürlich auch die deutschen Gewohnheiten und Annehmlichkeiten. Auf Heimaturlaub — einmal im Jahr — haben wir auch immer unsere Eltern in Riesa besucht. Bis auf die Tatsache, dass wir unser Haus in Dhünn haben, sind es doch eher die Familie und Freunden, die wir vermisst haben. Dazu muss ich sagen, dass ich eine besondere Beziehung zu unserem Haus habe, da wir es selbst entworfen und gebaut haben. Je mehr wir darüber nachdenken ist Heimat für uns eher an den Menschen festzumachen, als an einen Ort.

Wie schwierig war es sich auf eine neue Umgebung und die asiatische Kultur einzulassen, die ja um einiges anders ist, als Riesa und Dhünn zusammen? Von Dienstreisen kannte ich Shanghai und wir hatten zuvor ja auch einen “look & see”-Trip gemeinsam mit Anna nach Shanghai gemacht. Aber Dienstreise oder dauerhaft dort zu leben ist schon ein Unterschied. China ist natürlich eine andere Welt, eine fremde Kultur, fremde — und viele — Menschen, fremde Sprache und fremdes Essen. Aber wir waren offen und wollten uns dem Abenteuer stellen. So eine Chance würde bestimmt nicht gleich wieder kommen.

Heimat: Welt

Wie schnell habt ihr Euch in Eurer neuen Situation im Westen heimisch gefühlt? Hattet Ihr oft mit Heimweh zu kämpfen?

Welche „Heimat“ habt ihr in Shanghai vermisst? Kann man diese Heimat auf einen Ort festlegen?

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Maurer verdient. Wir hatten unser eigenes gemeinsames Zimmer und Margit hat eine Fortbildung gemacht. Ein erstes Auto hatten wir auch nach kurzer Zeit. Auch nach dem Mauerfall war uns klar, wir bleiben im Westen. Unsere Eltern konnten uns bereits im November 1989 besuchen.


Welche Erfahrungen waren besonders wertvoll? Was habt ihr neu lernen müssen? Neue Freunde zu finden und die Mentalität und Lebensweisen der Chinesen zu begreifen. Begreifen kann man das eigentlich nicht, China ist nicht schlechter oder besser als Deutschland, es ist einfach anders. Alles ist anders, dynamischer, hektischer, aufregender, dreckiger, lauter, viel Verkehr, viele Menschen auf einem Fleck, zum Beispiel in der U-Bahn. Die Gegensätze zwischen Moderne, die riesigen Hochhäuser und gigantische Shopping Malls, und dem ärmlichen Leben auf dem Lande oder in den Vororten von Shanghai sind Extreme. China hat große Probleme zu lösen. Die Menschenmassen müssen ernährt werden, der Bedarf an Rohstoffen und Energie muss gedeckt werden, die Umweltverschmutzung. Dagegen sind die „Probleme“ in Deutschland vergleichsweise winzig.

Nach Shanghai ging es nicht zurück nach Deutschland, sondern diesmal noch weiter in den Westen: Pittsburgh, Pennsylvania (USA) Wie kam es zu diesem Schritt?

Heimat: Welt

Mein Arbeitgeber (Bayer) hat mich gefragt, ob ich einen Job in Pittsburgh annehmen will. Da habe ich – haben wir – nicht lange überlegt und zugeschlagen. Eigentlich wollten wir ja noch ein Jahr länger in Shanghai bleiben, aber manchmal kann man sich nicht alles aussuchen. Die Kinder hatten einen guten Abschluss in Shanghai erreicht, Anna High School und Julia ein Sprachstudium, und wollten ihr Studium in Deutschland anfangen. Das Timing war also perfekt und das “Reiseziel” passte auch.

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Was hat besonders geholfen Euch dort einzuleben? Den Umzug in eine andere Stadt/Welt waren wir ja schon gewöhnt, wir hatten also schon ein wenig Routine. Das hilft sicherlich beim Überwinden der ersten Hindernisse. Der Papierkram, ein Hotel für den Anfang, Mietmöbel, ein Haus zu suchen. Glücklicherweise haben wir hier ein gemütlichen Häuschen gefunden. Nach 2-monatiger Reise ist unser Container gut in Pittsburgh angekommen. Wir haben uns heimisch eingerichtet, es ist eine bunte Mischung aus deutschen und chinesischen Möbeln und Bildern. Das erinnert uns an unsere Heimaten. Wie schwierig ist es, ohne Eure Töchter zu sein? Natürlich vermissen wir unsere Kinder, aber es ist doch eine ganz normale Sache, dass die Kinder in diesem Alter ihren eigenen Weg gehen. Wir sind froh, dass sie zusammen in Berlin sind und es so gut mit Wohnung und Studium angetroffen haben. Zu wissen, dass es ihnen gut geht, hilft über den Trennungsschmerz hinweg. Skypen hilft sicherlich auch.

Wenn Euch jemand Unbekanntes oder Neues nach Eurer Heimat fragt, wo ihr herkommt – was antwortet Ihr auf solche Fragen? Natürlich wird man oft gefragt, wo man herkommt. Wir antworten immer, dass wir aus Deutschland kommen – aus der Nähe von Köln, aber die letzten beiden Jahre in Shanghai gelebt haben. Freunden erzählt man auch, wo wir aufgewachsen sind, also in der ehemaligen DDR, in Riesa.


Kultur

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Heimat: Welt


Was kann Heimat in der heutigen Zeit bedeuten? Welchen Einfluss haben Globalisierung und Modernisierung? Früher haben die meisten Leute an einem Ort gelebt. Gereist wurde ab und an, mit der Bahn oder dem Auto. Heute steigt man ins Flugzeug, fast schon so selbstverständlich wie Busfahren. Grenzen sind heute leichter zu überwinden. Man fliegt mal eben in ein anderes Land oder auf einen anderen Kontinent. Oder man macht eine Kreuzfahrt. Der Job bringt einen nach Asien oder Amerika, Studenten studieren im Ausland, Schüler machen einen Austauschjahr oder gehen als AuPair oder FSJ’ler ins Ausland. Da spürt man Globalisierung und Modernisierung ganz nah in der eigenen Familie. Die Chinesische Mauer

Der Begriff Heimat bekommt dadurch sicherlich eine andere Bedeutung. Heimat ist eben nicht nur ein Ort, wo man sein ganzes Leben gelebt hat. Es ist alles schnelllebiger geworden. Es gibt durchaus mehrere Heimaten, Orte an denen man gelebt und sich wohl gefühlt hat, und neue Freunde gefunden hat. Vielleicht kann man sich eine Heimat sogar selbst gestalten.


Heimat: Welt

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1949 sagte Heidegger: ÂŤDie Heimatlosigkeit wird ein Weltschicksal.Âť Glaubt Ihr, dass er damit Recht hatte? Ich frage mal dagegen: Ist Schicksal in diesem Zusammenhang etwas Negatives und damit Heimatlosigkeit auch? Ist man eigentlich heimatlos nur weil man an mehreren Orten gelebt hat? Ich glaube nicht.


Kulturschock Kultur ist Heimat. Meinhild Selbach wurde in Dh端nn geboren, lebt heute als Missionarin in Frankreich. Mit Dh端nn verbindet sie Erinnerungen und wie sie christlich gepr辰gt wurde.

Fotos: Privat Meinhild Selbach

Blick 端ber Lyon


Meinhild, du arbeitest seit einigen Jahren als Missionarin in Villeurbanne bei Lyon. Wann trafst du die Entscheidung als Missionarin nach Frankreich zu gehen und was hast du damals gefühlt, als du deinen Geburtsort verließest? Also meinen Geburtsort hatte ich schon verlassen, als die Entscheidung fiel, nach Frankreich zu gehen. Ich bin 1989 schon aus Dhünn weg, weil ich damals im Süden von Deutschland, an der Torchbearer Bibelschule Bodenseehof gearbeitet habe. Und während dieser Zeit, wurde mir klar, dass ich nach Frankreich gehe. Da war dieser Schritt nicht mehr ganz so schwierig wie der erste.

Was war deine Motivation als Missionarin nach Frankreich zu gehen?

Wenn mich jemand fragt, wo meine Heimat ist, dann sage ich immer, dass ich in Dhünn/ Wermelskirchen geboren bin, aber meine Heimat heute ist in Villeurbanne.

Was macht für dich „Heimat“ aus? Das ist sehr vielschichtig. Einmal ist Heimat für mich, auch besonders in der Zeit, als ich umgezogen bin, da, wo meine Sachen sind, wo ich gerade eingerichtet war. Es gab Zeiten, da waren meine Dinge überall in Deutschland verteilt und jetzt ist Heimat da, wo ich den Hauptteil meines Lebens verbringe. Also Dhünn ist vielleicht noch Ursprung, da bin ich groß geworden, aber ich bezeichne es nicht mehr als Heimat. Und das schon viele, viele Jahre.

Gibt es denn für dich einen Unterschied zwischen „Heimat“ und „zu Hause“? Also den Begriff Heimat benutze ich selber kaum. Eben aus diesem Grund, dass es ganz schwammig geworden ist, was dieses Wort überhaupt heißt. Mein Heimatland, das ist ganz klar, das ist Deutschland, weil ich dort groß geworden bin und die ersten Erfahrungen gemacht habe. Und das betone ich auch immer, wenn ich zu diesem Thema befragt werde. Allerdings sage ich dann immer dazu, dass jetzt Frankreich zu meiner Heimat geworden ist. Über die Jahre, seit 1997, ist das auch langsam gewachsen. Das war am Anfang noch nicht so. Mittlerweile fühle ich mich auch in der Sprache zu Hause. Ich laufe nicht mehr ständig mit einem Wörterbuch herum. Ich kann deutsch sprechen und französisch denken und englisch ist auch noch mit dabei. Das ist alles irgendwie sehr international geworden bei mir.

Wie viel Heimat brauchst du? Ich denke, es ist wichtig, irgendeinen Ort „Heimat“ nennen zu können und da auch Wurzeln zu schlagen. In meinem Fall musste ich einfach mal weit genug und auch länger weg gewesen sein, dass das passieren konnte. Deshalb ist das

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Was bezeichnest du heute als deine Heimat?

Kulturschock

Ich rede ungern von Motivation, weil es da wirklich darum ging, dass Gott mir klar gemacht hat, dass es jetzt dran ist zu gehen, ohne zu wissen, was auf mich zu kommt. Ich möchte eher von Berufung sprechen als Motivation. Aber in diesem Zusammenhang will ich nochmal betonen, dass meine geistliche Heimat auf jeden Fall in Dhünn ist. Hier habe ich ein Leben mit Gott angefangen und erste Schritte und Erfahrungen im Glauben gemacht. Das kann mir auch niemand nehmen. Das bleibt glaube ich so, so lange ich lebe. Und auch die theologischen Ausrichtungen, die ich mitbekommen und aufgenommen habe. Menschen zu dem Zeitpunkt auch, aber die sind nicht so stark verwurzelt geblieben, denn die Leute, mit denen ich in meiner Jugendzeit zu tun hatte, sind ja auch größtenteils weggezogen. Das war damals so eine richtige Auswanderungswelle. Das hat mich sicherlich auch ein bisschen zu meinem Schritt gebracht, Deutschland zu verlassen.


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auch bei mir in den ersten Jahren so gewesen, dass ich diese drei Jahre ganz bewusst durchgezogen habe und nur mal für einen Geburtstag nach Dhünn gefahren bin. Und das war wichtig um das Alte zurück zu lassen und dem Ort, an dem ich zu Hause sein wollte, dann auch den Raum geben zu können sich als solchen zu entwickeln. Natürlich war es am Anfang schwierig. Alles ist neu, man findet sich nicht zurecht, man fühlt sich nicht heimisch, weil halt alles fremd ist. Nur, wenn man dann ständig das Lebensumfeld wechselt, dann klappt es nicht. Ich glaube, der Mensch braucht eine gewisse Zeit um irgendwo Wurzeln schlagen zu können. Ich würde nicht so weit gehen und sagen, man muss jegliche Kontakte abbrechen, das nicht. Aber dieses Hin und Her hilft nicht und mir ist es dann vor allem beim Sprachgebrauch aufgefallen, als ich von Frankreich als mein zu Hause sprach. Je älter man wird, desto schwieriger ist dieses Wurzelschlagen.

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Wie lange hat es gedauert, dass du dich in Frankreich heimisch fühlen konntest? Gibt es etwas, das es dir schwer gemacht hat deine „neue Heimat“ zu akzeptieren? Heimweh hatte ich die ersten Jahre, nach meinem Umzug nach Süddeutschland. Da kamen schon einmal so Phasen, weil da dieses Gleichgewicht noch nicht da war. Die meisten Erfahrungen hatte ich in Dhünn gemacht und alles war neu, da bekam ich schon Heimweh. In Frankreich hat es so ungefähr 5-6 Jahre gedauert, bis ich wirklich sagen konnte, ich bin hier zu Hause, oder ich fühle mich hier zu Hause. Weil ich erst nach dieser Zeit richtig in die Sprache und die Kultur reingewachsen war, dass ich nicht mehr ständig alles miteinander verglichen habe. Ich sage mal, als ich das aufhören konnte, wurde mir klar: Mein zu Hause ist jetzt hier, in Frankreich. Ich bin hier eingerichtet, habe keine Sachen mehr bei meinen Eltern. Das hat geholfen dieses Schnitt zu machen. Eine Frage war, die mir jetzt bei meinem Besuch in Dhünn häufig gestellt wurde, ob ich denn wirklich zurück nach Villeurbanne möchte und zu Weihnachten nicht zu Hause sein will. Meine Antwort war dann, doch – ich will an Weihnachten zu Hause sein, genau deshalb gehe ich ja wieder zurück, weil dort mein zu Hause ist. Und gerade ältere Menschen, die konnten das gar nicht nachvollziehen. Aber die leben ihr ganzes Leben lang schon in Dhünn/Wermelskirchen.

Muss man um Heimat zu „fühlen“, zu kennen, erst einmal fort gewesen sein? Ich denke, für die, die gar nichts anderes kennen, da ist Heimat dort wo sie groß geworden sind und auch immer noch leben. Für mich war diese „schwammige“

Zeit, in der ich beide Orte irgendwie Heimat genannt habe, irgendwie schwierig. Da habe ich gemerkt, dass ich mein Vokabular anpassen und über Dhünn anders sprechen muss als über Frankreich, weil es nicht mehr Heimat ist in dem Sinne von „zu Hause sein“. Klar, Dhünn ist natürlich auch Heimat, aufgrund der ersten Kindheitserinnerungen.

Gibt es Speisen, Gerüche, Melodien, die „Heimatgefühle“ in dir wecken? Also das, das bleibt. Ich denke gerade was Gerüche und Geschmäcker angeht. Immer wenn ich zu meinen Eltern zu Besuch komme, habe ich direkt eine Liste von Sachen, die ich Frankreich nicht kaufen und kochen kann, die ich mir dann wünsche. Und was mir auch immer auffällt, wenn ich hier bin sind die Dhünnschen Kirchenglocken. Die sind besonders. Ich habe schon viele Kirchenglocken gehört, aber die haben schon was besonderes. Als meine Eltern 2001 umgezogen sind, aus dem Haus in dem ich auch aufgewachsen bin, und ich das erste Mal zurück kam um sie zu besuchen, und das dann an einem anderen Ort und nicht mehr in Dhünn, das war schon ein komisches Gefühl. Irgendwie auch ein Stück Verlust oder eine kleine Leere, die ich gefühlt habe. Ich fühle mich auch jetzt in Dhünn immer noch wohler als in Wermelskirchen, obwohl das ja nicht weit auseinander liegt. Allerdings könnte ich mir heute nicht vorstellen hier auf dem Land zu leben. Egal ob Dhünn oder Wermelskirchen. Das ist einfach zu klein für mich. Sobald man die Vorteile der Stadt genossen hat ist es schwierig wieder in so kleine Räume zurück zu kommen. Da muss man dann einfach die Pros und Kontras abwägen und für sich entscheiden, wo man Heimat findet.

1949 sagte Heidegger: „Die Heimatlosigkeit wird ein Weltschicksal.“ Glaubst du dass er damit Recht hatte? Ja. Denn wenn man zum Beispiel nach Afrika schaut und die vielen Vertriebenen, Flüchtlinge durch die Kriege, dann kann man das schon sagen. Auch wenn Menschen ihre Heimat durch Naturkatastrophen verlieren, was ja vor allem auch in Asien der Fall ist. In Deutschland denke ich an die vielen Migranten. Die Eltern, die noch beide Länder kennen, Deutschland und das Herkunftsland. Und die Kinder, die sind meistens schon in Deutschland geboren, wachsen hier auf und sprechen deutsch ohne Akzent und sind hier eigentlich zu Hause. Doch die Eltern werden immer noch von ihrem Ursprungsland als die Heimat der Familie sprechen. Das sieht man auch oft deutlich bei Missionaren. Ich kenne Amerikaner, die in Frankreich leben


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«Also, ich habe ja schon viele Glocken gehört. Aber die Dhünnschen Kirchenglocken, die sind einfach besonders.»


und deren Kinder können nicht damit umgehen, dass die Eltern Amerika als ihre Heimat bezeichnen. Die Kinder haben dann zu Amerika, als Heimat, keinen Bezug.

Ist „Heimat“ ein durchweg positiver Begriff? Für mich ja.

Und für andere? Ich denke, es kommt immer darauf an, warum man die Heimat verlassen musste. Wenn du flüchten musstest, aufgrund von Konflikten, dann willst du vielleicht auch gar nicht dorthin zurück und an all das erinnert werden. Dann ist der Begriff auch negativ belegt. Oder wenn du aus einem Land kommst, wo du nur in schlechten Verhältnissen leben musstest, bist du sicher auch froh eine neue Heimat zu haben, wo es dir besser geht als in der ursprünglichen Heimat.

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Würdest du Heimat auf einen Ort festlegen?

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Also schon allein in Deutschland würde ich einmal Dhünn als meine Heimat bezeichnen, aber auch durch die drei Jahre, die ich in Friedrichshafen/Fischbach gelebt habe, ist der Ort auch zu meiner Heimat geworden. Und selbst Stuttgart, wo ich 2,5 Jahre gelebt habe, würde ich schon als Heimat bezeichnen. Ich denke, dass es nicht unbedingt auf einen Ort begrenzt sein muss. Weil man sich heimisch fühlen kann, wenn bestimmte Parameter stimmen, Gegebenheiten da sind, dass man sich wohl fühlt, dass man Freunde hat, dass man dieses Wurzelschlagen durchlaufen kann.

Aber Heimat gibt es ja eigentlich nur im Singular. Kann es mehrere Heimaten geben? Für mich gibt es mehrere Heimaten. Ganz klar. Auch in Frankreich habe ich ja 10 Jahre in einer Stadt gelebt, bevor ich nach Villeurbanne gezogen bin und immer wenn ich dorthin komme, fühle ich mich so, als ob ich nach Hause komme. Da kenne ich mich aus und sogar Verkäuferinnen erkennen mich wieder. In diesen 10 Jahren ist da einfach was passiert.

Im Christentum (und auch in anderen Religionen) wird das ewige Leben nach dem Tod immer auch als ewige Heimat bei Gott benannt. Gilt das für dich auch? Wir sind hier auf Erden nur Gast und die Ewigkeit, das ist auch für mich ganz klar Heimat. Ich befinde mich jetzt schon auf dem Weg dorthin.

Würdest du sagen, dass es dir dadurch auch leichter gefallen ist, hier auf Erden woanders heimisch zu sein, als nur im Geburtsort? Ich glaube, ich hätte es damals nicht so gesagt, aber da habe ich schon gemerkt, dass dieser Aspekt des Zurücklassens von Dingen, Gewohnheiten und auch Menschen im Endeffekt unwichtig ist, weil Gott mit mir geht, egal wohin. Und das habe ich auch so gespürt. Das war auch immer ein Halt für mich, besonders als es am Anfang eher schwer war in der neuen Heimat anzukommen.

Drei Wochen warst du in deiner Tätigkeit als Missionarin im Tschad, Afrika. Welche Eindrücke sind dir besonders in Erinnerung geblieben? Ganz viele Dinge und Erlebnisse! Um beim Thema Heimat zu bleiben: Da würde es sicher ganz lange dauern, bis ich mich dort zu Hause fühlen könnte. Das sind ja riesige Unterschiede und nicht mit europäischen Ländern zu vergleichen. In drei Wochen konnte ich natürlich auch nicht alles sehen und mitnehmen, was in diesem Land steckt. So wie dort die Missionare leben, so würde ich jedenfalls nicht leben wollen. Ich brauche eine gewisse Bewegungsfreiheit und ich als Weiße in Afrika, wäre einfach eingeschränkt. Das ist erst nach vielen Jahren möglich, so wie ich es bei einer anderen Missionarin gesehen habe, die schon über 20 Jahre dort lebt und sich mittlerweile ganz frei und ungefährdet in der Stadt bewegen kann. Das ist allerdings ein ganz langer Prozess. Um in so einer Kultur heimisch werden können, bräuchte es sicherlich mehr als fünf Jahre. Da würde ja auch nochmal eine andere Sprache hinzu kommen. Französisch ist zwar Landessprache, aber um richtig mit den Einheimischen kommunizieren zu können, da müsste ich auf jeden Fall ein bis zwei Stammessprachen lernen. Auch wenn ich in der Stadt leben würde. Bisher denke ich, ich halte es nicht länger als drei Monate dort aus. So lang ich mir selbst sagen kann, ich kann auch wieder zurück nach Hause, ist es in Ordnung und ich würde auch gern nochmal zu Besuch in den Tschad.

Welchen Einfluss haben Globalisierung und Modernisierung auf Heimat? Ich denke der Mensch braucht Halt, einen Ort. Selbst für Menschen, die beruflich ständig unterwegs sind, die brauchen immer wieder diesen Ort – egal wo er ist – wo man sich zurück ziehen und auftanken kann, damit man wieder in der Lage ist, sich anschließend auf Neues einzulassen. Ich glaube, dass es nicht gesund ist, ununterbrochen unterwegs zu sein ohne diesen gewissen Rückzugsort zu haben.


Man kann sich natürlich immer ein Stück «Heimat» mitnehmen, sei es über Bilder oder Erinnerungen. Es gab Zeiten, da habe ich meine halbe Wohnung ausgeräumt um mich woanders wohl zu fühlen. Das konnte auch einfach eine besondere Teetasse sein. Da wollte ich Gewohnheiten nicht loslassen. Ohne dass es zum Maskottchen wird oder ähnliches. Vielen Dank, Meinhild.

Meinhild im Tschad


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In den 60er Jahren kamen viele italienische Familien nach Deutschland, in der Hoffnung auf eine besseres Leben. Auch Benito Romeo und seine Familie gehörten dazu.

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Foto: elch_und_kunst/photocase.com


Beno, wo in Italien bist du geboren? Geboren bin ich 1961 in Italien in Campobasso. Das liegt in Mittelitalien, ungefähr auf dem Breitengrad von Rom.

Seit wann bist du in Deutschland und wie kam es dazu? Also nach Deutschland bin ich mit vier Jahren gekommen. Zusammen mit meinen Eltern und meinen vier Geschwistern. Mein Vater war schon vorher in Deutschland gewesen und hat in Remscheid gearbeitet. Das war ja damals die Zeit, als in Deutschland alles boomte und in Italien gab es einfach keine Arbeit. Das war eigentlich eine bittere Zeit und die Familie musste ja ernährt werden. Ich persönlich habe davon nichts mitbekommen, da ich ja noch sehr jung war. 1964 hat mein Vater uns dann als Familie nachgeholt. Wie lange wir in

Deutschland bleiben sollten, oder wollten, war zu dem Zeitpunkt noch gar nicht klar. Es war erst einmal wichtig, dass wir als Familie wieder zusammen waren. Und dann sind wir nach Wermelskirchen gezogen und hat sich als „für immer“ entwickelt.

Deine Geschwister leben auch noch hier in Deutschland? Ja, alle. Sind verheiratet und haben auch selbst Kinder und leben auch hier im direkten Umfeld. Meine Mutter ist schon mit 45 gestorben. Onkel und Tanten und was sonst noch so dazu gehört leben aber größtenteils in Italien, alle sehr verstreut.


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Foto: peterling/photocase.com


Hast du noch Erinnerungen an deinen Geburtsort? Warst du seitdem noch mal dort? Also das ist echt schwammig. Ich kann mich punktuell vielleicht an ein paar Sachen erinnern. Wir haben auch früher jedes Jahr unsere Großeltern besucht, waren in den Sommerferien immer viele Wochen bei ihnen. Die hatten da auch einen kleinen Bauernhof. Daran kann ich mich noch gut erinnern, aber in der Zeit bis dahin, in den ersten Lebensjahren sind nicht mehr viele Erinnerungen da. Mir fallen nur so ein paar Kleinigkeiten ein, wie zum Beispiel die Straße oder die Eingangstüre, oder wie die Wohnung eingerichtet war. Ich bin einmal durchs Feuer gelaufen und habe mir die Füße verbrannt und meine Mutter musste mich retten. Daran kann ich mich noch erinnern.

Was ist für dich Heimat? Wo siehst du deine Heimat?

Also würdest du Heimat nicht auf einen Ort festlegen? Nein. Also für mich kann man Heimat überhaupt nicht auf einen Ort fixieren. Heimat ist dort, wo Menschen sind, die mir vertraut sind. Meine Frau und meine Kinder, Familie und gute Freunde.

Beherrscht du die italienische Sprache (noch)? Haben deine Eltern dich bilingual erzogen? Ich spreche so ungefähr zu 80% italienisch, also ich verstehe eine Menge und kann mich auch darüber verständigen. Am Anfang haben wir zu Hause noch italienisch gesprochen, aber als die Familie dann Zuwachs bekam – das waren natürlich nicht alles nur Italiener, sondern Deutsche – da haben wir dann natürlich deutsch gesprochen. Und das ist, besonders bei mir, so in Fleisch und Blut übergegangen, sodass ich zum Beispiel auch mit meinem Vater, wenn wir alleine sind, deutsch spreche. Weil mir das inzwischen auch einfach viel leichter über die Lippen geht. Bei meiner älteren Schwester war das sicher anders, die hat noch viel mehr italienisch gesprochen.

Hört man dann bei denen auch noch einen italienischen Akzent? Ja, das ist teilweise so. Mein Vater versteht alles und redet auch fließend deutsch, aber schon mit Akzent. Aber bei mir ist das quasi umgekehrt, da hört man ja im Grunde genommen gar nichts. Wenn ich dann aber italienisch spreche, dann sagen

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Für mich war das aber nicht so dramatisch. Ich kann mich zum Beispiel nicht daran erinnern, dass ich mal nicht deutsch konnte. Als ich in den Kindergarten kam, habe ich schon deutsch gesprochen. Meine Heimat war da, wo meine Eltern und Geschwister waren. Ich habe doch ein bisschen gespürt, dass ein Stück Heimat fehlte, meine Großeltern waren nicht mehr da. Da war die Familie schon etwas zerrissen und dadurch auch die Heimat. Aber wenn wir dann nach Italien gefahren sind, habe ich das immer eher als Urlaub erlebt, dass ich die Heimat – Deutschland – verlasse und ein paar Wochen in Italien verbringe. Ich habe mich da schon wohl gefühlt, aber es war nicht so wie zum Beispiel bei meiner Mutter, die geheult und sich gefreut hat, endlich wieder in ihre Heimat zu fahren. Dadurch, dass ich so jung war, ist und war hier eigentlich auch von Anfang an meine Heimat. Wobei ich eine tiefe Verbundenheit spüre, wenn ich nach Italien fahre. Wenn ich einmal durch den St. Gotthardtunnel durch bin, dann merke ich irgendwie ein gewisses Heimatgefühl. Ich kann das auch gar nicht richtig erklären, das steckt einfach in mir drin.

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Meine Heimat ist eigentlich da, wo ich mich zu Hause fühle, wo meine Familie ist. Ich habe damals eigentlich keine Heimat aufgegeben. Für meine sieben Jahre ältere Schwester war das schon anders, da war sie schon im Teenageralter. Wir hatten ja noch nie deutsch gesprochen. Wir wussten noch nicht einmal, was ein Joghurt ist. Wir kamen wirklich in ein völlig fremdes Land.


Italiener: „Aus welcher Gegend kommst du eigentlich?“ Und wenn ich dann antworte „Campobasso“, dann sagen die auch, das klinge irgendwie komisch.

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Wie viel kulturelle Heimat haben dir deine Eltern mitgegeben? Worauf bist du stolz?

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Die italienische Mentalität ist sehr familiär. „La Familia“, die Familie ist sehr wichtig. „Blut ist dicker als Wasser“ ist dann nicht nur so ein Spruch, das wird dann wirklich gelebt. Man legt viel Wert auf Geburtstage, und dass einander geholfen wird. Menschen werden wertgeschätzt und nicht als selbstverständlich gesehen. Esskultur ist natürlich ein großes Thema. Das hat mir immer gut gefallen und hab das auch in mein Leben integriert, die italienische Küche. Auch lange am Tisch sitzen gehört dazu. Wenn ich an etwas besonderes denke, dann ist das am Tisch viel Zeit verbringen. Ich habe mal eine Statistik gelesen, die behauptet, dass deutsche Familien nur maximal eine dreiviertel Stunde pro Tag gemeinsam am Tisch sitzen und Italiener kommen da schon auf drei Stunden. Das ist schon ein krasser Unterschied.

Hattest du schon mal Probleme aufgrund deiner Herkunft? Hast du dich als Kind italienisch oder deutsch gefühlt? Oder wie wolltest du dich fühlen? Wie ist es jetzt? Ich selber hatte da gar keine Probleme. Mein erster Kindergartentag war eine Tragödie. Ich kam rein und drei Jungs haben mich direkt an die Wand „genagelt“, aber das war nicht aufgrund meiner Herkunft. Sowas machen Jungs einfach. Am Anfang bin ich auch noch zweimal die Woche und Samstags zur italienischen Schule gegangen. Das war zwar immer eine kleine Qual, aber heute bin ich froh, dass ich die Sprache auch noch beherrsche. Mein Bruder wollte einmal in die Disko und wurde nicht reingelassen, eben wegen seiner Herkunft. Aber bei mir oder auch meinen Schwestern habe ich da so etwas nie erlebt. Ich hatte zum Beispiel auch nie italienische Freunde. Auch meine Eltern hatten deutsche Freunde, die uns besucht haben. Da hat die Integration schnell funktioniert. Die Leute müssen das ja erkennen, dass irgendwas anders ist, und da ich von Anfang an ja „normal“ deutsch gesprochen habe, wurde ich nie als Außenseiter wahrgenommen.

Hattest du denn schon einmal so Identitätsfragen, die du dir selbst gestellt hast, ob du Italiener oder Deutscher bist? Ich bin Italiener. Bin da geboren, habe einen italienischen Pass. Ich habe zwar auch einen deutschen Pass, aber das war für mich immer klar, dass ich kein Deutscher bin, wie denn auch? Meine Eltern, Großeltern, die sind alle Italiener, da fließt sogar noch ein bisschen argentinischen Blut mit. Wobei ich dann nicht nur auf das ein oder andere geschaut habe, sondern auf Europa und ich fühle mich in gewisser Weise europäisch, aufgrund der Multikultur. Aber wenn einer sagen würde: „Alle Italiener stehen auf.“ Dann würde ich aufstehen. Das ist meine Identität. Nur wenn Deutschland gegen Italien spielt beim Fußball, dann bin ich für Deutschland. (lacht)

Das wollte ich gerade fragen. Ich meine mich zu erinnern, dass du bei Fußballweltmeisterschaften in erster Linie für dein Geburtsland, Italien, jubelst, oder doch nicht? Ja, also wenn Italien nicht gegen Deutschland spielt, dann bin ich für Italien. Aber ja, das stimmt. Es gab eine lange Zeit, da hab ich zu mir gesagt: „Hauptsache, es spielt nicht Deutschland gegen Italien.“ Da war ich total hin und hergerissen. Vor ein paar Jahren ist das gekippt und bei der letzten Europameisterschaft war ich dann definitiv für Deutschland.

Denkst du, andere sehen dich als Deutschen oder Italiener? Ja, ich denke 90% sehen mich als Deutschen. Spätestens beim Namen werden manche dann aufmerksam und fragen nach, sind aber meist überrascht, da man es an meiner Sprache und dem Gesamtbild nicht direkt sieht. Da wo man mich und gewisse Gepflogenheiten kennt, da gibt es schon einmal einige wenige, die mich als „Römer“ bezeichnen, aber alles als Scherz.

Hast du ein Problem damit? Wie willst du wahrgenommen werden? Für mich hat die Wahrnehmung von außerhalb, ob man mich jetzt deutsch oder italienisch wahrnimmt, eigentlich gar keinen Einfluss auf meine Emotionen und mein Leben. Das spielt für mich keine Rolle. Ich habe da auch keine Vorliebe.


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«Hauptsache, es spielt nicht Deutschland gegen Italien.»

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Wann bist du nach Dhünn gezogen? Das war Anfang 1990, da sind wir als junge Familie nach Heidchen (Dhünn) gezogen. An den Ort haben wir auch heimische Erinnerungen, aber hauptsächlich basierend auf Beziehungen mit Menschen, die wir dort kennen gelernt haben. Und unsere Kinder sind dort aufgewachsen. Dhünn ist mir auf jeden Fall Heimat geworden. Durch meine Frau habe ich den Ort und die Gemeinde kennengelernt. Wir beide waren ursprünglich katholisch und sind dann zum CVJM eingeladen worden und haben Freunde gewonnen. Nach der Heirat geht man Wege gemeinsam und wir haben uns für Dhünn entschieden. Und Dhünn ist mir dann auch zur geistlichen Heimat geworden. Im Grunde genommen wurde ich stark geprägt von unserem Pfarrer, der die Gnadenliebe intensiv gepredigt und mich im Glauben gestärkt hat. Dhünn ist dann auch meine Glaubensheimat. Und Heimat ist für mich auch nicht dort, wo nur alles glatt läuft, sondern wo die Fäden zusammenlaufen, für einen selbst und die Menschen, die drum herum sind. Und dann geht es vielleicht auch nicht nur um mich, ich bin dann ein Teil vom Ganzen.

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Gibt es für dich einen Unterschied zwischen „Heimat“ und „zu Hause“?

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Ja, ich glaube schon. Also selbst wenn meine Liebsten nicht um mich herum wären, dann wäre meine Heimat trotzdem hier in Dhünn. Aber „zu Hause“ würde ich es dann wohl nicht mehr nennen. Denn das bedeutet für mich auch zum Beispiel im Schlafanzug im Wohnzimmer sitzen und meine Familie, enge Freunde müssten da sein. „Zu Hause“ heißt für mich ein echt super enges, vertrautes Verhältnis. Das ist ein emotional stärkerer Begriff für mich. Und Heimat ist hier der Ort, die Heimatgemeinde, da sehe ich nochmal einen Unterschied.

Gibt es im italienischen ein Wort, das „Heimat“ übersetzen kann? Mir ist aufgefallen, dass es schwierig ist, „Heimat“ in andere Sprachen zu übersetzen. Also so spontan fällt mir da gar kein Wort ein, aber das muss nicht heißen, dass es das nicht gibt. Was mir jetzt so in den Sinn kommt, was im italienischen mit der Heimat verbunden wird, ist die Mutter, „l‘anima della casa“ – die Seele des Hauses. Und die Mutter ist dann immer die älteste Frau im Haus. Die wird nicht als Domina angesehen, sondern die wird unheimlich wertgeschätzt. Selbst wenn sie den größten Blödsinn erzählen würde, würde niemals jemand auf die Idee kommen das anzuzweifeln. Wenn die Mutter nicht mehr da ist, dann zerfällt eine Familie. Ich habe das ja selbst auch erlebt, als meine Mutter gestorben ist. Da wo die Mutter ist, da ist Heimat.

Herzlichen Dank für deine Zeit.


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Foto: Miriam Roth L‘anima della casa


Heimat ist f端r mich da, wo ich Wurzeln schlage, dort wo ich mich wohlf端hle. Da bin ich zu Hause. Jens (44)



Fotos: Miriam Roth


Die nächste Ausgabe erscheint Juli 2014 — Heimweg nach Chicago

© heimweg / Heimatmagazin Redaktion & Layout: Miriam Roth www.miriamroth.com info@miriamroth.com Mitarbeiter dieser Ausgabe: Miriam Roth Text: Martin Buchholz, Albrecht Keller, Marianne Roth, Franziska Rüsing, Heiko Scholz, Christel Schulze; Foto: Eleonore Blaschke, Marga Hinterholzer, Alexander Netz Druck: Digitale Druckkultur, Düsseldorf Bindung: Buchbinderei Plum, Düsseldorf



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