Di ge st iv i
Teoria e pratica
theorie und praxis
„Ergebnisorientiertes“ Trinken? Von Gourmets und Gourmands bei alkoholischen Getränken
O
tempora, o mores! War früher noch
pagnen versuchen, die Verbraucher zu
der Genuss im Mittelpunkt, so hö-
einem verantwortungsbewussten Um-
ren wir heute von abstoßenden Sauf-
gang mit Alkohol zu bewegen und an-
gelagen, gern werden in den Medien
dererseits - etwa im Straßenverkehr -
Jugendliche und das sogenannte „Ko-
rigoros durchgreifen.
masaufen“ in einem Atemzug genannt.
Soweit die Theorie. Dennoch: So-
All dies mit dem erhobenen moralischen
wohl mit Aperitivo als auch mit Diges-
Zeigefinger. Aber genau genommen war
tivo kann man vorbildlich leben - be-
früher kaum etwas anders: Ob Ernest
schauen wir den Genuss also auch aus
Hemingway oder die anderen Besucher
einer anderen Perspektive, die Stefano
der berühmten Harry‘s Bar in Venezia,
Misischia erläutert: „In der Praxis gibt
oder auch in der Eckkneipe irgendwo im
es zwei grobe Arten von Verbrauchern:
Ruhrpott, sie alle hätten bei einer heu-
Der moderate, bewusste Genießer auf
tigen Verkehrskontrolle ihren Führer-
der einen Seite, der in der Regel aus
schein abgeben müssen.
einem mittleren bis höheren Bildungs-
Wie steht es mit Trinkgewohn-
kreis kommt und dessen Konsum dem
heiten und den kleinen Unterschieden
Wohlbefinden dient. Er führt ein gere-
zwischen Italien und Deutschland?
geltes Leben und neigt daher nicht zu
Beide Länder sind nach den Kategorien
Extremen. Er sieht in Wein, Vermouth
der Forschung sogenannte „permissiv-
und Destillaten kulturelle Zeugnisse,
funktionsgestörte“ Gesellschaften, im
die er bewusst und sparsam verkostet,
Klartext: Der Genuss von Alkohol ist
ohne dabei auf die alkoholische Wir-
nicht nur erlaubt, sondern unter Sucht-
kung zu setzen, sondern - im Gegenteil
aspekten auch bedenklich hoch. Kein
- niemals zu weit geht. Auf der anderen
Wunder, dass beide Staaten mit Kam-
Seite steht eine Risikogruppe: Hier be-
Der 47-jährige Stefano Misischia gilt als Verfechter der italienischen Qualität ohne Kompromisse - und Qualität sollte seiner Meinung nach auch beim Genuss von Alkohol im Mittelpunkt stehen. ginnt der Alkoholgenuss häufig schon in frühen Jahren - viel zu früh, als dass hier der Geschmack im Vordergrund stehen könnte. Also geht es um Gruppenzugehörigkeit oder um eine möglichst intensive Wirkung. Dieses Konsumverhalten gerät schnell außer Kontrolle.“ Sowohl in Italien als auch in Deutschland. Und wo sind die Unterschiede? „Mehr als das Verhalten sind es die Gelegenheiten, die den Unterschied machen: Während in Deutschland jederzeit ein Wein getrunken werden kann, gehört er in Italien traditionell zum Mittag- oder Abendessen. Dann haben wir den Brauch des Aperitivo, der ja aus Italien importiert wurde. Auf der Halbinsel wird hierfür in der Regel etwas Leichteres getrunken,
14 AT_2009_06_v36.indd 14
A tavola! 6 / November 2009 18.10.2009 15:46:50