SCHÖNHEIT BLENDET. SCHÖNHEIT ÜBERWÄLTIGT. SCHÖNHEIT MACHT DUMM. SCHÖNHEIT SCHAFFT RESSENTIMENTS. SCHÖNHEIT IST KÖRPERLICH. SCHÖNHEIT IST GEISTIG. SCHÖNHEIT IST ÄUSSERLICH. SCHÖNHEIT IST INNERLICH. SCHÖNHEIT STIRBT. SCHÖNHEIT LEBT. SCHÖNHEIT IST LÜGE. SCHÖNHEIT IST WAHRHEIT. SCHÖNHEIT IST INTERESSELOS. SCHÖNHEIT IST EIN MYTHOS. SCHÖNHEIT IST EIN ZAUBER. SCHÖNHEIT IST EIN EREIGNIS. SCHÖNHEIT IST ERSCHEINUNG. SCHÖNHEIT IST EIN IDEAL. SCHÖNHEIT IST SEIN. SCHÖNHEIT IST WERDEN. SCHÖNHEIT IST SPIEL. SCHÖNHEIT IST VERFÜHRUNG. SCHÖNHEIT IST EIN TRUGBILD. SCHÖNHEIT IST LEBEN. SCHÖNHEIT IST TRANSZENDENZ. SCHÖNHEIT IST TRANSPARENZ. SCHÖNHEIT IST EIN GLÜCKSVERSPRECHEN. SCHÖNHEIT IST ERHABEN. SCHÖNHEIT IST SCHRECKLICH. SCHÖNHEIT IST RELIGIÖS. SCHÖNHEIT IST EVOLUTIONÄR. SCHÖNHEIT IST EIN KULT. SCHÖNHEIT IST UTOPISCH. SCHÖNHEIT
IST PARADIESISCH. SCHÖNHEIT IST ETHISCH. SCHÖNHEIT IST EINTAUSCH VON ZEICHEN. SCHÖNHEIT IST EIN FETISCH. SCHÖNHEIT IST DINGLICH. SCHÖNHEIT IST GUT. SCHÖNHEIT IST BÖSE. SCHÖNHEIT IST HARMONIE. SCHÖNHEIT IST BELIEBIG. SCHÖNHEIT IST LABYRINTHISCH. SCHÖNHEIT SCHAFFT SCHÖNES. SCHÖNHEIT IST INKARNATION. SCHÖNHEIT IST EROTISCH. SCHÖNHEIT SCHAFFT ANGST. SCHÖNHEIT ÜBERWINDET ANGST. SCHÖNHEIT VERSPRICHT ERLÖSUNG. SCHÖNHEIT IST KÜNSTLICH. SCHÖNHEIT IST NATÜRLICH. SCHÖNHEIT IST OBERFLÄCHE. SCHÖNHEIT IST TIEFE. SCHÖNHEIT IST APOLLINISCH. SCHÖNHEIT IST DIONYSISCH. SCHÖNHEIT VERKÖRPERT BILDER. SCHÖNHEIT IST PROFANIERUNG. SCHÖNHEIT IST THEATRALISCH. SCHÖNHEIT IST UNHEIMLICH. SCHÖNHEIT IST VOLLKOMMENHEIT. SCHÖNHEIT IST UNERREICHBAR. SCHÖNHEIT IST NARZISSTISCH. SCHÖNHEIT IST SELBSTDESIGN. SCHÖNHEIT IST POSTAPOKALYPTISCH.
Heribert Heere
SchĂśnheiten Ein KĂźnstlerbuch
6
Inhaltsverzeichnis
SCHÖNHEITEN
11
Einleitung
19
Versprechen, Ereignis, Dante, Prähistorie
25
Models
41
Friedrich Nietzsche, Nach neuen Meeren
45
Pravu Mazumdar, Das überbordende Bild
63 73
Nacktheiten Martin Weidlich, Zeigen und Verhüllen
83
Heilige Schönheit
97
Exkurs: Geld und Magie
128 157
Arcadia Marga und Walter Prankl, Die Welt montieren
161
Die Zukunft der Schönheit
196
Verzeichnis der Werke
210
Biografie, Ausstellungen, Künstlerbücher
214
Bibliografie
218
Danksagung
7
Für meine Söhne Max und Philipp
10
SCHÖNHEITEN
11
Schönheit ist nichts als das Versprechen des Glücks. —Stendhal
Beauties 08 2017 — Acryl/Collage 100 × 70 cm
Warum wird von mir das freie, nur dem Schaffensdrang verpflichtete Künstlertum zwischen Buchdeckel gepresst, katalogisiert, kategorisiert, und vor allem mit eigenen Texten thematisiert? Natürlich muss man schon ziemlich obsessiv dem Medium Buch zugetan sein, um ein solches Projekt, wie die Schönheiten, das über Jahrzehnte gewachsen ist, zu realisieren. Ich habe mich schon früh für Kunst und Kunsttheorie interessiert. Weder von Kunst noch von Theorie hatte ich damals einen blassen Schimmer und tastete mich mit Ausstellungs- und Museumsbesuchen im München der 1960er Jahre langsam voran; frequentierte begeistert, aber unsystematisch entsprechende Buchhandlungen und Bibliotheken. Mein Interesse an Text und Bild entwickelte sich ziemlich früh, aber ungeplant und fern jeglicher Gesamtkonzeption. Woher hätte eine solche auch kommen sollen? Waren doch diese Gebiete der Kunst und der Theorie für mich damals in ein fast mystisches Dunkel gehüllt. Nur manchmal tauchten aus dieser terra incognita schemenhaft Gestalten auf, die ich weder einordnen konnte noch wollte. Erst jüngst wurde mir angesichts einer Re-Lektüre von Michel Foucaults Nachwort zu Flauberts Versuchung des heiligen Antonius schlagartig klar, was es für einen Künstler der Moderne heißt, aus dem Fundus der Bibliothek, bzw. des Buches zu schöpfen: Um zu träumen, muss man nicht die Augen schließen; es genügt, dass man liest. Das wahre Bild ist Wissen. Schon einmal gesagte Wörter, genaue Bestandsaufnahmen, Massen an minderen Informationen, winzig kleine Teilstücke von Dokumenten und Reproduktionen von Reproduktionen tragen in der modernen Erfahrung die Mächte des Unmöglichen.
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Nur noch das emsige Rumoren der Wiederholung wird uns übermitteln können, was nur ein einziges Mal stattfindet. Das Imaginäre konstituiert sich nicht in Absetzung vom Realen, um dieses zu negieren oder zu kompensieren; es erstreckt sich zwischen den Zeichen, von Buch zu Buch, im Zwischenraum des nochmals Gesagten und der Kommentare; es entsteht und bildet sich im Zwischen-den-Texten. Es ist ein Phänomen der Bibliothek. 1 Was den Schriftstellern die Bibliothek, ist den Malern das Museum, wie Foucault fortfährt. Das „emsige Rumoren der Wiederholung“ dieser „Reproduktionen von Reproduktionen“ ist eine spezifisch moderne Praxis. Sie hat Teil am „Imaginären Museum“, das ist ein Begriff, den wir André Malraux verdanken. Durch die digitale Kommunikation hat das Imaginäre Museum die Gegenwart inzwischen so durchdrungen, dass zwischen Produktion und Reproduktion eine vielfältige und unentwirrbare Verflechtung entstanden ist, die ich in meiner Kunst mittels Montage, Collage und diverser malerischer und skulpturaler Operationen bearbeite. „Kultur ist in seinen (Georg Simmels) Augen Geist in objektivierter Form, aber in der Moderne gewinnt sie Oberhand über die subjektive Existenz und eine eigene autonome Logik, die den Bedürfnissen des Menschen mit eisiger Gleichgültigkeit gegenübersteht. So taumeln die Menschen denn unter einem bedrückenden Überfluss an Kultur dahin, statt aus Mangel an ihr zu verdorren.“ 2 Welcher Künstler möchte schon gerne einen so problematischen Kulturbegriff für seine Kunst reklamieren? Insofern ist es verständlich, dass der moderne Künstler seine Arbeit entweder jenseits dieser Kulturmisere oder als massive Kritik verstanden wissen will. Demgegenüber möchte ich mit meinen Arbeiten den Betrachter auch zu einem Dialog mit der Kulturgeschichte anregen – beginnend mit prähistorischer Kunst bis hin zur aktuellen Massenkultur, zu deren bevorzugten Genres Schönheit gehört.
1 Michel Foucault, Nachwort zu Gustave Flaubert, Die Versuchung des heiligen Antonius, in: Schriften I, Frankfurt a. M. 2001, S. 402f. 2 Terry Eagleton, Der Tod Gottes und die Krise der Kultur, München 2015, E-Book, Pos. 2657
SCHÖNHEITEN
Beauties 09 2017 — Acryl/Collage 70 × 100 cm
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Künstlerische Bilder sind – wie vermittelt auch immer – der Welt entnommen und sagen deshalb auch über die Welt etwas aus – und nicht nur über sich selbst. Die Annahme, dass unser Weltbild ein rein subjektiv konstruiertes sei, teile ich nicht, auch wenn, mit Heidegger zu reden, die Welt zum Bild geworden ist. 3 Deshalb muss der Künstler nicht unbedingt die „Wahrheit“ in Anspruch nehmen. Kunst ist nicht die Herrschaft der Notwendigkeit, sondern das Reich der Möglichkeit, des Spiels, der Täuschung, der Übertreibung, des Scheins, der „wahren Lüge“, des Trugbilds, – und einer gewissen Überschreitung. Meine Bildwelt ist von Transparenz geprägt im Gegensatz zur Transzendenz früherer Zeiten. Die Transparenz ist heute die vorherrschende Weise, in der Wirklichkeit erscheint und wahrgenommen wird. An der Transparenz scheiden sich die Geister. Obwohl der
3 Martin Heidegger, Die Zeit des Weltbildes, in: ders. Holzwege, Frankfurt a. M. 1950, S. 73ff.
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Begriff der Transparenz ziemlich abgenutzt ist und von Jean Baudrillard sogar dem Reich des Bösen zugeschlagen wurde, 4 muss er dennoch im Kunstzusammenhang neu thematisiert werden. „Transparenz“ kommt von „hindurch“ (trans) und „sich zeigen“ (parere) und bedeutet sowohl ein durchscheinendes Sich-Zeigen wie auch ein Zeigen auf etwas. Deshalb verstehen sich meine Bilder gleichermaßen als Präsenz und als Verweis. Die Kunst hat die Fähigkeit, etwas darzustellen, was möglicherweise erst kommt. Gleicht sie darin nicht den diversen Messianismen – wenngleich der Künstler als Erlöser eine eher dubiose Figur ist? Man hat die Erlöserfigur wegrationalisiert und sieht sie in den gängigen sogenannten Trivialgenres, etwa den Comics, besser aufgehoben als in irgendeiner „Kunst-Religion“. Ist vielleicht doch die nicht zu unterdrückende Erlösungssehnsucht der Grund für die unzähligen Formen einer das Weltende imaginierenden Apokalyptik, in der Welt-Hoffnung und Welt-Angst sich gegenseitig aufschaukeln? Seit Beginn der Neuzeit erleben wir neben einem Fortschrittsoptimismus eine periodisch immer wieder sich verstärkende angstvolle Endzeiterwartung, die seit der atomaren Aufrüstung auch keine mythische oder religiöse Grundierung mehr benötigt, sondern als technische Möglichkeit erschreckend real geworden ist. Sollten meine Beauties mit ihren phantastisch-schönen, apokalyptischen Monstren eine heitere Hoffnungslosigkeit ohne Erlösungsvisionen oder Sehnsucht nach Gegenwelten zum Ausdruck bringen? Aus dem Charakter meiner Arbeiten als Schichtungen von Bildern und Bedeutungen erklärt sich auch der Charakter meiner Texte. Diese sind zwar nicht selbst Kunst, aber auch nicht Interpretation (da der Künstler dafür ungeeignet ist). Vielmehr sind sie Teil jenes unendlichen Diskurses, wie er, mit Alexander Garcia Düttmann zu reden, um das offene Kunstwerk der Moderne sich entspinnt. 5 Es versteht sich, dass Bilder auch ohne Texte wirken müssen. Deren Bedeutungen sind aber tendenziell unendlich und kreieren idealerweise ein Bedeutungsgeflecht. Neben der „Interbildlichkeit“ meiner Arbeit gibt es auch eine „Intertextualität“.
4 Jean Baudrillard, Transparenz des Bösen, Berlin 1992 5 Alexander Garcia Düttmann, Was ist Gegenwartskunst?, Paderborn 2017, S. 57
SCHÖNHEITEN
Wiederkehr 2004 — Öl/Collage auf Leinwand 160 × 200 cm
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Meine „Interbildlichkeit“ besteht darin, dass verschiedene Bildfragmente aus verschiedenen Zeiten und Räumen malerisch und als Collage „umgesetzt“ werden. Meine Bildquellen transportieren eine Fülle von Inhalten, die durch meine Collagierungen zersetzt und in neuen Zusammenhängen wieder aufgebaut werden. Daraus resultiert eine Explosion der Bildinhalte. Tragik und Komik sind überall in meinen Arbeiten präsent. Dabei ergibt sich das Tragische schon aus dem notwenigen Auseinanderreißen der ursprünglichen Zusammenhänge durch den Collagisten, was dann im neuen Wieder-Zusammengefügt-Sein oft ins Komische umschlägt. Dieser neue Zusammenhang ist widersprüchlich und paradox: der Ausgangskonflikt der komischen Wirkung. Dadurch vollzieht sich eine Réécriture, eine Appropriation, so dass die daraus sich ergebende Interbildlichkeit als solche parodistische Züge annimmt.
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SCHÖNHEITEN
Geld und Magie 18 2016 — Collage 33 × 48 cm
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Die Réécriture oder Re-Inszenierung ist ein durchgehender Zug schon der klassischen Moderne, der man bisher bezeichnenderweise zu wenig Aufmerksamkeit schenkte. In der Postmoderne geht es um das Paradox des Neuen gerade in und mittels der Wiederholung. Im komplexen Spiel der Wiederholungen und Zeichen taucht eine ursprüngliche Textualität der Bilder auf, vorgeprägt durch die ersten Ritzungen des Menschen, weitergeführt in der griechischen Doppelbedeutung von eidos als „Urbild“ und „Idee“. Vielleicht ist das der Grund, warum ich die Strategie von „Differenz und Wiederholung“ 6 wähle: Idee und Bild als Bild und Text erscheinen zu lassen, also nicht mehr darauf vertrauen zu können, dass sich irgendwo im Innersten des Bildwerks gleichsam strahlend die Idee öffnet. Statt der metaphysischen Hierarchie von Bild und Idee gibt es tendenziell unendlich viele Schichtungen von Oberflächen, die die Tiefenstruktur des Werks ausmachen. Was ist schön an den Schönheiten? Liegen Schönheiten und Hässlichkeiten nicht nah beieinander? Ausgangspunkt ist und bleibt meine lebenslange Faszination des Schönen mit all seinen Windungen und Verwindungen, seinen Fallstricken und Scheintüren, seinem phantasmagorischen Charakter und seinen leeren und dennoch realen Versprechungen. Insofern stellen meine gemalten, collagierten und übermalten Models, die in meiner Kunst von Anfang an präsent sind, den Versuch dar, „Welt“ zu generieren, die aber erst als Collage, als „Weltcollage“ künstlerisch fassbar wird. Als Exkurs in diesem Bild-Text-Parcours durch meine Schönheiten erscheint noch eine ganz besondere Schönheit, nämlich die des Geldes, dessen Ambivalenzen ich unter dem Titel Geld und Magie eine Vielzahl von Arbeiten gewidmet habe.
Meine Grundthese, dass Schönheit ein Ereignis ist – also weder ein Ideal, wie im Platonismus, als welches sie nichtsdestotrotz bis ins 19. Jahrhundert in gewisser Weise verbindlich blieb, noch leerer Schein, wie in einigen Strömungen der Moderne bis vor kurzem unterstellt –, beinhaltet sowohl die Prozesshaftigkeit als auch die Antagonismen der Schönheit.
6 Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, München 1997, S. 11ff.
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SCHÖNHEITEN
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Schönheit ist ein Versprechen, keine Realisierung des Glücks. Aber vielleicht ist Glück nur als Versprechen erlebbar, fassbar, real?
Lana 2016 — Öl auf Leinwand 75 × 55 cm
„Das Schöne fasziniert, verzaubert, weckt das Begehren; in der Lust des Schauens und Hörens verspricht es Momente gesteigerten Lebens. Es verweist auf ‚Höheres‘, drückt ‚Unendlichkeit im Endlichen‘ aus und widersetzt sich den verzweifelten Versuchen, seinen Sinn zu bestimmen. Das Schöne ist nicht real, lässt sich nicht eindeutig machen; es hat keinen festgelegten Sinn, ist scheinhaft, flüchtig, unwiderstehlich und unvergleichlich. Der Versuch, sich seiner zu bemächtigen, vernichtet es. Das Schöne ist Schein und als Schein Spiegelung in sich selbst. Es bildet eine nicht auf anderes reduzierbare Welt, ist ohne Nutzen und spielt mit den erotischen Wünschen am Rande des Chaos in der Hoffnung auf Unvergänglichkeit.“ 7 Ist ein Versprechen eine Illusion? Nein. Die Möglichkeit der Realisierung ist die Voraussetzung eines Versprechens. Deshalb muss die Frage nicht „Was ist schön?“, „Was ist hässlich?“, sondern „Was verspricht die Schönheit?“ lauten. Denn das Hässliche verspricht nichts. Vielleicht war dies der Grund, dass man bis zum Beginn der Neuzeit davon ausging, das Hässliche – ebenso wie das Böse, dem es gleichgeordnet war – existiere eigentlich gar nicht. Es sei lediglich das Noch-Nicht-Schöne, das Noch-Nicht-Gute. Weshalb war man sich eigentlich so sicher, dass alles im Grunde schön sei – und nicht hässlich?
7 Dietmar Kamper/Christoph Wulf (Hrsg.), Der Schein des Schönen, Göttingen 1989, S. 9
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Das plötzliche Aufblitzen der Schönheit ist ein Ereignis. Das Wort „Ereignis“ kommt von dem Wortstamm „Auge“ und bedeutet ursprünglich „Eräugen“. Nichts könnte besser die Aura, die Plötzlichkeit und die Erscheinung der Schönheit bezeichnen. Das Schöne bedeutet seit Platon ein Ideal – oder besser die hartnäckige Suche nach einem Ideal. Eben nicht die Suche nach einem schönen Ding, einer schönen Sache oder einem schönen Körper – sondern die Suche nach dem, was alles vereinzelte Schöne schön macht, also nach einem rein abstrakten Schönen, das allen schönen Erscheinungen gemeinsame Bedingung und Teilhabe ist. Platon, dem wir zwar die ersten systematischen Untersuchungen über das Schöne (in Dialogform) verdanken, war nicht der erste, der nach einer höheren Wirklichkeit des Schönen suchte. Schon bei Homer, der in der Odyssee häufig das Wort „schön“ (kalos) benutzt, „ist schön nicht ästhetisch-unverbindlich, sondern eine höhere Stufe eines göttlichen, vollendeten Seins und jedes Nicht-Schöne ist mangelhaftes Sein“.8 Damit umfasst bei den frühen Griechen das Schöne die gesamte Lebenswelt und die Kosmologie. Der Kosmos war eine grundsätzlich ideal-schöne Ordnung und der Mensch selbst verstand sich in seinem eigentlichen Sein als ein Ebenbild dieses Kosmos, der seinerseits als ein Lebewesen vorgestellt wurde. Unser Begriff der Kosmetik erinnert noch an diese Entsprechung von Mikro- und Makrokosmos, die sich erst mit dem Aufkommen des physikalischen, kopernikanischen Weltbildes aus dem wissenschaftlichen Diskurs verflüchtigte. Diese antike „kosmetische“ Kosmologie ist noch für Dante die Charakterisierung des Paradieses, das Beatrice, seine himmlische Geliebte, ihm folgendermaßen vorstellt:
Die Dinge allesamt stehen untereinander in einer Ordnung, und diese ist die Form, die das Universum gottähnlich macht [...]. In der Ordnung, von der ich spreche, sind alle Geschöpfe so, wie es ihnen zuteil wurde, stärker oder schwächer auf ihren Ursprung hin gerichtet, sind ihm mehr oder weniger nahe; weshalb sie sich auch auf dem großen Meer des Seins zu verschiedenen Häfen hin bewegen.9
8 Ernesto Grassi, Die Theorie des Schönen in der Antike, Köln 1980, S. 53ff. 9 Dante, Die göttliche Komödie, Paradies, erster Gesang, 103-114
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Paradies 01/02 2016 — Collage/Acryl 100 × 70 cm
Paradies 03/04 2016 — Collage/Acryl 100 × 70 cm
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Eiszeit 01 2009 — Fine Art Print auf Dibond 70 × 105 cm Höhle von Lascaux Verwundeter Bison, Mensch und Stange mit Vogel — 36.000-19.000 v. Chr.
In der prähistorischen Kunst, also in den ersten uns bekannten Artefakten, gibt es einen Gegensatz zwischen den hauptsächlich dargestellten Tieren und einigen, an Schwangere erinnernden nackten Frauenfiguren mit deutlicher Übertreibung der weiblichen Anatomie: pralle Modellierung von Bauch, Brust und Oberschenkeln, sowie einer meist deutlich hervortretenden Vulva. Darstellungen von Männern fehlen
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fast ganz und wenn, dann sind sie als „Strichmännchen“ in den Fels geritzt wie in jener berühmten Darstellung von Lascaux mit einem sterbenden Bison und der phallischen Gestalt. Schon in diesen frühesten Artefakten geht es um Schönheit und Spiel, um Eros und Tod. Georges Bataille sagt dazu in seinen Tränen des Eros: Doch drängt sich aus der faszinierenden und animalischen Schönheit (der prähistorischen Bilder) auch nach tausend und abertausend Jahren des Vergessens noch eine ursprünglichere Bestimmung auf: die der Verführung und Leidenschaft, des verzauberten Spiels [...]. Tatsache ist jedoch, dass diese düsteren Höhlen in erster Linie dem geweiht waren, was, in seiner reinsten Form, das Spiel ist – das Spiel als Gegenpol zur Arbeit, dessen Sinn primär im Verführen und Verführtwerden, in der Hingabe an die Leidenschaft liegt [...]. Die frühe Erotik, deren naive Spuren wir in den Höhlen finden, mag einen paradiesischen Zug gehabt haben [...]. Unbestreitbar lastet über ihrer kindlichen Naivität bereits eine gewisse Schwere. 10 Doch auch der „moderne“ Körper, der sich von seiner untergeordneten Existenz innerhalb des metaphysischen und mythischen Dualismus von Leib und Seele emanzipert hat, ist keine Ganzheit, sondern eine „Vielheit“, die laut Nietzsche Vieles nicht nur in sich birgt, sondern sogar „ist“. 11 Der neue Körper soll für Nietzsche eine „Brücke zum Übermenschen“ sein. Das ästhetische Bild des „Bildkörpers“ sei dagegen ein „Trugbild“, ein „Simulakrum“. Im Gegensatz zum idealen Urbild, das zwar unsichtbar war, aber als das einzig wirkliche galt, hatte das Trugbild, z. B. die Götterstatue, eine manifeste, fast körperliche Präsenz. Im Extremfall konnte dieses Trugbild identisch werden mit dem, was es abbildete, etwa einer Göttin, heute noch erlebbar an den großen Wallfahrtsorten der Religionen, aber auch bei den unzähligen digitalen Erscheinungsweisen der Stars, wie sie heute immer und überall den modernen Adepten begleiten. Models verfügen nicht nur über einen, sondern über zwei kategorial verschiedene Körper, einmal ihren leiblichen Körper, wie wir alle auch – und zum anderen über einen Bild-Körper.
10 Georges Bataille, Die Tränen des Eros, München 1993, S. 50f. 11 Friedrich Nietzsche, Von den Verächtern des Leibes, Also sprach Zarathustra I, KSA 4, S. 39
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SCHÖNHEITEN
← Loulou 1 1996 — Siebdruck auf Acrylglas 100 × 50 cm
→ New Luxe 1996 — Siebdruck auf Acrylglas 100 × 50 cm
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SCHÖNHEITEN
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Schönheit ist auch ein Bollwerk, das sich allerdings oft genug als brüchig erweist.
Dionysos 2011 — Aquarell 74 × 54 cm
Dionysos verwandelt in den Bakchen, jener Tragödie des späten Euripides, mit seinem Furor die Mutter des Königs von Theben, Agaue, in eine mordlustige tobende Mänade, die in ihrem Wahn sogar ihren Sohn tötet. Die griechische Tragödie ist das tödliche Maskenfest schlechthin. Nur Ödipus, der die persona (der lateinische Begriff für Maske) seines Vaters wie die seiner Mutter in verhängnisvoller Weise verkennt, darf als Geblendeter nach der Katastrophe noch weiter auf Erden wandeln. Und ist die schönste Frau der Antike, Helena, als Auslöserin des unheilvollen trojanischen Krieges nicht vielmehr eine Unglücks- als eine Glücksbringerin? Auch die übermächtige Natur hatte die längste Zeit für die Menschen nichts Schönes, auch nichts Erhaben-Schönes an sich. Erst der umfriedete, umzäunte Bezirk konnte als Garten oder Park seine paradiesischen Qualitäten entfalten. Der Begriff „Paradies“ geht auf das alt-persische pairi-daeza (umgrenzter Bezirk) zurück. Der schöne menschliche Körper, der lange Zeit als die Krone der Schöpfung galt, ist bekanntlich immer von Verfall bedroht. Selbst die moderne Medizin mit all ihren hilfreichen Entwicklungen kann unser problematisches Verhältnis zum eigenen Körper nicht befrieden. Unser Körper erscheint uns das eine Mal als Quell höchster Lust, das andere Mal als unentrinnbares Gefängnis; als hinterhältiger Feind wie auch als selbstverständlicher, kaum wahrgenommener Freund. Vielleicht wird die Gentechnologie einmal den Traum des unzerstörbaren und ewigen Körpers verwirklichen – aber nicht in dieser begrenzten Welt.
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GELD UND MAGIE
SCHร NHEITEN
Exkurs
Schรถnheiten des Geldes Geld und Magie
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GELD UND MAGIE
SCHÖNHEITEN
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Wir vertrauen dem Geld nicht deshalb, weil es einen bestimmten Wert hat, sondern das Geld hat diesen Wert, weil wir darauf vertrauen. Und ein solches Vertrauen rückt es in die Nähe eines religiösen Glaubens.
Maske mit Magier 2017 — Acryl/Fine Art Print auf Dibond 105 × 70 cm
Die folgenden Bilder und Texte sind einem Thema gewidmet – ohne sich gänzlich darin zu erschöpfen –, das auf den ersten Blick wenig mit den Schönheiten gemeinsam hat: dem Geld. Und dennoch gibt es einen Zusammenhang, der normalerweise so gut wie unbemerkt bleibt, obwohl wir (noch) täglich mit ihm zu tun haben, nämlich die Ästhetik und Sinnlichkeit des Geldes, verkörpert durch die Bilder auf den Münzen und vor allem auf den Banknoten. Letztere werden hier in Fragmenten und Ausschnitten in teilweise übermalten Collagen präsentiert. Dabei wird deutlich, dass „die ästhetischen Qualitäten des Geldes eine rhetorische Funktion haben“. 35 Beim schönen Schein der Geld-Bilder geht es um die Bestätigung und die Verstärkung einer Art Glauben, der im Wesentlichen im Vertrauen auf den Wert des Geldes besteht. Geld und Magie – so der Titel meiner Collagenserie – verweist auf einen Zusammenhang, den schon Goethes Faust erkannte, nämlich die wunderbare Geldvermehrung durch das Papiergeld, das man mit dem alchemistischen Prozess verglichen hat.
35 Gottfried Gabriel, Ästhetik und Rhetorik des Geldes, Stuttgart 2002, S. 43
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GELD UND MAGIE
Allerdings gelang den Alchemisten nie, was nun in der Geldwirtschaft möglich wurde, nämlich die Herstellung von Gold, sprich Geld, das sich wunderbar selbst vermehrte. So habe ich bei vielen meiner Geld-und-Magie-Bild-Collagen Fragmente von Grafiken auf Banknoten mit alchemistischen Abbildungen, meist aus dem 17. Jahrhundert, und Plakaten von Zauberern und Magiern kombiniert, die um 1900 im Zirkus und sonstigen Vergnügungsetablissements auftraten. In Geld und Magie 01 werden Kaninchen aus Eimern gezaubert, Schweine grunzen vor einer alchemistischen Zeichnung, während links ein junger wackerer Bergmann sein Untertagewerk mit dem Presslufthammer verrichtet. Zahlen sowie Plus und Minus schwirren durch die übermalte Collage. Der Kumpel entstammt einer Grafik auf einer Banknote, als wollte man damit andeuten, dass nur die stete fleißige Arbeit den Wert des Papiergeldes garantiert; vielleicht mit dem Hintersinn, dass man doch nicht nur das schwarze Gold aus dem Berginnern gewinnt, sondern eines Tages auf eine Ader mit wirklichem Gold stößt. In der Vormoderne stellte man sich die Materie als belebt vor. Damit verband die Alchemie eine lange mythologische Tradition der „Heiligen Hochzeit“ (dem hierós gámos) mit der „Chymischen Hochzeit“. Diese beinhaltet die Vereinigung von männlichem Sulphur (Schwefel) und weiblichem Mercurius, die eine neue Substanz als ihr Kind zeugen, das wiederum als Mercurius bezeichnet wurde. Die Protagonisten dieser „Chymischen Hochzeit“ können in der Alchemie auch König und Königin oder Sol (Sonne) und Luna (Mond) sein. Mercurius vermittelt zwischen Körper und Geist und wird oft als Hermaphrodit dargestellt, der Männliches mit Weiblichem verbindet. Überhaupt macht es für uns Heutige den Charme der vergangenen alchemistischen Welt aus, dass dort, wo heute unpersönliche Formeln und empirische Wissenschaft herrschen, ein buntes Gewimmel aus personifizierter Materie sich tummelt mit fast surrealistischem Gepränge. Die alchemistische Kopulation der geflügelten Sol und Luna – geflügelt deshalb, weil sich die Körper in flüchtigem Zustand befinden – wird in Sol und Luna mit anderen geflügelten Wesen konfrontiert, nämlich zwei Vögeln, die ich einer Banknoten-Grafik entnommen habe.
SCHÖNHEITEN
Mutus Liber (Stummes Buch) Tafel 14 — 1677
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Ein Kenner der alchemistischen Materie, Jörg Vollnagel, kommentiert die Abbildung Mutus Liber „Tafel 14“, der ich einen Teil für meine Collage Geld und Magie 11 entnommen habe, folgendermaßen: In der ersten Reihe sind drei Öfen zu sehen, die für eine Trinität des Feuers stehen. Darunter sorgen drei Personen für ein ständiges Köcheln der Materie. Es folgen in der dritten Ebene zwei Öfen, die links Albedo, das Kleine Werk und rechts Rubedo, das Große Werk anzeigen. Geduld ist vonnöten, bis der Alchemist die Transmutation (Verwandlung) erzeugen kann. Darauf verweist die Devise „Ora Lege Lege Lege Relege Labora et Invenies.“ – „Bete, lies, lies, lies, lies wieder, arbeite und du wirst finden.“ 36 Insbesondere die wunderbare Geldvermehrung mit der Einführung des Papiergeldes ab dem 17. Jahrhundert zeigt den magischen Charakter des Geldes. Dies hat Ökonomen wie Hans Christoph Binswanger veranlasst, die moderne Wirtschaft und die entfesselte globale Geldzirkulation als eine „Fortsetzung der Alchemie mit anderen Mitteln“ zu bezeichnen. 37 Die vergebliche Suche der Alchemisten nach dem „Stein der Weisen“, nach der Umwandlung von Materie in Gold habe in der modernen Geldwirtschaft „als das Geldkapital, das, selber Geld, wiederum Geld schafft“ 38 endlich Erfolg gehabt. In Geld und Magie 10 habe ich ein seltsames Paar auf einer Banknote mittels Collage in einen Zusammenhang gebracht mit dem philosophischen Merkur, in einer Phiole, die hier von zwei Putti gehalten wird. Der Kopf der Dame links ist das Auge Gottes und der Herr daneben muss einen Affenkopf tragen, alles den schönen Bildern auf Banknoten entnommen.
36 Jörg Völlnagel, Alchemie – die königliche Kunst, München 2012, S. 228 37 Hans Christoph Binswanger, Geld und Magie, Hamburg 2005, S. 51 38 Ibid. S. 44
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GELD UND MAGIE
Geld und Magie 01 2016 — Arcryl/Collage 33 × 48 cm
SCHÖNHEITEN
Sol und Luna 2016 — Fine Art Print unter Acrylglas 45 × 60 cm
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SCHÖNHEITEN
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Et in Arcadia ego. Auch ich, der Tod, in Arkadien.
Garten der Lüste 2011 — Aquarell/Print 74 × 54 cm
Der arkadische Bedeutungskomplex beschäftigt mich schon seit langem. So hatte ich 2002 im Kunstverein Ottobrunn eine Ausstellung unter dem Titel Et in Arcadia ego. Es wäre nicht nur vermessen von mir, sondern auch töricht, mich selbst irgendwie in Arkadien zu wähnen. Vielmehr sehe ich darin eigentlich einen Nicht-Ort, der gerade deshalb seit langem die verschiedensten Assoziationen und Anregungen weckt. Ich bevorzuge den Ausdruck Arcadia gegenüber dem ähnlichen des „Paradieses“ vor allem deshalb, weil letzterer nicht nur zentral mit der christlichen Heilslehre, sondern heute auch mit unendlichen Trivialbedeutungen verknüpft ist. Abgesehen davon, dass wir es hier mit einem recht interessanten Fall von kulturindustrieller Übertragung ehemals soteriologischer Vorstellungen auf heutige Kauf- und Freizeitgewohnheiten zu tun haben, möchte ich meine diesbezüglichen künstlerischen Arbeiten nicht mit christlichen Heilsgewissheiten belasten. Dass Kunst irgendetwas mit Erlösung zu tun haben könnte, ist uns seit Richard Wagner – gelinde ausgedrückt – so fremd geworden, dass ich der Letzte wäre, der diesen Begriff, der mich gleichwohl immer wieder beschäftigt, als künstlerisches Strukturmerkmal reaktivieren wollte. Die mythische Überhöhung des peloponnesischen Landstriches Arkadien stammt bereits aus der Antike. Mich interessiert in meiner Kunst daran weniger das Fortleben der Antike, das in den letzten Jahrhunderten die Künstler zu den schönsten Schöpfungen inspirierte, als vielmehr die damit verbundene Konnotation einer fiktiven rauen, aber unverdorbenen Naturbeziehung, die seit den höfischen Parkanlagen bis hin zu modernen Aussteiger-Bewegungen eine ungebrochene Faszination ausübt.
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Garten der Lüste 29 2011 — Fine Art Print auf Dibond 105 × 70 cm
In jüngerer Zeit ist diese ehemalige Natursehnsucht einer – auch ökologisch bestimmten – allgemeinen Liebe zu einer schönen Natur gewichen, die nicht nur touristisch genutzt, sondern (hoffentlich immer mehr) auch im Sinne einer Erhaltung und Renaturierung gesehen wird. Damit verliert endlich die künstlerische Darstellung einer schönen Natur, z. B. einer Kultur- oder Parklandschaft, immer mehr das Odium des affirmativen Charakters, womit man als Künstler in den letzten Jahrzehnten massiv konfrontiert war. Meine Schönen inmitten einer idyllischen Natur haben etwas zu tun mit dem spätmittelalterlichen höfischen Liebesgarten, dessen „Atmosphäre jede Landschaftsform prägen sollte, die die Stimmung der Ferne, des Wilden und Mythischen vermitteln wollte“ 55. Das Schöne wäre aber nicht „des Schrecklichen Anfang“ (Rilke), wenn nicht auch das Schreckliche, das man in der Ästhetik mit dem Erhabenen bezeichnete, in meine Arbeiten Eingang gefunden hätte – allerdings in Form märchenhafter vormoderner Monstren. So tummeln sich in meinen Bildern Bikini-Schönheiten vor der Kulisse mehr oder weniger traumhafter Strände und Wälder, den Hochglanzbroschüren entsprungen, die unsere kollektiven Beauty-Sehnsüchte sowohl wecken als auch illustrieren. Weit davon entfernt, diese unsere Schönheits-Sehnsüchte zu diskreditieren, vermitteln die Beauties und ihre Monstren einen Charakter des Schönen, des Erotischen und des Unheimlichen, wie in Hieronymus Boschs Triptychon der Garten der Lüste, der mir Quelle war für eine Reihe von digitalen Collagen und Aquarellen. Die idealisierte Vorstellung von Arkadien geht auf Vergils Hirtengedichte zurück, die von 42 bis 39 v. Chr. entstanden sind. Der Dichter bezieht sich auf eine Landschaft inmitten der griechischen Peloponnes mit hohen Bergen, üppiger, aber rauer Natur, die von umherziehenden Hirten mit einem einfachen, naturhaften Leben bevölkert war. Arkadien lässt sich aber auch als einen imaginären Ort begreifen, der gerade deshalb Künstler seit jeher fasziniert hat. „Arkadien hingegen suggeriert zugleich eine auf Erden mögliche Lebensform, die zwar an den Anfang aller Menschheitsgeschichte zu stellen wäre, aber im Prinzip von den Menschen wiedererweckt werden könnte; ganz
55 Evangelina Kelperi, Die nackte Frau in der Kunst, München 2000, S. 143
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unmöglich wäre eine Rückkehr zum einfachen Leben der Hirten und Schäferinnen eigentlich nicht, so wie es ja die Landschaft Arkadien wirklich gibt.“ 56 Glaubt man den Versprechungen der Kulturindustrie mit ihren massenhaft und inflationär apostrophierten Trivial-Paradiesen, für deren Aufzählung eine Seite nicht ausreichen würde, so leben wir im „Goldenen Westen“ schon in einer Art „Irdischem Paradies“, dessen Kehrseiten aber die diversen Höllen woanders darstellen. Gegenüber einem ewigen Leben im Paradies gibt es aber in Arkadien den Tod. 57 Während bei Poussin die arkadischen Hirten etwas ratlos einen Sarkophag betrachten, flankiert von einer elegischen antiken Schönen, posieren die modernen Models in der freien Natur ohne Sarkophag, aber umgeben von seltsamen malerischen Strukturen und Icons. Muse, erzähle mir doch von der goldenen Aphrodite, Zyperns Herrin, die Liebesverlangen sowohl bei den Göttern wie bei den Völkern der sterblichen Menschen hervorruft und auch die Vögel des Himmels bezwingt sowie sämtliche übrigen Tiere, die auf dem Festland sich tummeln wie auch in den Fluten des Meeres. Gleich bedeutsam für alle ist doch die kytherische Göttin. 58 Dies sind die ersten Verse einer der „Hymnen“ an Aphrodite, die aus homerischer Zeit stammen und somit zu den frühesten Werken der europäischen Dichtkunst zählen. Der Hymnus beginnt mit der überwältigenden Macht der Schönheits- und Liebesgöttin, welche bei den Göttern, den „vergänglichen Menschengeschlechtern“ und den Tieren allesamt „sehnsüchtige Liebe erregt“. Hier ist noch die Ambivalenz spürbar, die die frühen Gottheiten auszeichnete. Auch Aphrodite kann eine furchtbare Göttin sein. Als die Herrin der Tiere wird sie im Hymnus angesprochen. Schaurig ist ihr Geburtsmythos, nach dem sie als „Schaumgeborene“ aus dem im Meer treibenden abgehauenen Zeugungsglied des Uranos, des Himmels, sich erhebt. In Aphrodite sind Schönheit und Eros vereint, was sich
56 Reinhard Brandt, Arkadien in Kunst, Philosophie und Dichtung, Freiburg/Berlin 2006, S. 12f. 57 Erwin Panofsky, Et in Arcadia ego, in: Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, Köln 1978, S. 351ff. 58 Hymnus an Aphrodite, in: Homerische Hymnen (übersetzt von L. Bernays), Darmstadt 2017, S. 99
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Arcadia 13b 2017 — Fine Art Print auf Dibond 75 × 105 cm
Nicolas Poussin Et in Arcadia ego (Die Hirten Arkadiens) — 1640
in ihren diversen Affären manifestiert. Dass die antike Vergöttlichung von Schönheit und Erotik im Christentum trotz ihrer Sublimierung zur agape eher dämonische, um nicht zu sagen, teuflische Züge annahm, muss hier nicht weiter ausgeführt werden. In einigen meiner neuen übermalten Collagen habe ich Schönheiten mit dämonischen Engelsgestalten und anderen alptraumartigen Monstern konfrontiert. Dies ist die Art von Schönheit, wie sie von Baudelaire im „Hymnus an die Schönheit“ besungen wird.
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SCHÖNHEITEN
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Die Zukunft der Schönheit...
Arcadia (Toskana) 2018 — Acryl/Fine Art Print auf Dibond 100 × 75 cm
Es ist noch gar nicht so lange her, da wurde viel über das „Ende der Kunst“ und selbstverständlich über die Kunst „nach ihrem Ende“ gesprochen. Die Rede vom Ende der Kunst geht bekanntlich auf Hegel zurück, der allerdings diese längst zur stehenden Redewendung gewordene Formulierung so nie gebraucht hat. „Es heißt zwar, dass etwas ‚vergangen‘, ‚verloren‘, ‚vorüber‘ sei; dass die Kunst über sich selbst hinausgegangen sei, und Hegel behauptet auch, dass es eine Vollendung der Kunst gibt und dass sie einen Endzweck hat.“ 68 In der „schier endlosen“ Fachliteratur zum Thema gebe es, so Eva Geulen, noch nicht einmal eine Einigung darüber, ob Hegel überhaupt von einem Ende der Kunst gesprochen habe. Selbstverständlich muss ich die Diskussion darüber den Hegelkennern überlassen; allein, ich denke, dass auch die Hauptbetroffenen, die Künstler selbst, sich dazu zu Wort melden sollten. Behauptet doch Hegel nichts weniger als, dass nun, d. h. zu Zeiten der Romantik, „der Gedanke und die Reflexion die schöne Kunst überflügelt habe“. 69 Seitdem hat das Verfassen von Schriften zum Thema Ästhetik eine gewaltige Produktivität erreicht. So listet das größte OnlineVersandportal allein 10.000 Titel dazu auf. In den letzten Jahrzehnten, in Zeiten also einer rasant fortschreitenden Globalisierung, hat die moderne Kunstwelt unvorstellbare Dimensionen angenommen – und natürlich auch die Anzahl der professionellen KünstlerInnen weltweit.
68 Eva Geulen, Das Ende der Kunst, Berlin 2002, S. 23 69 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Einleitung in die Ästhetik, Werke 13, Frankfurt a. M. 1970, S. 24
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Herausgeber und Künstler Heribert Heere www.heereart.com Autoren Heribert Heere Pravu Mazumdar Marga und Walter Prankl Martin Weidlich Gestaltung Olga Funk www.olgafunk.com Herstellung, Kerber Verlag Jens Bartneck Projektmanagement, Kerber Verlag Verena Simon, Martina Kupiak Lektorat Martin Weidlich Korrektorat Christine Marth
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Gesamtherstellung und Vertrieb: Kerber Verlag, Bielefeld Windelsbleicher Str. 166–170 33659 Bielefeld, Germany Tel. +49 (0) 5 21/9 50 08-10 Fax +49 (0) 5 21/9 50 08-88 info@kerberverlag.com KERBER Publikationen sind weltweit in ausgewählten Buchhandlungen und Museumsshops erhältlich (Vertrieb in Europa, Asien, Süd- und Nordamerika).
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181,5 mm
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Einbrennfalz 7,5 mm
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Die Gemälde, Aquarelle und Collagen des Münchner Künstlers Heribert Heere (*1948) sind Expeditionen in die „künstlichen Paradiese“ historischer und gegenwärtiger Schönheitsvorstellungen. Von der Antike bis in die Gegenwart liefern Gedichte, Mythen und Populärkultur die Motive, von denen er sich zu glamourösen, dämonischen, erotischen, philosophischen oder auch religiösen Exkursen über sämtliche Facetten des Schönen anregen lässt. Schönheit ist dabei für Heere ein utopisches Ereignis, das verheißungsvoll und strahlend sein kann, im selben Augenblick aber ebenso trügerisch und ernüchternd.