Wir müssen uns gemeinsam erinnern

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Mittwoch, 30. Januar 2013 Nr. 25

Die Seite Drei

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Die Schlucht Babyn Jar am Stadtrand von Kiew ist heute Symbol des Holocausts in der Ukraine. Der Hamburger Schüler Max Jacob betrachtet dort die Minora, ein jüdisches Denkmal. Fotos Eckstein (2)/dpa

„Wir müssen uns gemeinsam erinnern“ Die Gedenkveranstaltung für die Opfer des Nationalsozialismus ist eine Tradition in der deutschen Erinnerungskultur. Heute wird Inge Deutschkron im Bundestag berichten, wie sie als Jüdin in Berlin überlebt hat. Die meisten Toten gab es in Osteuropa, in Ländern wie der Ukraine. Eine Gruppe Jugendlicher aus ganz Europa besuchte jetzt, unterstützt mit Mitteln des Bundestags, die Stadt Kiew. Eine erschütternde Zeitreise. Von Lara Eckstein Babyn Jar am Stadtrand von Kiew ist heute ein friedlicher Ort: Rasen und Bäume liegen unter einer dichten Schneedecke, Kinder rodeln auf Schlitten die Hügel hinunter. Unvorstellbar, was der Fremdenführer der Gruppe Jugendlicher erzählt, die er über das Gelände führt: dass am 29. und 30. September 1941 ein Sonderkommando der Nazis hier die Juden aus der eroberten Stadt zusammengetrieben hat. „Männer, Frauen und Kinder: Alle haben sie erschossen.“ Mehr als 33 000 Menschen innerhalb von zwei Tagen. Babyn Jar ist einer der größten Friedhöfe Europas und das Symbol des Holocausts in der Ukraine. Unter den 80 Teilnehmern der Jugendbegegnung sind viele Schüler und Studenten

aus Deutschland. „Es waren Deutsche, die hier gemordet haben“, sagt Max Jacob. „Deshalb ist es wichtig, dass wir uns damit beschäftigen.“ In seiner Heimatstadt Hamburg hat der 17-Jährige eine Gedenkstätte in der HafenCity mit entworfen. Der ehemalige Deportationsplatz ist ein Erinnerungsort vor der eigenen Haustür. Die Massenerschießungen in der Ukraine dagegen scheinen weit weg – und doch ist die Auseinandersetzung mit ihnen unverzichtbar, um das Ausmaß des Schreckens zu verstehen, den die Nazis über ganz Europa gebracht haben. Wassili Michailowski erinnert sich noch genau an den Tag, an dem er nach Babyn Jar ging. Die Nazis hatten die Anweisung gegeben, alle Juden der Stadt Kiew hätten sich am 29. September 1941 dort einzu-

Wassili Michailowski ist einer der letzten Überlebenden von Babyn Jar. Doch viel präsenter als der Holocaust ist in der Ukraine der Holodomor: An diese von Stalin angeordnete Hungersnot 1932/33, bei der mehrere Millionen Ukrainer starben, erinnert in Kiew eine große Gedenkstätte.

finden. Wer nicht gehorche, würde erschossen. „Meine Mutter war gestorben, mein Vater in Kriegsgefangenschaft“, erzählt Michailowski den Jugendlichen. Er selbst war noch ein kleines Kind, gerade vier Jahre alt. „Aber ich war Jude. Also musste ich gehen.“ Seine Kinderfrau reihte sich mit ihm in den Menschenstrom, der aus der Stadt hinaus zog. Beide ahnten zunächst nichts von der drohenden Gefahr. Doch als sie sich der Schlucht näherten, begannen die SS-Männer, sie mit Stöcken und Gewehrkolben zu schlagen. Panik brach aus.

„Ich fiel zu Boden, begann zu bluten und schrie wie am Spieß“, berichtet Michailowski. „Verzweifelt schwenkte mein Kindermädchen seinen Pass. ‚Ich bin Ukrainerin‘, rief sie immer wieder. ‚Wir gehören nicht hier her!‘ Ein Soldat hatte Mitleid und zog uns aus der Menge.“ Alle anderen wurden weitergetrieben, an den Rand der Schlucht. Sie kamen nie wieder zurück. 1,5 Millionen Juden töteten die Nationalsozialisten während ihrer Besatzung in der Ukraine. Auch Roma und Kriegsgefangene wurden systematisch erschossen. Der

Feldzug in Richtung Osten war ein Vernichtungskrieg: Ziel war die Gewinnung von „Lebensraum“; die Menschen mussten verschwinden. Bei Kriegsende war jeder fünfte Ukrainer tot. „Wir müssen diese Zahlen mit Leben füllen“, sagt der ukrainische Historiker Boris Zebarko. „Es ist wichtig, von jedem einzelnen Opfer des Holocausts zu berichten.“ In der Ukraine, einer jungen, stolzen Nation, hat die Aufarbeitung dieser Verbrechen gerade erst begonnen. Viel Zeit bleibt nicht: Wassili Michailowski ist einer der letzten Überleben-

den von Babyn Jar. Die Deutschen kennen bereits viele Gräueltaten, viele Opfer der Nazizeit – so viele, dass ihr Blick oft nicht bis ans Schwarze Meer reicht. „Dass der Holocaust einen Großteil seiner Opfer in Osteuropa forderte, ist bei uns viel zu wenig bekannt“, sagt Jochen Guckes, Leiter der Jugendbegegnung. „Unser Projekt soll zeigen, wie viele verschiedene Perspektiven es auf die Geschichte gibt, und dass wir uns in Europa gemeinsam erinnern müssen.“ Die 80 Jugendlichen aus ganz Europa haben viel diskutiert: über Nationalismus, Antisemitismus und Erinnerungspolitik. „Die Ukraine war mir immer fremd, ein ferner Teil der früheren Sowjetunion“, sagt Max. „Jetzt weiß ich, wie modern die Leute in Kiew denken und wie aufgeschlossen sie uns gegenüber sind.“ Heute nehmen die Jugendlichen gemeinsam an der Gedenkstunde im Bundestag teil. Deutsche sitzen neben Ukrainern, Franzosen und Polen, wenn sie der Opfer des Nationalsozialismus gedenken. „Ich hoffe, dass die schwarze Hand des Faschismus nie über euch kommt“, hat Wassili Michailowski den Jugendlichen zum Abschied gewünscht. Sie kennen nichts anderes als ein friedliches Europa – und es liegt an ihnen, dass es so bleibt.

Im Alter kommen viele Traumata ans Tageslicht musste um Nahrungsmittel- Seit September des vergangesendungen bitten. Er hat noch nen Jahres arbeite ich hier in „Heut haben wir Groß- viele Briefe von damals, in de- Łódz für ein Jahr als Volontär deutschland – morgen die gan- nen die Schwärzungen der im „Centrum Opieki Socjalze Welt... Und jetzt raus hier! Zensur deutlich sichtbar sind. nej“, einem Zentrum mit rund sieben Mitarbeitern, von Verschwinde du verfluchter dem aus nach ganz Polen, Pole!“ So endet Herrn Tanach Weißrussland und in deuszs Gedankenfetzen. die Ukraine Hilfsgüter wie Herr Tadeusz war Gefangewarme Decken und Kleiner im Konzentrationslager dung sowie Medikamente Stutthof (bei Danzig) und verschickt werden. Diese lebt jetzt in Łódz in Polen. Güter sind für KZ-ÜberleHeute ist er 91 Jahre alt und bende gedacht, die mittlerleidet an der Alzheimerweile schon sehr alt geworKrankheit. Immer wieder den sind und wegen der unterbricht er seinen Redeschlechten Krankenversifluss und fängt an, deutsche cherungslage dringend HilLieder zu singen und offenfe benötigen. In diesem sichtlich häufig gehörte BeZentrum haben wir auch eifehle von SS-Männern zu nen Mittagsessens- und Bewiederholen. Während seisuchsdienst. Bei diesen Täner vierjährigen Gefangentigkeiten kommt man schaft erkrankte er an Tuschnell mit Zeitzeugen ins berkulose und wog irgendGespräch. wann nur noch 34 KiloAls ich mich dafür entgramm. Wenn er Briefe schieden hatte, mein Studischreiben durfte, dann um der katholischen Theodurften diese höchstens logie für zwei Semester zu zehn Zeilen lang sein, er durfte nichts von seiner Er- Minorit Maximilian Kolbe (1894- unterbrechen, hatte ich erwartet, dass all diese Gekrankung schreiben und 1941) starb im KZ Auschwitz. Von Georg Taubitz

spräche mit großer Schwere und Trauer verbunden sein würden. Vom ersten Tag an bin ich aber überrascht worden. Die Zeitzeugen scheuen sich überhaupt nicht, ihre Geschichten mit mir zu teilen. Auch habe ich bisher noch keine Abneigung gespürt, weil ich Deutscher bin. Ganz im Gegenteil: Eine Dame, der ich regelmäßig das Essen bringe, schwärmt immer von den so kulturvollen Deutschen. Es sei wunderbar, dass es in diesem Zentrum deutsche Freiwillige gebe. Die Nazis seien natürlich fürchterlich gewesen, die hätten keine Kultur gehabt. Aber jetzt gäben sich die Deutschen eine solche Mühe, sich um die Überlebenden zu kümmern. Dann verfällt sie immer in Lobeshymnen über mich und entschuldigt sich am Ende, dass sie es leider nicht mehr schafft, alleine einkaufen zu gehen, um mir eine Tafel Schokolade zu kaufen. Das „Centrum Opieki

Socjalnej“ wird durch die Jesuitenmission in Nürnberg gefördert und vom Maximilian-Kolbe-Werk getragen. Dessen Patron war ein polnischer Franziskaner-Pater, der sich 1941 im KZ-Auschwitz vor einen Mithäftling mit Familie gestellt hatte, dafür in den Hungerbunker gegangen und gestorben war. Das Maximilian-KolbeWerk hat sich die Aufgabe gegeben, den Überlebenden der Konzentrationslager und Ghettos der Nazizeit zu helfen, nicht nur, um deren Lebenssituation zu verbessern, sondern auch, um ein Zeichen der Versöhnung zu setzen. Nichts in der Welt kann die Qualen dieser Menschen wiedergutmachen. Oft sitzen die Traumata tief und kommen im hohen Alter wieder ans Tageslicht – die Überlebenden müssen vieles nochmals durchmachen. Ihnen zuzuhören, gibt ihnen wenigstens ein Stück Erleichterung.

Georg Taubitz ist Priesteranwärter aus Kiel und betreut zurzeit im polnischen Lodz HolocaustÜberlebende. Fotos hfr/dpa www. www.maximilian-kolbewerk.de


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