MG-L3
Lokales C3
RHEINISCHE POST MONTAG, 27. JANUAR 2014
Manfred Deselaers: Ein Leben in Auschwitz Um Versöhnung zu predigen, verließ er Gladbach. Deselaers ging nach Auschwitz, wo die Nazis mehr als eine Million Juden umbrachten. VON BENEDIKT PETERS
Manfred Deselaers schaut ernst, als er in den Stuhlkreis tritt. Mitten zwischen den jungen Leuten auf den grauen Sitzpolstern klafft noch eine Lücke, und genau in diese setzt er sich. Er lehnt sich zurück und wartet. Deselaers trägt Schwarz, von den Schuhen bis zum Pulloverkragen. In der Mitte des Kreises brennt eine einsame Kerze. Er öffnet den Mund und schließt ihn wieder. „Stimmt, ich muss Englisch reden“, sagt er wie zu sich selbst. Einige der jungen Zuhörer nicken. Sie kommen aus Russland, Frankreich, Österreich oder Georgien. Einige sind Polen, die meisten stammen aus Deutschland. Es ist eine Gruppe von 22 Studenten und jungen Journalisten, die das Maximilian-Kolbe-Werk auf eine Reise nach Oswiecim eingeladen hat. Die deutsche Ortsbezeichnung „Auschwitz“ verwendet man im Polnischen nur noch für das Areal, auf dem früher die Konzentrationslager standen, heute ist es eine Gedenkstätte. Das Stammlager Auschwitz I ist nur ein paar Schritte von dem Haus entfernt, in dem der Stuhlkreis
„Auschwitz is an open wound“ – eine offene Wunde Manfred Deselaers Theologe
steht. Es wird still. „Auschwitz is an open wound“, sagt Deselaers, Auschwitz ist eine offene Wunde. Sein Englisch ist flüssig, auch wenn sich das „r“ nicht so recht rollen lassen will. Manchmal wechselt er ins Deutsche oder Polnische. Eineinhalb Stunden lang spricht Deselaers über das, was Auschwitz zur Wunde macht. Von den mindestens 1,1 Millionen Menschen, die in den Konzentrationslagern ermordet wurden oder an Hunger, Kälte und Erschöpfung starben. Von den jüdischen Frauen, Alten und Kindern, die aus dem Zug in die Gaskammern geschickt wurden. Und er spricht über mordende Besatzer und deutsche Zivilisten, die in Auschwitz wohnten und mit dem Grauen Tür an Tür lebten, ohne etwas zu tun. Seit 24 Jahren lebt Deselaers in Oswiecim, vorher war er Kaplan in Mönchengladbach. Er arbeitet im „Zentrum für Dialog und Gebet in Oswiecim“, einem katholischen Gästehaus am Rande des Ortes. Er predigt Versöhnung in polnischen Dörfern, die die Nazis niedergebrannt haben. Er spricht mit betagten Polen, die sahen, wie SS-Leute wehrlose Frauen und Kinder erschossen. Einige Holocaust-Überlebende zählt er zu seinen Freunden. In Deselaers’ Arbeitszimmer steht eine wuchtige Holztruhe, darauf türmen sich Bücher mit dunklen Einbänden und Papierstapel. Seitdem er in Oswiecim ist, beschäftigt er sich wissenschaftlich mit der Frage, wie es zu der „Wunde Auschwitz“ kommen konnte. Seine Doktorarbeit schrieb er über Gott und das
Bei Minusgraden und mit einer wärmenden Wollmütze führt Manfred Deselaers die Besuchergruppen im Winter in ein Kellergewölbe, um ihnen die Bleistiftzeichnungen des Häftlings Nr. 432, Marian Kolodziej, zu zeigen. RP-FOTOS: MARCIN LACHOWICZ Böse im Hinblick auf Rudolf Höß, den Lagerkommandanten von Auschwitz. Viele Jahre lang hielt er an der Universität Krakau Vorlesungen, zum immer gleichen Thema: „Theologie nach Auschwitz“. Über die Jahre hat Deselaers für sich eine Erklärung für die Wunde gefunden. An diesem Abend Ende Januar erzählt er auch den jungen Leuten auf den grauen Stühlen davon. „Die Nazis haben versucht, ihre Opfer vollkommen zu entmenschlichen. Im Lager waren sie keine Personen mehr, sondern nur noch Häftlingsnummern.“ Erst dadurch hätten die Täter alle Beziehungen zu den Opfern kappen und sie schließlich töten können. Dass neue menschliche Beziehungen entstehen und bleiben, dafür will Deselaers sorgen. Nur so, glaubt er, kann die Gefahr einer ähnlichen Katastrophe dauerhaft gebannt werden. Solche Begegnungen zu ermöglichen, das hat er sich zu seiner Lebensaufgabe gemacht. In das Gästehaus in Oswiecim kommen Schulklassen und Studiengruppen aus aller Herren Ländern, Deselaers hält ihnen Vorträge, die er von seinem Büro im zweiten Stock aus vorbereitet. „Manchmal bin ich auch einfach
Manfred Deselaers im Gespräch mit einer Besucherin. nur da. Es genügt schon, wenn man einfach nur da ist.“ Neben der Journalistengruppe flitzen gerade Schüler aus Kerpen durch die Hausflure. Um die jungen Leute sorgt sich Deselaers besonders. „Für viele von ihnen ist das Grauen des Zweiten Weltkriegs schwer vorstellbar. Die letzte Generation derjenigen, denen Opa und Oma vom Krieg erzählten, stirbt gerade aus.“ Dann, könnte man mit Deselaers sagen, droht
wieder die „Gefahr der Entmenschlichung“. Am Morgen nach dem Vortrag führt er die jungen Leute zu einem Kellergewölbe. Deselaers trägt wieder Schwarz und auf dem Kopf eine Wollmütze. Es sind zehn Grad unter Null. „Be careful, es ist glatt“, warnt er, dann geht es die vereisten Stufen hinunter. An den Kellerwänden hängen Bleistiftzeichnungen. Sie zeigen die leeren Augen schreiender Menschen, ihre Bäuche sind aufgebläht vor Hunger. Die Gesichter sind aschfahl und rissig, wie alte, bröcklige Mauern. Die Zeichnungen zeigen die Zustände in den Konzentrationslagern aus der Sicht von Marian Kolodziej, dem Häftling mit der Nummer 432. Mit dem ersten Deportationszug kam er 1940 nach Auschwitz. Bei seiner Befreiung 1945 in Mauthausen wog er 36 Kilo. Mit den Fingerspitzen fährt Deselaers an ausgemergelten, grauen Körpern entlang. Zu jedem Bild kennt er eine Geschichte und eine Interpretation. „Für Manfred, der meine Arbeiten versteht“, das hat ihm der Künstler Kolodziej einmal als Widmung in ein Buch geschrieben. „Wir waren keine Freunde, aber gute Bekannte“, sagt Deselaers
und lächelt stolz. Vor einem Bild HOLOCAUST bleibt der Priester besonders lang stehen. Es zeigt den Häftling mit der Gedenkgottesdienst Nummer 432 auf der Stirn, wie er eiheute im Münster nen leblosen Körper auf seinen ausgestreckten Armen vor sich her Heute Um der Opfer des Holoträgt. Es ist Kolodziej selbst, auf seicaust und der zivilen Opfer der Nanem Gesicht steht ein Schmerzenszidiktatur zu gedenken, gibt es schrei. „Marians Aufgabe war, die heute in Mönchengladbach einen Leichen aus der Gaskammer ins Gottesdienst. Er ist von 19 bis 20 Krematorium zu bringen. Eines TaUhr in der Münsterbasilika. ges fand er seinen besten Freund Veranstalter ist das Mönchenunter den Toten.“ gladbacher Bündnis „Aufstehen! Um seinem Freund die letzte Ehre Für Menschenwürde – Gegen zu erweisen, bahrte Marian ihn auf Rechtsextremismus“. seinen Armen auf, statt seinen Auszeichnungen Für seine Arbeit Leichnam wie die anderen bloß in Oswiecim hat Manfred Deselafortzuzerren. „So wollte er ihm die ers mehrere Ehrungen erhalten, letzte Ehre erweisen“, erklärt Desedarunter das Bundesverdienstlaers. 2009 ist Marian Kolodziej verkreuz (2008), das Kavalierskreuz storben. Vor seinem Grabstein mitdes Verdienstordens der Bundesten in der Ausstellung lässt Deselarepublik Polen (2005) und den ers die Gruppe anhalten, zur GeLandesverdienstorden NRW. denkminute. „Marian hat immer gesagt: Auschwitz ist nicht vorbei. Gruppe entfernt. Auf dem Rückweg Was früher Zyklon B (das tödliche Gift, das in den Gaskammern verzum Reisebus geht Deselaers wendet wurde, Anm. d. Red.) war, ist schweigend allein, die jungen Leute heute die Atombombe.“ In solchen reden laut durcheinander. In dieMomenten wirkt es, als entstünde sem Mai wird er 60 Jahre alt. Beiein Graben zwischen Deselaers und nahe sein halbes Leben hat er in Osseinen jungen Zuhörern. wiecim verbracht. Er ist wohl der Für sie klingt einzige Deutsche „Atombombe“ nach dem Zwei„Für Manfred, der nach Kaltem ten Weltkrieg, der meine Arbeiten verKrieg, dabei sind das getan hat, der steht“ viele von ihnen sein Leben der Ererst um 1990 geinnerung an das Marian Kolodziej Häftling Nr. 432 boren, als der Grauen verschon vorbei war. schrieb. Ihre Realität ist Auch am driteher diejenige, in der man sein Erasten Tag, an dem man ihn sieht, ist er mus-Semester ganz selbstverständvon Kopf bis Fuß schwarz gekleidet. lich in Italien verbringt oder in Ist er manchmal einsam? Deselaers Tschechien ein Praktikum macht, in überlegt einen Moment, dann der es keine Grenzen mehr gibt. Sie schiebt er die Frage beiseite. „Ich haben andere Ängste, aber sie spüglaube, andere Menschen sind einren keine permanente Bedrohung. samer. Ich habe hier einen Auftrag.“ Manche der jungen Leute haben Und dieser dauere noch bis 2018. sich in der Ausstellung von der „Mindestens.“ Anzeige
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Fußball als Brücke der Verständigung: Preis für Borussia Seit 1969 hat der Fußballverein freundschaftliche Beziehungen nach Israel. Dafür gibt es nun die Auszeichnung von der Israelstiftung. VON KARSTEN KELLERMANN
Sportlich ist für Borussia die Zukunft Hannover. Dort ist das nächste Spiel, und nur an das, versichert Trainer Lucien Favre stets, denkt er. Die Vergangenheit interessiert den Schweizer nicht. Zumindest nicht als Fußballtrainer. Doch die Vergangenheit der Borussen, ihre Geschichte, hat dem Fußballverein nun auf einer ganz anderen Ebene den Zukunftspreis 2014 eingebracht. Die Auszeichnung wird verliehen von der Israelstiftung in Deutschland. Borussia habe sich den Preis durch ihr „langjähriges, nachhaltiges und über den Sport hinaus wir-
kendes Engagement zur Völkerverständigung und Versöhnung zwischen Israel und Deutschland“ verdient, teilte die Israelstiftung mit. Präsident Rolf Königs ist auf solche Auszeichnungen besonders stolz. Denn längst ist das von ihm geführte Fußball-Unternehmen nicht mehr nur dazu da, um auf dem Rasen Punkte einzusammeln. „Wir sind, das hat eine Studie ergeben, der familienfreundlichste Fußballverein Deutschlands. Die Borussia-Stiftung arbeitet sehr erfolgreich und hat schon viele wohltätige Projekte unterstützt. Natürlich freuen wir uns sehr über den Preis der Israelstiftung“, sagte Rolf Königs.
Der Festakt ist am Dienstag, 11. Februar, im Borussia-Park. Viel Prominenz wird da sein. Der israelische Botschafter Yaakov Hadas-Handelsman ist Laudator, NRW-Landtagspräsidentin Carina Gödecke hat sich ebenso angesagt wie DFB-Präsident Wolfgang Niersbach und ExBorussen wie Berti Vogts, Herbert Laumen und Rainer Bonhof, jetzt Vize-Präsident des Klubs. Vogts und Laumen waren auch 1969 dabei, als die niederheinischisraelische Freundschaft begann. Emanuel Schaffer, der an der Sporthochschule in Köln ein Schüler von Meistertrainer Hennes Weisweiler und dann Israels Nationaltrainer war, kam mit seinem Team für ein
Trainingslager nach Deutschland. Schaffer fragte bei Weisweiler an wegen eines Testspiels, der Borussen-Trainer sagte zu. Borussia siegte auf dem Bökelberg am 12. August 1969 3:0. Im Februar 1970 reiste Borussia erstmals nach Israel. Das Auswärtige Amt stellte den Gladbachern eine Maschine der Bundeswehr zur Verfügung. Im selben Jahr gab es den zweiten Besuch in Israel. Seither gab es immer wieder Treffen und Spiele, zuletzt im Dezember 2008, als Borussia auf Einladung des DFB mit einem Nachwuchs-Nationalteam und der Autoren-Nationalmannschaft nach Tel Aviv flog. Es folgte ein Spiel gegen das seinerzeit von Lothar Matthäus trainierte
Maccabi Netanya, die Gedenkstätte Yad Vashem und die Altstadt Jerusalems wurden besucht. Dass die Borussen 1971 in Shmuel Rosenthal den ersten israelischen Spieler in die Bundesliga holten, ergänzt die Geschichte. Er hinterließ sportlich keine Spuren. Doch ist er ein Stück Fußballgeschichte – in Gladbach, Israel und Deutschland. Später holten die Borussen Gal Alberman und Roberto Colautti. Letzterer schoss am Ende der Saison, in der Borussia zuletzt in Israel war, ein historisches Tor gegen Schalke 04, durch das die Last-Minute-Rettung 2009 möglich wurde. „In vorbildlicher Weise unterhält Borussia Mönchengladbach seit
Ende der 60er-Jahre enge und vielfältige Beziehungen zu Israel. Angesichts der Bilanz von zwischenzeitlich 27 Spielen der Fohlenelf gegen israelische Mannschaften und der vorbehaltlosen Begeisterung, die die deutschen Sportler in Israel auslösten, fällt es leicht, den Fußball als Brücke der Verständigung zu bezeichnen“, teilte Gabriele Nitsch, die stellvertretende Vorsitzende der Israelstiftung, mit. Borussias Boss Rolf Königs benutzt in solchen Zusammenhängen gern das Wort „Freunde“. Tatsächlich würde auch die Israel-Stiftung diese Vokabel unterstreichen, wenn es um die Definition des Verhältnisses von Borussia und Israel geht.