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Editorial «The house of fiction has many windows, but only two or three doors.» – Was James Wood über erzählende Prosa sagt, möchte ich für alle literarischen Texte stark machen. Der Leser tritt ein, schaut sich um, versucht sich zurechtzufinden, nistet sich nach und nach ein und wählt sich sein/e Fenster. Der Eintritt kann nicht beliebig erfolgen, aber die Aussichten sind vielseitig. Grundsätzlich können sich zwei durch dasselbe Haus lesen, ohne sich darin zu begegnen – andere Türe, anderes Fenster. Das macht es spannend zu erfahren, welchen Weg ein anderer Leser zurückgelegt hat (genau der gleiche wird es nie sein) und zu welchen Fenstern er kam, wo man sich vielleicht gekreuzt hat und welcher Teil des Hauses den eigenen Augen (noch) verborgen blieb. Eine Kritik zeigt einen solchen Weg eines anderen Lesers auf – aber nicht nur. Sie breitet vor uns auch den Grundriss des Hauses aus und untersucht, wie und worauf es gebaut ist; zeigt uns nicht nur, was reizvoll an ihm ist, sondern auch, wo das Fundament brüchig ist oder das Haus gar zerfällt. Und nicht zuletzt begutachtet eine Kritik, was durch die vielen Fenster eines Textes ausgemacht werden kann, ob diese Ausblicke sehenswert sind und den LeserInnen Weitsicht ermöglichen. Kritik fragt also, was ein bestimmter Text ist, will und macht, was er auslöst, verspricht und einholt, wie und weshalb er es macht und nicht zuletzt auch: wozu. Somit beschäftigt sich Kritik von einem Text ausgehend mit allgemeinen Fragen nach den Bedingungen und Möglichkeiten der Literatur – und hat deshalb immer auch am Diskurs um Literatur teil. delirium will durch die Auseinandersetzung mit literarischen Texten nicht einfach erreichen, dass mehr geschrieben wird. Nicht Produktivität um des reinen Produzierens willen – wovor Dolores Zoe in ihrer Replik zur Erstausgabe warnt – liegt uns am Herzen, sondern ebendiese Frage, was Literatur ist, kann und soll. Wir sind überzeugt, dass sie stets von Neuem gestellt werden muss, um – egal ob als Schreibender, Lesender oder Kritisierender – dem Gegenstand der Literatur gerecht werden zu können. Kurz: Literatur ist angewiesen auf den Diskurs. Und somit ist die andere wichtige Frage – warum delirium? – schon beinahe beantwortet: Weil die Literatur den Diskurs braucht und der Diskurs die Kritik, setzen sich auch in dieser Ausgabe wieder vier KritikerInnen mit zeitgenössischen literarischen Texten von vier AutorInnen auseinander. Wir laden ein, ins delirium einzutauchen, die dort versammelten literarischen Häuser auf eigene Faust zu erkunden und sie zusammen mit den jeweiligen Kritiken auf ihre Standfestigkeit sowie die erlesenen Aussichten hin zu prüfen. Gute Reise! Laura Basso
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Inhaltsverzeichnis
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Sebastien Fanzun
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L I T E R AT U R
e n i e d n e g r i e r ä w e i s … n i t s i n i l o i beliebige V … n e d r o w e g
KRITIK
9 Dalibor Suchanek
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Auerbach Ein Gefü hl von Erleichterung und grenzenloser Freiheit habe den jungen Auerbach in grösste Erregung versetzt, schreibt Sebald, als die bis dahin regelmässig und stets pünktlich eintreffenden, manchmal besorgten und immer liebevollen Briefe der aus Berlin schreibenden Eltern nicht und fortan nie mehr eintrafen. Tagelang habe Auerbach darauf unter seiner stets schwarzen Kleidung eine Erektion mit sich herumgetragen, bis ihm eine hübsche Schauspielstudentin ermöglicht habe, sein neu gewonnenes Freiheitsgefü hl an ihr abzuexerzieren. Tatsächlich, so Sebald, sei Auerbach durch dieses Gefü hl von erleichternder Abwesenheit nicht nur zu Schauspielerinnen, sondern auch zum Schauspiel selbst getrieben worden, ganz so, als hätten sich ihm nun, da er niemandes Kind mehr war, Türen zu allen möglichen Identitäten geöff net, die sämtlich durchzuspielen er sich anschickte. Fortan habe er, der zuvor so schüchtern gewesen war, seine Mitschüler in den Pausen und manchmal sogar inmitten einer Lektion mit Passagen aus Hamlet oder mit Imitationen einer Lehrperson, eines Mitschülers oder eines Politikers unterhalten. Auerbachs Einschreibung zum Schauspielstudium an der St. Martin’s School of Art sei daraus nur logische Konsequenz gewesen. Und ohne Zweifel, schreibt Sebald, wäre aus dem attraktiven, begabten und bis zur Arroganz selbstbewussten Auerbach ein bedeutender Schauspieler geworden, wenn nicht eine zufä llige Begebenheit seinem Leben eine andere Richtung verliehen hätte. Im Anschluss an eine Auffü hrung von Schuberts Unvollendeter in der Wigmore Hall sei Auerbach nämlich mit einer jungen Violinistin ins Gespräch gekommen. Als er einige Stunden später im Dunkel seines Schlafzimmers gelegen habe, nichts hörend bis auf die leisen Atemzüge dieser Violinistin, sei er, schreibt Auerbach in seinem Tagebuch, zutiefst fasziniert gewesen von der unbegreifl ichen Art der Präsenz dieses nur durch etwas Decke und Zimmerluft von ihm getrennten Körpers, schreibt Sebald. Tatsächlich habe er nämlich, schreibt Auerbach in seinem Tagebuch, die doch eigentlich physisch von ihm getrennte Haut der Violinistin beinahe auf seiner eigenen gespürt. Dieses beinahe habe Auerbach augenscheinlich aussergewöhnlich beeindruckt, schreibt Sebald, habe er doch dieses Wort in seinem Tagebucheintrag mehrfach unterstrichen. Als Auerbach fü nfzig Jahre später der BBC ein Interview gegeben habe über seine Jugendjahre, habe er dieser in Echtzeit nur wenige Minuten dauernden und angesichts seiner übrigen jugendlichen Erlebnisse unbedeutend scheinenden Episode einen Grossteil der Gesprächszeit gewidmet, so Sebald. Nicht weniger als sieben Mal habe Auerbach das Wörtchen beinahe wiederholt, mit zunehmender Vehemenz. Beim siebenten Mal sei Auerbach schliesslich den Tränen nahe gewesen, so Sebald, worauf die Journalistin das Gespräch fast gewaltsam auf ein anderes Thema habe lenken müssen. Auch dies zeige die bedeutende Rolle, die jene kurze Episode im Dunkel seines Zimmers fü r den weiteren Werdegang Auerbachs gespielt habe. Entrückt bis an die Grenze zur Verstörung sei er am nachfolgenden Morgen gewesen, schreibt Auerbach in seinem Tagebuch, so Sebald. Mit der kurz darauf die Wohnung etwas enttäuscht verlassenden Violinistin habe er keine funktionierende Konversation mehr betreiben können. Einige Minuten lang habe er die hinter der Gehenden geschlossene Tür seiner Wohnung betrachtet und während dieser eingehenden Betrachtung habe Auerbach mit der Idee der Schauspielerei ein fü r alle Mal abgeschlossen, so Sebald. Der sichtlichen Enttäuschung seiner Professoren, die ein bedeutendes Talent verloren sahen, habe er nichts ausser seiner Entschlossenheit entgegengesetzt. Die sich als ein so zartes beinahe äussernde Präsenz der
Literatur
Violinistin habe Auerbach den Professoren gegenüber nicht erwähnt, wie er überhaupt keine Gründe angefü hrt habe, nichts kommuniziert habe ausser seinem entschiedenen
6 Literatur
Wunsch, sein Schauspielstudium schnellstmöglich abzubrechen, so Sebald. Kaum exmatrikuliert habe Auerbach sich auf seiner Suche nach jenem zarten beinahe den am Polytechnikum wirkenden bildkünstlerischen Kreisen angeschlossen. Tatsächlich habe er es für nichts als schlüssig gehalten, schreibt Auerbach in seinem Tagebuch, dass die bildenden Künste und insbesondere das Zeichnen den einzigen Weg darstellen mussten, einer so seltsamen körperlichen Wesenhaftigkeit wie derjenigen der Violinistin im Dunkel seines Schlafzimmers auf den Grund zu kommen. In die Vielzahl von auf einen nackten Menschen oder eine griechische Amphore gerichteten Augenpaaren habe sich also das Auerbachsche eingegliedert, Dienstag und Donnerstag um fünf Uhr abends, so Sebald. Nun habe es sich aber gleich bei der Entstehung der ersten Aktskizze ergeben, dass schon nach wenigen strukturierend hingeworfenen Bleistiftzügen das Verhältnis von Objekt und Bild im Auge Auerbachs auf so entscheidende Weise gestört worden sei, dass er sich genötigt gesehen habe, die Skizze sofort und restlos zu vernichten. Ob die Sonne Schuld getragen habe, die vielleicht just im ungünstigsten Moment hinter einem dünnen Wolkenfaden teils verdeckt war; ob vielleicht eine geringe, wie unbewusst ausgeführte Bewegung des Modells verantwortlich gewesen war; ob möglicherweise schliesslich eine ebenso spontane wie kaum merkliche und vergängliche Trübung des Auerbachschen Auges vorlag, liesse sich nicht rekonstruieren, so Sebald. Tatsache sei, dass die Skizze für Auerbach untragbar geworden sei und ihre anschliessende Zerstörung einziger möglicher Ausweg aus dem existenziellen Ekel, in den das Werk seinen Schöpfer offenbar für einige Sekunden versetzt habe. Die Skizze vernichtet, habe Auerbach den Kurs auf der Stelle verlassen, so Sebald. Die Enttäuschung sei die denkbar grösste gewesen. Der unendliche qualitative Unterschied zwischen der Skizze und ihrem Objekt, multipliziert mit dem unendlichen qualitativen Unterschied zwischen dem Objekt der Skizze und dem Objekt des Auerbachschen Zeichenhungers, jenes eigentümliche beinahe, habe sein Denken auf Monate hinaus verfinstert, so Auerbach in seinem Tagebuch, schreibt Sebald. Wie Auerbach in seinem Tagebuch schreibt, sei er in London in einem Restaurant gesessen und habe seinen Tisch betrachtet und dieser Tisch, in seiner skrupellosen physischen Gewöhnlichkeit einerseits, und seiner pointierten Nützlichkeit andererseits, sei ihm wie ein Angriff auf seine Person erschienen. Und so habe er sich entschlossen, dieser seiner Person ein Ende zu machen, so Auerbach in seinem Tagebuch. Als eine eigentümliche Laune des Zufalls erscheine es im Nachhinein, schreibt Sebald, dass Auerbach auf dem als seinen letzten geplanten abendlichen Weg zur Themse hinunter an der Wigmore Hall vorbei geschritten und sein enttäuschtes Auge auf das Plakat gefallen sei, das für jenen Abend Schuberts Unvollendete ankündigte. Als einen «Satz jener fremdartigen Sprache des Chaos, mit so etwas wie einem Ausrufzeichen am Ende» habe Auerbach in seinem Tagebuch jenen Umstand bezeichnet, so Sebald, und dieser Dynamik habe sich der Enttäuschte hingegeben und sich also erneut, ob aus Wehmut oder aus Nostalgie, aus reinem ästhetischen Gefallen oder aus innerer Konsequenz heraus, Schuberts Unvollendete in der Wigmore Hall angehört. Seine ganz und gar eigentümliche Befindlichkeit sei noch um ein ganzes Stück eigentümlicher geworden, als die Violinen im G-Dur-Thema sämtlich ihren Einsatz verpasst hätten und darauf jeder Violinist für sich einen zu seinen Mitmusikanten versetzten Einstieg ausgesucht habe ohne Rücksicht auf die fuchtelnden Rettungsversuche des unglücklichen Dirigenten, schreibt Auerbach in seinem Tagebuch. Tatsächlich, so schreibt Auerbach, schreibt Sebald, habe er diese Passage noch nie so sehr genossen wie in diesem Verwirrungszustand und er sei beinahe etwas verärgert gewesen, als dem Dirigenten zuletzt doch noch die Rettung gelang. Im Anschluss an die Aufführung sei Auerbach mit einer jungen Juristin ins Gespräch geraten. Diese junge Juristin, so habe sich im Gespräch ergeben, sei als Kind mit demselben Zug und ebenfalls aus Berlin nach England gekommen, dann aber nach London gegangen,
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8 Literatur
während Auerbach zunächst nach Kent gelangt war. In London habe sie sich ein Zimmer mit einer Violinistin der Wigmore Hall geteilt, so die Juristin, und sich deshalb regelmässig die dort stattfindenden klassischen Konzerte angehört. Mit dieser Tradition habe sie auch nicht gebrochen, als ihre Violine spielende Mitbewohnerin vor etwas mehr als einem Jahr nach Paris gereist sei, so die Juristin. Auerbach habe, wenn man seinem Tagebuch hier Glauben schenken darf, anhand der abseits ihrer beruflichen Tätigkeit völlig fehlenden Beschreibung jener Violinistin sofort erkannt, dass es sich um dieselbe Violinistin handeln musste, die ihm damals diese so entscheidenden Momente im Dunkel seines Schlafzimmers geschenkt hatte. Es sei nur passend, schreibt Auerbach in seinem Tagebuch, dass die Violinistin nun wieder so beinahe da gewesen sei, dass ihre Existenz – Auerbach, so Sebald, habe hier ganz bewusst den Begriff des Daseins vermieden – dass ihre Existenz gleichsam durch das Wort Violinistin schien wie ein Lichtstrahl durch einen Mauerspalt und doch fassbar zu werden sich weigerte. Tatsächlich hätte jede konkretisierende Beschreibung seitens der Juristin die Fassbarkeit ihrer Mitbewohnerin nicht gesteigert, sondern im Gegenteil vermindert, so Auerbach in seinem Tagebuch, sie wäre irgendeine beliebige Violinistin geworden. Auerbach habe anhand der geballten Menge an erstaunlichen Zufällen dieses Abends zur Erkenntnis gefunden, dass jedes menschgemachte System und jede menschliche Massnahme zur Vermeidung des Chaos letzten Endes zum Scheitern verurteilt sein musste, so Sebald. In der ihm eigenen gedanklichen Schärfe habe Auerbach den Freitod als eine solche Massnahme klassiert und folgerichtigerweise davon abgesehen. Es sei der aussergewöhnlichen sozialen Eleganz Auerbachs und seinem stark ausgeprägten Sinn für Diskretion zu verdanken, dass wir über die unmittelbare Fortsetzung seines Verhältnisses zu jener Juristin nichts wissen, so Sebald. Fest stehe einzig, dass er anscheinend einige Tage später aufgrund dieser Juristin – «durch sie und mit ihr», schreibt Auerbach in seinem Tagebuch – zur Zeichnung zurück gefunden habe. In den folgenden Wochen und Monaten habe Auerbach unermüdlich diese Juristin gezeichnet, schreibt Sebald. Nicht ein einziges Mal habe sich seine Faszination einem anderen Objekt gewidmet als dieser Juristin. Nicht minder ungewöhnlich als die Monomanie seines künstlerischen Interesses sei sein Arbeitsvorgang gewesen. Kaum einige Striche hingeworfen, habe Auerbach nämlich jenes schale Gefühl des Ungenügens verspürt, das seine erste Aktskizze ihm so gründlich verekelt habe, schreibt Sebald. Und dieses tiefe zeichnerische Unbehagen, dieses Wissen um die unendliche qualitative Differenz zwischen seiner Skizze und dem Objekt dieser Skizze, sei mit fortschreitendem Arbeitsprozess grösser geworden bis zur Unerträglichkeit, so Auerbach in seinem Tagebuch, schreibt Sebald. Dies habe zunächst dazu geführt, dass Auerbach jeden gesetzten Strich nur wenig später wieder korrigierend übermalt habe, stets auf der Suche nach seinem Motiv, das ihm immer wieder unter den Utensilien zu entschwinden schien, so Sebald. Nach stundenlanger Abwechslung von erkundendem und verbesserndem Strich, wie Auerbach diese Mechanismen in seinem Tagebuch nennt, sei also von seinem Motiv kaum mehr etwas erkennbar gewesen als einige wenige, annähernd eine Gestalt formende Striche in einem Sturm aus geradezu absurd angehäuften Farbmengen. Darauf, so Sebald, habe Auerbach jeweils zu einem Malspachtel gegriffen und einen grossen Teil der über den Tag entstandenen Anhäufung mit einigen wenigen, aber entschlossenen und heftigen Bewegungen abgeschabt, dass er am Boden zu liegen kam und die Leinwand kaum mehr zeigte als einige Vernarbungen von Kreide, Kohle oder Öl. Am nächsten Morgen habe sich Auerbach mit der grössten Selbstverständlichkeit erneut vor dieselbe Leinwand gestellt und erneut mit erkundenden und verbessernden Strichen sich daran gemacht, sein in seinem Verständnis stets sich wandelndes Modell in die auf der Leinwand noch zu sehenden Spuren des Vortages und der Vorwoche zu bringen, schreibt Sebald. An einem Porträt habe Auerbach solcherart nicht selten über mehrere Monate hinweg gearbeitet,
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manchmal länger als ein Jahr, so Sebald. Diese für Aussenstehende befremdliche Methode sei für Auerbach der einzige sinnvolle Versuch gewesen, jenem beinahe auf die Spur zu kommen. So wie der Körper der Violinistin im Dunkel des Zimmers beinahe Auerbachs Körper berührt habe, so sei das Modell in diesen zu Schemen sich ballenden Farbwolken beinahe vorhanden, ohne je zu einer ihm abträglichen Fassbarkeit zu gerinnen, so Sebald. Durch winzige Spalten in einer Mauer aus Farbe falle gleichsam wie ein Lichtstrahl die Existenz des Modells. Den Kritikern, die ihm alsbald vorwarfen, immer dasselbe zu malen, habe Auerbach stets entgegen gehalten, es sei völlig unmöglich auch nur zwei Mal dasselbe zu malen. Denjenigen Kritikern derweil, die sein Vorgehen als plump und grob bezeichneten, habe Auerbach stets erwidert, es sei im Gegenteil plump und grob ein ungefähres Abbild eines Modells einfach so auf die Leinwand zu schmieren und dieses Abbild dem Modell rücksichtslos als ein Abbild seiner selbst zu präsentieren, diesem Modell eine bildliche Identität einfach so zeichnerisch aufzuzwingen, wie es in der Geschichte der Malerei schändlicherweise doch immer wieder praktiziert worden sei, so Sebald. Auerbach schreibt in seinem Tagebuch, seine Methode sei im Gegenteil nichts anderes als die respektvolle Bewunderung und Bewahrung der Vielfalt des Modells und seine Porträts nichts anderes als eine Auffächerung von Möglichkeitsformen. Tatsächlich sehe er in seinem einzigen Modell, dieser Juristin nämlich, nicht zwei Mal dasselbe. Immer wieder aufs Neue spüre er ihren Lebenslinien nach, immer wieder suche er mit Pinsel und Kohlestift, Kreide und Bleistift seine Ratlosigkeit ihr gegenüber zu ergründen und sei stets aufs Neue erstaunt darüber, was er in der Gestalt eines einzelnen Modells vorfände, schreibt Auerbach, so Sebald. Die Porträts seien dabei allesamt nicht als Resultate, sondern als Wegstationen zu verstehen, als Versuche, dem stets sich wandelnden Anblick irgendwann annähernd gerecht zu werden. Tatsächlich, schreibt Sebald, habe Auerbach mehrfach die durch das immer wiederkehrende Abschaben der Leinwände entstehenden und den Boden seines Ateliers in Haufen bedeckenden Farb- und Kreidespäne als sein eigentliches Werk bezeichnet. Auerbach habe sich selbst mehrfach als Landschaftsmaler bezeichnet, der mittels eines am Objekt jener Juristin stattfindenden Prozesses steter Wiederholung und Variation eine Landschaft von Farbe am Boden seines Ateliers erschaffe, die gleichwohl von der Existenz dieser Juristin künde wie auch von ihrer durch ihre stete Veränderung immer wieder aufs Neue entstehenden Abwesenheit, so Sebald. Diese nie zu einer Vollendung gelangende Landschaft des Scheiterns, schreibt Auerbach in seinem Tagebuch, sei das grösste Zeugnis des Lebens, das immer dort stattfinde, wo man gerade nicht hinschaut und das zu seiner grössten Schönheit dort gelange, wo man es nur beinahe wahrnimmt, den unverständlichen Regeln des Chaos folgend. Solch bis an die Schmerzgrenze und darüber hinaus aufgetragenes Pathos, so schreibt Sebald, sei typisch für Auerbach.
Literatur
Sebastien Fanzun
10 Kritik
So Sebald «ת ֶ ׁש ֤ ֵא־ל ֶא א ֨ ּ ָב־ם ִא ה֞ ָי ָה ְו ע ַ ֑ר ּ ָז ַה ה ֣ ֶי ְהִי ו֖ ֹל א ֥ ּ ֹל י ֛ ּ ִכ ָנן֔ו ֹא ע ַ ֣ד ּ ֵי ַו »׃וי ֽ ִחָא ְל ע ַר֖ ֶז־ן ָת ְנ י ֥ ּ ִת ְל ִב ְל ה ָצ ְר ֔ ַא ת ֣ ֵח ִ ׁש ְו ֙וי ִחָא
Satz als Aufforderung an den Leser oder die Kritikerin, nun selbst zum Malspachtel zu greifen und diese Anhäufung «mit einigen wenigen, aber entschlossenen und heftigen Bewegungen» abzuschaben, um zu sehen, was dabei auf der narrativen Leinwand an Vernarbungen stehen bleibt – und was zu Boden fällt.
«Aber da Onan wusste, dass der Same nicht sein ei-
Aber man mache sich nichts vor: Der Text als Text
gen sein sollte, wenn er einging zu seines Bruders Weib,
überlässt es den Rezipierenden, dies auch sein zu las-
liess er’s auf die Erde fallen und verderbte es, auf dass
sen. Er bittet nicht darum, durch den penetrierenden
er seinem Bruder nicht Samen gäbe.»
Akt kritischen Scheidens und Trennens von seinen Ge-
1. Mose 38.9
webeballungen erlöst zu werden, damit sein Wesenhaf-
I. Exposition
tes «wie ein Lichtstrahl» durch einen Spalt in der Mauer des Sprachmaterials hindurchscheinen möge. Er
Das in Auerbachs Tagebuch «bis an die Schmerz-
begehrt nicht, vermittels solcher Abtötung des Textflei-
grenze und darüber hinaus aufgetragene Pathos»,
sches zu unkörperlichem Fortbestand errettet zu wer-
schreibe Sebald, «sei typisch für Auerbach», so am
den – und sei es in der Gestalt des Verwesungsgeruchs,
Ende seiner Erzählung Auerbach Fanzun. Tatsächlich
der als «Zeugnis des Lebens» vom zum Staube Zurück-
jedoch schreibt Sebald – also W. G. Sebald, der Schrift-
gekehrten her aufsteigt. Ja er verlangt – als Text – noch
steller – nicht das, sondern etwas ganz anderes, und er
nicht einmal danach, überhaupt gelesen zu werden. Wo
schreibt es auch nicht über Auerbach – also Frank Au-
sich Kritik von ihrem Gegenstand eingeladen wähnt,
erbach, den Maler – sondern zunächst über eine an Au-
sollte sie besser ein zweites Mal hinschauen. Lektüre
erbach angelehnte Figur namens Max Aurach, die dann
liest zwar zunächst sich selbst und fühlt sich insofern
in späteren Ausgaben von Sebalds Ausgewanderten, da
zu Recht immer schon gemeint; wer in solcher Selbst-
der Porträtist die Genehmigung verweigert hatte, dass
bespiegelung jedoch befangen bleibt, wird einem Text
seine Bilder in der englischsprachigen Fassung des Er-
an Neigungen zuschreiben, was tatsächlich dem eige-
zählbandes abgedruckt werden, Max Ferber heisst. We-
nen Narzissmus geschuldet ist. Gerade weil Kritik als
der also ist das Porträt eines britischen Malers deutsch-
erhaltendes Zernichten nicht anders kann, als der Lo-
jüdischer Herkunft, das Sebald in der vierten und
gik der Peinigung zu folgen – maliziös und begierig zu-
letzten Erzählung der Ausgewanderten entwirft, jenes
gleich –, tut sie gut daran, sich nicht darüber hinwegzu-
des britischen Malers deutsch-jüdischer Herkunft Au-
täuschen, dass sie in erster Linie die Antwort auf eine
erbach, noch ist das sebaldsche Porträt eines Malers
nicht gestellte Frage ist: ein Übergriff.
dieses Namens, das Fanzun – also Sebastien Fanzun, der paratextuell indizierte Erzähler der in dieser Kritik zu kritisierenden Erzählung – bloss wiederzugeben vorgibt, jenes von Sebald. Das Porträt eines Porträts, als das Auerbach da-
II. Exzitation «I withdraw if I get any sense of the person’s discomfort», so W. G. Sebalds Kommentar zu seinem Entschluss, die Figur Max Aurach in Max Ferber umzube-
herkommt, indem es scheinbar aus dem Tagebuch des
nennen. Der Porträtist Sebald scheint dem Porträtisten
Malers Zitiertes aus einem Bericht des Schriftstellers
Auerbach mit den Ausgewanderten für dessen Empfin-
zu zitieren scheint, ist mithin die fiktive Lektüre einer
den zu nahe auf den Leib gerückt zu sein – und das,
fiktiven Lektüre. Und nachdem im Verlauf der Erzäh-
obwohl Sebald sein Material ausschliesslich öffent-
lung tiefste Faszination auf grösste Erregung gefolgt
lich zugänglichen Quellen entnommen hatte. Wenn
ist, «mehrfach unterstrichen» und «mit zunehmender
nun Fanzun in seiner Erzählung – im Übrigen gröss-
Vehemenz» wiederholt, sich Unendliches mit Unendli-
tenteils ohne jeden Bezug zur Vorlage – den fiktiona-
chem multipliziert hat, Auerbach der Zufall im Zufall
len Sebald freimütig und mit interessiertem Blick unter
begegnet und daher seine «ganz und gar eigentümliche
die Gürtellinie aus dem Tagebuch des fiktionalen Au-
Befindlichkeit» noch «um ein ganzes Stück eigentümli-
erbach vortragen lässt, erweckt das vor diesem Hinter-
cher» geworden ist, sich also Rekurrenzen, Verschach-
grund den Anschein einer subtilen Persiflage auf das
telungen und Hyperbeln Schicht um Schicht überei-
delikate Verhältnis zwischen den beiden realweltlichen
nandergelagert haben, liest sich der eingangs zitierte
Kulturschaffenden.
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Ein intertextueller Zusammenhang, der weiter ak-
Erreichbarkeit des Ersehnten nicht weniger, als von
zentuiert, was bei einem Porträt im Porträt zwangs-
dessen prinzipieller Unerreichbarkeit. Kurzum: von
läufig im Zentrum steht: mit der Tätigkeit des Porträ-
der paradoxalen Struktur des beinahe.
tierens der prekäre Akt, andere zum Gegenstand des
III. Klimax
eigenen Schaffens zu machen. Fanzuns Auerbach ist sich im Klaren darüber, dass die latente Gewaltsam-
Die sich wolkenhaft ballenden Gedankengebilde,
keit solcher Objektivierung auch durch Konsensualität
die Fanzun seinen Sebald aus dem Tagebuch Auer-
nicht aufzuheben ist: verdankt sich seine schöpferische
bachs kolportieren lässt, wollen sich mit einer solchen
Unruhe doch dem Verlangen, dem Modell – so freiwil-
Pointe freilich nicht zufriedengeben. Als hielte der Ma-
lig es auch sitzen mag – nicht eine «bildliche Identität
ler die produktive Anspannung nicht aus, in die er von
einfach so zeichnerisch aufzuzwingen».
seinem künstlerischen Begehren getrieben wird, sucht
Was sich mit diesem Anspruch Auerbachs an sich selbst bei einem ersten groben Streich über Fanzuns
als das grosse Andere entgegen, das in fremder Zun-
Leinwand als Bruchstück herauslöst, ist der Ansatz
ge zu ihm spricht und nur begriffslos verstanden wer-
zu einem Massstab. Zu einem Massstab, der sich nicht
den kann, dessen unergründlichen Regeln der Mensch
zuletzt – soweit das Geschäft des Kritisierens in sei-
– auch über den Tod hinaus – ausweglos unterworfen
ner mehr oder minder verkappten Übergriffigkeit mit
ist, und das den Künstler nur dann belohnt, wenn er
jenem des Porträtierens vergleichbar ist – an die sich
dem Schönen hingebungsvoll den Raum gibt, sich an
hier vollziehende Kritik wird anlegen lassen, im Zuge
unverhoffter Stelle zu zeitigen. Insofern ist Auerbachs
derselben vor allem aber auch an die Erzählung Auer-
Prozedur des zeichnerischen Erkundens und Verbes-
bach als Darstellung einer Darstellung: Indem sich die-
serns, des stürmischen Anhäufens und wieder Abscha-
se nämlich, wie fiktional auch immer, auf die Möglich-
bens von Farbe, der unermüdlichen Wiederholung und
keit eines spezifischen Verhältnisses eines schreibend
Variation eine Art Gottesdienst.
Porträtierenden zu seinem Sujet bezieht, tritt sie der
Ob dabei überhaupt beachtenswerte Bilder zustan-
Wirklichkeit kultureller Praktiken dieser Art als deren
de kommen, lässt die Erzählung derweil auffallend of-
Reflexion gegenüber und kann als solche daher beur-
fen. Aufmerksamkeit erntet ihr Auerbach – seinem real-
teilt werden. Auf allen Ebenen stellt sich die Frage, ob
weltlichen Vorbild soweit in nichts nachstehend – zwar
der an seinem jeweiligen Gegenstand vollzogene Akt –
durchaus; doch alles, was der Text diesbezüglich an-
sei er nun einer der Komposition oder Dekomposition – diesem auch gerecht zu werden vermag.
führt, sind schlechte Kritiken, und solche sind – soviel wird eine Kritik voraussetzen dürfen – nicht zwingend
Den Maler in Fanzuns Erzählung treibt diese Fra-
das Signum guter Kunst. Fanzuns Sebald selbst indes,
ge in seiner Methode des endlosen Neuansetzens
der unter anderem die «gedankliche Schärfe» und «aus-
zu laufend sich verschiebenden Perspektivierungen.
sergewöhnliche soziale Eleganz» des Malers preist, ent-
Aber auch seine künstlerische Praxis der «Bewunde-
hält sich, was dessen Malerei anbelangt, jeden Urteils:
rung und Bewahrung der Vielfalt» und der «Auffäche-
Um die Bilder scheint es gar nicht zu gehen.
rung von Möglichkeitsformen» scheint ihm mehr Aus-
Worum dann? Der spöttisch-distanzierte Kommen-
druck und Würdigung, denn Lösung des Problems der
tar zu Auerbachs Schwärmereien, mit welchem Fanzun
Darstellung zu sein: Auerbachs Schwärmen für die
Sebalds Bericht ausklingen lässt, bezeichnet diese als
«nie zu einer Vollendung gelangende Landschaft des
typisch für den Maler; die Arbeit des schreibenden Por-
Scheiterns» zu seinen Füssen ist nämlich, zumindest
trätierens scheint also just in dem Augenblick getan zu
beim Wort genommen, keineswegs die unverbindlich-
sein, da der Schriftsteller sein Sujet nach dessen Ty-
selbstzufriedene Überhöhung der Unabschliessbar-
pus charakterisiert hat. Ein sonderbarer Schlussakkord
keit zum letzten Ende, für die man es halten könnte –
für eine Darlegung, die sich den Bemühungen eines
denn scheitern kann einer nur, wo etwas auf dem Spiel
Künstlers widmet, seinen Gegenständen keinen identi-
steht. Die schöpferische Verve des Künstlers lebt gera-
fikatorischen Zwang anzutun. Sollten die sebaldschen
de von der Spannung, den Zweck seiner Bemühungen
Ausführungen allen Ernstes mit einer platten Verall-
je nicht einfach nur nicht, weil notwendigerweise nicht,
gemeinerung auf ihrem inhaltlichen Höhepunkt ange-
sondern vielmehr je noch nicht, also womöglich bald
kommen sein?
verwirklicht zu haben, mithin von der prinzipiellen Kritik
er Trost im Metaphysischen: Er setzt sich das Chaos
Mit der gleichen Aussage, mit der Sebald den ins
12 Kritik
Religiöse mündenden Überschwang Auerbachs als ten-
Die Unwahrheit der patriarchalen Metaphorik, die
denziell unbillig beargwöhnt, gerät er als Porträtist iro-
dem Mann die Rolle des Erzeugers zudenkt, der gestal-
nischerweise selbst in ein schiefes Licht. Die Erzählung
tend auf die Welt zugreift – sie sich also aneignet, als
geht also mit ihrem letzten Satz zum Maler und zum
wäre sie sein Fabrikat –, liegt einerseits in ihrer rigiden
Schriftsteller gleichermassen auf Distanz. Ein weite-
Naturalisierung soziokultureller Konstellationen, an-
rer Hieb durch die narrativen Aufschichtungen von
dererseits in der impliziten Verklärung sachlicher und
Auerbach legt insofern den Blick frei auf Spielräume,
versachlichender Bezugnahme auf Zwischenmenschli-
die sich der Text durch seine mehrlagige Konstruktion
ches zur höchsten zivilisatorischen Tugend – nicht je-
verschafft, um darin hintersinnigen Schalk zu treiben:
doch in dem sich in ihr äussernden Sinn für Objektivie-
Wie Sebald den Auerbach, führt Sebastien Fanzun, die
rung an sich: Dass das je andere sowohl als Person als
implizite Erzählstimme, seinen Sebald vor.
auch als Sache begegnen kann, stellt ein Spannungsver-
Der Kritik indes scheint sich die Erzählung damit gleich doppelt zu entziehen: Auf der Ebene der Refle-
hältnis dar, das überhaupt jedem Handeln einbeschrieben ist.
xionen Auerbachs ohnehin, denn als Maler muss sich
Erst mit dem Gefühl «niemandes Kind mehr» zu
dieser auf der Leinwand bewähren und nicht in seinem
sein, seinen Eltern also nicht mehr als deren wie lie-
Tagebuch; nicht minder aber auf der Ebene der Darle-
bevoll auch immer umsorgter Spross zu eignen, eröff-
gungen Sebalds, denn selbstredend kann dieser fehl-
net sich für Auerbach der Spielraum, eigene Identitäten
gehen, ohne dass deshalb der literarische Text als sol-
zu erproben. Vor diesem Hintergrund erscheint es nur
cher scheiterte. Diese Narrenfreiheit erkauft sich die
konsequent, wenn er später als Porträtist bestrebt ist,
Erzählung freilich dadurch, dass sie sich stattdessen
die Gegenstände seiner Kunst – bei aller Einvernehm-
auf der hauchdünn gehaltenen narrativen Metaebene
lichkeit – nicht in ihrer Identität zu verletzen.
beweisen muss, mit der Sebalds Darstellung selbst zur
Und doch will er sie porträtieren. Die Paradoxie des
Darstellung kommt. Dazu hat die Kritik sich ihr Urteil
beinahe, des seine je unmittelbar bevorstehende Einlö-
zu bilden. Zu diesem Zweck wird sie jedoch noch ein-
sung fortlaufend aufschiebenden Versprechens, korre-
mal etwas weiter ausholen und tiefer einschlagen müs-
spondiert mit der unauflöslichen Widersprüchlichkeit
sen als bisher.
des Wunsches des Porträtisten, sich seinen jeweiligen
IV. Retardation
Gegenstand zwar schöpferisch anzueignen, aber nicht als Gegenstand. Eine Person dergestalt zur Sache sei-
Auerbachs Erleichterungsgefühl in Anbetracht des
ner Kunst machen zu wollen, dass sie dadurch nicht
Ausbleibens der elWterlichen Briefe – neben dem Ge-
versachlicht wird, läuft auf das widersinnige Verlangen
danken, dass das am Boden zu liegen kommende Mate-
hinaus, sie nicht wie ein Ding, sondern eben als Person
rial sein eigentliches Werk darstelle, das einzige Motiv
in Besitz zu nehmen. Auerbachs ästhetisches Ideal ist
der Erzählung, das auch in W. G. Sebalds Ausgewan-
so gesehen gerade nicht der Verzicht auf den Anspruch,
derten zu finden ist – drückt sich bei Fanzun in der Ge-
sich anderer in ihrer Identität zu bemächtigen, sondern
stalt einer Erektion aus. Der Künstler wird damit von
ganz im Gegenteil dessen letzte Konsequenz.
Beginn weg in seiner Zeugungskraft in den Blick ge-
Als Auerbach «die doch eigentlich physisch von ihm
nommen, und zwar unzweideutig im erotisch-kreati-
getrennte Haut der Violinistin beinahe auf seiner eige-
ven Doppelsinn: Es treibt ihn zu Frauen wie zur Kunst.
nen» spürt, ist er zutiefst fasziniert «von der unbegreif-
Eine Parallelführung, in der sich die überkommene
lichen Art der Präsenz dieses nur durch etwas Decke
Fantasie niederschlägt, der Akt der Fortpflanzung sei
und Zimmerluft von ihm getrennten Körpers»: Die Vio-
in erster Linie Ausdruck männlicher Produktivität und
linistin liegt, als Körper, zum Greifen nahe – und ist für
es sei überhaupt Pflicht und Privileg des Mannes, Men-
Auerbach als das, als was sie präsent ist, doch nicht zu
schen und Dinge zu erzeugen.
fassen. Am Ende geht sie – «etwas enttäuscht» – allem
Geschlechtsverkehr erscheint in dieser Perspekti-
Anschein nach unverrichteter Dinge; Auerbach kann
ve primär unter seinem pragmatischen Aspekt der In-
mit ihr «keine funktionierende Konversation mehr be-
gebrauchnahme eines anderen Körpers: Auerbach ent-
treiben». Seinen gültigen Ausdruck findet der Zwiespalt
ledigt sich seines Priapismus, als ihm «eine hübsche
des auerbachschen Begehrens im Coitus interruptus.
Schauspielstudentin» ermöglicht, die Dauererektion «an ihr abzuexerzieren».
13
V. Implosion
Wechselverhältnis schönreden, indem man die Interessen des anderen kurzerhand umdeutet.
Das Motiv des Unterbruchs wird in Auerbach ad
Und wofür steht denn eigentlich dieser Name, der –
nauseam wiederholt: Unterbrochen wird Auerbachs
wie auch die Namen aller andern Frauen im Text – kei-
sich klimaktisch aufbauende Erregung beim Wieder-
ner ist: Violinistin? Nach dem Vorbild von Namen zeigt
holen seines Fetischworts, sodass er im Interview mit
der Begriff bloss an, wo Begriffe sonst zu erfassen su-
der Journalistin den «Tränen» nur nahe kommt; der
chen: Für Auerbach ist er die Chiffre für eine Existenz
junge Auerbach bricht sein Schauspielstudium ab, wie
in ihrer ganzen Einmaligkeit. Mit jeder näheren Be-
später auch die Aktskizze und damit den Zeichenkurs;
stimmung seitens der Juristin – also wohl auch mit der
unterbrochen wird sein Suizidvorhaben und die Auf-
Nennung des Eigennamens – hätte sich ihm seine Zu-
führung von Schuberts Unvollendeter – eine Unterbre-
fallsbekanntschaft in ihrer Fassbarkeit weiter entzogen:
chung des Unterbrochenen neben dem Unterbruch des
«Sie wäre irgendeine beliebige Violinistin geworden».
Unterbrechens –; und immer wieder aufs Neue unter-
Und um eine solche geht es nicht: nicht um diese oder
bricht Auerbach das Porträtieren der Juristin, um die
jene Person mit ihren kontingenten Qualitäten, Nei-
üppig ausgeworfene Farbe zerstörerisch von der Lein-
gungen und Marotten, und natürlich auch nicht dar-
wand zu schaben und zu Boden fallen zu lassen.
um, dass sie ausgerechnet Musikerin ist. Violinistin
Dabei scheinen sich in seinem Verhältnis zur Juris-
fungiert für Auerbach nicht als Begriff, sondern eben
tin, mit dem sich endlos wiederholenden Durchspielen
als Name – nur dass er sich als solcher nicht auf einen
des Aktes der Unterbrechung und der Unterbrechung
konkreten Menschen bezieht.
des Aktes, Kunst und Liebe im Leben des Protagonis-
Weshalb auch sein Interesse sich ohne Weiteres me-
ten am Ende versöhnt zu haben. Als sein Gegenstand
tonymisch von der Violinistin auf deren ehemalige Mit-
und seine Bezugsperson ermöglicht ihm die Juristin,
bewohnerin verschieben kann. Was Auerbach verfolgt,
zur Malerei zurückzufinden: «durch sie und mit ihr»,
ist die Sache der Kunst, und solange es um diese geht,
wie Fanzun Sebald aus Auerbachs Tagebuch wörtlich
ist eine Künstlerin oder ein Künstler der Sphäre in-
zitieren lässt.
terpersoneller Bindungen notwendig enthoben. Auer-
Über die tatsächliche Beziehung zwischen den bei-
bach jedoch scheint auch seine Beziehungen noch nach
den ist damit freilich kaum etwas gesagt. Die Erzäh-
Massgabe seines Schaffens organisieren zu wollen; der
lung lässt diesbezüglich eine Lücke klaffen, betont
Porträtist wirkt wie einer, der keine andere Form der
durch Sebalds etwas umständlichen Kommentar, in
Bezugnahme zulässt, als jene, die ihm seine Produk-
dem er die narrative Leerstelle mit der zitierten aus-
tionswut diktiert: Ein Herr der Schöpfung, befangen
sergewöhnlichen sozialen Eleganz von Auerbach sowie
in der solipsistischen Sterilität seiner kreativen Manie.
mit dessen «stark ausgeprägtem Sinn für Diskretion»
Die Fetischisierung der Welt zum grossen Gegen-
begründet. Dieses beredte Schweigen des Textes, der
über ist ihr kompensatorisches Gegenstück: Der Ver-
plötzliche distanzlose Überschwang des sonst nüch-
sachlichung von Personen entspricht die Personifika-
tern referierenden Schriftstellers sowie die Ironie, dass
tion von Sachen. Als würde Sebald erst im Schreiben
der ans Voyeuristische grenzende Bericht Sebalds da-
deren Abgeschmacktheit gewahr, zieht er sich aus der
mit ein Lob der Verschwiegenheit anklingen lässt, soll-
an Verbrüderung grenzenden Distanzlosigkeit zu Au-
ten misstrauisch machen.
erbach, in die er gerade erst hineingeraten war, jäh zu-
Was ist das für eine Art von «sozialer Eleganz» – ei-
rück – und spricht sein verallgemeinerndes Urteil. Die
ner Ästhetik des Zwischenmenschlichen –, die auf die
Fragwürdigkeit des abrupten Wechsels vom Porträtie-
Violinistin als auf jene Bezug nehmen lässt, welche Au-
ren zum Typisieren – ein weiterer, letzter Unterbruch
erbach «damals diese so entscheidenden Momente im
–, findet in der Fragwürdigkeit des ästhetizistischen
Dunkel seines Schlafzimmers geschenkt hatte»? Jo-
Idealismus, dem der porträtierte Porträtist verfallen
vial wird damit Dankbarkeit zum Ausdruck gebracht
scheint, als deren Reflex ihren Sinn. Und der narrati-
für eine Handlung, die als solche nie vollzogen wor-
ve Drahtseilakt von Auerbach – dies als Quintessenz
den war: bedingt ein Geschenk doch sein Intendiert-
dieses kritisch-libidinösen Zerlegungswerks – ist damit
sein seitens der schenkenden Person. Tatsächlich lag
gerade noch gut gegangen.
im gegebenen Fall nichts als eine Kommunikations-
Kritik
störung vor, und eine solche lässt sich nicht zu einem
Dalibor Suchanek
14
Andreas Fischer
14
L I T E R AT U R
…Zurück a uf s Meer, s ag ich
n n i w e G r e Wo d e g r e n n i w e dem G hör t!… KRITIK
18 Dolores Zoe
15
Jason träumt Der Gewinn dem Gewinner! Die Mütter und die alten Männer bleiben zurück Brüten dumpf an ihren Küchentischen und Im blassen Licht erscheint für sie Das Immergleiche ewig – Jason! Zieh die Boote vom Strand! Hier hausen Elfenhunde mit rotgeränderten Ohren Betrunkene Mönche Gespenster und Märchengeschichten Raben krächzen den bleichen Verlockungen nach – Jason! Kehr zu den Lebenden heim! Sicher Man kann von mancherlei träumen bei Flaute Und natürlich denkt man abends mal In der Kajüte bei einer Pfeife Tabak An die Teiche von einst Die bunten Wasserbälle, die leisen Geräusche Der Wellen im Schilf, und draussen Am Horizont ein Kauffahrtsschiff, jedoch Absolut keine Angriffslust heute – Jason! Lass dich nicht irre machen Vom Ticken und Tacken der Uhren! Zurück aufs Meer, sag ich Wo der Gewinn dem Gewinner gehört! Die Masten stechen hoch in den Wind Die Gegenwart ist nur ein Augenblick Nimm Kolchis, das reiche Panama und die Inseln der Südsee Die Winde stehn günstig Goldene Vliese warten auf dich Handelswege und eine Medea Die deine Söhne umbringen wird Doch die See lässt den Gewinn Dem Gewinner – Richte dein Fernrohr auf Fernes! Den Zurückgebliebenen bleibt nur Der abgewrackte Traum am Strand
Literatur
Kieloben faulend.
16
Mauern gegen einen hellen Himmel Kreuzfahrerburgen und Moscheen Und Strandhotels so weit das Auge reicht Jetzt zeig, was du kannst! – Du kannst mich mal, ich bin kein Tanzbär Bin nur ein schlecht bezahlter Fremdenführer Und bringe dich zum Aussichtsturm Doch was du dort erblickst Musst du schon selbst erkennen: Für die Ewigkeit erbaute Traumpaläste Gedankengebäude Ruinen Man müsste wohl das Handy zücken Die Bilder hochladen Auf Facebook Für die Herren Grabräuber ist da bestimmt Was Besond‘res versteckt Von Wassermaus und Kröte Abends spöte noch ersonnen Einmalig und Gold wert War im TV zu sehn Im Internet zu bewundern Alle wissen davon Ich aber handle Mit bescheid’neren Dingen Erinnerungen und Abschiedsmusik Die Ringe unter den Augen Kommen wohl vom Raki am gestrigen Abend Sollen sich die Archäologen drum kümmern! Die haben die Überbleibsel schliesslich gesammelt Zu Prunk-Palästen gestapelt Mit Glitzergirlanden verziert – Du stehst nur staunend davor: Wohin du schaust ist Rhodos Also tanze!
Literatur
Hic Rhodos
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18
Das Meer graut unter Wolken Bräunlich gelbe Schwaden hängen sich An den Vulkan, der Wind verweht Die Sommervögel, die Zypressen Wiegen sich Hin – her – hin – her Und das Handy verfügt: Zwei Tage Regen! Steinern blickt der Friedhof auf’s Meer Die Gräber mit Fotos geschmückt Von Fischern zumeist Doch ihre Kinder vermieten die Häuser an Fremde Fliehn im Herbst auf das Festland Schon hat der Laden im Dorf Das Sortiment dezimiert Die Bar ist geschlossen Die Wäsche trocknet nicht mehr Finster starrt Odysseus auf den Sack Des Äolos: Zehn Jahre hielten ihn die Winde Fern von Ithaka – Yes, edler Dulder So kann es gehen! Denkst du noch an das Haus Die Sommerfrau Die Säulen und die blauen Fensterläden Die Penne Melanzane und die Involtini Di Spada – eingebrannt in Herz und Magen? Im Regen glühn die Blüten noch mal auf In sattem Rot Und der Geruch der faulenden Citronen Verdoppelt sich Die Mücken bissiger Und selbst die Hunde bellen Als wär’s das letzte Mal Die Winde drehn auf Abschied Die Wolken hinterm Meer erinnern Von ferne an die heimatlichen Alpen Zwischen dunklen Steinen Zerkräuselt weisse Gischt am Strand Für die Verbindungen zum Festland gilt Der Winterfahrplan – Das Knattern des Piaggio-Dreirads Die Koffer und im Hafen Das Tragflügelboot Die Luft riecht nach Algen. Andreas Fischer
Literatur
Stromboli, Oktober
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Von götterverlassenen Männern
Kritik
Andreas Fischers drei Gedichte entführen uns in
Beinahe-Götter-Gatte seine Liebsten auf Ithaka warten liess. Und ja, um es hier nun zu verraten: Beide Helden kehren zu ihrer Familie zurück. Mein zappeliger Gottebueb und ich dürfen der glücklichen Vereinigung von Odysseus und seiner Familie beiwohnen – er erscheint nach neunzigminütigem Kampf in Leinen-
die Mittelmeerregion, dorthin, wo die nächste europä-
hosen, Hemd und Strohhut, mit Rollkoffer und Son-
ische Revolution entbrennen wird – so sie denn kom-
nenbrille vor dem Hotel Calypso, entschuldigt sich bei
men mag. Einige Ferienparadiese sind in nordeuro-
seinem Sohn, umgarnt seine Frau und prahlt mit sei-
päischen Köpfen wohl bereits zerstört worden – aber
nen Heldentaten und Ränkespielen im Verhandlungs-
sicherlich weniger an der Zahl, als tatsächlich vor die
dschungel und an Skype-Konferenzen. Odysseus, der
Immobilienhunde gingen oder von den jüngsten Troi-
Listige, umschifft heutzutage also Offshoreklippen und
kas abgeschrieben wurden. Vermeintlich handeln Fi-
lässt sich von Gewinnmaximierungsstrategien die Sin-
schers Gedichte von Abschieden, Abfahrten und An-
ne verwirren. Nicht so sehr die ewig gleiche Rede vom
denken, von Gestrandeten, Gejagten und Gescheiterten.
Vater, der seine Familie sitzen lässt, aber trotzdem ein
Hinterrücks aber verknüpfen sie die Abgründe der An-
Held ist (Achtung: Klischees!), sondern vielmehr die
tike mit denjenigen, die hinter der Moderne lauern,
Irrfahrten – sei es auf stürmischer See oder in den Un-
und mahnen uns, sich’s nur ja nicht zu gemütlich zu
tiefen des Finanzmarktes – führen mich zurück zu Fi-
machen in unseren Alltagsmythen. Im Folgenden sol-
schers Gedichten. Da werden Bilder von Rhodos per
len zwei der drei Gedichte aufgegriffen werden. Sowohl
Facebook vertrieben, Jason erobert Pfeife rauchend Pa-
Stromboli, Oktober als auch Jason träumt handeln von
nama und auf Stromboli harrt Odysseus, der edle Dul-
gottverlassenen Orten und götterverlassenen Männern.
der, während das Handy die Wetterlage meldet – Yes!
Bevor wir uns aber Odysseus auf den Äolischen Inseln
Nun gut, so flach spannt Fischer den Bogen von
und Jason (auf Limnos!?) zuwenden, richten wir den
der Antike zur Postmoderne dann doch nicht. Viel-
Blick auf Zürich, genauer auf den Pfauen.
mehr spiegeln sich die Brüche und Falten unserer Zeit
Im Dezember im Schauspielhaus: Die Odyssee für
in den wendigen Anachronismen und den flatternden
Kinder, von und mit den Stärnefoifi. Zum ersten Mal
Bildwechseln, die Fischers Gedichte charakterisieren.
darf mein Gottebueb in einem dieser geschichtsträch-
In zwei kurzen Analysen möchte ich diesen Wind- und
tigen roten Samtsessel Platz nehmen. Die zweimal fünf-
Wendungen nachgehen, um diese sodann in einer Syn-
undvierzig Minuten sind beinahe zu lange für ihn, der
these mit der Odyssee für Kinder zusammenzuführen.
umso heftiger zappelt und ungeduldiger hin und her
Reisen wir nun also zuerst nach Stromboli.
schaukelt, je länger das Spektakel dauert. Und ja, ein
Eben so, wie ein alter Kahn durch klatschende Wel-
Spektakel ist es. Ein schauriger Zyklopenschlund, eine
len zuckelt, so lässt auch Stromboli, Oktober die Lese-
Starlett-Kirke, eine fantastische sechsköpfige Skylla
rinnen und Leser immer wieder unvermittelt aufpral-
und eine Charybdis, die gegen ihren mächtigen Vater
len. Rhythmen, Zeiten und Orte werden verschoben,
Poseidon trötzelt – dies alles lauert im Bühnengrund.
gebrochen und überlagert. Ein dreifaches Enjambe-
Die Irrfahrt des Odysseus wird dabei eingebettet in
ment leitet das Gedicht ein, aber bevor wir uns in das
die Feriengeschichte einer sitzen gelassenen Mutter
Wehen des Windes und Wiegen der Zypressen einpen-
und eines pubertierenden Jungen, die den Manager-
deln können, bricht das zweimalige «hin – her» abrupt
Gatten und Vater am Flughafen der bankrotten Firma
ab und die Zivilisation meldet sich. Der Blick springt
überlassen mussten und nun im Hotel Calypso auf ihn
auf den Handybildschirm (nicht in den Himmel), glei-
warten. Und während wir um Odysseus bangen und
tet unverzüglich weiter auf den Friedhof, über die Fo-
einen Freund um den anderen über die Klinge bezie-
tos der Toten hinweg und mündet in der Beschreibung
hungsweise über Bord springen lassen müssen, berich-
des Ferienkoloniealltags. Kaum weckten der halb lee-
tet der Hotelboy in der Calypso-Lobby vom Kampf des
re Dorfladen und die flatternde Wäsche in den Gassen
in der Schweiz gebliebenen Vaters um den Familien-
Erinnerungen an eigene Ferienerlebnisse, folgt schon
betrieb, von Scheingefechten im Grossraumbüro und
wieder ein Sprung. Diesmal ein Zeitenwechsel: Odys-
zähen Schlachten am Verhandlungstisch. Der Mana-
seus, vom Winde verweht, wurde zurück auf die Insel
ger-Gatte lässt also auf sich warten, ebenso wie der
getrieben. Unfreiwillig harrt er dort – so wie alle, die
20 Kritik
noch auf der Insel hausen. «Yes, edler Dulder» – diese
sag ich / Wo der Gewinn dem Gewinner gehört!» Auf
Ermutigung gilt für alle, die es bis jetzt auf Strombo-
Fernes soll Jason sein Fernrohr richten, um nur ja nicht
li ausgehalten haben. Denn schon sind wir wieder bei
stehen zu bleiben. Nur ja nicht wie die Alten zuhause in
den Ferienerinnerungen, ruft das lyrische Ich den Le-
der Ewigkeit versumpfen. Die Zeit drängt und der Ge-
serinnen und Lesern schöne Frauen und frische Pasta
winn lockt – und wer will schon kein Gewinner sein?
in Erinnerung. Italianità, das Herz glüht – aber nein,
Selbst wenn die Katastrophe prophezeit wurde und
nur nicht verweilen! Die Vergänglichkeit lauert! Alle
er mit jedem Sieg dem Untergang einen Schritt näher
Sinne sind geschärft, Augen, Nase, Ohren werden ein
rückt – Getriebener bleibt Getriebener. Im Gegensatz
letztes Mal gesättigt mit Farben, Düften und Klängen,
zu diesem stürmenden, jagenden Duktus bleiben die
dann dreht der Wind, nimmt die Eindrücke mit sich
Zeilen in diesem Gedicht seltsam isoliert und einsam.
und trägt uns mit zwei Zeilensprüngen vom Meeres-
Die Gedankenstriche vor jedem Aufschrei – «Jason!» –
ufer zu den Berggipfeln hinauf. «Zerkräuselt weisse
sind Atempausen und Abgründe zugleich. Die Gedan-
Gischt» kündigt den ersten Schnee an und das «Knat-
kenstriche markieren Zeiträume und Fälligkeitsdaten.
tern des Piaggio-Dreirads» könnte ebenso gut von ei-
Aber Zeit – Zeit bleibt Jason keine, denn sie drängt, eilt
nem Schneejet im Wallis stammen. Was bleibt, sind
und flieht. In den markanten Gedankenbrüchen liegt
aber weder der Lärm noch die Bilder, sondern der Ge-
das Potenzial der Musse, der Gedankenfreiheit, der –
ruch – denn der Wind kehrt zurück. Doppelt fauliger
«Jason!» Es wird schleunigst gekappt. Auch für eine
Zitronengeruch und salzige Algen kleben uns zum
Ausführung dieser redundanten Zeile «Der Gewinn
Ende des Gedichts in der Nase und man wünscht sich,
dem Gewinner!» bleibt keine Zeit; einmal wird sie von
die Stürme mögen toben, um ebenso wie sie Odysse-
einem Ausrufezeichen beschnitten, einmal von besag-
us umhergejagt haben, diesen gärenden Geruch zu ver-
tem Gedankenstrich, auf den prompt ein neuer Impe-
treiben. Könnten wir uns dem Wind hingeben, wäre
rativ folgt: «Doch die See lässt den Gewinn / dem Ge-
es vielleicht möglich, all die Brüche zu überfliegen;
winner – Richte dein Fernrohr auf Fernes!» Ja, wer will
wäre es vielleicht möglich, all die Klippen zu umschif-
schon kein Gewinner sein.
fen. Aber ebenso gnadenlos, wie dieser Gedichtwind
Hier nun lässt sich Fischers unheimliche Verknüp-
die sommerlichen Ferienerinnerungen zerzaust, säu-
fung von Antike und Postmoderne, welche in der Ein-
selt er uns faulende Verwesung und nagende Einsam-
leitung bereits angedeutet wurde, erläutern. In Ver-
keit ins Ohr. Ein Murmeln und Raunen, dem wir nicht
bindung mit dem Plot besagter Kinder-Odyssee ergibt
entkommen.
sich nach obigen Betrachtungen eine bemerkenswerte
Auch in Jason träumt ist es die Fäulnis, die am
Überlagerung: In Fischers Gedicht ist es nicht der listi-
Ende in der Luft hängen bleibt. Wieder befinden wir
ge Odysseus, sondern Jason, der durch die Kapitalmee-
uns am Strand und diesmal werden wir mit dem Sohn
re gescheucht wird, um sich in der Bereicherung den
des Aison richtiggehend von der Insel gejagt. Drei-
Untergang einzuhandeln. Aus Schaffe, schaffe, Häus-
mal zetert das Gedicht: «Jason! / Zieh die Boote vom
le bauen! flicht uns Fischer einen antiken Strick: Rud-
Strand! / Jason! / Kehr zu den Lebenden heim! / Ja-
re, Rudre, auch wenn am Ende der Weltmeere der hei-
son! / Lass dich nicht irremachen / Vom Ticken und
lige Hain von Dodona auf dich wartet! Odysseus, der
Tacken der Uhren!» Die Abschnitte, die mit den Anru-
Listige, verliert zwar all seine Kampfgefährten, doch
fungen eingeleitet werden, sind weder in Form noch
kehrt er zuletzt unversehrt zu seinen Liebsten zurück.
Inhalt vergleichbar, und sie sind auch nicht gleichbe-
Nicht so Jason, der nach unerhörten Begebenheiten in
rechtigt. Der Titel Jason träumt findet nach dem zwei-
Dodona von den Wrackteilen seines eigenen Schiffes
ten «Jason!» seinen Anschluss, wenn es heisst: «Sicher
Argo erschlagen wird. Deshalb leitet die Losung «Der
/ Man kann von mancherlei träumen bei Flaute». Mit
Gewinn dem Gewinner!» wohl nicht von ungefähr Fi-
dem Bezug zum Titel erhält dieser Abschnitt ein beson-
schers Gedicht ein.
deres Gewicht. Und wovon träumt Jason? – Vom dolce
Verfolgt man die etymologische Spur des Gewinns
far niente, um bei der Italianità zu bleiben. Er träumt
zurück, so stösst man im Deutschen Wörterbuch auf
den süssen Traum vom Nichtstun, von Antriebslosig-
eine verlassene Herkunft des Wortes «gewinnen»: «lei-
keit, von Mussestunden. Aber auch hier gilt: Bevor wir
denschaftliches begehren mag die formen der gier, der
uns mit Jason zu sicher in diesem Traum wiegen, wer-
wut, des leidens annehmen, es wird zu kampf, streit
den wir aufgeschreckt: «Jason! / […] Zurück aufs Meer,
und mühevollem ringen anreizen und je nach dem
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erfolg wird es äuszerungen der freude oder des schmerzes zur folge haben.» Gewinnen meint demzufolge nicht nur das Resultat einer Handlung, sondern auch die Motivation und Handlungsursache selbst, also das Streben nach Gewinn. Welches Resultat dieses Streben zeitigt, ist jedoch gar nicht so klar, wie es uns die modernen Verheissungen von Mehrwert und Kapitalanreicherung glauben machen. Derart betrachtet, ist der Imperativ, welcher Jason träumt einleitet, folglich zweideutig: «Der Gewinn dem Gewinner!» ist nicht nur eine glücksverheissende Losung, sondern ebenso eine Warnung. Zwar hat sich manch einer aufgemacht, seinen Traum zu leben, aber bevor man losfahre, vergewissere man sich erst, ob man denn den eigenen Traum träumt. Und wer sein Fernrohr nur auf Fernes richtet, übersieht möglicherweise die Klippen in Strandnähe. Ob Jason nun hinauszieht oder nicht – den Zurückgebliebenen bleiben so oder so die Schiffssärge am Strand, seien es die Überreste ihrer eigenen Träume oder die Trümmer der Argonauten-Flotte. Ihre Gerippe sind Mahnmale und sie faulen mit dem Kiel gen Himmel gerichtet. Diese Schiffe sind ausgeschwemmt und so schnell besteigt sie niemand mehr. Wir ahnen, was kommt, und ja, wir werden alle zu edlen Dulderinnen und Duldern – «Yes! […] / So kann es gehen.»
Kritik
Dolores Zoe
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Cédric Weidmann
22
L I T E R AT U R
s s i e w h c i l r ü t a N … … s e u a n e G s t h c i man n
KRITIK
18 Fabian Schwitter
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Drei Geometrieaufgaben Für János
HELIX «Diese Stadt, die eine Strasse ist.» Die Strasse windet sich in schroffen Verschlingungen zwischen den Häusern hindurch, die sie still und gelassen umfrieden. Das Rattern von Zahnrädern, die nicht sichtbar in den Boden eingelegt sind, weht über die Vorgärten, wenn einer der Wagen vorbeifährt. Wie schwingende Masten ragen die rostigen Stangen aus den Wagen. Die an ihnen befestigten Masken ruckeln heftig während der Fahrt und sehen von weitem aus, als würden sie lachen. Die Anwohner sehen nicht auf, sie schmücken die Fenster ihrer Häuser oder beackern die Beete und wischen sich von Zeit zu Zeit, auf die Schaufel gestützt und die Beine überkreuzt, den Schweiss von der Stirn, manchmal unterhalten sich zwei mit lauter Stimme über die Strasse hinweg. Sie achten nicht auf die vorbeifahrenden Masken. Die meisten aber halten den Blick auf ihre Arbeit gesenkt, um nicht in Gespräche verwickelt zu werden, oder sie ziehen sich in die Häuser zurück, um ein Mittagessen vorzubereiten. Wenn die Wagen an das Ende der Schiene gelangen, berühren sich die Lippen zweier Masken, und ein Feuerwerk zerplatzt am bewölkten Himmel. Dann sehen die Anwohner auf, um das Farbenspiel zu betrachten. Die Masken drehen sich und die Wagen wechseln die Richtung. An manchen Orten der Stadt wirft sich ein plötzlicher Schatten auf die Gärten und zwingt die Betroffenen zur vorübergehenden Aufgabe ihrer Tätigkeiten. Die Strasse, die sich hier einem Korkenzieher gleich um die Achse windet, die der Mittelstreifen bildet, steht senkrecht zum Boden, so dass die Masken horizontal zur Seite hinausragen. Die hochgestellte Strasse behindert die Sicht auf die gegenüberliegenden Häuser und auf die frühe oder die späte Sonne, doch nur wenige Gehminuten der Strasse entlang senkt sich der Asphalt wieder in die Ebene ab. Dabei kommt das, was vorher die Oberfläche gebildet hat, nun unterhalb der Strasse zu liegen und das, was vorher unten lag, liegt nun auf der Strasse. Auch hier knarzen die Zahnräder in den Fugen, die in die Strasse eingelegt und kaum sichtbar sind. Auch hier sind Masken unterwegs, allerdings kleinere, und wenn man genau hinschaut, erkennt man am Fuss jeder Metallstange ein Aktenköfferchen, das bei der Fahrt hin- und herschaukelt. In dieser Akte mögen Papiere sein. Sie mag wichtige Dokumente in ihrem ausgebeulten Bäuchlein tragen. Natürlich weiss man nichts Genaues. Die Anwohner beäugen, indem sie sich im dunklen Zimmer hinter das Fenster stellen, missgünstig die Aktenkoffer und fragen sich, ob sie nicht wieder dicker geworden sind und ob nicht mehr Papiere und Dokumente in ihrem Inneren liegen als am Vortag. Manche haben angefangen, sich mit einer Akte verbunden zu fühlen, als sei sie eine Geliebte, die sie mit dem Untergehen der Sonne erwarten. Die meisten vermuten, dass eine ganz bestimmte Akte zu ihnen gehört, in der alles über sie steht. Obwohl sie ahnen, dass sie diese Akte nie lesen werden, warten sie auf die entsprechende Maske und mustern von weitem das tanzende Köfferchen auf dem Wagen. Natürlich ist nicht gesagt, dass die Köfferchen gefüllt sind, aber, wie gesagt, es scheint so. Wenn sich die nächtlichen Masken berühren, gibt es kein Feuerwerk, aber ein kleiner Blitz geht von der einen auf die andere Maske über und für den Bruchteil einer Sekunde
Literatur
leuchten ihre grossen, weissen Augen und die gewölbten Lippen von unten auf. Sie rattern auch leiser als am Tag und bewegen sich insgesamt langsamer. Woher die Unterschiede
24 Literatur
zwischen den oberen und den unteren Masken kommen, ist nicht leicht zu erklären. Es kann zudem sein, dass – falls es nur eine Stelle gibt, an der sich die Strasse schraubt – sich die Wagen auf einem Möbiusband bewegen, und dass die oberen und die unteren Masken eigentlich dieselben sind. Aber das ist nicht sicher.
TESSERAKT «Die Türen, die schlossen bleiben, und wie du stets durch Fenster weiterziehst.» Vorne der Lehrer. Er beizt die Kreide an der Tafel ab, unterstreicht ein Wort doppelt, vielleicht dreifach, bis nicht mehr zu erkennen ist, ob er das Wort oder den Strich betont. Vorne der Lehrer, der vor der Klasse redet. Und nur Yasmin sitzt in der ersten Reihe und passt auf, der Rücken gestreckt und ihre Hand auf der Tischfläche, bereit, sie hochzurecken. Nach vorne schauen, sage ich mir. Herr Ellenbogen hat mich bereits verwarnt, weil ich draussen die Strassenschraube betrachtet habe statt aufzupassen. Es ist Nachmittag, die Stimmung dröge und Herr Ellenbogen müde. «Bildung ist wichtig!», hat er gedröhnt, «man hat nie ausgelernt. Verstehst du? Nie.» Daran glaube ich nicht. Lernen ist schliesslich auch nur etwas, was man uns beigebracht hat. Es hat einen Anfang und es hat ein Ende. Wie alle Dinge. «Es gibt auch Dinge, die keinen Anfang und kein Ende haben», raunt Golo neben mir. Gibt es nicht. Alles hat einen Anfang und ein Ende, auch wir Menschen. «Es gibt aber auch anderes… Der Raum zum Beispiel. Der Weltraum.» Ich denke eine Weile darüber nach. Ich glaube, er liegt falsch, auch der Weltraum hat ein Ende, aber… hat er einen Anfang?… Ich finde den Fehler des Arguments nicht und schreibe das dem Hunger zu. Sozusagen schlussfolgernd pikse ich mit dem Zirkel seine Hand. Golo zuckt zurück, unterdrückt einen Aufschrei und macht eine kleine Bewegung und ich richte mich aufmerksam auf, denn Herr Ellenbogen ist verstummt. Sein Blick kreist böse um mich, und wenn ich seine Augen ansehe, glaube ich, dass ich wie ein Adler kreise, aber ich sitze still an meinem Pult und er sieht mir geradewegs in die Augen und trotzdem scheinen seine Pupillen auf dem Augapfel umherzuwandern. Ich bin so überrascht von dem Phänomen, dass ich mir keine Mühe gebe, unbeteiligt zu scheinen. «Raus», dröhnt er. «Da ist die Türe.» Und er zeigt mit dem Finger, nicht mit dem Ellbogen, wie wir uns Schüler gewünscht hätten, zur Türe. Seine Bemühungen amüsieren mich, denn weder hat er etwas davon, wenn er mich raus schickt, noch ist er persönlich beleidigt, dass ich nicht zugehört habe. Er will nur strafen. Klar, er muss strafen, um die Ordnung im Klassenzimmer zu wahren. Yasmin dreht sich um, wartend. Sie freut sich darauf, Strafen zu sehen. Jeder Mensch ist fasziniert von Strafen, aber sie hat das Unglück, nie selber Teil davon zu sein, und jetzt schaut sie zu und denkt: Das ist also einer, der es verdient hat. Dabei habe ich es doch gar nicht so verdient, denke ich, und Golo versucht, mir beizupflichten, indem er, an mich gewandt, eine Grimasse schneidet. Sogar Tom, der dumme Junge, der neben mir sitzt, und unablässig in sein Buch starrt, schaut zu mir herüber. Langsam stehe ich auf, denn jetzt ist es zu spät, Einsprache zu erheben, aber eigentlich würde ich gern. Ich würde gerne sagen: Peter Ellenbogen, mal langsam, wir haben‘s beide doch nicht leicht. Ich weiss, was du willst, du willst mich strafen, du musst dich durchsetzen, gratuliere, du hast das geschafft und das ist auch ganz richtig so. Aber ich habe es verstanden, kann ja auch ruhig und konzentriert sein und setze mich wieder hin. Wir müssen keinen Kindergarten veranstalten. Das versuche ich ihm mit Gedankenkraft und einem besonders aussagekräftigen Blick
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mitzuteilen, doch er gibt nicht nach. Er weist auf die Türe und ich sehe ihn enttäuscht an. Langsam packe ich meine Sachen, drücke mich an Golo vorbei und streife Toms Haare, der schon wieder in das Lehrbuch versunken ist. Ich gleite an Amalia und Yasmin vorüber und dem dürren Blonden, dessen Name ich tatsächlich vergessen habe und der mich hinter seiner Brille anblinzelt. Ich nehme meine Jacke vom Haken, werfe sie mir über die Schulter, öffne die Tür des Klassenzimmers und trete, ohne den Lehrer eines Blickes zu würdigen, über die Türschwelle. «Bitte setz dich!» Ich schaue zu der Frau auf und kehre unweigerlich auf den Fussspitzen um, doch die Türe ist bereits zugefallen. Der Rückweg wird mir unmöglich sein, man kann schliesslich nicht wieder in das Zimmer gehen, aus dem man verwiesen wurde. «Bitte setze dich», wiederholt die Lehrerin mit sanfter Stimme und weist mit der Hand zum Ende des Raumes, wo noch ein Platz frei ist. Das Gefühl der Augen, die auf mir ruhen, ist nicht geschwunden, denn auch hier starrt mich das ganze Klassenzimmer an. Ein Yasmin-Imitat sitzt in der ersten Reihe, ihr Rücken ist noch gestreckter, so dass man denkt, er müsste bei der sanftesten Berührung bersten. Ich warte eine Weile, und als sich die Situation nicht verändert, beschliesse ich, Folge zu leisten. Ich nehme den Mantel von der Schulter und hänge ihn behutsam auf. Langsam gehe ich den Weg durch die Bänke hindurch zu meinem Platz. Wie mein richtiges Pult steht es in der Ecke des Zimmers, nur dass es düsterer und dreckiger wirkt. Ich setze mich und erwidere möglichst wenige Blicke. Die Lehrerin lächelt zufrieden, erhebt sich und fährt dort fort, wo ich sie unterbrochen habe. Schnell begreife ich, dass es wieder Mathematik ist, und spüre, wie mich Müdigkeit überschwemmt. Ich sehe zu meinem Nachbarn hinüber, denn er sieht aus wie Golo, nur seine Nase ist etwas krummer und doch, er verhält sich so ähnlich, schaut mich sogar an, als wäre ich sein Freund. Auch einen Tom gibt es, er sitzt in der gleichen Reihe und ist in sein Buch vertieft, aber sein Kopf hängt so tief ins Buch hinein, dass er verborgen ist. Nach einer Weile merke ich, dass es doch keine Mathematikstunde ist. Ich will verstehen, worum es sonst geht, aber ich finde es nicht heraus, denn einmal spricht sie von der chemischen Reaktion von Kaugummis und Schuhsohlen, dann wieder will sie ein Lied anstimmen, was alle Schüler aber einstimmig ablehnen. Sie sagt immer «im Grossen und Ganzen», aber ich komme nicht umhin zu glauben, dass sie damit eigentlich das Kleinste und Konkreteste meint. Ich verstehe gar nicht, was das für eine Stunde ist. «Wieso nicht?», fragt Golo. Du kannst auch meine Gedanken erraten? Der zweite Golo lächelt und sagt etwas, das der erste nie gesagt hätte: «Ich errate sie nicht, ich mache sie.» Das kann man nicht. Jeder denkt, was er will. «Kuchenverstand», versetzte er. Kuchenverstand? Golo prustet los, als ich das denke, und ich möchte mir ins Gesicht schlagen. Er schaut mich hämisch an. «Ich mache sie, ich mache sie!» Jetzt schaut die Lehrerin streng zu mir und Golo herüber und ich mache mich auf die nächste Bestrafung gefasst. «Warum schaut ihr eigentlich nicht mal aus dem Fenster?» Ich sehe verdutzt in das ernste Gesicht der Frau. «Weshalb seid ihr immer so konzentriert? Man hat ja auch einmal ausgelernt.»
Literatur
Mein Blick wandert zum Fenster, aber dort sehe ich nicht den hellen Tag und die Strasse, sondern mein Klassenzimmer, wo der echte Golo neben einem leeren Platz sitzt und
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Ellenbogen seine Mathematikstunde gibt. Ich sollte dort drüben sein, denke ich. «Warum?» Weil ich dort hingehöre. «Kuchenverstand», sagt Golo. Nein, zweimal klappt es nicht. Golo schaut traurig. Die Lehrerin richtet ihre Aufmerksamkeit plötzlich auf Yasmin. «Du, ja, vor allem du. Bei dir spüre ich eine zu grosse Spannung. Du äugst immer so über meine Schultern und möchtest wohl alles besser machen.» Die Lehrerin verweist sie des Zimmers. Mit zitternden Schritten erhebt sie sich, packt ihre Sachen zusammen und mit kerzengeradem Rücken verlässt sie das Zimmer. Ich drehe meinen Kopf zu der anderen Fenstergalerie und schaue ihr durch die Scheiben nach, wie sie niedergeschlagen einen neuen Platz im nächsten Klassenzimmer einnimmt, den ihr ein greiser Lehrer zuweist. Kuchenverstand, denke ich. Mist.
SYMMETRIE «Wie die Zeit nicht vergisst, sondern verschiebt.» Ein Bahnperron, auf dem einige Wartende unbeteiligt stehen. Sie tragen Aktenköfferchen bei sich. Hinter ihnen sind drei Türen sichtbar mit den Ziffern 1, 2 und 5. Dies sind die Minutentüren, in die von Zeit zu Zeit jemand schlüpft. Aus einer vierten Tür kommt eben so unregelmässig jemand heraus. YAN, einer der Wartenden, steht davor und ist in einer Zeitung versunken. Mit lauten Schritten und keuchend stösst SIMON dazu. SIMON
Ist er schon ab? Ist der Wagen N34 schon ab? YAN
Der ist vor zehn Minuten ab. SIMON
Ach. (schaut auf die Uhr) Scheisse, meine Uhr stimmt nicht… Beschissener Onkel. (auf einen Blick von YAN) Mein Onkel stellt mir immer die Uhr zurück. Er glaubt, es sei eine grosse Schande, zu früh irgendwo zu sein. An Meetings dürfe man nicht pünktlich, an Partys nicht als Erster und im Bett nicht zu früh kommen, wenn man etwas auf sich halten wolle. YAN
Na ja. (lacht leise) Das hat schon was. SIMON
Ja, das sind gute Beispiele, aber wenn man den Wagen erwischen will, ist das kein guter Rat. YAN
Dafür war ich letzthin an einer Party als Erster. Und Ihr Onkel hat schon recht, das ist
Literatur
nichts Gutes… Ich musste bei den Vorbereitungen helfen. SIMON
28 Literatur
Das ist auch Pech! Ach… mein nächster Wagen kommt in vier Minuten, das spar‘ ich mir. SIMON verschwindet mit einer Verabschiedung in der 2-Minutentüre. ELENA kommt auf den Perron und stellt sich schweigend neben YAN. YAN
Sie sehen nicht sehr glücklich aus, vielleicht kann ich Sie glücklich machen? ELENA
(rümpft die Nase) So prompt? Für einen solchen Anmachspruch ist es zu früh. Sie müssen mit der Frau erst ins Gespräch kommen… Aber stimmt, ich bin nicht glücklich, ich habe ja auch eine Trennung vor mir. YAN
So, wer ist denn der Unglückliche? Wie hat er es verdient? ELENA
Dieses Gehabe! Immer kommt er zu spät, egal was es ist: An Beerdigungen, zur Arbeit, er kommt zu spät nach Hause und steht zu spät auf. Man ist ja nicht mehr siebzehn. YAN
(vorsichtig) Ich könnte mir vorstellen, wen Sie meinen. Der Herr ist vor wenigen Minuten durch die Türen gegangen. ELENA
Ach? Und so wie ich ihn kenne, war‘s die Fünf! ELENA marschiert auf die Tür zu und betritt sie. Eine Minute lang ist YAN alleine und liest Zeitung. Ein Wagen mit Maske fährt unbeteiligt vorüber. Alle sehen ihm misstrauisch nach. Einer legt sein Aktenköfferchen neben die fahrende Stange und entfernt sich dann. SIMON kommt aus der vierten Türe. SIMON
Sie warten auch schon eine Weile, wieso nehmen Sie nicht die Minutentüren? YAN
Ach, ich habe Geduld. (unbeteiligt) Ihre Freundin sucht Sie übrigens. Sie kommt allerdings erst in etwa drei Minuten zurück. SIMON
Warum? Oh Gott. Habe ich wieder etwas verpasst? Ein Jahrestag, ein Geburtstag? YAN bewegt sich nach auf einen vorbeifahrenden Wagen zu. Der RAUCHENDE ONKEL tritt aus der Menge zu SIMON. ONKEL
Ach, mein lieber Simon, nimm doch nicht alles so streng… SIMON
Onkel! Ein Zufall, dass ich dich hier treffe. YAN hat sich offenbar im Wagen getäuscht und kehrt zu den beiden zurück und bleibt überrascht stehen.
29
YAN
Aber… Das ist mein Onkel! ONKEL
(lacht onkelhaft über ihre Blicke) Lasst nur machen, lasst nur machen. Ich bin euer beider Onkel. SIMON
Und… du hast uns nie etwas davon gesagt? ONKEL
Ihr habt mich ja nie gefragt. YAN
Dann sind wir ja Cousins! Aber, Onkel, warum stellst du immer seine Uhr zurück, damit er zu spät kommt? Seine Freundin will ihn darum verlassen! SIMON
Was? ELENA
(hat sich bei diesen Worten angenähert und hält inne) Ich komme besser später wieder. (verschwindet durch die 1-Minutentüre) ONKEL
Ach, YAN, du brauchst doch nicht eifersüchtig zu sein. Ich hatte euch beide immer gleich gern. Deine Uhr habe ich dafür immer vorgestellt, damit du zu früh kommst. YAN
Was? ONKEL
Ja, fällt es dir nicht auf? Wann fährt denn dein Wagen? YAN
(schaut auf die Uhr) In einer Minute. ONKEL
Haha, falsch, er fährt in fünfzig Minuten! Geht dir jetzt ein Licht auf? Die Verabredungen, an denen man dich vermeintlich sitzen gelassen hat? All die Warteräume, die du so gut kennst? Dass du immer so rasch Frauen ansprichst? YAN
Aber… warum? ONKEL
Ach, lasst doch eurem Onkel den letzten Spass, den er hat. Wir müssen zusammen was essen, jetzt ist gerade die rechte Zeit dazu, bald ist es zu spät und bis jetzt ging es nicht. Der RAUCHENDE ONKEL klopft seinen Neffen auf die Schultern und zieht sie mit sich fort. ELENA kommt aus der Tür und nähert sich vorsichtig dem leeren Platz. Dort
Literatur
sieht sie sich verloren um.
30 Kritik
Das Experiment als Aufgabe «Drei Geometrieaufgaben» steht als Titel über Céd-
legitime Frage. Ein Experiment zeichnet sich dadurch aus, dass es seine Rahmenbedingungen selbst erschafft – auch wenn die Parameter hin und wieder angepasst werden müssen, damit etwas passiert. Fast möchte ich sagen, dass im delirium paradoxerweise Literatur unter La-
ric Weidmanns Text. Die Geisteswissenschaftlerin-
borbedingungen entsteht. Die Hypothese in Form ei-
nen und Bildungsbürger unter uns, die Literaten und
ner Frage: Was ist Literatur gegenwärtig – vorderhand
Künstlerinnen kriegen es mit der Angst zu tun. Die
zumindest in Zürich? Natürlich schwingt da schon
sonst so klare Struktur der Geometrie verwandelt sich
die Voraussetzung mit, dass es Literatur wie auch Ge-
im Kopf Unkundiger zu einem Chaos aus Vektoren
genwart gibt. Aber im Experiment ist das – auf Weid-
und schon sind wir gleichermassen mitten in Weid-
manns Text schielend – durchaus zulässig, mag es in
manns Text wie in der Zeitschrift delirium. Schliess-
der Welt auch ganz anders aussehen. Mit einem Au-
lich spricht aus dem Namen der Zeitschrift doch der
genzwinkern ist einzugestehen: Worüber wir diskutie-
Wunsch, tief ins mentale Chaos einzudringen – bis zum
ren, daran arbeiten wir mit jeder Ausgabe weiter. So ist
Punkt des Orientierungsverlusts. Allerdings schwingt
delirium immer gegenwärtige Literatur, in Form des
auch die heimliche Hoffnung mit, mit umso klarerem
Experiments notwendigerweise, und nicht nur eine
Kopf wieder aus dem delirium herauszukommen. Tatsächlich trifft der Titel von Weidmanns Text in verschiedener Hinsicht zu. Nicht nur fasst er mit-
Sammlung einzelner Hefte, sondern im besten Fall ein Gesamtkunstwerk. Diesen Faden nimmt Weidmann auf, indem er sich
tels des Oberbegriffs ‹Geometrie› die drei Texte Weid-
durch die Motto-Zitate Laura Bassos Text Die Akte aus
manns zusammen, er verweist auch auf andere Dimen-
delirium N°01 gleichermassen zur Ausgangslage wie
sionen – die drei Dimensionen der Zeitschrift delirium.
zur Aufgabe gemacht hat. So gilt es für die Kritik, die-
Und dies tut er sinnigerweise der Geometrie entspre-
ser Verbindung nachzuspüren und zu untersuchen, was
chend in Form von drei Aufgaben. Denn auf eine Wid-
bei der gestellten Aufgabe herausgekommen ist. Sich an
mung folgt der Titel der ersten Aufgabe Helix und ein
Aufgaben zu messen und an der Aufgabe zu wachsen,
Zitat. Dass es sich bei Weidmanns drei Texten – oder ist
ist durchaus ehrenwert. Und seine Aufgabe geht Weid-
es ein einziger Text? – in irgendeiner Form um Geomet-
mann nicht zuletzt experimentell an. Da wird, was – als
rie handelt, wäre aus den Untertiteln bereits abzulesen:
literarischer wie als (von Stéphane Boutin) kritisierter
Helix, Tesserakt, Symmetrie. Die Aufgabe allerdings
Text – psychologisch begonnen hat, streng formal wie-
lenkt den Blick entscheidend. Tatsächlich sind Weid-
der aufgenommen. Doch die drei Aufgaben der Reihe
manns Texte Aufgaben – undauch dies in verschiedener
nach:
Hinsicht. Als literarische Vorgabe sind sie dem Kritiker aufgegeben. Der Kritiker wiederum macht sie sich zur
1. Helix
Aufgabe. Umgekehrt hat sich jedoch schon der Autor
Das angesprochene Chaos im Kopf könnte Wirk-
Weidmann recht explizit eine oder sogar mehrere Auf-
lichkeit sein – die von Weidmann beschriebene Stras-
gaben gestellt. Die vorangestellten Motto-Zitate weisen
se fordert dem Vorstellungsvermögen alles ab. Und
deutlich darauf hin. Letztlich spricht aus Weidmanns
wäre da nicht der wegweisende Titel, so bliebe die
Text aber vor allem die Aufgabe der Zeitschrift deliri-
Strasse vollends unvorstellbar. Wie sie sich windet und
um selbst. delirium ist ein Experiment – nirgends wurde das
schraubt, fast als wäre Bassos Protagonist, der sich verrenkt, durch Spalten zwängt und sich vor geraden
deutlicher als in den Teilnahmebedingungen, die von
Strassen fürchtet, diese weidmannsche Strasse selbst.
literarischen Autorinnen und Autoren neben ihren ei-
Und wie verkorkst muss die Strasse sein, damit sich in
gentlichen Texten zusätzlich Essays verlangten. Kaum
ihr eine ganze Stadt zusammenfassen lässt: Diese Stadt,
ein Essay traf ein. Aus redaktioneller Sicht also ein glo-
die eine Strasse ist. Nur, weil die Stadt zu unübersicht-
rios gescheitertes Experiment – ansonsten hochinter-
lich, geradezu unvorstellbar, und eigentlich eine einzi-
essant. Die Parameter müssen angepasst werden. Ein
ge Strasse schon zu viel für das Vorstellungsvermögen
Experiment muss schliesslich irgendwie funktionieren.
ist. – «Aber», so wendet Weidmanns Text am Ende der
Wie es funktioniert und was dabei herauskommt: eine
Helix ein, indem er sich schon fast selbst den Boden
31
unter den Füssen wegzieht, «das ist nicht sicher». Das
von unten auf». Am Ende drehen sich diese Masken
alles ist nicht sicher.
gar, nachdem sie vorher noch die «Richtung» gewech-
Was ist dann sicher? Die Irritation ist sicher – und diese steht notwendigerweise auf schwankenden Bret-
selt haben, auf «einem Möbiusband». Seelenwanderung und Kreislauf des Lebens.
tern. Als poetisches Programm läuft sie Gefahr, un-
Das ist viel Mutmassung, um eine Vorstellung von
begründet abzustürzen: Irritiert der Text, weil die Ir-
Weidmanns Text zu kriegen. Es verhält sich ein wenig
ritation gelungen ist, oder irritiert der Text, weil die
wie mit den Aktenköfferchen: Ist denn «gesagt, dass
Irritation nicht gelungen ist? Faktisch bleibt der Text
die Aktenköfferchen gefüllt sind»? – Natürlich ist das
irritierend. Vertrauen wir also dem Bühnenboden vor-
«nicht gesagt». Aber vielleicht braucht ein literarischer
erst und lassen uns auf das sich anbahnende Schau-
Text auch nichts gesagt zu haben – nichts gesagt zu
spiel ein:
haben im Sinne der strengen Wahrheit, die nur sagen
Der Text beginnt mit einem scharfen Kontrast: «Die
kann, was es gibt. Dagegen Fiktionalität in aller Kür-
Strasse windet sich in schroffen Verschlingungen zwi-
ze: «Wie gesagt, es scheint so.» – Oder: Wie gesagt, so
schen den Häusern hindurch, die sie still und gelassen
scheint es. Da wird gleichermassen «gesagt» und «nicht
umfrieden.» Auf irritierende Weise – still und gelas-
gesagt» und was «gesagt» wird, «scheint» – und Platon
sen – säumen Häuser eine schroff gewundene Strasse.
hätte sich im Grab umgedreht. Trotzdem oder gerade
Mitnichten können diese Häuser die Strasse umfassen
deshalb liegt die Vermutung nahe, dass auch der Text
oder eben umfrieden, wäre die Strasse doch sonst eher
«nichts Genaues» weiss.
ein Platz oder gar ein Hof. Und nur am Rande, wo die
2. Tesserakt
Leute «beackern» und «schmücken», ist diese Szene vergleichbar mit der tiefen Seelenruhe eines Friedhofs.
Es ist keine Schande, «nichts Genaues» zu wissen.
Stattdessen rattert und knirscht es. Einzig die Beklem-
Die Unvorstellbarkeit nimmt zu – oder wie viele kön-
mung dieses Schauspiels, denn (Toten-?)Masken ziehen
nen tatsächlich von sich behaupten, die vierte Dimen-
vorbei, ist dem Gefühl auf einem Totenacker ähnlich –
sion einwandfrei zu meistern? Das allwissende Wikipe-
wenn unvorstellbar bleibt, wohin und weshalb jemand
dia sagt: «Der Tesserakt ist eine Verallgemeinerung des
Kritik
gehen musste.
klassischen Würfels auf vier Dimensionen». Und ge-
Und mit diesen beklemmenden Fragen tauchen Ak-
nauso allwissend schien der Erzähler der Helix – jetzt
tenköfferchen auf. Seltsam entrückt ziehen sie zusam-
ist er es nicht mehr. Aber wer kann auch mit leerem
men mit den Masken vorbei – aus irgendeinem Grund
Magen denken? Das Mittagessen, in der Helix fand es
und irgendwohin. Alles ist physische Realität gewor-
nicht mehr statt, ist nun am «Nachmittag» längst vor-
den. Die Akte, die vormals bei Basso nur in der Vorstel-
bei. Da hilft auch alle «Gedankenkraft» nichts, derer
lung existierte, ist da, auch wenn sie immer noch nicht
sich der Protagonist zu bedienen versucht, um seiner –
eingesehen werden kann. Aber vielleicht sind auch nur
in der Tat faszinierenden – Strafe zu entgehen. Ob der
die Köfferchen da, völlig inhaltslos. Das käme dann
Lehrer weiss, womit er seinen Schüler bestraft, und ob
dem Protagonisten Bassos wieder nahe, der sich ver-
der Schüler weiss, in was für einem Universum er lebt,
mutlich mehr einbildet, als tatsächlich ist. Aber wie im-
sei dahingestellt. Es könnten verschiedene Paralleluni-
mer: «Natürlich weiss man nichts Genaues.»
versen sein, es könnte auf irgendeine eigenartige Weise
Und teils scheren sich «die Anwohner» in Weid-
mit den vier Dimensionen des Tesserakts zu tun haben
manns Text auch nicht darum. Sie scheinen in ihrer
oder alles könnte auch nur der Tagtraum eines hungri-
Alltäglichkeit gut eingerichtet allenthalben «ein Mit-
gen und müden Schülers sein. Aber so wichtig ist das
tagessen vorzubereiten». Essen muss der Mensch, wäh-
vermutlich gar nicht. Wichtiger scheint diese ominöse
rend sich sein Leben schreibt und er vergeht. Die Akte
Gedankenkraft.
wird erst zur Akte, wenn das Leben vollendet ist und
Wer aussieht wie Golo (ist es Golo oder Golo‘?), be-
jemand, wer auch immer das sein mag, das Sündenre-
sitzt sie offenkundig. Und mit dieser Gedankenkraft
gister – oder eben die Akte – tatsächlich herunterliest.
kehrt die Einflussangst aus Bassos Akte zurück, auf
Daran lassen sich auch die gleichförmigen Aktenköf-
deren Note der Tesserakt endet: «Mist». Allerdings ist
ferchen erkennen: an den dazugehörigen Totenmasken
diese Einflussangst bei Weidmann weit weniger be-
aus leichenblassem Gips. Denn manchmal «leuchten
drohlich; eher eine Spielerei, etwa so wie Geometrie-
ihre grossen, weissen Augen und die gewölbten Lippen
aufgaben im Schulunterricht: recht abstrakt, schwer
32 Kritik
vorstellbar, lösbar – vielleicht. Viel bedrohlicher ist
angedeutete Dreiecksbeziehung kam nicht zustande –
einmal mehr die Vorstellung, dass die physische Reali-
irgendwie haben wir wohl die Pointe verpasst, konn-
tät nach dieser Einflussangst strukturiert sein könnte.
ten die Sache nicht auf den Punkt bringen – sind eben
Die Selbstbestimmung des Protagonisten jedenfalls ist
unpünktlich. Das muss besonders Schweizerinnen und
an einem kleinen Ort – zumindest solange er das mit
Schweizer ärgern. Immerhin ist die Schweiz das ein-
der Gedankenkraft nicht beherrscht. Denn vor der Ge-
zige Land, wo sich Leute bei einer Zugverspätung von
dankenkraft und ihren Einflüssen schützen den Schü-
fünf Minuten und der resultierenden Wartezeit herz-
ler auch seine neunmalklugen Gedanken zu «Strafen»
haft aufregen können. Wir kennen das alte Lied vo dä
nicht, wenn es einmal so weit ist, dass ein irrwitziges
Bahnhöf, wo dr Zug gäng scho abgfahren isch oder no
Wort im Kopf widerhallt: «Kuchenverstand».
nid isch cho... Da kommen Weidmanns «Minutentüren»
So beherrscht Weidmanns Schüler, aber er ist ja
recht gelegen.
noch ein Schüler, weder das Reich der mentalen noch
Ansonsten hilft einmal mehr nichts – in diesem
das Reich der physischen Realität – und schon gar nicht
schrägen Theater. Ob die Absicht des Onkels darin be-
deren Überschneidung oder Verschmelzung. Zwar geht
stand, auf etwas skurrile, aber gutmütige Weise seine
er, im Gegensatz zum Protagonisten Bassos, der sich
Neffen, die eigenartigerweise auch nichts von einem
kaum noch vor die Tür getraut, ganz normal durch die
gemeinsamen Onkel wussten, zu erziehen, oder ob er
Tür weiter. Aber wo er damit landet? Die Türen, die ver-
mit seinen Zeitspielereien schlicht ein alter Querulant
schlossen bleiben, und wie du stets durch Fenster wei-
ist, steht vorderhand einfach einmal im Raum. Aber ich
terziehst. Es bleibt ihm also wenig anderes übrig, als –
komme nicht umhin, Weidmann für diesen Onkel zu
und darin gleicht er dem Protagonisten Bassos wieder
halten, der sich aus Bassos Text bedient und sich ent-
– von einer seltsamen Lehrerin explizit aufgefordert ei-
sprechend der Vorlage als Zeit selbst herausstellt: Wie
nigermassen träumerisch zum Fenster hinaus zu bli-
die Zeit nicht vergisst, sondern verschiebt. Der Onkel,
cken; von Parallelwelt zu Parallelwelt, denn sogar die
der da nach Gutdünken verdreht und verschiebt und in
Helix aus dem ersten Text windet sich da wieder vor
die Irre führt – und sich, wenn er denn selbst die Zeit
dem Fenster.
ist, um sich selbst dreht. Damit ist die Sache noch ver-
Langsam nimmt eine Ahnung Gestalt an. Ein Licht-
trackter als beim Tesserakt und ich beginne, mir die
blick. – Ein Gedankenblitz: Immerhin ist das auch ein
Helix wieder herbeizuwünschen. Irritierend bleibt es
geometrischer Vorgang. – Der Grund, weshalb die Un-
also bis zum Schluss. Es ist kein besonders rücksichts-
übersichtlichkeit ständig zunimmt, liegt in der gestell-
voller Erzähler, der sich anpassungsfähig wie ein Cha-
ten Aufgabe selbst. Wer sich das wohl grösste geometri-
mäleon durch die verschiedensten Erzählformen und
sche Problem zur Aufgabe gemacht hat, – nämlich den
-perspektiven gewunden hat. Aber immerhin merkt man
«Weltraum» – wird kaum so schnell zu einem «Ende»
ihm den Schalk an, wie er da verschmitzt Aufgaben
kommen. Aber ob das mit der Zeit besser geht?
stellt, die einem vorkommen wie ein abstrakter Witz –
3. Symmetrie Ein letzter Versuch, sich die Zähne (quartäre Gesteinsbrocken?) nicht auszubeissen! Schweisstreibend
die Pointe ist keine Pointe oder irgendwie so ging das, und dies würde wiederum den Onkel retten.
Hinterher schlauer? Umso besser
ist die Arbeit des Kritikers auch, so viel sei Dolores
Vielleicht lohnt es sich, die Sache einmal wörtlich
Zoe immerhin zugestanden. – Dass Weidmann vom
anzugehen. Dann lässt sich sagen, dass die psychische
Programm abweicht, – Helix und Tesserakt sind geo-
Geometrie in Bassos Akte in Weidmanns Aufgaben in
metrische Figuren, die Symmetrie ist eher ein Verhält-
eine physische Topografie verwandelt wurde. Die drei
nis bzw. eine Eigenschaft – erklärt sich über das Essen.
weidmannschen Texte sind also gleichermassen Auf-
Allerdings findet auch dieses gerade nicht statt, selbst
gabe wie Lösung. Aber Himmel Herrgott noch mal, der
wenn genau die «rechte Zeit» wäre – Mittag muss auf-
Teufel soll mich holen – in einer solchen Welt will ich
grund der Symmetrie wohl gefolgert werden. In der He-
nicht leben, weder in der verkorksten Psyche des Prot-
lix war schliesslich Vormittag und im Tesserakt Nach-
agonisten Bassos noch in Weidmanns surrealem Laby-
mittag. Stattdessen müssen wir uns das Mittagessen, zu
rinth. Ob Bassos Protagonist das auch in aller Klarheit
dem der Onkel seine beiden Neffen einlädt, vorstellen
und mit grösster Sicherheit hätte sagen können? Wohl
und bleiben wie Elena ein wenig «verloren» zurück. Die
kaum; insofern wird Weidmanns Text Bassos Vorlage
33
durchaus gerecht, wenn er auch wesentlich spielerischer daherkommt. Und das macht ihn gleich wieder sympathisch. Was aber weiss Weidmanns Text selbst, ausser einigen subtilen Beobachtungen («ob er das Wort oder den Strich betont») und skurrilen Einfällen («Minutentüren»), die gleichermassen aufblitzen wie die anfänglich erwähnten Feuerwerke und Blitze? Die grosse Frage scheint mir diejenige nach der Fiktionalität zu sein. Die Antwort darauf: Von aussen gesehen darf Literatur primär wohl einmal alles. Ob das von innen her gesehen, d.h. aus dem Text selbst heraus, auch funktioniert, ist eine andere Frage. Ob also drei Aufgaben einen Text ergeben? Die geschickte Übernahme von Motiven aus Bassos Erzählung macht noch keinen eigenständigen Text, obwohl das Kopieren und Kompilieren durchaus zur Ästhetik der Gegenwart gehört – zumindest in der Literatur. Das ist der feine Unterschied zwischen Helene Hegemann und Karl-Theodor von und zu Guttenberg, der feine Unterschied zwischen einem Bestseller und dem Akteneintrag ‹Plagiat›. Hingegen ist Weidmanns Unterfangen keinesfalls mit dem hegemannschen Erfolgsroman zu vergleichen – nicht weil Hegemanns Roman besser wäre als Weidmanns Text (im Gegenteil), sondern weil es um etwas ganz anderes geht. Um nichts Geringeres als – und das reicht dann schon wieder nahe an das Problem mit dem Weltraum – einen literarischen Kommentar, eine künstlerische Erwiderung, eine Übersetzung vielleicht sogar. Damit ist die Aufgabe delirium mehr als erfüllt. Dann wären Weidmanns drei Aufgaben in ihrer ganzen Verspieltheit auch als Persiflage auf die Ernsthaftigkeit und die – durchaus männliche – intellektuelle Kraftmeierei von delirium N°01 zu verstehen – wie grandios die dort festgehaltenen Gedanken auch gewesen sein mögen. Denn natürlich weiss man nichts Genaues. Da hat sich wohl urplötzlich die Richtung geändert. Einiges lässt sich also vermuten. Und wenn das Experiment nicht geglückt ist, so ist zumindest etwas passiert. Es ist nur zu hoffen, dass das Eintauchen ins delirium zum Auftauchen mit grösserer Klarheit geführt hat: Aber wer János ist, bleibt – nein, keine Aufgabe, sondern – ein Rätsel. Und wenn es nicht Weidmanns Katze ist, dann vielleicht ein Hamster im Rad oder doch János Bolyai, einer der Mitbegründer der nicht-euklidischen Geometrie? Das wäre dann schon fast wieder ein wenig vermessen.
Kritik
Fabian Schwitter
34
Elsbeth Zweifel
35
L I T E R AT U R
n e l l o r g s a d t s i …es s a d n e t o t r e d … n e k l o w r e seuf zen d
KRITIK
36 Hannes Sättele
35
und höre und höre alles liegt blass in grau und der holunder trägt schnee und höre die flocken fallen und ich denke es sei das echo der glocken im tal und höre die flocken fallen und es ist das grollen der toten das seufzen der wolken und höre
Literatur
Elsbeth Zweifel
36
37
Die Dichtung und ihre Kritik – und ein überlebender Mythos
zen-lassen an einen Ort, der nicht mehr derjenige des Gedichts, sondern derjenige der durch es gedichteten Welt ist. Diese gedichtete Welt ist dort, wo «alles liegt», «blass in grau». Es handelt sich um eine vereinsamte Welt, die von der Stimme eines lyrischen Ichs ausgeht, das sich noch nicht in ihr verortet hat. Als stilles Wesen ist lediglich «der holunder» in ihr, und er «trägt Schnee». Aus dieser Einsamkeit heraus tritt die gedichtete Welt durch das Gedicht an einen aussenstehenden Hörenden wie mich heran.
Vor allem bei Gedichten scheint sich die Frage auf-
Das zweite «und höre» des Gedichts ist eine weite-
zudrängen, wie eine literarische Kritik zu ihnen Stel-
re Forderung an mich als einen, der schon wahrhaftig
lung nehmen kann. Die Problematik rührt zumindest
liest. Es braucht jetzt die Atempause nicht mehr, die
teilweise daher, dass Gedichte nicht an-sich lesbare
nach dem vorherigen «und höre» notwendig gewe-
Textgestalten sind, sondern als Für-sich zu etwas Ge-
sen war, um mit dem Gedicht auf-zu-hören und eine
dichtetem und Lesbarem werden, das erst in der Fol-
durch es gedichtete Welt sich eröffnen zu lassen. Ich
ge davon eine Kritik erfahren kann. Eine Gedichtkritik
muss nicht mehr anhalten, auf-horchen und ge-hor-
hat deshalb ihr ‹ursprüngliches› Objekt, das Gedicht
chen, sondern ich bin bereits hier in dieser gedichteten
selbst, notwendigerweise verloren, und kann diesem
Welt. Ich werde nun auf meinem Weg zum kritischen
gegenüber nur noch einen fragwürdigen Geltungsan-
Für-sich des Gedichteten mit einer zweiten expliziten
spruch stellen. Die Gedichtkritik kann aber auch die-
Forderung konfrontiert. Ich soll innerhalb dieser ge-
se notwendige Verschiebung erkennen und sich selber
dichteten Welt auf etwas hören, das sich hier ereignet:
ein entsprechendes Gesetz geben, nämlich an das Ge-
«die flocken fallen». Ich soll aber auch jemandem zu-
dichtete und Lesbare heranzutreten. Ein solches Gesetz
hören, dem lyrischen Ich, das jetzt auch hier in dieser
kann die Gedichtkritik vorantreiben: Es legitimiert sie,
gedichteten Welt ist und das Gehörte reflektiert: «ich
weil sie sich ein neues Objekt gegeben hat, das nicht
denke es sei». Ich höre also das Heil, das sich dieses
mehr gänzlich unter dem Einfluss des Gedichts als
lyrische Ich vom Gehörten her verspricht und mit dem
schwer zugängliche oder verloren gegangene Textge-
es die Stille dieser uns gemeinsam vereinsamten Welt
stalt steht. Nichts kann mehr dagegen sprechen, dass
füllen möchte. Das lyrische Ich erdenkt sich Heil, das
die Gedichtkritik das neue Objekt, das sie sich als ein
von einer Gemeinschaft Gottesfürchtiger, Gottes Wort
eigenes gegeben hat, genau befragt oder sogar peinlich
ge-horchenden Menschen, durch die dafür konventio-
genau inquiriert. Umso weniger steht der Gedichtkritik
nell festgelegten Klänge heraufbeschworen wird: «echo
und ihrem neuen Objekt etwas im Wege, wenn schon
der glocken» «im tal».
das Gedicht selbst ein Bewusstsein für das Gedichtete
Das dritte «und höre» des Gedichts bedeutet end-
und Lesbare entfaltet und die nötigen Vorkehrungen
lich die Einladung des kritischen Lesers. Ich habe auf
vom Leser beziehungsweise Kritiker explizit einfordert,
meinem Weg dahin zuerst das Gedicht dadurch verlas-
wie das bei Elsbeth Zweifels «und höre» der Fall ist.
sen, dass ich durch eine erste explizite Forderung in
Das Objekt der Kritik
Kritik
zum Dazu-ge-hören sein, das heisst, ein Sich-verset-
die von ihm gedichtete Welt hineingerufen worden bin. Durch eine zweite explizite Forderung wurde ich dazu
Das erste «und höre» des Gedichts ist eine Forde-
angehalten, diese gedichtete Welt durch die Gedanken
rung an mich, der ich zwar bereits dieses Gedicht lese,
des lyrischen Ichs zu hören und zu denken. Erst jetzt
indem ich seinen Versen mit meinem Blick folge, aber
mit dem dritten «und höre» wird das Ereignis in dieser
nicht deswegen schon das Gedichtete lese, indem ich
gedichteten Welt, dass «die flocken fallen», unvermit-
es mir als Für-sich zum eigenen Objekt der Kritik ma-
telt und ungedacht für mich hörbar, in der Form eines
che. Auf dem Weg zu einem solchen kritischen Stand-
reinen «es ist». Das lyrische Ich, das hörte, sowie die
punkt wird als erste explizite Forderung ein lesendes
von ihm erdachten Gottesfürchtigen mit ihren Klän-
Folgen verlangt, das sich von demjenigen meiner Au-
gen haben mich verlassen. Ich höre nur noch deren un-
gen unterscheidet: «und höre». Es soll ein Ge-horchen
heimlichen Nachhall: Sie «sind» jetzt die «toten» und
38 Kritik
als solche sind sie für mich Dinge dieser gedichteten
unvermittelter Bezug zu Dingen von mir auch jenseits
Welt geworden, in der ich ganz alleine dastehe. Diese
der gedichteten Welt, also in jeder erdenkbaren Welt,
Dinge einer für mich zunächst fremden und mittlerwei-
weitergeführt werden könnte, wozu ich eigentlich nur
le eigenen – aber immer noch vereinsamten, eigenarti-
auf eine bestimmte Weise zu hören bräuchte.
gen und somit entfremdenden – Welt überfallen mich
Dieser besondere Bezug zu Dingen beinhaltet nicht
mit ihrer hörbaren Feindseligkeit: «das grollen». Sie
das spirituelle Heil oder die gesellschaftliche Annehm-
überfallen mich also mit einem hörbaren Seinsmodus,
lichkeit durch konventionelles Ge-horchen von Gottes
der sich den zähmenden Konventionen der Sprache –
Wort oder durch konventionelles Dazu-ge-hören zur
denjenigen, die es normalerweise ermöglichen, Frem-
sprachlichen Gemeinschaft. Das besondere Glück die-
des durch das Gemeinsame eigen zu machen – entzieht.
ses neuen und eigenen Bezugs zu einer Welt ist ledig-
Zu diesem hörbaren Seinsmodus, der sich den zäh-
lich das Entsetzen, mit dem uns unvermittelte Dinge
menden Konventionen entzieht, zählt jedoch nicht nur
hörbar entgegentreten. Ein riskantes Glück wird also
«das grollen» «der toten» als unheimliche Feindselig-
dem Leser oder dem Kritiker durch das Gedichtete
keit. Auch das «seufzen der wolken» als melancholische
suggeriert, ein Glück, das auch für die Dichtung sel-
Zärtlichkeit ge-hört dazu. Es handelt sich offensicht-
ber – als literarisches Unterfangen, das als solches und
lich um einen hörbaren Seinsmodus der Dinge und der
zugunsten der poetischen Bildhaftigkeit notwendiger-
Welt, dessen Unvermitteltheit sich nur noch durch po-
weise auf spirituelles Heil und gesellschaftliche An-
etische Bildhaftigkeit repräsentieren lässt.
nehmlichkeiten verzichten muss – riskant bleibt.
Erst in dieser Situation also, in der es mir nicht mehr durch die zähmenden Konventionen der Sprache heimelig gemacht wird, in der ich aber immer noch in
Die Autonomie der Dichtung Wir haben nun ein ‹glückliches Hören› – ein Hö-
der gedichteten Welt daheim bin, kann mir auch Fol-
ren der Dinge, so wie sie gerade sind und uns entge-
gendes nicht mehr verheimlicht werden: ein Seinsmo-
gentreten – als unser neues und eigenes Objekt der li-
dus der Dinge, in dem diese so sind, wie sie sind und
terarischen Kritik gewonnen. Nun kann dieses Objekt
wie sie mir gerade hörbar entgegentreten; ein unver-
befragt werden. Falls ein solches glückliches Hören tat-
mittelter Seinsmodus, der nur in poetischer Bildhaf-
sächlich ein Fundament von authentisch literarischer
tigkeit durch die Sprache repräsentiert und aufbewahrt
Dichtung sein sollte, müsste dann diese nicht einfach
werden kann; ein Seinsmodus, der auch ein potenziel-
implizit von ihm ausgehen, anstatt es als Fundament
les Für-sich ausmacht und somit die Kritik einlädt. Mit
erst explizit zu konstruieren? Wir können dasselbe
anderen Worten scheint sich hier zu zeigen, dass ein
auch anders fragen: Verbleibt eine Dichtung, die vor al-
ungezähmtes und unvermitteltes Hören auf die Dinge
lem darauf ausgerichtet ist, ihr Fundament explizit zu
ganz im Sinne einer poetischen Bildhaftigkeit und ih-
konstruieren – als glückliches Hören, das sich im Ge-
rer potenziellen Lesbarkeit ist, dass dies also eine fun-
dichteten durch wachsende Insistenz behauptet – nicht
damentale Bedingung sowohl für die Möglichkeit au-
gerade deshalb auf einer Vorstufe des eigentlich in der
thentisch literarischer Dichtung als auch ihrer Kritik
Dichtung allgemein Intendierten – der poetischen
ist. In seinen letzten Versen stellt das Gedicht genau
Bildhaftigkeit, die sich erst gegen Schluss des entspre-
diese Bedingung – und es erfüllt sie zugleich.
chenden Gedichts behauptet, um dann sogar ganz zu-
Das letzte «und höre» des Gedichts ist eine Bestä-
rückzutreten? Daraus folgt auch die zweite Frage: Was
tigung dafür, dass das neue Objekt des Kritikers auch
könnten allfällige Motive einer solchen – scheinbar un-
sein eigenes Objekt ist. Ich bin durch das Lesen des Ge-
vollständigen – Ausführung von Dichtung sein?
dichts zum Kritiker geworden, weil mich dieses durch
Auf der Ebene des einzelnen Gedichts «und höre»
die poetische Bildhaftigkeit in einen eigenen oder un-
und seiner unmittelbaren literarischen Kontextuali-
vermittelten Bezug zur gedichteten Welt treten liess,
sierung können wir diese Fragen wie folgt erörtern:
deren Dinge in der Folge direkt zu mir ‹gesprochen› ha-
Die Aussage des Gedichteten kann dahin gehend ge-
ben. Das letzte «und höre», dem eine Leere folgt, ist ein
lesen werden, dass authentisch literarische Dichtung
Zeichen dafür, dass sich nun sogar die poetische Bild-
und ihre Kritik sich ihreigenes sprachliches Gesetz ge-
haftigkeit zurückzieht, dass sie also nur noch als Ab-
ben sollten, dass sie autonom sein sollten und dass sie
wesenheit anwesend sein soll. Das suggeriert, dass ein
Letzteres vor allem durch glückliches Hören erreichen.
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Das Aussagen des Gedichteten kann als durchaus kongruent zu dieser Autonomie gelesen werden, denn ein
Der Leser dieser Kritik mag sich bezüglich der zwei
solches Hören kann dann keineswegs als äusseres, re-
Erörterungen ganz unterschiedlich positionieren: es
gulierendes Fundamentalgesetz einfach übernom-
kann durchaus strittig bleiben, welchen Stellenwert
men oder vorausgesetzt werden, sondern muss als in-
genau eine poetologisch reflektierte Autonomie inner-
nerliches und konstitutives selber entfaltet werden. Es
halb eines literarischen Werks nach ästhetisch-funkti-
stellt sich aber sodann die Frage, ob eine solch inten-
onalen Kriterien einnehmen kann, soll oder muss; es
sive Beschäftigung mit der Autonomie von Dichtung
kann auch strittig bleiben, ob die gegenwärtige Kultur
und Kritik nicht verhindert, dass authentisch literari-
die Politisierung von Literatur und Dichtung, und ihrer
sche Dichtung und Kritik tatsächlich stattfinden – im
Kritiken, als Zähmung derselben überhaupt verlangt;
Sinne der Ausführung und Diskussion von poetischer
weiter, ob die Literatur gegebenenfalls dagegen bereits
Bildhaftigkeit, die zwar in der Autonomie ihr Funda-
ankämpft oder diesen Kampf überhaupt aufnehmen
ment hat, aber doch etwas anderes als dieses Funda-
sollte. Was aber für den Leser dieser Kritik durchge-
ment ist. Die Beantwortung dieser Frage kann auch
hend unverändert bleiben kann, ist dasjenige, was als
gleich von der Beantwortung der zweiten Frage abhän-
oft unbemerktes Fundament alle diese Fragen vonsei-
gig gemacht werden, nämlich welche Motive es für die-
ten der Literatur und ihrer Kritik stellen lässt: die Idee
se scheinbare Unvollständigkeit der Dichtung geben
einer Autonomie der Literatur – ob sie nun wirklich ein
könnte. Ein Motiv wäre beispielsweise der Stellenwert
Fundament von Authentizität ist oder nicht – als über-
des entsprechenden Gedichts in seinem unmittelbaren
lebender und fruchtbarer Mythos aus dem Okzident.
literarischen Kontext. Wenn das Gedicht bewusst als
Hannes Sättele
eine poetologische Reflexion funktionieren sollte, dadurch, dass es in einem entsprechenden literarischen Kontext platziert wäre, so käme es bestimmt zu seinem Recht und würde auf keinen Fall als etwas Unvollständiges erscheinen. Anders müssen diese Fragen erörtert werden, wenn wir sie auf der allgemeineren Ebene der Literatur oder der Dichtung als kulturellen Bereich in Betracht ziehen, wenn wir also den Stellenwert des vom Gedicht Gedichteten nicht bezüglich seines unmittelbaren literarischen Kontextes, sondern bezüglich des Kontextes der gegenwärtigen Kultur meinen. Das Gedichtete, ein autonomes Hören als Fundament authentisch literarischer Dichtung und ihrer Kritik, das explizit behauptet und sozusagen deklariert wird, könnte dann andere Gründe als die literarisch internen und sozusagen ästhetisch funktionalen haben. Es könnte sich beispielsweise um eine Positionsverteidigung gegenüber einer kulturellen Gegenwart handeln, die als tendenziell feindlich empfunden wird, weil sie – so die hypothetische Empfindung – die Autonomie der Literatur oder der Dichtung, und ihrer Kritiken, gegenüber anderen Kulturbereichen strittig macht, sie also nur noch als authentisch betrachtet, wenn sie sich mittels normaler und normierter Sprache auf andere Kulturbereiche beziehen und diese miteinbeziehen: kurz, eine Politisierung, Vergesellschaftlichung und schliesslich Zähmung von Literatur und Dichtung, und ihren Kritiken, welche die poetische Bildhaftigkeit und Potenzialität Kritik
der Sprache im Allgemeinen bedrohen würde.
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Replik auf delirium N°01 delirium N°01 wurde mit Editorial und theoretischer Reflexion programmatisch in einen schwitterschen Rahmen gefasst. Wider den Mythos des kreativen Dichtens beklagt sich der Initiator des neuen Literatur-Kritik-Magazins über den hartnäckigen Geniegestus, mit dem die Dichterinnen und Dichter ihre wortfeilschende Schwerstarbeit dekorierten. Kommt aus dem Busch, ihr Reimdiebe und Zeilenstrolche und lasst uns eure Werke mit Anspruch und Mass im Schweisse eurer Angesichter verhandeln! So in etwa liest sich Schwitters Kampfansage, welche sich an die Lyrikerinnen und Lyriker richtet. Wo frei draufsteht, ist nicht unbedingt Freiheit drin, mahnt Schwitter an, und nur wer die Form kenne, könne sich Freiräume in den Zeilen schaffen. Zwei Momente in diesem Programm möchte ich näher betrachten und ich fahre dafür nun zunächst mit einem Kritikmoment im theoretischen Essay, welche delirium N°01 beschloss, fort. Ein zweites Moment betrifft sodann das Editorial, mit welchem ich diese kurze Replik schliessen möchte. Wenden wir uns also dem dritten Teil von Schwitters Antwort auf die Frage nach dem Gedicht als Formsache oder Geschmacksfrage zu. In diesem dritten Abschnitt wendet sich der Autor der Literaturrezeption und -produktion zu. Während es der Leserin oder dem Leser stets um Erstere, also den Gefallen am Gedicht, gehe, müsse es der Autorin oder dem Autor um die Form des Gedichts zu tun sein. Ohne das schwittersche Programm als Ganzes fassen zu können, möchte ich an dieser Stelle auf die Instanz der Kritik verweisen, um welche die Beziehung zwischen Produktion und Rezeption meines Erachtens ergänzt werden muss. Daraus ergibt sich eine Triangulation, in welcher der Kritikerin als Lesende wie auch Schreibende eine kontroverse Rolle zukommt. Als Leserin wird ihre Aufmerksamkeit vor allem durch die Lust am Text gelenkt. Auch als Kritikerin richtet sie, ausgehend von diesem ersten Vertrauensmoment, ein wohlwollendes Auge auf das Geschriebene – dies belegen nicht zuletzt die Kritiken der Erstausgabe von delirium. Folgt man sodann Schwitters Argumentation, so muss dieser unmittelbare Zuspruch gerade in Bezug auf das freie Gedicht gelten. Im Zusammenhang mit der freien Dichtung ergibt sich für die Kritikerin nämlich ein prekäres Spiel mit ebendieser Freiheit oder «Selbstgesetzgebung», wie Schwitter schreibt. Erst diese Selbstgesetzgebung, basierend auf eingehender Reflexion des Dichtens selbst, legitimiere die Autorin bzw. den Autor in der Wahl der freien Form. Die Reflexion charakterisiert Schwitter als eine alternierende Bewegung von tastendem und formendem Zugriff auf das Gedicht, wobei die tastende Hand der Form in ihrem Werden nachspüre und korrigierend eingreife, während die andere Hand im Abgleich den Stoff gestalte. Das Wohlwollen der Kritikerin bedeutet nun zunächst, diesen beiden Händen, welche in der freien Dichtung am Werk waren, nachzuspüren. Die Reflexion der Kritikerin liegt jedoch nicht in diesem Oszillieren zwischen Form und Stoff, sondern darin, sich im Nachtasten der dichterischen Gestaltungskraft der eigenen Hände bewusst zu werden. In der Vergewisserung der kritischen Tätigkeit muss nach diesem ersten Mo-
41 ment des Nachtastens wenigstens eine Hand freigemacht werden, um die Freiheit in der Selbstbestimmung der Dichterin oder des Dichters zu fassen. Und dieses Frei-Machen wiederum bedeutet die Autonomie der Kritikerin – denn erst mit freier Hand kann sie die Autonomie des Gegenstandes fassen. Der anfänglich wohlwollende Zuspruch wird ja nicht selten bereut und eben darum ist man als Kritikerin gut beraten, sich wenigstens eine Hand frei zu halten. Der autonome, kritische Zugriff auf das freie Gedicht kann jedoch nur bedeuten, die Selbstgesetzgebung der Dichterin bzw. des Dichters zu massregeln. Den Abgrund dieser Anmassung zu überspringen, ist eine Aufgabe, welche dem Mut der Dichtung in nichts nachsteht, denn sie erfordert das Vertrauen in das Gedicht ebenso wie in das sekundäre Nachtasten und -fragen. Um diesen kritischen Zugriff zu üben, braucht es Schreibräume. Es gilt in diesen Räumen jedoch auch, die Position der Kritik zu verhandeln, die wohl durchaus näher beschrieben werden kann, als dass sie lediglich zwischen Literaturproduktion und -rezeption liegt. Als Letztes möchte ich nun zum Anfang des Heftes springen und also den Bogen zurückspannen: von der Übung und Arbeit am Gedicht und der Reflexion des Kritisierens zum Editorial und seinem Imperativ der Produktivität. Die Kontinuität liegt dabei in der Dekonstruktion des Mythos Kreativität, welcher im Editorial jedoch in einen anderen Zusammenhang gestellt wird, als jener der Gesetze von Literaturproduktion und -rezeption. Denn delirium N°01 schreit mit seinem ersten Atemzug nach neuen Bedingungen derselben – zappelt jedoch, wie mir scheint, noch an der Nabelschnur der Mutterstadt. Es geht mir um den «Geist der Limmatstadt», der wohl in vielen Belangen jene klebrige Behäbigkeit an den Tag legt, gegen die Schwitter im Editorial anschreibt. Nun hat sich aber ein ganz anderes Charakteristikum ebendieses Zürcher Geistes durch die Hintertüre eingeschlichen. Denn nicht nur die Behäbigkeit, sondern vor allem ihr hässlicher Bruder – der Wille zur Arbeit – zieht durch die hiesigen Häuserschluchten. Er wütet in Gottsnamen mit unermüdlicher Produktions- und Konsumationskraft und beseelt das wirtschaftliche wie auch das kulturelle Leben unserer Kleinstadt. Der überproduktive Leerlauf, welcher die Zürcher Kunst- und Kulturszene prägt, ist wohl nicht zu stoppen, indem man einfach einen Gang tiefer schaltet – inhaltlich wäre damit aber zumeist schon viel getan. Mit nacktem Zeigefinger gen Norden zu zeigen, schickt sich also ganz und gar nicht, wenn unsere einzige Antwort auf die Berliner Sexyness jene der Produktivität ist. Vielmehr müssen wir uns ernsthaft fragen, wie wir den Mythos der Kreativität hier in Zürich neu besetzen können. Revolutionäre Überlegungen sind in Zürich nur schwer zu finden, aber mutige haben seit Jahrzehnten Bestand. Darum, ja, erhalten, erweitern und erschaffen wir literarische Orte der Auseinandersetzung mit «dem Mut zum Urteil und dem Mut zum Widerruf» – aber bitte ohne Profilierungsneurosen und Marktgeschrei! Dolores Zoe
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44 Impressum Herausgeber: Verein delirium Bremgartnerstr. 80 8003 Zürich Redaktion: Fabian Schwitter Laura Basso Samuel Prenner Layout: Mauro Schönenberger www.captns.ch Illustration: Leonie Eichin leonie.eichin@gmail.com Druck: Zentralstelle der Studentenschaft der Universität Zürich Druckerei Irchel Winterthurerstr. 190 8057 Zürich Auflage: 500 Kontakt: www.delirium-magazin.ch info@delirium-magazin.ch facebook.com/Magazindelirium © 2014 delirium Beitragende: Literatur: Sebastien Fanzun, Andreas Fischer, Cédric Weidmann, Elsbeth Zweifel Kritik: Dalibor Suchanek, Dolores Zoe, Fabian Schwitter, Hannes Sättele Mit freundlicher Unterstützung Universität Zürich Seminar für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft (AVL)