delirium /// Literaturmagazin

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Fr체hling 2014 N째02



Editorial «The house of fiction has many windows, but only two or three doors.» – Was James Wood über erzählende Prosa sagt, möchte ich für alle literarischen Texte stark machen. Der Leser tritt ein, schaut sich um, versucht sich zurechtzufinden, nistet sich nach und nach ein und wählt sich sein/e Fenster. Der Eintritt kann nicht beliebig erfolgen, aber die Aussichten sind vielseitig. Grundsätzlich können sich zwei durch dasselbe Haus lesen, ohne sich darin zu begegnen – andere Türe, anderes Fenster. Das macht es spannend zu erfahren, welchen Weg ein anderer Leser zurückgelegt hat (genau der gleiche wird es nie sein) und zu welchen Fenstern er kam, wo man sich vielleicht gekreuzt hat und welcher Teil des Hauses den eigenen Augen (noch) verborgen blieb. Eine Kritik zeigt einen solchen Weg eines anderen Lesers auf – aber nicht nur. Sie breitet vor uns auch den Grundriss des Hauses aus und untersucht, wie und worauf es gebaut ist; zeigt uns nicht nur, was reizvoll an ihm ist, sondern auch, wo das Fundament brüchig ist oder das Haus gar zerfällt. Und nicht zuletzt begutachtet eine Kritik, was durch die vielen Fenster eines Textes ausgemacht werden kann, ob diese Ausblicke sehenswert sind und den LeserInnen Weitsicht ermöglichen. Kritik fragt also, was ein bestimmter Text ist, will und macht, was er auslöst, verspricht und einholt, wie und weshalb er es macht und nicht zuletzt auch: wozu. Somit beschäftigt sich Kritik von einem Text ausgehend mit allgemeinen Fragen nach den Bedingungen und Möglichkeiten der Literatur – und hat deshalb immer auch am Diskurs um Literatur teil. delirium will durch die Auseinandersetzung mit literarischen Texten nicht einfach erreichen, dass mehr geschrieben wird. Nicht Produktivität um des reinen Produzierens willen – wovor Dolores Zoe in ihrer Replik zur Erstausgabe warnt – liegt uns am Herzen, sondern ebendiese Frage, was Literatur ist, kann und soll. Wir sind überzeugt, dass sie stets von Neuem gestellt werden muss, um – egal ob als Schreibender, Lesender oder Kritisierender – dem Gegenstand der Literatur gerecht werden zu können. Kurz: Literatur ist angewiesen auf den Diskurs. Und somit ist die andere wichtige Frage – warum delirium? – schon beinahe beantwortet: Weil die Literatur den Diskurs braucht und der Diskurs die Kritik, setzen sich auch in dieser Ausgabe wieder vier KritikerInnen mit zeitgenössischen literarischen Texten von vier AutorInnen auseinander. Wir laden ein, ins delirium einzutauchen, die dort versammelten literarischen Häuser auf eigene Faust zu erkunden und sie zusammen mit den jeweiligen Kritiken auf ihre Standfestigkeit sowie die erlesenen Aussichten hin zu prüfen. Gute Reise!

Editorial

Laura Basso

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Mit freundlicher Unterst端tzung Universit辰t Z端rich Seminar f端r Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft (AVL)

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Inhalt Inhalt LLIITTEERRAT ATUURR | | KKRRIITTIIKK

10 10

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Auerbach Auerbach

So SoSebald Sebald

Sebastien SebastienFanzun Fanzun

Dalibor DaliborSuchanek Suchanek

15,16,18 15,16,18

Jason Jasonträumt träumt Hic HicRhodos Rhodos Stromboli, Stromboli,Oktober Oktober

19 19

Von Vongöttergötterverlassenen verlassenenMännern Männern Dolores DoloresZoe Zoe

Andreas AndreasFischer Fischer

23 23

30 30

Drei Drei Geometrieaufgaben Geometrieaufgaben

Das DasExperiment Experiment als alsAufgabe Aufgabe

Cédric CédricWeidmann Weidmann

Fabian FabianSchwitter Schwitter

35 35

37 37

und undhöre höre

Ein Einüberlebender überlebender Mythos Mythos

Elsbeth ElsbethZweifel Zweifel

Hannes HannesSättele Sättele

RREEIINNRREEDE DENN

40 40

Verbuggte VerbuggteLiteratur Literatur Cédric CédricWeidmann Weidmann

41 41

Notizen Notizenzur zur Zweifelhaftigkeit Zweifelhaftigkeit des desliterarischen literarischen Programms Programms Sebastien SebastienFanzun Fanzun

VVEERRAANSTA NSTALT LTUUNG NGEENN

Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis

46 46

33

41 41

Replik Replikauf auf delirium deliriumN°01 N°01 Dolores DoloresZoe Zoe


e n i e d n e g r i e r ä w e i s … n i t s i n i l o i beliebige V … n e d r o w e g

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Auerbach Ein Gefühl von Erleichterung und grenzenloser Freiheit habe den jungen Auerbach in grösste Erregung versetzt, schreibt Sebald, als die bis dahin regelmässig und stets pünktlich eintreffenden, manchmal besorgten und immer liebevollen Briefe der aus Berlin schreibenden Eltern nicht und fortan nie mehr eintrafen. Tagelang habe Auerbach darauf unter seiner stets schwarzen Kleidung eine Erektion mit sich herumgetragen, bis ihm eine hübsche Schauspielstudentin ermöglicht habe, sein neu gewonnenes Freiheitsgefühl an ihr abzuexerzieren. Tatsächlich, so Sebald, sei Auerbach durch dieses Gefühl von erleichternder Abwesenheit nicht nur zu Schauspielerinnen, sondern auch zum Schauspiel selbst getrieben worden, ganz so, als hätten sich ihm nun, da er niemandes Kind mehr war, Türen zu allen möglichen Identitäten geöffnet, die sämtlich durchzuspielen er sich anschickte. Fortan habe er, der zuvor so schüchtern gewesen war, seine Mitschüler in den Pausen und manchmal sogar inmitten einer Lektion mit Passagen aus Hamlet oder mit Imitationen einer Lehrperson, eines Mitschülers oder eines Politikers unterhalten. Auerbachs Einschreibung zum Schauspielstudium an der St. Martin’s School of Art sei daraus nur logische Konsequenz gewesen. Und ohne Zweifel, schreibt Sebald, wäre aus dem attraktiven, begabten und bis zur Arroganz selbstbewussten Auerbach ein bedeutender Schauspieler geworden, wenn nicht eine zufällige Begebenheit seinem Leben eine andere Richtung verliehen hätte. Im Anschluss an eine Aufführung von Schuberts Unvollendeter in der Wigmore Hall sei Auerbach nämlich mit einer jungen Violinistin ins Gespräch gekommen. Als er einige Stunden später im Dunkel seines Schlafzimmers gelegen habe, nichts hörend bis auf die leisen Atemzüge dieser Violinistin, sei er, schreibt Auerbach in seinem Tagebuch, zutiefst fasziniert gewesen von der unbegreiflichen Art der Präsenz dieses nur durch etwas Decke und Zimmerluft von ihm getrennten Körpers, schreibt Sebald. Tatsächlich habe er nämlich, schreibt Auerbach in seinem Tagebuch, die doch eigentlich physisch von ihm getrennte Haut der Violinistin beinahe auf seiner eigenen gespürt. Dieses beinahe habe Auerbach augenscheinlich aussergewöhnlich beeindruckt, schreibt Sebald, habe er doch dieses Wort in seinem Tagebucheintrag mehrfach unterstrichen. Als Auerbach fünfzig Jahre später der BBC ein Interview gegeben habe über seine Jugendjahre, habe er dieser in Echtzeit nur wenige Minuten dauernden und angesichts seiner übrigen jugendlichen Erlebnisse unbedeutend scheinenden Episode einen Grossteil der Gesprächszeit gewidmet, so Sebald. Nicht weniger als sieben Mal habe Auerbach das Wörtchen beinahe wiederholt, mit zunehmender Vehemenz. Beim siebenten Mal sei Auerbach schliesslich den Tränen nahe gewesen, so Sebald, worauf die Journalistin das Gespräch fast gewaltsam auf ein anderes Thema habe lenken müssen. Auch dies zeige die bedeutende Rolle, die jene kurze Episode im Dunkel seines Zimmers für den weiteren Werdegang Auerbachs gespielt habe. Entrückt bis an die Grenze zur Verstörung sei er am nachfolgenden Morgen gewesen, schreibt Auerbach in seinem Tagebuch, so Sebald. Mit der kurz darauf die Wohnung etwas enttäuscht verlassenden Violinistin habe er keine funktionierende Konversation mehr betreiben können. Einige Minuten lang habe er die hinter der Gehenden geschlossene Tür seiner Wohnung betrachtet und während dieser eingehenden Betrachtung habe Auerbach mit der Idee der Schauspielerei ein für alle Mal abgeschlossen, so Sebald. Der sichtlichen Enttäuschung seiner Professoren, die ein bedeutendes Talent verloren sahen, habe er nichts ausser seiner Entschlossenheit entgegengesetzt. Die sich als ein so zartes beinahe äussernde Präsenz der Violinistin habe Auerbach den Professoren gegenüber nicht erwähnt, wie er überhaupt keine Gründe angeführt habe, nichts kommuniziert

Literatur

habe ausser seinem entschiedenen Wunsch, sein Schauspielstudium schnellstmöglich abzubrechen, so Sebald.

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Literatur

Kaum exmatrikuliert habe Auerbach sich auf seiner Suche nach jenem zarten beinahe den am Polytechnikum wirkenden bildkünstlerischen Kreisen angeschlossen. Tatsächlich habe er es fü r nichts als schlüssig gehalten, schreibt Auerbach in seinem Tagebuch, dass die bildenden Künste und insbesondere das Zeichnen den einzigen Weg darstellen mussten, einer so seltsamen körperlichen Wesenhaftigkeit wie derjenigen der Violinistin im Dunkel seines Schlafzimmers auf den Grund zu kommen. In die Vielzahl von auf einen nackten Menschen oder eine griechische Amphore gerichteten Augenpaaren habe sich also das auerbachsche eingegliedert, Dienstag und Donnerstag um fü nf Uhr abends, so Sebald. Nun habe es sich aber gleich bei der Entstehung der ersten Aktskizze ergeben, dass schon nach wenigen strukturierend hingeworfenen Bleistiftzügen das Verhältnis von Objekt und Bild im Auge Auerbachs auf so entscheidende Weise gestört worden sei, dass er sich genötigt gesehen habe, die Skizze sofort und restlos zu vernichten. Ob die Sonne Schuld getragen habe, die vielleicht just im ungünstigsten Moment hinter einem dünnen Wolkenfaden teils verdeckt war; ob vielleicht eine geringe, wie unbewusst ausgefü hrte Bewegung des Modells verantwortlich gewesen war; ob möglicherweise schliesslich eine ebenso spontane wie kaum merkliche und vergängliche Trübung des auerbachschen Auges vorlag, liesse sich nicht rekonstruieren, so Sebald. Tatsache sei, dass die Skizze fü r Auerbach untragbar geworden sei und ihre anschliessende Zerstörung einziger möglicher Ausweg aus dem existenziellen Ekel, in den das Werk seinen Schöpfer offenbar fü r einige Sekunden versetzt habe. Die Skizze vernichtet, habe Auerbach den Kurs auf der Stelle verlassen, so Sebald. Die Enttäuschung sei die denkbar grösste gewesen. Der unendliche qualitative Unterschied zwischen der Skizze und ihrem Objekt, multipliziert mit dem unendlichen qualitativen Unterschied zwischen dem Objekt der Skizze und dem Objekt des auerbachschen Zeichenhungers, jenes eigentümliche beinahe, habe sein Denken auf Monate hinaus verfi nstert, so Auerbach in seinem Tagebuch, schreibt Sebald. Wie Auerbach in seinem Tagebuch schreibt, sei er in London in einem Restaurant gesessen und habe seinen Tisch betrachtet und dieser Tisch, in seiner skrupellosen physischen Gewöhnlichkeit einerseits, und seiner pointierten Nützlichkeit andererseits, sei ihm wie ein Angriff auf seine Person erschienen. Und so habe er sich entschlossen, dieser seiner Person ein Ende zu machen, so Auerbach in seinem Tagebuch. Als eine eigentümliche Laune des Zufalls erscheine es im Nachhinein, schreibt Sebald, dass Auerbach auf dem als seinen letzten geplanten abendlichen Weg zur Themse hinunter an der Wigmore Hall vorbei geschritten und sein enttäuschtes Auge auf das Plakat gefallen sei, das fü r jenen Abend Schuberts Unvollendete ankündigte. Als einen «Satz jener fremdartigen Sprache des Chaos, mit so etwas wie einem Ausrufzeichen am Ende» habe Auerbach in seinem Tagebuch jenen Umstand bezeichnet, so Sebald, und dieser Dynamik habe sich der Enttäuschte hingegeben und sich also erneut, ob aus Wehmut oder aus Nostalgie, aus reinem ästhetischen Gefallen oder aus innerer Konsequenz heraus, Schuberts Unvollendete in der Wigmore Hall angehört. Seine ganz und gar eigentümliche Befi ndlichkeit sei noch um ein ganzes Stück eigentümlicher geworden, als die Violinen im G-Dur-Thema sämtlich ihren Einsatz verpasst hätten und darauf jeder Violinist fü r sich einen zu seinen Mitmusikanten versetzten Einstieg ausgesucht habe ohne Rücksicht auf die fuchtelnden Rettungsversuche des unglücklichen Dirigenten, schreibt Auerbach in seinem Tagebuch. Tatsächlich, so schreibt Auerbach, schreibt Sebald, habe er diese Passage noch nie so sehr genossen wie in diesem Verwirrungszustand und er sei beinahe etwas verärgert gewesen, als dem Dirigenten zuletzt doch noch die Rettung gelang. Im Anschluss an die Auffü hrung sei Auerbach mit einer jungen Juristin ins Gespräch geraten. Diese junge Juristin, so habe sich im Gespräch ergeben, sei als Kind

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Literatur

mit demselben Zug und ebenfalls aus Berlin nach England gekommen, dann aber nach London gegangen, während Auerbach zunächst nach Kent gelangt war. In London habe sie sich ein Zimmer mit einer Violinistin der Wigmore Hall geteilt, so die Juristin, und sich deshalb regelmässig die dort stattfindenden klassischen Konzerte angehört. Mit dieser Tradition habe sie auch nicht gebrochen, als ihre Violine spielende Mitbewohnerin vor etwas mehr als einem Jahr nach Paris gereist sei, so die Juristin. Auerbach habe, wenn man seinem Tagebuch hier Glauben schenken darf, anhand der abseits ihrer beruflichen Tätigkeit völlig fehlenden Beschreibung jener Violinistin sofort erkannt, dass es sich um dieselbe Violinistin handeln musste, die ihm damals diese so entscheidenden Momente im Dunkel seines Schlafzimmers geschenkt hatte. Es sei nur passend, schreibt Auerbach in seinem Tagebuch, dass die Violinistin nun wieder so beinahe da gewesen sei, dass ihre Existenz – Auerbach, so Sebald, habe hier ganz bewusst den Begriff des Daseins vermieden – dass ihre Existenz gleichsam durch das Wort Violinistin schien wie ein Lichtstrahl durch einen Mauerspalt und doch fassbar zu werden sich weigerte. Tatsächlich hätte jede konkretisierende Beschreibung seitens der Juristin die Fassbarkeit ihrer Mitbewohnerin nicht gesteigert, sondern im Gegenteil vermindert, so Auerbach in seinem Tagebuch, sie wäre irgendeine beliebige Violinistin geworden. Auerbach habe anhand der geballten Menge an erstaunlichen Zufällen dieses Abends zur Erkenntnis gefunden, dass jedes menschgemachte System und jede menschliche Massnahme zur Vermeidung des Chaos letzten Endes zum Scheitern verurteilt sein musste, so Sebald. In der ihm eigenen gedanklichen Schärfe habe Auerbach den Freitod als eine solche Massnahme klassiert und folgerichtigerweise davon abgesehen. Es sei der aussergewöhnlichen sozialen Eleganz Auerbachs und seinem stark ausgeprägten Sinn für Diskretion zu verdanken, dass wir über die unmittelbare Fortsetzung seines Verhältnisses zu jener Juristin nichts wissen, so Sebald. Fest stehe einzig, dass er anscheinend einige Tage späteraufgrund dieser Juristin – «durch sie und mit ihr», schreibt Auerbach in seinem Tagebuch – zur Zeichnung zurück gefunden habe. In den folgenden Wochen und Monaten habe Auerbach unermüdlich diese Juristin gezeichnet, schreibt Sebald. Nicht ein einziges Mal habe sich seine Faszination einem anderen Objekt gewidmet als dieser Juristin. Nicht minder ungewöhnlich als die Monomanie seines künstlerischen Interesses sei sein Arbeitsvorgang gewesen. Kaum einige Striche hingeworfen, habe Auerbach nämlich jenes schale Gefühl des Ungenügens verspürt, das seine erste Aktskizze ihm so gründlich verekelt habe, schreibt Sebald. Und dieses tiefe zeichnerische Unbehagen, dieses Wissen um die unendliche qualitative Differenz zwischen seiner Skizze und dem Objekt dieser Skizze, sei mit fortschreitendem Arbeitsprozess grösser geworden bis zur Unerträglichkeit, so Auerbach in seinem Tagebuch, schreibt Sebald. Dies habe zunächst dazu geführt, dass Auerbach jeden gesetzten Strich nur wenig später wieder korrigierend übermalt habe, stets auf der Suche nach seinem Motiv, das ihm immer wieder unter den Utensilien zu entschwinden schien, so Sebald. Nach stundenlanger Abwechslung von erkundendem und verbesserndem Strich, wie Auerbach diese Mechanismen in seinem Tagebuch nennt, sei also von seinem Motiv kaum mehr etwas erkennbar gewesen als einige wenige, annähernd eine Gestalt formende Striche in einem Sturm aus geradezu absurd angehäuften Farbmengen. Darauf, so Sebald, habe Auerbach jeweils zu einem Malspachtel gegriffen und einen grossen Teil der über den Tag entstandenen Anhäufung mit einigen wenigen, aber entschlossenen und heftigen Bewegungen abgeschabt, dass er am Boden zu liegen kam und die Leinwand kaum mehr zeigte als einige Vernarbungen von Kreide, Kohle oder Öl. Am nächsten Morgen habe sich Auerbach mit der grössten Selbstverständlichkeit erneut vor dieselbe Leinwand gestellt und erneut mit erkundenden und verbessernden Strichen sich daran gemacht, sein in seinem Verständnis stets sich wandelndes Modell

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in die auf der Leinwand noch zu sehenden Spuren des Vortages und der Vorwoche zu bringen, schreibt Sebald. An einem Porträt habe Auerbach solcherart nicht selten über mehrere Monate hinweg gearbeitet, manchmal länger als ein Jahr, so Sebald. Diese für Aussenstehende befremdliche Methode sei für Auerbach der einzige sinnvolle Versuch gewesen, jenem beinahe auf die Spur zu kommen. So wie der Körper der Violinistin im Dunkel des Zimmers beinahe Auerbachs Körper berührt habe, so sei das Modell in diesen zu Schemen sich ballenden Farbwolken beinahe vorhanden, ohne je zu einer ihm abträglichen Fassbarkeit zu gerinnen, so Sebald. Durch winzige Spalten in einer Mauer aus Farbe falle gleichsam wie ein Lichtstrahl die Existenz des Modells. Den Kritikern, die ihm alsbald vorwarfen, immer dasselbe zu malen, habe Auerbach stets entgegen gehalten, es sei völlig unmöglich auch nur zwei Mal dasselbe zu malen. Denjenigen Kritikern derweil, die sein Vorgehen als plump und grob bezeichneten, habe Auerbach stets erwidert, es sei im Gegenteil plump und grob ein ungefähres Abbild eines Modells einfach so auf die Leinwand zu schmieren und dieses Abbild dem Modell rücksichtslos als ein Abbild seiner selbst zu präsentieren, diesem Modell eine bildliche Identität einfach so zeichnerisch aufzuzwingen, wie es in der Geschichte der Malerei schändlicherweise doch immer wieder praktiziert worden sei, so Sebald. Auerbach schreibt in seinem Tagebuch, seine Methode sei im Gegenteil nichts anderes als die respektvolle Bewunderung und Bewahrung der Vielfalt des Modells und seine Porträts nichts anderes als eine Auffächerung von Möglichkeitsformen. Tatsächlich sehe er in seinem einzigen Modell, dieser Juristin nämlich, nicht zwei Mal dasselbe. Immer wieder aufs Neue spüre er ihren Lebenslinien nach, immer wieder suche er mit Pinsel und Kohlestift, Kreide und Bleistift seine Ratlosigkeit ihr gegenüber zu ergründen und sei stets aufs Neue erstaunt darüber, was er in der Gestalt eines einzelnen Modells vorfände, schreibt Auerbach, so Sebald. Die Porträts seien dabei allesamt nicht als Resultate, sondern als Wegstationen zu verstehen, als Versuche, dem stets sich wandelnden Anblick irgendwann annähernd gerecht zu werden. Tatsächlich, schreibt Sebald, habe Auerbach mehrfach die durch das immer wiederkehrende Abschaben der Leinwände entstehenden und den Boden seines Ateliers in Haufen bedeckenden Farb- und Kreidespäne als sein eigentliches Werk bezeichnet. Auerbach habe sich selbst mehrfach als Landschaftsmaler bezeichnet, der mittels eines am Objekt jener Juristin stattf indenden Prozesses steter Wiederholung und Variation eine Landschaft von Farbe am Boden seines Ateliers erschaffe, die gleichwohl von der Existenz dieser Juristin künde wie auch von ihrer durch ihre stete Veränderung immer wieder aufs Neue entstehenden Abwesenheit, so Sebald. Diese nie zu einer Vollendung gelangende Landschaft des Scheiterns, schreibt Auerbach in seinem Tagebuch, sei das grösste Zeugnis des Lebens, das immer dort stattfinde, wo man gerade nicht hinschaut und das zu seiner grössten Schönheit dort gelange, wo man es nur beinahe wahrnimmt, den unverständlichen Regeln des Chaos folgend. Solch bis an die Schmerzgrenze und darüber hinaus aufgetragenes Pathos, so schreibt Sebald, sei typisch für Auerbach.

Literatur

Sebastien Fanzun

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Kritik

So Sebald ‫»ו ַי ּ ֵ ֣ד ַע אֹו ֔ןנ ָכ ֛ ּ ִי ל֥ ּ ֹא ֖ל ֹו ִיה ְי ֣ ֶה ה ַז ּ ָ ֑ר ַע ו ְה ָי֞ ָה א ִם־ב ֨ ּ ָא א ֶל־א ֤ ֵש ֶׁת‬ «‫ָאחִיו֙ ו ְש ִ ׁח ֣ ֵת א֔ ַרְצ ָה ל ְבִלְת ֥ ּ ִי נ ְת ָן־ז ֶר֖ ַע ל ָ ְאח ֽ ִיו׃‬

nun selbst zum Malspachtel zu greifen und diese Anhäufung «mit einigen wenigen, aber entschlossenen und heftigen Bewegungen» abzuschaben, um zu sehen, was dabei auf der narrativen Leinwand an Vernarbungen stehen bleibt – und was zu Boden fällt. Aber man mache sich nichts vor: Der Text als Text

«Aber da Onan wusste, dass der Same nicht sein

überlässt es den Rezipierenden, dies auch sein zu las-

eigen sein sollte, wenn er einging zu seines Bruders

sen. Er bittet nicht darum, durch den penetrierenden

Weib, liess er’s auf die Erde fallen und verderbte es, auf

Akt kritischen Scheidens und Trennens von seinen Ge-

dass er seinem Bruder nicht Samen gäbe.»

webeballungen erlöst zu werden, damit sein Wesenhaftes «wie ein Lichtstrahl» durch einen Spalt in der

1. Mose 38.9

I. Exposition

Mauer des Sprachmaterials hindurchscheinen möge. Er begehrt nicht, vermittels solcher Abtötung des Text-

Das in Auerbachs Tagebuch «bis an die Schmerz-

fleisches zu unkörperlichem Fortbestand errettet zu

grenze und darüber hinaus aufgetragene Pathos»,

werden – und sei es in der Gestalt des Verwesungsge-

schreibe Sebald, «sei typisch für Auerbach», so am Ende

ruchs, der als «Zeugnis des Lebens» vom zum Staube

seiner Erzählung Auerbach Fanzun. Tatsächlich jedoch

Zurückgekehrten her aufsteigt. Ja er verlangt – als

schreibt Sebald – also W. G. Sebald, der Schriftsteller –

Text – noch nicht einmal danach, überhaupt gelesen

nicht das, sondern etwas ganz anderes, und er schreibt

zu werden. Wo sich Kritik von ihrem Gegenstand

es auch nicht über Auerbach – also Frank Auerbach,

eingeladen wähnt, sollte sie besser ein zweites Mal

den Maler – sondern zunächst über eine an Auerbach

hinschauen. Lektüre liest zwar zunächst sich selbst

angelehnte Figur namens Max Aurach, die dann in

und fühlt sich insofern zu Recht immer schon ge-

späteren Ausgaben von Sebalds Ausgewanderten, da

meint; wer in solcher Selbstbespiegelung jedoch be-

der Porträtist die Genehmigung verweigert hatte, dass

fangen bleibt, wird einem Text an Neigungen zu-

seine Bilder in der englischsprachigen Fassung des

schreiben, was tatsächlich dem eigenen Narzissmus

Erzählbandes abgedruckt werden, Max Ferber heisst.

geschuldet ist. Gerade weil Kritik als erhaltendes

Weder also ist das Porträt eines britischen Malers

Zernichten nicht anders kann, als der Logik der Peini-

deutsch-jüdischer Herkunft, das Sebald in der vierten

gung zu folgen – maliziös und begierig zugleich –, tut

und letzten Erzählung der Ausgewanderten entwirft,

sie gut daran, sich nicht darüber hinwegzutäuschen,

jenes des britischen Malers deutsch-jüdischer Herkunft

dass sie in erster Linie die Antwort auf eine nicht ge-

Auerbach, noch ist das sebaldsche Porträt eines Malers

stellte Frage ist: ein Übergriff.

dieses Namens, das Fanzun – also Sebastien Fanzun,

II. Exzitation

der paratextuell indizierte Erzähler der in dieser Kritik zu kritisierenden Erzählung – bloss wiederzugeben vorgibt, jenes von Sebald.

«I withdraw if I get any sense of the person’s discomfort», so W. G. Sebalds Kommentar zu seinem

Das Porträt eines Porträts, als das Auerbach daher-

Entschluss, die Figur Max Aurach in Max Ferber um-

kommt, indem es scheinbar aus dem Tagebuch des

zubenennen. Der Porträtist Sebald scheint dem Por-

Malers Zitiertes aus einem Bericht des Schriftstellers

trätisten Auerbach mit den Ausgewanderten für des-

zu zitieren scheint, ist mithin die fiktive Lektüre einer

sen Empfinden zu nahe auf den Leib gerückt zu sein

fiktiven Lektüre. Und nachdem im Verlauf der Erzäh-

– und das, obwohl Sebald sein Material ausschliesslich

lung tiefste Faszination auf grösste Erregung gefolgt

öffentlich zugänglichen Quellen entnommen hatte.

ist, «mehrfach unterstrichen» und «mit zunehmender

Wenn nun Fanzun in seiner Erzählung – im Übrigen

Vehemenz» wiederholt, sich Unendliches mit Unend-

grösstenteils ohne jeden Bezug zur Vorlage – den fikti-

lichem multipliziert hat, Auerbach der Zufall im Zufall

onalen Sebald freimütig und mit interessiertem Blick

begegnet und daher seine «ganz und gar eigentümliche

unter die Gürtellinie aus dem Tagebuch des fiktiona-

Befindlichkeit » noch « um ein ganzes Stück eigentüm-

len Auerbach vortragen lässt, erweckt das vor diesem

licher » geworden ist, sich also Rekurrenzen, Verschach-

Hintergrund den Anschein einer subtilen Persiflage

telungen und Hyperbeln Schicht um Schicht überein-

auf das delikate Verhältnis zwischen den beiden real-

andergelagert haben, liest sich der eingangs zitierte

weltlichen Kulturschaffenden.

Satz als Aufforderung an den Leser oder die Kritikerin,

10


Ein intertextueller Zusammenhang, der weiter

Erreichbarkeit des Ersehnten nicht weniger, als von

akzentuiert, was bei einem Porträt im Porträt zwangs-

dessen prinzipieller Unerreichbarkeit. Kurzum: von der

läufig im Zentrum steht: mit der Tätigkeit des Por-

paradoxalen Struktur des beinahe.

trätierens der prekäre Akt, andere zum Gegenstand

III. Klimax

des eigenen Schaffens zu machen. Fanzuns Auerbach ist sich im Klaren darüber, dass die latente Gewaltsamkeit solcher Objektivierung auch durch Konsen-

de, die Fanzun seinen Sebald aus dem Tagebuch Au-

sualität nicht aufzuheben ist: verdankt sich seine schöp-

erbachs kolportieren lässt, wollen sich mit einer sol-

ferische Unruhe doch dem Verlangen, dem Modell

chen Pointe freilich nicht zufriedengeben. Als hielte

– so freiwillig es auch sitzen mag – nicht eine «bildliche Identität einfach so zeichnerisch aufzuzwingen».

Kritik

Die sich wolkenhaft ballenden Gedankengebil-

der Maler die produktive Anspannung nicht aus, in die er von seinem künstlerischen Begehren getrieben wird,

Was sich mit diesem Anspruch Auerbachs an

sucht er Trost im Metaphysischen: Er setzt sich das

sich selbst bei einem ersten groben Streich über

Chaos als das grosse Andere entgegen, das in fremder

Fanzuns Leinwand als Bruchstück herauslöst, ist der

Zunge zu ihm spricht und nur begriffslos verstanden

Ansatz zu einem Massstab. Zu einem Massstab, der

werden kann, dessen unergründlichen Regeln der

sich nicht zuletzt – soweit das Geschäft des Kritisie-

Mensch – auch über den Tod hinaus – ausweglos un-

rens in seiner mehr oder minder verkappten Übergrif-

terworfen ist, und das den Künstler nur dann belohnt,

figkeit mit jenem des Porträtierens vergleichbar ist – an

wenn er dem Schönen hingebungsvoll den Raum gibt,

die sich hier vollziehende Kritik wird anlegen lassen,

sich an unverhoffter Stelle zu zeitigen. Insofern ist

im Zuge derselben vor allem aber auch an die Erzäh-

Auerbachs Prozedur des zeichnerischen Erkundens

lung Auerbach als Darstellung einer Darstellung: Indem

und Verbesserns, des stürmischen Anhäufens und

sich diese nämlich, wie fiktional auch immer, auf die

wieder Abschabens von Farbe, der unermüdlichen

Möglichkeit eines spezifischen Verhältnisses eines

Wiederholung und Variation eine Art Gottesdienst.

schreibend Porträtierenden zu seinem Sujet bezieht,

Ob dabei überhaupt beachtenswerte Bilder zu-

tritt sie der Wirklichkeit kultureller Praktiken dieser

stande kommen, lässt die Erzählung derweil auffal-

Art als deren Reflexion gegenüber und kann als solche

lend offen. Aufmerksamkeit erntet ihr Auerbach – sei-

daher beurteilt werden. Auf allen Ebenen stellt sich die

nem realweltlichen Vorbild soweit in nichts nach-

Frage, ob der an seinem jeweiligen Gegenstand voll-

stehend – zwar durchaus; doch alles, was der Text

zogene Akt – sei er nun einer der Komposition oder

diesbezüglich anführt, sind schlechte Kritiken, und

Dekomposition – diesem auch gerecht zu werden

solche sind – soviel wird eine Kritik voraussetzen dür-

vermag.

fen – nicht zwingend das Signum guter Kunst. Fanzuns

Den Maler in Fanzuns Erzählung treibt diese

Sebald selbst indes, der unter anderem die «gedankli-

Frage in seine Methode des endlosen Neuansetzens

che Schärfe» und «aussergewöhnliche soziale Eleganz»

zu laufend sich verschiebenden Perspektivierungen.

des Malers preist, enthält sich, was dessen Malerei an-

Aber auch seine künstlerische Praxis der «Bewunde-

belangt, jeden Urteils: Um die Bilder scheint es gar

rung und Bewahrung der Vielfalt» und der «Auffäche-

nicht zu gehen.

rung von Möglichkeitsformen» scheint ihm mehr Aus-

Worum dann? Der spöttisch-distanzierte Kom-

druck und Würdigung, denn Lösung des Problems

mentar zu Auerbachs Schwärmereien, mit welchem

der Darstellung zu sein: Auerbachs Schwärmen für die

Fanzun Sebalds Bericht ausklingen lässt, bezeichnet

«nie zu einer Vollendung gelangende Landschaft des

diese als typisch für den Maler; die Arbeit des schrei-

Scheiterns» zu seinen Füssen ist nämlich, zumindest

benden Porträtierens scheint also just in dem Augen-

beim Wort genommen, keineswegs die unverbindlich-

blick getan zu sein, da der Schriftsteller sein Sujet

selbstzufriedene Überhöhung der Unabschliessbarkeit

nach dessen Typus charakterisiert hat. Ein sonder

zum letzten Ende, für die man es halten könnte – denn

barer Schlussakkord für eine Darlegung, die sich den

scheitern kann einer nur, wo etwas auf dem Spiel steht.

Bemühungen eines Künstlers widmet, seinen Gegen-

Die schöpferische Verve des Künstlers lebt gerade

ständen keinen identifikatorischen Zwang anzutun.

von der Spannung, den Zweck seiner Bemühungen je

Sollten die sebaldschen Ausführungen allen Ernstes

nicht einfach nur nicht, weil notwendigerweise nicht,

mit einer platten Verallgemeinerung auf ihrem inhalt-

sondern vielmehr je noch nicht, also womöglich bald

lichen Höhepunkt angekommen sein?

verwirklicht zu haben, mithin von der prinzipiellen

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Mit der gleichen Aussage, mit der Sebald den ins


Kritik

Religiöse mündenden Überschwang Auerbachs als

Die Unwahrheit der patriarchalen Metaphorik, die

tendenziell unbillig beargwöhnt, gerät er als Porträtist

dem Mann die Rolle des Erzeugers zudenkt, der gestal-

ironischerweise selbst in ein schiefes Licht. Die Erzäh-

tend auf die Welt zugreift – sie sich also aneignet, als

lung geht also mit ihrem letzten Satz zum Maler und

wäre sie sein Fabrikat –, liegt einerseits in ihrer rigi-

zum Schriftsteller gleichermassen auf Distanz. Ein

den Naturalisierung soziokultureller Konstellationen,

weiterer Hieb durch die narrativen Aufschichtungen

andererseits in der impliziten Verklärung sachlicher

von Auerbach legt insofern den Blick frei auf Spiel-

und versachlichender Bezugnahme auf Zwischen-

räume, die sich der Text durch seine mehrlagige Kon-

menschliches zur höchsten zivilisatorischen Tugend

struktion verschafft, um darin hintersinnigen Schalk

– nicht jedoch in dem sich in ihr äussernden Sinn für

zu treiben: Wie Sebald den Auerbach, führt Sebastien

Objektivierung an sich: Dass das je andere sowohl

Fanzun, die implizite Erzählstimme, seinen Sebald vor.

als Person als auch als Sache begegnen kann, stellt

Der Kritik indes scheint sich die Erzählung damit

ein Spannungsverhältnis dar, das überhaupt jedem

gleich doppelt zu entziehen: Auf der Ebene der Refle-

Handeln einbeschrieben ist.

xionen Auerbachs ohnehin, denn als Maler muss sich

Erst mit dem Gefühl «niemandes Kind mehr» zu

dieser auf der Leinwand bewähren und nicht in seinem

sein, seinen Eltern also nicht mehr als deren wie liebe-

Tagebuch; nicht minder aber auf der Ebene der Darle-

voll auch immer umsorgter Spross zu eignen, eröffnet

gungen Sebalds, denn selbstredend kann dieser fehl-

sich für Auerbach der Spielraum, eigene Identitäten

gehen, ohne dass deshalb der literarische Text als sol-

zu erproben. Vor diesem Hintergrund erscheint es

cher scheiterte. Diese Narrenfreiheit erkauft sich die

nur konsequent, wenn er später als Porträtist be-

Erzählung freilich dadurch, dass sie sich stattdessen

strebt ist, die Gegenstände seiner Kunst – bei aller Ein-

auf der hauchdünn gehaltenen narrativen Metaebene

vernehmlichkeit – nicht in ihrer Identität zu verletzen.

beweisen muss, mit der Sebalds Darstellung selbst

Und doch will er sie porträtieren. Die Paradoxie

zur Darstellung kommt. Dazu hat die Kritik sich ihr

des beinahe, des seine je unmittelbar bevorstehende Ein-

Urteil zu bilden. Zu diesem Zweck wird sie jedoch noch

lösung fortlaufend aufschiebenden Versprechens, kor-

einmal etwas weiter ausholen und tiefer einschlagen

respondiert mit der unauflöslichen Widersprüchlich-

müssen als bisher.

IV. Retardation

keit des Wunsches des Porträtisten, sich seinen jeweiligen Gegenstand zwar schöpferisch anzueignen, aber nicht als Gegenstand. Eine Person dergestalt zur

Auerbachs Erleichterungsgefühl in Anbetracht

Sache seiner Kunst machen zu wollen, dass sie da-

des Ausbleibens der elterlichen Briefe – neben dem

durch nicht versachlicht wird, läuft auf das widersin-

Gedanken, dass das am Boden zu liegen kommende

nige Verlangen hinaus, sie nicht wie ein Ding, son-

Material sein eigentliches Werk darstelle, das einzige

dern eben als Person in Besitz zu nehmen. Auerbachs

Motiv der Erzählung, das auch in W. G. Sebalds Aus-

ästhetisches Ideal ist so gesehen gerade nicht der Ver-

gewanderten zu finden ist – drückt sich bei Fanzun in

zicht auf den Anspruch, sich anderer in ihrer Identi-

der Gestalt einer Erektion aus. Der Künstler wird da-

tät zu bemächtigen, sondern ganz im Gegenteil dessen

mit von Beginn weg in seiner Zeugungskraft in den

letzte Konsequenz.

Blick genommen, und zwar unzweideutig im erotisch-

Als Auerbach «die doch eigentlich physisch von ihm

kreativen Doppelsinn: Es treibt ihn zu Frauen wie

getrennte Haut der Violinistin beinahe auf seiner eige-

zur Kunst. Eine Parallelführung, in der sich die über-

nen» spürt, ist er zutiefst fasziniert «von der unbegreif-

kommene Fantasie niederschlägt, der Akt der Fort-

lichen Art der Präsenz dieses nur durch etwas Decke

pflanzung sei in erster Linie Ausdruck männlicher Pro-

und Zimmerluft von ihm getrennten Körpers»: Die Vio-

duktivität und es sei überhaupt Pflicht und Privileg des

linistin liegt, als Körper, zum Greifen nahe – und ist für

Mannes, Menschen und Dinge zu erzeugen.

Auerbach als das, als was sie präsent ist, doch nicht zu

Geschlechtsverkehr erscheint in dieser Perspektive

fassen. Am Ende geht sie – «etwas enttäuscht» – allem

primär unter seinem pragmatischen Aspekt der Inge-

Anschein nach unverrichteter Dinge; Auerbach kann

brauchnahme eines anderen Körpers: Auerbach ent-

mit ihr «keine funktionierende Konversation mehr be-

ledigt sich seines Priapismus, als ihm «eine hübsche

treiben». Seinen gültigen Ausdruck findet der Zwiespalt

Schauspielstudentin» ermöglicht, die Dauererektion

des auerbachschen Begehrens im Coitus interruptus.

«an ihr abzuexerzieren».

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Wechselverhältnis schönreden, indem man die Interes-

V. Implosion

sen des anderen kurzerhand umdeutet.

Das Motiv des Unterbruchs wird in Auerbach ad

Und wofür steht denn eigentlich dieser Name, der –

nauseam wiederholt: Unterbrochen wird Auerbachs

wie auch die Namen aller andern Frauen im Text – kei-

sich klimaktisch aufbauende Erregung beim Wiederho-

ner ist: Violinistin? Nach dem Vorbild von Namen zeigt

len seines Fetischworts, sodass er im Interview mit der

der Begriff bloss an, wo Begriffe sonst zu erfassen su-

Journalistin den «Tränen» nur nahe kommt; der junge

chen: Für Auerbach ist er die Chiffre für eine Existenz

Auerbach bricht sein Schauspielstudium ab, wie später

in ihrer ganzen Einmaligkeit. Mit jeder näheren Be-

auch die Aktskizze und damit den Zeichenkurs; unter-

stimmung seitens der Juristin – also wohl auch mit der

brochen wird sein Suizidvorhaben und die Aufführung

Nennung des Eigennamens – hätte sich ihm seine Zu-

von Schuberts Unvollendeter – eine Unterbrechung des

fallsbekanntschaft in ihrer Fassbarkeit weiter entzogen:

Unterbrochenen neben dem Unterbruch des Unter-

«Sie wäre irgendeine beliebige Violinistin geworden».

brechens –; und immer wieder aufs Neue unterbricht

Und um eine solche geht es nicht: nicht um diese oder

Auerbach das Porträtieren der Juristin, um die üppig

jene Person mit ihren kontingenten Qualitäten, Nei-

ausgeworfene Farbe zerstörerisch von der Leinwand zu

gungen und Marotten, und natürlich auch nicht darum,

schaben und zu Boden fallen zu lassen.

dass sie ausgerechnet Musikerin ist. Violinistin fungiert

Dabei scheinen sich in seinem Verhältnis zur Juris-

für Auerbach nicht als Begriff, sondern eben als Name

tin, mit dem sich endlos wiederholenden Durchspielen

– nur dass er sich als solcher nicht auf einen konkreten

des Aktes der Unterbrechung und der Unterbrechung

Menschen bezieht.

des Aktes, Kunst und Liebe im Leben des Protagonis-

Weshalb auch sein Interesse sich ohne Weiteres me-

ten am Ende versöhnt zu haben. Als sein Gegenstand

tonymisch von der Violinistin auf deren ehemalige Mit-

und seine Bezugsperson ermöglicht ihm die Juristin,

bewohnerin verschieben kann. Was Auerbach verfolgt,

zur Malerei zurückzufinden: «durch sie und mit ihr»,

ist die Sache der Kunst, und solange es um diese geht,

wie Fanzun Sebald aus Auerbachs Tagebuch wörtlich

ist eine Künstlerin oder ein Künstler der Sphäre in-

zitieren lässt.

terpersoneller Bindungen notwendig enthoben. Auer-

Über die tatsächliche Beziehung zwischen den bei-

bach jedoch scheint auch seine Beziehungen noch nach

den ist damit freilich kaum etwas gesagt. Die Erzäh-

Massgabe seines Schaffens organisieren zu wollen; der

lung lässt diesbezüglich eine Lücke klaffen, betont

Porträtist wirkt wie einer, der keine andere Form der

durch Sebalds etwas umständlichen Kommentar, in

Bezugnahme zulässt, als jene, die ihm seine Produk-

dem er die narrative Leerstelle mit der zitierten aus-

tionswut diktiert: Ein Herr der Schöpfung, befangen

sergewöhnlichen sozialen Eleganz von Auerbach sowie

in der solipsistischen Sterilität seiner kreativen Manie.

mit dessen «stark ausgeprägtem Sinn für Diskretion»

Die Fetischisierung der Welt zum grossen Gegen-

begründet. Dieses beredte Schweigen des Textes, der

über ist ihr kompensatorisches Gegenstück: Der Ver-

plötzliche distanzlose Überschwang des sonst nüch-

sachlichung von Personen entspricht die Personifika-

tern referierenden Schriftstellers sowie die Ironie, dass

tion von Sachen. Als würde Sebald erst im Schreiben

der ans Voyeuristische grenzende Bericht Sebalds da-

deren Abgeschmacktheit gewahr, zieht er sich aus

mit ein Lob der Verschwiegenheit anklingen lässt, soll-

der an Verbrüderung grenzenden Distanzlosigkeit zu

ten misstrauisch machen.

Auerbach, in die er gerade erst hineingeraten war, jäh

Was ist das für eine Art von «sozialer Eleganz» – ei-

zurück – und spricht sein verallgemeinerndes Urteil.

ner Ästhetik des Zwischenmenschlichen – , die auf

Die Fragwürdigkeit des abrupten Wechsels vom Por-

die Violinistin als auf jene Bezug nehmen lässt, welche

trätieren zum Typisieren – ein weiterer, letzter Unter-

Auerbach «damals diese so entscheidenden Momente

bruch –, findet in der Fragwürdigkeit des ästhetizisti-

im Dunkel seines Schlafzimmers geschenkt hatte»?

schen Idealismus, dem der porträtierte Porträtist ver-

Jovial wird damit Dankbarkeit zum Ausdruck gebracht

fallen scheint, als deren Reflex ihren Sinn. Und der

für eine Handlung, die als solche nie vollzogen wor-

narrative Drahtseilakt von Auerbach – dies als Quintes-

den war: bedingt ein Geschenk doch sein Intendiert-

senz dieses kritisch-libidinösen Zerlegungswerks – ist

sein seitens der schenkenden Person. Tatsächlich lag

damit gerade noch gut gegangen.

im gegebenen Fall nichts als eine Kommunikations-

Kritik

störung vor, und eine solche lässt sich nicht zu einem

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Dalibor Suchanek


…Zurück a uf s Meer, sag ich

n n i w e G r e Wo d r e n n i w e G m de gehör t!…

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Jason träumt Der Gewinn dem Gewinner! Die Mütter und die alten Männer bleiben zurück Brüten dumpf an ihren Küchentischen und Im blassen Licht erscheint für sie Das Immergleiche ewig – Jason! Zieh die Boote vom Strand! Hier hausen Elfenhunde mit rotgeränderten Ohren Betrunkene Mönche Gespenster und Märchengeschichten Raben krächzen den bleichen Verlockungen nach – Jason! Kehr zu den Lebenden heim! Sicher Man kann von mancherlei träumen bei Flaute Und natürlich denkt man abends mal In der Kajüte bei einer Pfeife Tabak An die Teiche von einst Die bunten Wasserbälle, die leisen Geräusche Der Wellen im Schilf, und draussen Am Horizont ein Kauffahrtsschiff, jedoch Absolut keine Angriffslust heute – Jason! Lass dich nicht irre machen Vom Ticken und Tacken der Uhren! Zurück aufs Meer, sag ich Wo der Gewinn dem Gewinner gehört! Die Masten stechen hoch in den Wind Die Gegenwart ist nur ein Augenblick Nimm Kolchis, das reiche Panama und die Inseln der Südsee Die Winde stehn günstig Goldene Vliese warten auf dich Handelswege und eine Medea Die deine Söhne umbringen wird Doch die See lässt den Gewinn Dem Gewinner – Richte dein Fernrohr auf Fernes! Den Zurückgebliebenen bleibt nur Der abgewrackte Traum am Strand

Literatur

Kieloben faulend.

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Das Meer graut unter Wolken Bräunlich gelbe Schwaden hängen sich An den Vulkan, der Wind verweht Die Sommervögel, die Zypressen Wiegen sich Hin – her – hin – her Und das Handy verfügt: Zwei Tage Regen! Steinern blickt der Friedhof auf’s Meer Die Gräber mit Fotos geschmückt Von Fischern zumeist Doch ihre Kinder vermieten die Häuser an Fremde Fliehn im Herbst auf das Festland Schon hat der Laden im Dorf Das Sortiment dezimiert Die Bar ist geschlossen Die Wäsche trocknet nicht mehr Finster starrt Odysseus auf den Sack Des Äolos: Zehn Jahre hielten ihn die Winde Fern von Ithaka – Yes, edler Dulder So kann es gehen! Denkst du noch an das Haus Die Sommerfrau Die Säulen und die blauen Fensterläden Die Penne Melanzane und die Involtini Di Spada – eingebrannt in Herz und Magen? Im Regen glühn die Blüten noch mal auf In sattem Rot Und der Geruch der faulenden Citronen Verdoppelt sich Die Mücken bissiger Und selbst die Hunde bellen Als wär’s das letzte Mal Die Winde drehn auf Abschied Die Wolken hinterm Meer erinnern Von ferne an die heimatlichen Alpen Zwischen dunklen Steinen Zerkräuselt weisse Gischt am Strand Für die Verbindungen zum Festland gilt Der Winterfahrplan – Das Knattern des Piaggio-Dreirads Die Koffer und im Hafen Das Tragflügelboot Die Luft riecht nach Algen.

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Literatur

Stromboli, Oktober


17


Literatur

Hic Rhodos Mauern gegen einen hellen Himmel Kreuzfahrerburgen und Moscheen Und Strandhotels so weit das Auge reicht Jetzt zeig, was du kannst! – Du kannst mich mal, ich bin kein Tanzbär Bin nur ein schlecht bezahlter Fremdenführer Und bringe dich zum Aussichtsturm Doch was du dort erblickst Musst du schon selbst erkennen: Für die Ewigkeit erbaute Traumpaläste Gedankengebäude Ruinen Man müsste wohl das Handy zücken Die Bilder hochladen Auf Facebook Für die Herren Grabräuber ist da bestimmt Was Besond‘res versteckt Von Wassermaus und Kröte Abends spöte noch ersonnen Einmalig und Gold wert War im TV zu sehn Im Internet zu bewundern Alle wissen davon Ich aber handle Mit bescheid’neren Dingen Erinnerungen und Abschiedsmusik Die Ringe unter den Augen Kommen wohl vom Raki am gestrigen Abend Sollen sich die Archäologen drum kümmern! Die haben die Überbleibsel schliesslich gesammelt Zu Prunk-Palästen gestapelt Mit Glitzergirlanden verziert – Du stehst nur staunend davor: Wohin du schaust ist Rhodos Also tanze! Andreas Fischer

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Von götterverlassenen Männern

Kampf des in der Schweiz gebliebenen Vaters um den Familienbetrieb, von Scheingefechten im Grossraumbüro und zähen Schlachten am Verhandlungstisch. Der Manager-Gatte lässt also auf sich warten, ebenso wie der Beinahe-Götter-Gatte seine Liebsten auf Ithaka warten liess. Und ja, um es hier nun zu verraten: Beide Helden kehren zu ihrer Familie zu-

Andreas Fischers drei Gedichte entführen uns in

rück. Mein zappeliger Gottebueb und ich dürfen

die Mittelmeerregion, dorthin, wo die nächste europä-

der glücklichen Vereinigung von Odysseus und sei-

ische Revolution entbrennen wird – so sie denn kom-

ner Familie beiwohnen – er erscheint nach neunzig-

men mag. Einige Ferienparadiese sind in nord-euro-

minütigem Kampf in Leinenhosen, Hemd und Stroh-

päischen Köpfen wohl bereits zerstört worden – aber

hut, mit Rollkoffer und Sonnenbrille vor dem Hotel

sicherlich weniger an der Zahl, als tatsächlich vor die

Calypso, entschuldigt sich bei seinem Sohn, umgarnt

Immobilienhunde gingen oder von den jüngsten Troi-

seine Frau und prahlt mit seinen Heldentaten und Ränke-

kas abgeschrieben wurden. Vermeintlich handeln

spielen im Verhandlungsdschungel und an Skype-

Fischers Gedichte von Abschieden, Abfahrten und An-

Konferenzen. Odysseus, der Listige, umschifft heut-

denken, von Gestrandeten, Gejagten und Gescheiter-

zutage also Offshoreklippen und lässt sich von Ge-

ten. Hinterrücks aber verknüpfen sie die Abgründe der

winnmaximierungsstrategien die Sinne verwirren.

Antike mit denjenigen, die hinter der Moderne lauern,

Nicht so sehr die ewig gleiche Rede vom Vater, der

und mahnen uns, sich’s nur ja nicht zu gemütlich zu

seine Familie sitzen lässt, aber trotzdem ein Held

machen in unseren Alltagsmythen. Im Folgenden sol-

ist (Achtung: Klischees!), sondern vielmehr die Irr-

len zwei der drei Gedichte auf-gegriffen werden. So-

fahrten – sei es auf stürmischer See oder in den Un-

wohl Stromboli, Oktober als auch Jason träumt handeln

tiefen des Finanzmarktes – führen mich zurück zu

von gottverlassenen Orten und götterverlassenen Män-

Fischers Gedichten. Da werden Bilder von Rhodos per

nern. Bevor wir uns aber Odysseus auf den Äolischen

Facebook vertrieben, Jason erobert Pfeife rauchend

Inseln und Jason (auf Limnos!?) zuwenden, richten wir

Panama und auf Stromboli harrt Odysseus, der edle

den Blick auf Zürich, genauer auf den Pfauen.

Dulder, während das Handy die Wetterlage meldet – Yes!

Odysseus als Manager

Nun gut, so flach spannt Fischer den Bogen von

Im Dezember im Schauspielhaus: Die Odyssee für

der Antike zur Postmoderne dann doch nicht. Viel-

Kinder, von und mit den Stärnefoifi. Zum ersten Mal

mehr spiegeln sich die Brüche und Falten unserer Zeit

darf mein Gottebueb in einem dieser geschichtsträch-

in den wendigen Anachronismen und den flatternden

tigen roten Samtsessel Platz nehmen. Die zweimal fünf-

Bildwechseln, die Fischers Gedichte charakterisieren.

undvierzig Minuten sind beinahe zu lange für ihn, der

In zwei kurzen Analysen möchte ich diesen Wind- und

umso heftiger zappelt und ungeduldiger hin und her

Wendungen nachgehen, um diese sodann in einer Syn-

schaukelt, je länger das Spektakel dauert. Und ja, ein

these mit der Odyssee für Kinder zusammenzuführen.

Spektakel ist es. Ein schauriger Zyklopenschlund, eine

Reisen wir nun also zuerst nach Stromboli.

Starlett-Kirke, eine fantastische sechsköpfige Skylla und eine Charybdis, die gegen ihren mächtigen Vater

Zitronengeruch und salzige Algen

Poseidon trötzelt – dies alles lauert im Bühnengrund.

Eben so, wie ein alter Kahn durch klatschende

Die Irrfahrt des Odysseus wird dabei eingebettet in

Wellen zuckelt, so lässt auch Stromboli, Oktober die

die Feriengeschichte einer sitzen gelassenen Mutter

Leserinnen und Leser immer wieder unvermittelt

und eines pubertierenden Jungen, die den Manager-

aufprallen. Rhythmen, Zeiten und Orte werden ver-

Gatten und Vater am Flughafen der bankrotten Firma

schoben, gebrochen und überlagert. Ein dreifaches

überlassen mussten und nun im Hotel Calypso auf ihn

Enjambement leitet das Gedicht ein, aber bevor wir

warten. Und während wir um Odysseus bangen

uns in das Wehen des Windes und Wiegen der Zypressen einpendeln können, bricht das zweimalige

beziehungsweise über Bord springen lassen müssen,

«hin – her» abrupt ab und die Zivilisation meldet sich.

berichtet der Hotelboy in der Calypso-Lobby vom

Der Blick springt auf den Handybildschirm (nicht in

Kritik

und einen Freund um den anderen über die Klinge

19


Kritik

den Himmel), gleitet unverzüglich weiter auf den

Inhalt vergleichbar, und sie sind auch nicht gleich-

Friedhof, über die Fotos der Toten hinweg und

berechtigt. Der Titel Jason träumt findet nach dem

mündet in der Beschreibung des Ferienkolonieall-

zweiten «Jason!» seinen Anschluss, wenn es heisst:

tags. Kaum weckten der halb leere Dorfladen und

« Sicher / Man kann von mancherlei träumen bei

die flatternde Wäsche in den Gassen Erinnerungen

Flaute». Mit dem Bezug zum Titel erhält dieser Ab-

an eigene Ferienerlebnisse, folgt schon wieder ein

schnitt ein besonderes Gewicht. Und wovon träumt

Sprung. Diesmal ein Zeitenwechsel: Odysseus, vom

Jason? – Vom dolce far niente, um bei der Italianità zu

Winde verweht, wurde zurück auf die Insel getrie-

bleiben. Er träumt den süssen Traum vom Nichtstun,

ben. Unfreiwillig harrt er dort – so wie alle, die noch

von Antriebslosigkeit, von Mussestunden. Aber auch

auf der Insel hausen. «Yes, edler Dulder» – diese Er-

hier gilt: Bevor wir uns mit Jason zu sicher in diesem

mutigung gilt für alle, die es bis jetzt auf Stromboli

Traum wiegen, werden wir aufgeschreckt: «Jason! / […]

ausgehalten haben. Denn schon sind wir wieder bei

Zurück aufs Meer, sag ich / Wo der Gewinn dem

den Ferienerinnerungen, ruft das lyrische Ich den

Gewinner gehört!» Auf Fernes soll Jason sein Fernrohr

Leserinnen und Lesern schöne Frauen und frische Pas-

richten, um nur ja nicht stehen zu bleiben. Nur ja nicht

ta in Erinnerung. Italianità, das Herz glüht – aber nein,

wie die Alten zuhause in der Ewigkeit versumpfen. Die

nur nicht verweilen! Die Vergänglichkeit lauert! Alle

Zeit drängt und der Gewinn lockt – und wer will schon

Sinne sind geschärft, Augen, Nase, Ohren werden ein

kein Gewinner sein? Selbst wenn die Katastrophe

letztes Mal gesättigt mit Farben, Düften und Klängen,

prophezeit wurde und er mit jedem Sieg dem Unter-

dann dreht der Wind, nimmt die Eindrücke mit sich

gang einen Schritt näher rückt – Getriebener bleibt

und trägt uns mit zwei Zeilensprüngen vom Meeres-

Getriebener. Im Gegensatz zu diesem stürmenden,

ufer zu den Berggipfeln hinauf. «Zerkräuselt weisse

jagenden Duktus bleiben die Zeilen in diesem Gedicht

Gischt» kündigt den ersten Schnee an und das «Knat-

seltsam isoliert und einsam. Die Gedankenstriche vor

tern des Piaggio-Dreirads» könnte ebenso gut von

jedem Aufschrei – « Jason!» – sind Atempausen und

einem Schneejet im Wallis stammen. Was bleibt, sind

Abgründe zugleich. Die Gedankenstriche markieren

aber weder der Lärm noch die Bilder, sondern der Ge-

Zeiträume und Fälligkeitsdaten. Aber Zeit – Zeit bleibt

ruch – denn der Wind kehrt zurück. Doppelt fauliger

Jason keine, denn sie drängt, eilt und flieht. In den

Zitronengeruch und salzige Algen kleben uns zum

markanten Gedankenbrüchen liegt das Potenzial der

Ende des Gedichts in der Nase und man wünscht sich,

Musse, der Gedankenfreiheit, der – «Jason!» Es wird

die Stürme mögen toben, um ebenso, wie sie Odysseus

schleunigst gekappt. Auch für eine Ausführung dieser

umhergejagt haben, diesen gärenden Geruch zu ver-

redundanten Zeile «Der Gewinn dem Gewinner!» bleibt

treiben. Könnten wir uns dem Wind hingeben, wäre

keine Zeit; einmal wird sie von einem Ausrufezeichen

es vielleicht möglich, all die Brüche zu überfliegen;

beschnitten, einmal von besagtem Gedankenstrich, auf

wäre es vielleicht möglich, all die Klippen zu um-

den prompt ein neuer Imperativ folgt: «Doch die See

schiffen. Aber ebenso gnadenlos, wie dieser Gedicht-

lässt den Gewinn / dem Gewinner – Richte dein Fern-

wind die sommerlichen Ferienerinnerungen zerzaust,

rohr auf Fernes!» Ja, wer will schon kein Gewinner sein.

säuselt er uns faulende Verwesung und nagende Ein-

Hier nun lässt sich Fischers unheimliche Verknüp-

samkeit ins Ohr. Ein Murmeln und Raunen, dem wir

fung von Antike und Postmoderne, welche in der Ein-

nicht entkommen.

leitung bereits angedeutet wurde, erläutern. In Ver-

Träume und Trümmer

bindung mit dem Plot besagter Kinder-Odyssee ergibt sich nach obigen Betrachtungen eine bemerkenswerte

Auch in Jason träumt ist es die Fäulnis, die am

Überlagerung: In Fischers Gedicht ist es nicht der listige

Ende in der Luft hängen bleibt. Wieder befinden wir

Odysseus, sondern Jason, der durch die Kapitalmeere

uns am Strand und diesmal werden wir mit dem Sohn

gescheucht wird, um sich in der Bereicherung den Unter-

des Aison richtiggehend von der Insel gejagt. Drei-

gang einzuhandeln. Aus Schaffe, schaffe, Häusle bauen!

mal zetert das Gedicht: «Jason! / Zieh die Boote vom

flicht uns Fischer einen antiken Strick: Rudre, Rudre,

Strand! […] Jason! / Kehr zu den Lebenden heim! […]

auch wenn am Ende der Weltmeere der heilige Hain von

Jason! / Lass dich nicht irremachen / Vom Ticken und

Dodona auf dich wartet! Odysseus, der Listige, verliert

Tacken der Uhren!» Die Abschnitte, die mit den An-

zwar all seine Kampfgefährten, doch kehrt er zuletzt

rufungen eingeleitet werden, sind weder in Form noch

unversehrt zu seinen Liebsten zurück. Nicht so Jason,

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der nach unerhörten Begebenheiten in Dodona von den Wrackteilen seines eigenen Schiffes Argo erschlagen wird. Deshalb leitet die Losung «Der Gewinn dem Gewinner!» wohl nicht von ungefähr Fischers Gedicht ein. Verfolgt man die etymologische Spur des Gewinns zurück, so stösst man im Deutschen Wörterbuch auf eine verlassene Herkunft des Wortes «gewinnen»: «leidenschaftliches begehren mag die formen der gier, der wut, des leidens annehmen, es wird zu kampf, streit und mühevollem ringen anreizen und je nach dem erfolg wird es äuszerungen der freude oder des schmerzes zur folge haben.» Gewinnen meint demzufolge nicht nur das Resultat einer Handlung, sondern auch die Motivation und Handlungsursache selbst, also das Streben nach Gewinn. Welches Resultat dieses Streben zeitigt, ist jedoch gar nicht so klar, wie es uns die modernen Verheissungen von Mehrwert und Kapitalanreicherung glauben machen. Derart betrachtet, ist der Imperativ, welcher Jason träumt einleitet, folglich zweideutig: «Der Gewinn dem Gewinner!» ist nicht nur eine glücksverheissende Losung, sondern ebenso eine Warnung. Zwar hat sich manch einer aufgemacht, seinen Traum zu leben, aber bevor man losfahre, vergewissere man sich erst, ob man denn den eigenen Traum träumt. Und wer sein Fernrohr nur auf Fernes richtet, übersieht möglicherweise die Klippen in Strandnähe. Ob Jason nun hinauszieht oder nicht – den Zurückgebliebenen bleiben so oder so die Schiffssärge am Strand, seien es die Überreste ihrer eigenen Träume oder die Trümmer der Argonauten-Flotte. Ihre Gerippe sind Mahnmale und sie faulen mit dem Kiel gen Himmel gerichtet. Diese Schiffe sind ausgeschwemmt und so schnell besteigt sie niemand mehr. Wir ahnen, was kommt, und ja, wir werden alle zu edlen Dulderinnen und Duldern – «Yes! […] / So kann es gehen.»

Kritik

Dolores zoe

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s s i e w h c i l r ü t a N … … s e u a n e G s t h c i man n

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Drei Geometrieaufgaben Für János

HELIX «Diese Stadt, die eine Strasse ist.» Die Strasse windet sich in schroffen Verschlingungen zwischen den Häusern hindurch, die sie still und gelassen umfrieden. Das Rattern von Zahnrädern, die nicht sichtbar in den Boden eingelegt sind, weht über die Vorgärten, wenn einer der Wagen vorbeifährt. Wie schwingende Masten ragen die rostigen Stangen aus den Wagen. Die an ihnen befestigten Masken ruckeln heftig während der Fahrt und sehen von weitem aus, als würden sie lachen. Die Anwohner sehen nicht auf, sie schmücken die Fenster ihrer Häuser oder beackern die Beete und wischen sich von Zeit zu Zeit, auf die Schaufel gestützt und die Beine überkreuzt, den Schweiss von der Stirn, manchmal unterhalten sich zwei mit lauter Stimme über die Strasse hinweg. Sie achten nicht auf die vorbeifahrenden Masken. Die meisten aber halten den Blick auf ihre Arbeit gesenkt, um nicht in Gespräche verwickelt zu werden, oder sie ziehen sich in die Häuser zurück, um ein Mittagessen vorzubereiten. Wenn die Wagen an das Ende der Schiene gelangen, berühren sich die Lippen zweier Masken, und ein Feuerwerk zerplatzt am bewölkten Himmel. Dann sehen die Anwohner auf, um das Farbenspiel zu betrachten. Die Masken drehen sich und die Wagen wechseln die Richtung. An manchen Orten der Stadt wirft sich ein plötzlicher Schatten auf die Gärten und zwingt die Betroffenen zur vorübergehenden Aufgabe ihrer Tätigkeiten. Die Strasse, die sich hier einem Korkenzieher gleich um die Achse windet, die der Mittelstreifen bildet, steht senkrecht zum Boden, sodass die Masken horizontal zur Seite hinausragen. Die hochgestellte Strasse behindert die Sicht auf die gegenüberliegenden Häuser und auf die frühe oder die späte Sonne, doch nur wenige Gehminuten der Strasse entlang senkt sich der Asphalt wieder in die Ebene ab. Dabei kommt das, was vorher die Oberfläche gebildet hat, nun unterhalb der Strasse zu liegen und das, was vorher unten lag, liegt nun auf der Strasse. Auch hier knarzen die Zahnräder in den Fugen, die in die Strasse eingelegt und kaum sichtbar sind. Auch hier sind Masken unterwegs, allerdings kleinere, und wenn man genau hinschaut, erkennt man am Fuss jeder Metallstange ein Aktenköfferchen, das bei der Fahrt hin- und herschaukelt. In dieser Akte mögen Papiere sein. Sie mag wichtige Dokumente in ihrem ausgebeulten Bäuchlein tragen. Natürlich weiss man nichts Genaues. Die Anwohner beäugen, indem sie sich im dunklen Zimmer hinter das Fenster stellen, missgünstig die Aktenkoffer und fragen sich, ob sie nicht wieder dicker geworden sind und ob nicht mehr Papiere und Dokumente in ihrem Inneren liegen als am Vortag. Manche haben angefangen, sich mit einer Akte verbunden zu fühlen, als sei sie eine Geliebte, die sie mit dem Untergehen der Sonne erwarten. Die meisten vermuten, dass eine ganz bestimmte Akte zu ihnen gehört, in der alles über sie steht. Obwohl sie ahnen, dass sie diese Akte nie lesen werden, warten sie auf die entsprechende Maske und mustern von weitem das tanzende Köfferchen auf dem Wagen. Natürlich ist nicht gesagt, dass die Köfferchen gefüllt sind, aber, wie gesagt, es scheint so. Wenn sich die nächtlichen Masken berühren, gibt es kein Feuerwerk, aber ein kleiner Blitz geht von der einen auf die andere Maske über und für den Bruchteil einer Sekunde

Literatur

leuchten ihre grossen, weissen Augen und die gewölbten Lippen von unten auf. Sie rattern auch leiser als am Tag und bewegen sich insgesamt langsamer. Woher die Unterschiede

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Literatur

zwischen den oberen und den unteren Masken kommen, ist nicht leicht zu erklären. Es kann zudem sein, dass – falls es nur eine Stelle gibt, an der sich die Strasse schraubt – sich die Wagen auf einem Möbiusband bewegen, und dass die oberen und die unteren Masken eigentlich dieselben sind. Aber das ist nicht sicher.

TESSERAKT «Die Türen, die verschlossen bleiben, und wie du stets durch Fenster weiterziehst.» Vorne der Lehrer. Er beizt die Kreide an der Tafel ab, unterstreicht ein Wort doppelt, vielleicht dreifach, bis nicht mehr zu erkennen ist, ob er das Wort oder den Strich betont. Vorne der Lehrer, der vor der Klasse redet. Und nur Yasmin sitzt in der ersten Reihe und passt auf, der Rücken gestreckt und ihre Hand auf der Tischfläche, bereit, sie hochzurecken. Nach vorne schauen, sage ich mir. Herr Ellenbogen hat mich bereits verwarnt, weil ich draussen die Strassenschraube betrachtet habe statt aufzupassen. Es ist Nachmittag, die Stimmung dröge und Herr Ellenbogen müde. «Bildung ist wichtig!», hat er gedröhnt, «Man hat nie ausgelernt. Verstehst du? Nie.» Daran glaube ich nicht. Lernen ist schliesslich auch nur etwas, was man uns beigebracht hat. Es hat einen Anfang und es hat ein Ende. Wie alle Dinge. «Es gibt auch Dinge, die keinen Anfang und kein Ende haben», raunt Golo neben mir. Gibt es nicht. Alles hat einen Anfang und ein Ende, auch wir Menschen. «Es gibt aber auch anderes… Der Raum zum Beispiel. Der Weltraum.» Ich denke eine Weile darüber nach. Ich glaube, er liegt falsch, auch der Weltraum hat ein Ende, aber… hat er einen Anfang?… Ich finde den Fehler des Arguments nicht und schreibe das dem Hunger zu. Sozusagen schlussfolgernd pikse ich mit dem Zirkel seine Hand. Golo zuckt zurück, unterdrückt einen Aufschrei und macht eine kleine Bewegung und ich richte mich aufmerksam auf, denn Herr Ellenbogen ist verstummt. Sein Blick kreist böse um mich, und wenn ich seine Augen ansehe, glaube ich, dass ich wie ein Adler kreise, aber ich sitze still an meinem Pult und er sieht mir geradewegs in die Augen und trotzdem scheinen seine Pupillen auf dem Augapfel umherzuwandern. Ich bin so überrascht von dem Phänomen, dass ich mir keine Mühe gebe, unbeteiligt zu scheinen. «Raus», dröhnt er. «Da ist die Türe.» Und er zeigt mit dem Finger, nicht mit dem Ellbogen, wie wir uns Schüler gewünscht hätten, zur Türe. Seine Bemühungen amüsieren mich, denn weder hat er etwas davon, wenn er mich raus schickt, noch ist er persönlich beleidigt, dass ich nicht zugehört habe. Er will nur strafen. Klar, er muss strafen, um die Ordnung im Klassenzimmer zu wahren. Yasmin dreht sich um, wartend. Sie freut sich darauf, Strafen zu sehen. Jeder Mensch ist fasziniert von Strafen, aber sie hat das Unglück, nie selber Teil davon zu sein, und jetzt schaut sie zu und denkt: Das ist also einer, der es verdient hat. Dabei habe ich es doch gar nicht so verdient, denke ich, und Golo versucht, mir beizupflichten, indem er, an mich gewandt, eine Grimasse schneidet. Sogar Tom, der dumme Junge, der neben mir sitzt, und unablässig in sein Buch starrt, schaut zu mir herüber. Langsam stehe ich auf, denn jetzt ist es zu spät, Einsprache zu erheben, aber eigentlich würde ich gern. Ich würde gerne sagen: Peter Ellenbogen, mal langsam, wir haben‘s beide doch nicht leicht. Ich weiss, was du willst, du willst mich strafen, du musst dich durchsetzen, gratuliere, du hast das geschafft und das ist auch ganz richtig so. Aber ich habe es verstanden, kann ja auch ruhig und konzentriert sein und setze mich wieder hin. Wir müssen keinen Kindergarten veranstalten.

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Das versuche ich ihm mit Gedankenkraft und einem besonders aussagekräftigen Blick mitzuteilen, doch er gibt nicht nach. Er weist auf die Türe und ich sehe ihn enttäuscht an. Langsam packe ich meine Sachen, drücke mich an Golo vorbei und streife Toms Haare, der schon wieder in das Lehrbuch versunken ist. Ich gleite an Amalia und Yasmin vorüber und dem dürren Blonden, dessen Name ich tatsächlich vergessen habe und der mich hinter seiner Brille anblinzelt. Ich nehme meine Jacke vom Haken, werfe sie mir über die Schulter, öffne die Tür des Klassenzimmers und trete, ohne den Lehrer eines Blickes zu würdigen, über die Türschwelle. «Bitte setz dich!» Ich schaue zu der Frau auf und kehre unweigerlich auf den Fussspitzen um, doch die Türe ist bereits zugefallen. Der Rückweg wird mir unmöglich sein, man kann schliesslich nicht wieder in das Zimmer gehen, aus dem man verwiesen wurde. «Bitte setze dich», wiederholt die Lehrerin mit sanfter Stimme und weist mit der Hand zum Ende des Raumes, wo noch ein Platz frei ist. Das Gefühl der Augen, die auf mir ruhen, ist nicht geschwunden, denn auch hier starrt mich das ganze Klassenzimmer an. Ein Yasmin-Imitat sitzt in der ersten Reihe, ihr Rücken ist noch gestreckter, sodass man denkt, er müsste bei der sanftesten Berührung bersten. Ich warte eine Weile, und als sich die Situation nicht verändert, beschliesse ich, Folge zu leisten. Ich nehme den Mantel von der Schulter und hänge ihn behutsam auf. Langsam gehe ich den Weg durch die Bänke hindurch zu meinem Platz. Wie mein richtiges Pult steht es in der Ecke des Zimmers, nur dass es düsterer und dreckiger wirkt. Ich setze mich und erwidere möglichst wenige Blicke. Die Lehrerin lächelt zufrieden, erhebt sich und fährt dort fort, wo ich sie unterbrochen habe. Schnell begreife ich, dass es wieder Mathematik ist, und spüre, wie mich Müdigkeit überschwemmt. Ich sehe zu meinem Nachbarn hinüber, denn er sieht aus wie Golo, nur seine Nase ist etwas krummer und doch, er verhält sich so ähnlich, schaut mich sogar an, als wäre ich sein Freund. Auch einen Tom gibt es, er sitzt in der gleichen Reihe und ist in sein Buch vertieft, aber sein Kopf hängt so tief ins Buch hinein, dass er verborgen ist. Nach einer Weile merke ich, dass es doch keine Mathematikstunde ist. Ich will verstehen, worum es sonst geht, aber ich finde es nicht heraus, denn einmal spricht sie von der chemischen Reaktion von Kaugummis und Schuhsohlen, dann wieder will sie ein Lied anstimmen, was alle Schüler aber einstimmig ablehnen. Sie sagt immer «im Grossen und Ganzen», aber ich komme nicht umhin zu glauben, dass sie damit eigentlich das Kleinste und Konkreteste meint. Ich verstehe gar nicht, was das für eine Stunde ist. «Wieso nicht?», fragt Golo. Du kannst auch meine Gedanken erraten? Der zweite Golo lächelt und sagt etwas, das der erste nie gesagt hätte: «Ich errate sie nicht, ich mache sie.» Das kann man nicht. Jeder denkt, was er will. «Kuchenverstand», versetzte er. Kuchenverstand? Golo prustet los, als ich das denke, und ich möchte mir ins Gesicht schlagen. Er schaut mich hämisch an. «Ich mache sie, ich mache sie!» Jetzt schaut die Lehrerin streng zu mir und Golo herüber und ich mache mich auf die nächste Bestrafung gefasst. «Warum schaut ihr eigentlich nicht mal aus dem Fenster?» Ich sehe verdutzt in das ernste Gesicht der Frau.

Literatur

«Weshalb seid ihr immer so konzentriert? Man hat ja auch einmal ausgelernt.» Mein Blick wandert zum Fenster, aber dort sehe ich nicht den hellen Tag und die Strasse,

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26


sondern mein Klassenzimmer, wo der echte Golo neben einem leeren Platz sitzt und Ellenbogen seine Mathematikstunde gibt. Ich sollte dort drüben sein, denke ich. «Warum?» Weil ich dort hingehöre. «Kuchenverstand», sagt Golo. Nein, zweimal klappt es nicht. Golo schaut traurig. Die Lehrerin richtet ihre Aufmerksamkeit plötzlich auf Yasmin. «Du, ja, vor allem du. Bei dir spüre ich eine zu grosse Spannung. Du äugst immer so über meine Schultern und möchtest wohl alles besser machen.» Die Lehrerin verweist sie des Zimmers. Mit zitternden Schritten erhebt sie sich, packt ihre Sachen zusammen und mit kerzengeradem Rücken verlässt sie das Zimmer. Ich drehe meinen Kopf zu der anderen Fenstergalerie und schaue ihr durch die Scheiben nach, wie sie niedergeschlagen einen neuen Platz im nächsten Klassenzimmer einnimmt, den ihr ein greiser Lehrer zuweist. Kuchenverstand, denke ich. Mist.

SYMMETRIE «Wie die Zeit nicht vergisst, sondern verschiebt.» Ein Bahnperron, auf dem einige Wartende unbeteiligt stehen. Sie tragen Aktenköfferchen bei sich. Hinter ihnen sind drei Türen sichtbar mit den Ziffern 1, 2 und 5. Dies sind die Minutentüren, in die von Zeit zu Zeit jemand schlüpft. Aus einer vierten Tür kommt eben so unregelmässig jemand heraus. YAN, einer der Wartenden, steht davor und ist in einer Zeitung versunken. Mit lauten Schritten und keuchend stösst SIMON dazu. SIMON

Ist er schon ab? Ist der Wagen N34 schon ab? YAN

Der ist vor zehn Minuten ab. SIMON

Ach. (schaut auf die Uhr) Scheisse, meine Uhr stimmt nicht… Beschissener Onkel. (auf einen Blick von YAN) Mein Onkel stellt mir immer die Uhr zurück. Er glaubt, es sei eine grosse Schande, zu früh irgendwo zu sein. An Meetings dürfe man nicht pünktlich, an Partys nicht als Erster und im Bett nicht zu früh kommen, wenn man etwas auf sich halten wolle. YAN

Na ja. (lacht leise) Das hat schon was. SIMON

Ja, das sind gute Beispiele, aber wenn man den Wagen erwischen will, ist das kein guter Rat. YAN

Literatur

Dafür war ich letzthin an einer Party als Erster. Und Ihr Onkel hat schon recht, das ist nichts Gutes… Ich musste bei den Vorbereitungen helfen.

27


Literatur

SIMON

Das ist auch Pech! Ach… mein nächster Wagen kommt in vier Minuten, das spar‘ ich mir. SIMON verschwindet mit einer Verabschiedung in der 2-Minutentüre. ELENA kommt auf den Perron und stellt sich schweigend neben YAN. YAN

Sie sehen nicht sehr glücklich aus, vielleicht kann ich Sie glücklich machen? ELENA

(rümpft die Nase) So prompt? Für einen solchen Anmachspruch ist es zu früh. Sie müssen mit der Frau erst ins Gespräch kommen… Aber stimmt, ich bin nicht glücklich, ich habe ja auch eine Trennung vor mir. YAN

So, wer ist denn der Unglückliche? Wie hat er es verdient? ELENA

Dieses Gehabe! Immer kommt er zu spät, egal was es ist: An Beerdigungen, zur Arbeit, er kommt zu spät nach Hause und steht zu spät auf. Man ist ja nicht mehr siebzehn. YAN

(vorsichtig) Ich könnte mir vorstellen, wen Sie meinen. Der Herr ist vor wenigen Minuten durch die Türen gegangen. ELENA

Ach? Und so wie ich ihn kenne, war‘s die Fünf! ELENA marschiert auf die Tür zu und betritt sie. Eine Minute lang ist YAN alleine und liest Zeitung. Ein Wagen mit Maske fährt unbeteiligt vorüber. Alle sehen ihm misstrauisch nach. Einer legt sein Aktenköfferchen neben die fahrende Stange und entfernt sich dann. SIMON kommt aus der vierten Türe. SIMON

Sie warten auch schon eine Weile, wieso nehmen Sie nicht die Minutentüren? YAN

Ach, ich habe Geduld. (unbeteiligt) Ihre Freundin sucht Sie übrigens. Sie kommt allerdings erst in etwa drei Minuten zurück. SIMON

Warum? Oh Gott. Habe ich wieder etwas verpasst? Ein Jahrestag, ein Geburtstag? YAN bewegt sich nach auf einen vorbeifahrenden Wagen zu. Der RAUCHENDE ONKEL tritt aus der Menge zu SIMON. ONKEL

Ach, mein lieber Simon, nimm doch nicht alles so streng… SIMON

Onkel! Ein Zufall, dass ich dich hier treffe.

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YAN hat sich offenbar im Wagen getäuscht und kehrt zu den beiden zurück und bleibt überrascht stehen. YAN

Aber… Das ist mein Onkel! ONKEL

(lacht onkelhaft über ihre Blicke) Lasst nur machen, lasst nur machen. Ich bin euer beider Onkel. SIMON

Und… du hast uns nie etwas davon gesagt? ONKEL

Ihr habt mich ja nie gefragt. YAN

Dann sind wir ja Cousins! Aber, Onkel, warum stellst du immer seine Uhr zurück, damit er zu spät kommt? Seine Freundin will ihn darum verlassen! SIMON

Was? ELENA

(hat sich bei diesen Worten angenähert und hält inne) Ich komme besser später wieder. (verschwindet durch die 1-Minutentüre) ONKEL

Ach, YAN, du brauchst doch nicht eifersüchtig zu sein. Ich hatte euch beide immer gleich gern. Deine Uhr habe ich dafür immer vorgestellt, damit du zu früh kommst. YAN

Was? ONKEL

Ja, fällt es dir nicht auf? Wann fährt denn dein Wagen? YAN

(schaut auf die Uhr) In einer Minute. ONKEL

Haha, falsch, er fährt in fünfzig Minuten! Geht dir jetzt ein Licht auf? Die Verabredungen, an denen man dich vermeintlich sitzen gelassen hat? All die Warteräume, die du so gut kennst? Dass du immer so rasch Frauen ansprichst? YAN

Aber… warum? ONKEL

Ach, lasst doch eurem Onkel den letzten Spass, den er hat. Wir müssen zusammen was essen, jetzt ist gerade die rechte Zeit dazu, bald ist es zu spät und bis jetzt ging es nicht. Der RAUCHENDE ONKEL klopft seinen Neffen auf die Schultern und zieht sie mit sich fort. ELENA kommt aus der Tür und nähert sich vorsichtig dem leeren Platz. Dort sieht sie sich verloren um.

Literatur

Cédric Weidmann

29


Kritik

Das Experiment als Aufgabe

Wie es funktioniert und was dabei herauskommt: eine legitime Frage. Ein Experiment zeichnet sich dadurch aus, dass es seine Rahmenbedingungen selbst erschafft – auch wenn die Parameter hin und wieder angepasst werden müssen, damit etwas passiert. Fast möchte ich sagen,

«Drei Geometrieaufgaben» steht als Titel über

dass im delirium paradoxerweise Literatur unter

Cédric Weidmanns Text. Die Geisteswissenschaft-

Laborbedingungen entsteht. Die Hypothese in Form

lerinnen und Bildungsbürger unter uns, die Literaten

einer Frage: Was ist Literatur gegenwärtig – vorder-

und Künstlerinnen kriegen es mit der Angst zu tun. Die

hand zumindest in Zürich? Natürlich schwingt da

sonst so klare Struktur der Geometrie verwandelt sich

schon die Voraussetzung mit, dass es Literatur wie

im Kopf Unkundiger zu einem Chaos aus Vektoren und

auch Gegenwart gibt. Aber im Experiment ist das –

schon sind wir gleichermassen mitten in Weidmanns

auf Weidmanns Text schielend – durchaus zulässig,

Text wie in der Zeitschrift delirium. Schliesslich spricht

mag es in der Welt auch ganz anders aussehen. Mit

aus dem Namen der Zeitschrift doch der Wunsch, tief

einem Augenzwinkern ist einzugestehen: Worüber wir

ins mentale Chaos einzutauchen– bis zum Punkt des

diskutieren, daran arbeiten wir mit jeder Ausgabe

Orientierungsverlusts. Allerdings schwingt auch die

weiter. So ist delirium immer gegenwärtige Literatur,

heimliche Hoffnung mit, mit umso klarerem Kopf

in Form des Experiments notwendigerweise, und

wieder aus dem delirium aufzutauchen.

nicht nur eine Sammlung einzelner Hefte, sondern im

Tatsächlich trifft der Titel von Weidmanns Text

besten Fall ein Gesamtkunstwerk.

in verschiedener Hinsicht zu. Nicht nur fasst er

Diesen Faden nimmt Weidmann auf, indem er sich

mittels des Oberbegriffs ‹Geometrie› die drei Texte

durch die Motto-Zitate Laura Bassos Text Die Akte

Weidmanns zusammen, er verweist auch auf andere

aus delirium N°01 gleichermassen zur Ausgangslage

Dimensionen – die drei Dimensionen der Zeitschrift

wie zur Aufgabe gemacht hat. So gilt es für die Kritik,

delirium. Und dies tut er sinnigerweise der Geometrie ent-

dieser Verbindung nachzuspüren und zu untersuchen,

sprechend in Form von drei Aufgaben. Denn auf eine

was bei der gestellten Aufgabe herausgekommen ist.

Widmung folgt der Titel der ersten Aufgabe Helix und

Sich an Aufgaben zu messen und an der Aufgabe zu

ein Zitat. Dass es sich bei Weidmanns drei Texten –

wachsen, ist durchaus ehrenwert. Und seine Aufgabe

oder ist es ein einziger Text? – in irgendeiner Form um

geht Weidmann nicht zuletzt experimentell an. Da wird,

Geometrie handelt, wäre aus den Untertiteln bereits ab-

was – als literarischer wie als (von Stéphane Boutin)

zulesen: Helix, Tesserakt, Symmetrie. Die Aufgabe aller-

kritisierter Text – psychologisch begonnen hat, streng

dings lenkt den Blick entscheidend. Tatsächlich sind

formal wieder aufgenommen. Doch die drei Aufgaben der

Weidmanns Texte Aufgaben – und auch dies in ver-

Reihe nach:

schiedener Hinsicht. Als literarische Vorgabe sind sie dem Kritiker aufgegeben. Der Kritiker wiederum

1. Helix

macht sie sich zur Aufgabe. Umgekehrt hat sich jedoch schon der Autor Weidmann recht explizit eine oder

Das angesprochene Chaos im Kopf könnte Wirklich-

sogar mehrere Aufgaben gestellt. Die vorangestell-

keit sein – die von Weidmann beschriebene Strasse

ten Motto-Zitate weisen deutlich darauf hin. Letztlich

fordert dem Vorstellungsvermögen alles ab. Und

spricht aus Weidmanns Text aber vor allem die Aufgabe

wäre da nicht der wegweisende Titel, so bliebe die

der Zeitschrift delirium selbst.

Strasse vollends unvorstellbar. Wie sie sich windet und

delirium ist ein Experiment – nirgends wurde das

schraubt, fast als wäre Bassos Protagonist, der sich

deutlicher als in den Teilnahmebedingungen, die von

verrenkt, durch Spalten zwängt und sich vor geraden

literarischen Autorinnen und Autoren neben ihren ei-

Strassen fürchtet, diese weidmannsche Strasse selbst.

gentlichen Texten zusätzlich Essays verlangten. Kaum

Und wie verkorkst muss die Strasse sein, damit sich

ein Essay traf ein. Aus redaktioneller Sicht also ein glo-

in ihr eine ganze Stadt zusammenfassen lässt: Diese

rios gescheitertes Experiment – ansonsten hochinter-

Stadt, die eine Strasse ist. Nur, weil die Stadt zu unüber-

essant. Die Parameter müssen angepasst werden. Ein

sichtlich, geradezu unvorstellbar, und eigentlich eine

Experiment muss schliesslich irgendwie funktionieren.

einzige Strasse schon zu viel für das Vorstellungs-

30


vermögen ist. – «Aber», so wendet Weidmanns Text am

masken aus leichenblassem Gips. Denn manchmal

Ende der Helix ein, indem er sich schon fast selbst den

«leuchten ihre grossen, weissen Augen und die ge-

Boden unter den Füssen wegzieht, «das ist nicht sicher».

wölbten Lippen von unten auf». Am Ende drehen sich

Das alles ist nicht sicher.

diese Masken gar, nachdem sie vorher noch die «Rich-

Was ist dann sicher? Die Irritation ist sicher – und diese steht notwendigerweise auf schwankenden Bret-

tung» gewechselt haben, auf «einem Möbiusband». Seelenwanderung und Kreislauf des Lebens.

tern. Als poetisches Programm läuft sie Gefahr, un-

Das ist viel Mutmassung, um eine Vorstellung von

begründet abzustürzen: Irritiert der Text, weil die

Weidmanns Text zu kriegen. Es verhält sich ein wenig

Irritation gelungen ist, oder irritiert der Text, weil die

wie mit den Aktenköfferchen: Ist denn «gesagt, dass

Irritation nicht gelungen ist? Faktisch bleibt der Text

die Aktenköfferchen gefüllt sind»? – Natürlich ist das

irritierend – oder mit Weidmanns Worten «verbuggt».

«nicht gesagt». Aber vielleicht braucht ein literarischer

Vertrauen wir also dem Bühnenboden vorerst und

Text auch nichts gesagt zu haben – nichts gesagt zu

lassen uns auf das sich anbahnende Schauspiel ein:

haben im Sinne der strengen Wahrheit, die nur sagen

Der Text beginnt mit einem scharfen Kontrast:

kann, was es gibt. Dagegen Fiktionalität in aller Kürze:

«Die Strasse windet sich in schroffen Verschlingungen

«Wie gesagt, es scheint so.» – Oder: Wie gesagt, so

zwischen den Häusern hindurch, die sie still und ge-

scheint es. Da wird gleichermassen «gesagt» und «nicht

lassen umfrieden.» Auf irritierende Weise – still und

gesagt» und was «gesagt» wird, «scheint» – und Platon

gelassen – säumen Häuser eine schroff gewundene

hätte sich im Grab umgedreht. Trotzdem oder gerade

Strasse. Mitnichten können diese Häuser die Strasse

deshalb liegt die Vermutung nahe, dass auch der Text

umfassen oder eben umfrieden, wäre die Strasse doch

«nichts Genaues» weiss.

sonst eher ein Platz oder gar ein Hof. Und nur am Rande, wo die Leute «beackern» und «schmücken», ist diese Szene vergleichbar mit der tiefen Seelenruhe

2. Tesserakt

eines Friedhofs. Stattdessen rattert und knirscht es.

Es ist keine Schande, «nichts Genaues» zu wis-

Einzig die Beklemmung dieses Schauspiels, denn

sen. Die Unvorstellbarkeit nimmt zu – oder wie viele

(Toten-?)Masken ziehen vorbei, ist dem Gefühl auf

können tatsächlich von sich behaupten, die vierte

einem Totenacker ähnlich – wenn unvorstellbar bleibt,

Dimension einwandfrei zu meistern? Das allwissende

wohin und weshalb jemand gehen musste.

Wikipedia sagt: «Der Tesserakt ist eine Verallgemein-

Und mit diesen beklemmenden Fragen tauchen

erung des klassischen Würfels auf vier Dimensionen».

Aktenköfferchen auf. Seltsam entrückt ziehen sie zu-

Und genauso allwissend schien der Erzähler der Helix

sammen mit den Masken vorbei – aus irgendeinem

– jetzt ist er es nicht mehr. Aber wer kann auch mit

Grund und irgendwohin. Alles ist physische Realität

leerem Magen denken? Das Mittagessen, in der Helix

geworden. Die Akte, die vormals bei Basso nur in der

fand es nicht mehr statt, ist nun am «Nachmittag»

Vorstellung existierte, ist da, auch wenn sie immer

längst vorbei. Da hilft auch alle «Gedankenkraft»

noch nicht eingesehen werden kann. Aber vielleicht

nichts, derer sich der Protagonist zu bedienen versucht,

sind auch nur die Köfferchen da, völlig inhaltslos. Das

um seiner – in der Tat faszinierenden – Strafe zu ent-

käme dann dem Protagonisten Bassos wieder nahe, der

gehen. Ob der Lehrer weiss, womit er seinen Schüler

sich vermutlich mehr einbildet, als tatsächlich ist. Aber

bestraft, und ob der Schüler weiss, in was für einem

wie immer: «Natürlich weiss man nichts Genaues.»

Universum er lebt, sei dahingestellt. Es könnten ver-

Und teils scheren sich «die Anwohner» in Weid-

schiedene Paralleluniversen sein, es könnte auf irgend-

manns Text auch nicht darum. Sie scheinen in ih-

eine eigenartige Weise mit den vier Dimensionen des

rer Alltäglichkeit gut eingerichtet allenthalben «ein

Tesserakts zu tun haben oder alles könnte auch nur der

Mittagessen vorzubereiten». Essen muss der Mensch,

Tagtraum eines hungrigen und müden Schülers sein.

während sich sein Leben schreibt und er vergeht. Die Akte

Aber so wichtig ist das vermutlich gar nicht. Wichtiger

wird erst zur Akte, wenn das Leben vollendet ist und

scheint diese ominöse Gedankenkraft.

jemand, wer auch immer das sein mag, das Sünden-

Wer aussieht wie Golo ( Ist es Golo oder Golo‘? ), besitzt sie offenkundig. Und mit dieser Gedanken-

liest. Daran lassen sich auch die gleichförmigen

kraft kehrt die Einflussangst aus Bassos Akte zu-

Aktenköfferchen erkennen: an den dazugehörigen Toten-

rück, auf deren Note der Tesserakt endet: «Mist».

Kritik

register – oder eben die Akte – tatsächlich herunter-

31


Kritik

Allerdings ist diese Einflussangst bei Weidmann weit

aufgrund der Symmetrie wohl gefolgert werden. In der

weniger bedrohlich; eher eine Spielerei, etwa so wie

Helix war schliesslich Vormittag und im Tesserakt Nach-

Geometrieaufgaben im Schulunterricht: recht abstrakt,

mittag. Stattdessen müssen wir uns das Mittagessen, zu

schwer vorstellbar, lösbar – vielleicht. Viel bedrohlicher

dem der Onkel seine beiden Neffen einlädt, vorstellen

ist einmal mehr die Vorstellung, dass die physische

und bleiben wie Elena ein wenig «verloren» zurück.

Realität nach dieser Einflussangst strukturiert sein

Die angedeutete Dreiecksbeziehung kam nicht zu-

könnte. Die Selbstbestimmung des Protagonisten

stande – irgendwie haben wir wohl die Pointe verpasst,

jedenfalls ist an einem kleinen Ort – zumindest solange

konnten die Sache nicht auf den Punkt bringen – sind

er das mit der Gedankenkraft nicht beherrscht. Denn

eben unpünktlich. Das muss besonders Schweizer-

vor der Gedankenkraft und ihren Einflüssen schützen

innen und Schweizer ärgern. Immerhin ist die

den Schüler auch seine neunmalklugen Gedanken zu

Schweiz das einzige Land, wo sich Leute bei einer Zug-

«Strafen» nicht, wenn es einmal so weit ist, dass ein irr-

verspätung von fünf Minuten und der resultierenden

witziges Wort im Kopf widerhallt: «Kuchenverstand».

Wartezeit herzhaft aufregen können. Wir kennen das

So beherrscht Weidmanns Schüler, aber er ist ja

alte Lied vo dä Bahnhöf, wo dr Zug gäng scho abgfahren isch

noch ein Schüler, weder das Reich der mentalen noch

oder no nid isch cho... Da kommen Weidmanns «Minuten-

das Reich der physischen Realität – und schon gar nicht

türen» recht gelegen.

deren Überschneidung oder Verschmelzung. Zwar geht

Ansonsten hilft einmal mehr nichts – in diesem

er, im Gegensatz zum Protagonisten Bassos, der sich

schrägen Theater. Ob die Absicht des Onkels darin

kaum noch vor die Tür getraut, ganz normal durch die

bestand, auf etwas skurrile, aber gutmütige Weise

Tür weiter. Aber wo er damit landet? Die Türen, die ver-

seine Neffen, die eigenartigerweise auch nichts von

schlossen bleiben, und wie du stets durch Fenster weiterziehst.

einem gemeinsamen Onkel wussten, zu erziehen,

Es bleibt ihm also wenig anderes übrig, als – und darin

oder ob er mit seinen Zeitspielereien schlicht ein alter

gleicht er dem Protagonisten Bassos wieder – von einer

Querulant ist, steht vorderhand einfach einmal im

seltsamen Lehrerin explizit aufgefordert einiger-

Raum. Aber ich komme nicht umhin, Weidmann für

massen träumerisch zum Fenster hinaus zu blicken;

diesen Onkel zu halten, der sich aus Bassos Text be-

von Parallelwelt zu Parallelwelt, denn sogar die

dient und sich entsprechend der Vorlage als Zeit selbst

Helix aus dem ersten Text windet sich da wieder vor

herausstellt: Wie die Zeit nicht vergisst, sondern verschiebt.

dem Fenster.

Der Onkel, der da nach Gutdünken verdreht und ver-

Langsam nimmt eine Ahnung Gestalt an. Ein Licht-

schiebt und in die Irre führt – und sich, wenn er denn

blick. – Ein Gedankenblitz: Immerhin ist das auch ein

selbst die Zeit ist, um sich selbst dreht. Damit ist die

geometrischer Vorgang. – Der Grund, weshalb die Un-

Sache noch vertrackter als beim Tesserakt und ich

übersichtlichkeit ständig zunimmt, liegt in der ge-

beginne, mir die Helix wieder herbeizuwünschen.

stellten Aufgabe selbst. Wer sich das wohl grösste

Irritierend bleibt es also bis zum Schluss. Es ist kein be-

geometrische Problem zur Aufgabe gemacht hat –

sonders rücksichtsvoller Erzähler, der sich anpassungs-

nämlich den «Weltraum» –, wird kaum so schnell zu

fähig wie ein Chamäleon durch die verschiedensten

einem «Ende» kommen. Aber ob das mit der Zeit bes-

Erzählformen und -perspektiven gewunden hat. Aber

ser geht?

immerhin merkt man ihm den Schalk an, wie er da verschmitzt Aufgaben stellt, die einem vorkommen wie

3. Symmetrie Ein letzter Versuch, sich die Zähne (quartäre Ge-

ein abstrakter Witz – die Pointe ist keine Pointe oder irgendwie so ging das, und dies würde wiederum den Onkel retten.

steinsbrocken?) nicht auszubeissen! Schweisstreibend ist die Arbeit des Kritikers auch, so viel sei Dolores

Hinterher schlauer? Umso besser

Zoe immerhin zugestanden. – Dass Weidmann vom Programm abweicht – Helix und Tesserakt sind geome-

Vielleicht lohnt es sich, die Sache einmal wörtlich

trische Figuren, die Symmetrie ist eher ein Verhältnis

anzugehen. Dann lässt sich sagen, dass die psychi-

bzw. eine Eigenschaft –, erklärt sich über das Essen.

sche Geometrie in Bassos Akte in Weidmanns Aufgaben

Allerdings findet auch dieses gerade nicht statt, selbst

in eine physische Topografie verwandelt wurde. Die

wenn genau die «rechte Zeit » wäre – Mittag muss

drei weidmannschen Texte sind also gleichermassen

32


Aufgabe wie Lösung. Aber Himmel Herrgott noch

geführt hat: Aber wer János ist, bleibt – nein, keine

mal, der Teufel soll mich holen – in einer solchen

Aufgabe, sondern – ein Rätsel. Und wenn es nicht

Welt will ich nicht leben, weder in der verkorksten

Weidmanns Katze ist, dann vielleicht ein Hamster im

Psyche des Protagonisten Bassos noch in Weidmanns

Rad oder doch János Bolyai, einer der Mitbegründer

surrealem Labyrinth. Ob Bassos Protagonist das auch

der nicht-euklidischen Geometrie? Das wäre dann

in aller Klarheit und mit grösster Sicherheit hätte sagen

schon fast wieder ein wenig vermessen.

können? Wohl kaum; insofern wird Weidmanns Text Bassos Vorlage durchaus gerecht, wenn er auch wesentlich spielerischer daherkommt. Und das macht ihn gleich wieder sympathisch. Was aber weiss Weidmanns Text selbst, ausser einigen subtilen Beobachtungen («ob er das Wort oder den Strich betont») und skurrilen Einfällen («Minutentüren»), die gleichermassen aufblitzen wie die anfänglich erwähnten Feuerwerke und Blitze? Die grosse Frage scheint mir diejenige nach der Fiktionalität zu sein. Die Antwort darauf: Von aussen gesehen darf Literatur primär wohl einmal alles. Ob das von innen her gesehen, d.h. aus dem Text selbst heraus, auch funktioniert, ist eine andere Frage. Ob also drei Aufgaben einen Text ergeben? Die geschickte Übernahme von Motiven aus Bassos Erzählung macht noch keinen eigenständigen Text, obwohl das Kopieren und Kompilieren durchaus zur Ästhetik der Gegenwart gehört – zumindest in der Literatur. Das ist der feine Unterschied zwischen Helene Hegemann und Karl-Theodor von und zu Guttenberg, der feine Unterschied zwischen einem Bestseller und dem Akteneintrag ‹Plagiat›. Hingegen ist Weidmanns Unterfangen keinesfalls mit dem hegemannschen Erfolgsroman zu vergleichen – nicht weil Hegemanns Roman besser wäre als Weidmanns Text (im Gegenteil), sondern weil es um etwas ganz anderes geht. Um nichts Geringeres als – und das reicht dann schon wieder nahe an das Problem mit dem Weltraum – einen literarischen Kommentar, eine künstlerische Erwiderung, eine Übersetzung vielleicht sogar. Damit ist die Aufgabe delirium mehr als erfüllt. Dann wären Weidmanns drei Aufgaben in ihrer ganzen Verspieltheit auch als Persiflage auf die Ernsthaftigkeit und die – durchaus männliche – intellektuelle Kraftmeierei von delirium N°01 zu verstehen – wie grandios die dort festgehaltenen Gedanken auch gewesen sein mögen. Denn natürlich weiss man nichts Genaues. Da hat sich wohl urplötzlich die Richtung geändert. Einiges lässt sich also vermuten. Und wenn das Experiment nicht geglückt ist, so ist zumindest etwas passiert. Es ist nur zu hoffen, dass das Eintauchen

Kritik

ins delirium zum Auftauchen mit grösserer Klarheit

33

Fabian Schwitter


n e l l o r g s a d t s i …es s a d n e t o t r e d … n e k l o w r e seuf zen d

34


und höre und höre alles liegt blass in grau und der holunder trägt schnee und höre die flocken fallen und ich denke es sei das echo der glocken im tal und höre die flocken fallen und es ist das grollen der toten das seufzen der wolken und höre

Literatur

Elsbeth Zweifel

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36


Ein überlebender Mythos

derjenige des Gedichts, sondern derjenige der durch es gedichteten Welt ist. Diese gedichtete Welt ist dort, wo «alles liegt», «blass in grau». Es handelt sich um eine vereinsamte Welt, die von der Stimme eines lyrischen Ichs ausgeht, das sich noch nicht in ihr verortet hat. Als stilles Wesen ist lediglich «der holunder» in ihr, und er «trägt Schnee». Aus dieser Einsamkeit heraus tritt

Vor allem bei Gedichten scheint sich die Frage aufzudrängen, wie eine literarische Kritik zu ihnen

die gedichtete Welt durch das Gedicht an einen aussenstehenden Hörenden wie mich heran.

Stellung nehmen kann. Die Problematik rührt zu-

Das zweite «und höre» des Gedichts ist eine weitere

mindest teilweise daher, dass Gedichte nicht an-sich

Forderung an mich als einen, der schon wahrhaftig

lesbare Textgestalten sind, sondern als Für-sich zu

liest. Es braucht jetzt die Atempause nicht mehr, die

etwas Gedichtetem und Lesbarem werden, das erst

nach dem vorherigen «und höre» notwendig gewesen

in der Folge davon eine Kritik erfahren kann. Eine

war, um mit dem Gedicht auf-zu-hören und eine durch

Gedichtkritik hat deshalb ihr ‹ursprüngliches› Objekt,

es gedichtete Welt sich eröffnen zu lassen. Ich muss

das Gedicht selbst, notwendigerweise verloren, und

nicht mehr anhalten, auf-horchen und ge-horchen,

kann diesem gegenüber nur noch einen fragwürdigen

sondern ich bin bereits hier in dieser gedichteten

Geltungsanspruch stellen. Die Gedichtkritik kann aber

Welt. Ich werde nun auf meinem Weg zum kritischen

auch diese notwendige Verschiebung erkennen und

Für-sich des Gedichteten mit einer zweiten expliziten

sich selber ein entsprechendes Gesetz geben, nämlich

Forderung konfrontiert. Ich soll innerhalb dieser ge-

an das Gedichtete und Lesbare heranzutreten. Ein

dichteten Welt auf etwas hören, das sich hier ereignet:

solches Gesetz kann die Gedichtkritik vorantreiben:

«die flocken fallen». Ich soll aber auch jemandem zu-

Es legitimiert sie, weil sie sich ein neues Objekt gege-

hören, dem lyrischen Ich, das jetzt auch hier in dieser

ben hat, das nicht mehr gänzlich unter dem Einfluss

gedichteten Welt ist und das Gehörte reflektiert: «ich

des Gedichts als schwer zugängliche oder verloren ge-

denke es sei». Ich höre also das Heil, das sich dieses

gangene Textgestalt steht. Nichts kann mehr dagegen

lyrische Ich vom Gehörten her verspricht und mit dem

sprechen, dass die Gedichtkritik das neue Objekt, das

es die Stille dieser uns gemeinsam vereinsamten Welt

sie sich als ein eigenes gegeben hat, genau befragt

füllen möchte. Das lyrische Ich erdenkt sich Heil, das

oder sogar peinlich genau inquiriert. Umso weniger

von einer Gemeinschaft Gottesfürchtiger, Gottes Wort

steht der Gedichtkritik und ihrem neuen Objekt

ge-horchenden Menschen, durch die dafür konventionell

etwas im Wege, wenn schon das Gedicht selbst ein Be-

festgelegten Klänge heraufbeschworen wird: «echo der

wusstsein für das Gedichtete und Lesbare entfaltet

glocken / im tal».

und die nötigen Vorkehrungen vom Leser beziehungs-

Das dritte «und höre» des Gedichts bedeutet end-

weise Kritiker explizit einfordert, wie das bei Elsbeth

lich die Einladung des kritischen Lesers. Ich habe

Zweifels «und höre» der Fall ist.

auf meinem Weg dahin zuerst das Gedicht dadurch verlassen, dass ich durch eine erste explizite Forderung in die von ihm gedichtete Welt hineingerufen worden

Das Objekt der Kritik

bin. Durch eine zweite explizite Forderung wurde ich

Das erste «und höre» des Gedichts ist eine For-

dazu angehalten, diese gedichtete Welt durch die Ge-

derung an mich, der ich zwar bereits dieses Gedicht

danken des lyrischen Ichs zu hören und zu denken.

lese, indem ich seinen Versen mit meinem Blick folge,

Erst jetzt mit dem dritten «und höre» wird das Ereignis

aber nicht deswegen schon das Gedichtete lese, indem

in dieser gedichteten Welt, dass «die flocken fallen»,

ich es mir als Für-sich zum eigenen Objekt der Kritik

unvermittelt und ungedacht für mich hörbar, in der

mache. Auf dem Weg zu einem solchen kritischen

Form eines reinen «es ist». Das lyrische Ich, das

Standpunkt wird als erste explizite Forderung ein

hörte, sowie die von ihm erdachten Gottesfürch-

lesendes Folgen verlangt, das sich von demjenigen

tigen mit ihren Klängen haben mich verlassen. Ich höre nur noch deren unheimlichen Nachhall: Sie «sind» jetzt die «toten» und als solche sind sie für mich

Sich-versetzen-lassen an einen Ort, der nicht mehr

Dinge dieser gedichteten Welt geworden, in der ich

Kritik

meiner Augen unterscheidet: «und höre». Es soll ein Ge-horchen zum Dazu-ge-hören sein, das heisst, ein

37


Kritik

ganz alleine dastehe. Diese Dinge einer für mich zu-

erdenkbaren Welt, weitergeführt werden könnte, wozu

nächst fremden und mittlerweile eigenen – aber im-

ich eigentlich nur auf eine bestimmte Weise zu hören

mer noch vereinsamten, eigenartigen und somit

bräuchte.

entfremdenden – Welt überfallen mich mit ihrer hör-

Dieser besondere Bezug zu Dingen beinhaltet nicht

baren Feindseligkeit: «das grollen». Sie überfallen mich

das spirituelle Heil oder die gesellschaftliche Annehm-

also mit einem hörbaren Seinsmodus, der sich den zäh-

lichkeit durch konventionelles Ge-horchen von Got-

menden Konventionen der Sprache – denjenigen, die

tes Wort oder durch konventionelles Dazu-ge-hören

es normalerweise ermöglichen, Fremdes durch das

zur sprachlichen Gemeinschaft. Das besondere Glück

Ge-meinsame eigen zu machen – entzieht. Zu diesem

dieses neuen und eigenen Bezugs zu einer Welt ist

hörbaren Seinsmodus, der sich den zähmenden Kon-

lediglich das Entsetzen, mit dem uns unvermittelte

ventionen entzieht, zählt jedoch nicht nur «das grollen

Dinge hörbar entgegentreten. Ein riskantes Glück wird

/ der toten» als unheimliche Feindseligkeit. Auch das

also dem Leser oder dem Kritiker durch das Gedichtete

«seufzen der wolken» als melancholische Zärtlichkeit

suggeriert, ein Glück, das auch für die Dichtung selber

ge-hört dazu. Es handelt sich offensichtlich um einen

– als literarisches Unterfangen, das als solches und

hörbaren Seinsmodus der Dinge und der Welt, dessen

zugunsten der poetischen Bildhaftigkeit notwendiger-

Unvermitteltheit sich nur noch durch poetische Bild-

weise auf spirituelles Heil und gesellschaftliche

haftigkeit repräsentieren lässt.

Annehmlichkeiten verzichten muss – riskant bleibt.

Erst in dieser Situation also, in der es mir nicht mehr durch die zähmenden Konventionen der Sprache heimelig gemacht wird, in der ich aber immer noch

Die Autonomie der Dichtung

in der gedichteten Welt daheim bin, kann mir auch Folgendes nicht mehr verheimlicht werden: ein

Wir haben nun ein ‹glückliches Hören› – ein

Seinsmodus der Dinge, in dem diese so sind, wie sie

Hören der Dinge, so wie sie gerade sind und uns ent-

sind und wie sie mir gerade hörbar entgegentreten;

gegentreten – als unser neues und eigenes Objekt der

ein unvermittelter Seinsmodus, der nur in poetischer

literarischen Kritik gewonnen. Nun kann dieses Objekt

Bildhaftigkeit durch die Sprache repräsentiert und auf-

befragt werden. Falls ein solches glückliches Hören tat-

bewahrt werden kann; ein Seinsmodus, der auch ein

sächlich ein Fundament von authentisch literarischer

potenzielles Für-sich ausmacht und somit die Kritik

Dichtung sein sollte, müsste dann diese nicht einfach

einlädt. Mit anderen Worten scheint sich hier zu zeigen,

implizit von ihm ausgehen, anstatt es als Fundament

dass ein ungezähmtes und unvermitteltes Hören auf

erst explizit zu konstruieren? Wir können dasselbe

die Dinge ganz im Sinne einer poetischen Bildhaftig-

auch anders fragen: Verbleibt eine Dichtung, die vor

keit und ihrer potenziellen Lesbarkeit ist, dass dies also

allem darauf ausgerichtet ist, ihr Fundament explizit zu

eine fundamentale Bedingung sowohl für die Möglich-

konstruieren – als glückliches Hören, das sich im Ge-

keit authentisch literarischer Dichtung als auch ihrer

dichteten durch wachsende Insistenz behauptet – nicht

Kritik ist. In seinen letzten Versen stellt das Gedicht

gerade deshalb auf einer Vorstufe des eigentlich in der

genau diese Bedingung – und es erfüllt sie zugleich.

Dichtung allgemein Intendierten – der poetischen

Das letzte «und höre» des Gedichts ist eine Be-

Bildhaftigkeit, die sich erst gegen Schluss des ent-

stätigung dafür, dass das neue Objekt des Kritikers

sprechenden Gedichts behauptet, um dann sogar ganz

auch sein eigenes Objekt ist. Ich bin durch das Lesen

zurückzutreten? Daraus folgt auch die zweite Frage:

des Gedichts zum Kritiker geworden, weil mich dieses

Was könnten allfällige Motive einer solchen – schein-

durch die poetische Bildhaftigkeit in einen eigenen

bar unvollständigen – Ausführung von Dichtung sein?

oder unvermittelten Bezug zur gedichteten Welt

Auf der Ebene des einzelnen Gedichts «und höre»

treten liess, deren Dinge in der Folge direkt zu mir

und seiner unmittelbaren literarischen Kontextuali-

‹gesprochen› haben. Das letzte «und höre», dem eine

sierung können wir diese Fragen wie folgt erörtern:

Leere folgt, ist ein Zeichen dafür, dass sich nun sogar

Die Aussage des Gedichteten kann dahin gehend ge-

die poetische Bildhaftigkeit zurückzieht, dass sie also

lesen werden, dass authentisch literarische Dichtung

nur noch als Abwesenheit anwesend sein soll. Das sug-

und ihre Kritik sich ihr eigenes sprachliches Gesetz ge-

geriert, dass ein unvermittelter Bezug zu Dingen von

ben sollten, dass sie autonom sein sollten und dass sie

mir auch jenseits der gedichteten Welt, also in jeder

Letzteres vor allem durch glückliches Hören erreichen.

38


Das Aussagen des Gedichteten kann als durchaus kon-

Bildhaftigkeit und Potenzialität der Sprache im

gruent zu dieser Autonomie gelesen werden, denn ein

Allgemeinen bedrohen würde.

solches Hören kann dann keineswegs als äusseres, re-

Der Leser dieser Kritik mag sich bezüglich der zwei

gulierendes Fundamentalgesetz einfach übernommen

Erörterungen ganz unterschiedlich positionieren: es

oder vorausgesetzt werden, sondern muss als innerli-

kann durchaus strittig bleiben, welchen Stellenwert

ches und konstitutives selber entfaltet werden. Es stellt

genau eine poetologisch reflektierte Autonomie inner-

sich aber sodann die Frage, ob eine solch intensive

halb eines literarischen Werks nach ästhetisch-funkti-

Beschäftigung mit der Autonomie von Dichtung und

onalen Kriterien einnehmen kann, soll oder muss; es

Kritik nicht verhindert, dass authentisch literarische

kann auch strittig bleiben, ob die gegenwärtige Kultur

Dichtung und Kritik tatsächlich stattfinden – im Sinne

die Politisierung von Literatur und Dichtung, und ihrer

der Ausführung und Diskussion von poetischer Bild-

Kritiken, als Zähmung derselben überhaupt verlangt;

haftigkeit, die zwar in der Autonomie ihr Fundament

weiter, ob die Literatur gegebenenfalls dagegen be-

hat, aber doch etwas anderes als dieses Fundament ist.

reits ankämpft oder diesen Kampf überhaupt aufneh-

Die Beantwortung dieser Frage kann auch gleich von

men sollte. Was aber für den Leser dieser Kritik durch-

der Beantwortung der zweiten Frage abhängig gemacht

gehend unverändert bleiben kann, ist dasjenige, was als

werden, nämlich welche Motive es für diese schein-

oft unbemerktes Fundament alle diese Fragen vonsei-

bare Unvollständigkeit der Dichtung geben könnte.

ten der Literatur und ihrer Kritik stellen lässt: die Idee

Ein Motiv wäre beispielsweise der Stellenwert des

einer Autonomie der Literatur – ob sie nun wirklich ein

entsprechenden Gedichts in seinem unmittelbaren

Fundament von Authentizität ist oder nicht – als über-

literarischen Kontext. Wenn das Gedicht bewusst als

lebender und fruchtbarer Mythos aus dem Okzident.

eine poetologische Reflexion funktionieren sollte, da-

Hannes Sättele

durch, dass es in einem entsprechenden literarischen Kontext platziert wäre, so käme es bestimmt zu seinem Recht und würde auf keinen Fall als etwas Unvollständiges erscheinen. Anders müssen diese Fragen erörtert werden, wenn wir sie auf der allgemeineren Ebene der Literatur oder der Dichtung als kulturellen Bereich in Betracht ziehen, wenn wir also den Stellenwert des vom Gedicht Gedichteten nicht bezüglich seines unmittelbaren literarischen Kontextes, sondern bezüglich des Kontextes der gegenwärtigen Kultur meinen. Das Gedichtete, ein autonomes Hören als Fundament authentisch literarischer Dichtung und ihrer Kritik, das explizit behauptet und sozusagen deklariert wird, könnte dann andere Gründe als die literarisch internen und sozusagen ästhetisch funktionalen haben. Es könnte sich beispielsweise um eine Positionsverteidigung gegenüber einer kulturellen Gegenwart handeln, die als tendenziell feindlich empfunden wird, weil sie – so die hypothetische Empfindung – die Autonomie der Literatur oder der Dichtung, und ihrer Kritiken, gegenüber anderen Kulturbereichen strittig macht, sie also nur noch als authentisch betrachtet, wenn sie sich mittels normaler und normierter Sprache auf andere Kulturbereiche beziehen und diese miteinbeziehen: kurz, eine Politisierung, Vergesellschaftlichung und schliesslich Zähmung von Literatur und

Kritik

Dichtung, und ihren Kritiken, welche die poetische

39


Essay zu: «Literatur: Ausdruck oder Programm?»

Wenn Literatur ausgedruckt wird, ist es keine Frage: Literatur ist Ausdruck. In Graustufen, Schwarz -Weiss oder Farbe, mit Tintenstrahl oder Laser. Unser Drucker, der jedes Stück Text zum Ausdruck bringen kann und zum Ausdruck werden lässt, benötigt für diesen Prozess wiederum mindestens drei Programme, bevor er etwas zu Papier bringt. Kein Ausdruck ohne Programm also. Man könnte mir vorhalten, dass das dumme Metaphern oder gesuchte Homonymien seien. Dass das Ausdrücken und das Ausdrucken zwei verschiedene Dinge seien. Das sind sie auch. Aber die Frage, was dadurch gesagt wird, dass wir «uns ausdrücken», bleibt bestehen, und wenn wir den Laserdrucker vom Künstler unterscheiden wollen, stossen wir schnell auf die schwierige Frage nach einem Inneren. Der Künstler – man könnte sich kaum vorstellen, dass eine Orange oder eine Zitrone so dächte! – nährt einen besonderen Stolz durch die Idee, er könne sich ausdrücken. Das mag damit zu tun haben, dass der Schreibende sich nach seinem Schaffen ausgewrungen und entleert fühlt und dass er das Gefühl hat, was in ihm war, sei jetzt irgendwie ausgeschieden. Der Zwang, den dieser Prozess voraussetzt, wird im Wort ausdrücken so schön wie nirgends dargestellt. Wie auf der Kloschüssel oder im Kreissaal muss gepresst werden, bevor etwas aus dem eigenen Körper geschieden ist: Es ist nicht Abbildung von Innerem, nicht Projektion, sondern lakonisches Herauspressen. Und was dann da ist, kann toll, kann aber auch schlicht scheisse sein.

...dass eine Orange oder eine Zitrone so dächte... Auch wenn küssende Masken, die auf Stangen balancieren, etwas, was in mir zu sein scheint, nach dort, was ausserhalb zu sein scheint, zu befördern scheinen – auch wenn ich mich also ausdrücke, wenn ich schreibe –, ist das noch lange nicht Literatur. Das heisst, nicht das wäre es, was es zu Literatur machen könnte. Denn der Ausdruck kann falsch verstanden, nein, es ist sogar sehr wahrscheinlich, dass er falsch verstanden wird. Es geht jedoch bei der Literatur 40

Reinreden

Verbuggte Literatur


oft darum, Missverständnisse gezielt auszusondern. Daher steht das scheinbar ungelenke «Ausdruck» für «Wort» oder «Begriff» und nicht für das, was aus dem Inneren kommt. Der «treffende Ausdruck» ist nicht nur der, der dem Autor aus dem Inneren spricht, sondern vor allem der, der vom Leser auch verstanden wird. Das Programm andererseits ist keine kühle Abspaltung und keine Unterbindung der Fantasie und nicht jede Literatur mit Programm ist gleich OULIPO. Welches Recht hätte man überhaupt dem Programmierer, der ein Videospiel erschafft, die Möglichkeit abzusprechen, sich auszudrücken? Oder den Code Poems, die aus Programmcode Gedichte formen, ihre Ausdrücklichkeit? Bei hinreichend komplexen Systemen ist es unmöglich, alle Outcomes eines Programmcodes vorherzusehen. Der Programmierer durchschaut seinen Code niemals zur Gänze. Er lässt ihn laufen und beginnt dann, wenn er Fehler entdeckt, das Debugging. Programm allein also verhindert nicht Chaos, es verhindert nicht Kreativität, Freiheit oder was auch immer man dem Ausdruck «Ausdruck» vermeintlich zuordnen würde. Selbst wenn Zahlen und Figuren Schlüssel aller Figuren sind, ist das Programm selbst keine kühle Berechnung. Es sind nämlich gerade die Bugs, die den Ausdruck ermöglichen: Was beim Videospiel ärgert – Fehler, Störungen oder Verschiebungen – ist der Ausdruck, der Literatur ausmacht. Er kommt nicht aus dem Inneren des Autors – nicht direkt –, sondern aus der Systemlogik eines Programms, dessen Tiefenstruktur bis zur Unerreichbarkeit vergraben ist. Das gilt für die Helix in der Strasse, für vierdimensionale Schulhäuser, für unerwartete Symmetrien ausdrücklich. Cédric Weidmann

Notizen zur Zweifelhaftigkeit des literarischen Programms

Reinreden

Essay zu: «Literatur: Ausdruck oder Programm?»

Es ist kein Zeichen unpassender Kompromisssucht, wenn man kategorisch wirkenden Entwederoder-Fragen grundsätzlich skeptisch gegenübersteht. Gerade bei ebenso umfangreichen wie unscharfen Kategorien wie Ausdruck und Programm ist Skepsis nicht nur angebracht, sondern notwendig. Ich möchte eine Antwort vorschlagen und dabei von folgender meines Erachtens schlüssiger Definition ausgehen: Literatur ist Ausdruck des Willens zur Gestalt. Es ist dabei bedeutsam, dass sie nicht Ausdruck der Gestalt selbst ist. Auf der Ebene des Signifiants tritt diese Gestalt gemeinhin als Form auf, auf der Ebene des Signifiés als Bedeutung. Unsere Aufmerksamkeit gilt zunächst Letzterer. Was tut Literatur inhaltlich? Sie ergreift ihren Gegenstand und stürzt sich, ihren Gegenstand stets eng umschlungen haltend, zusammen mit ihm in den reissenden Strom der Bedeutungen. Wie unkontrollierbar die Bedeutung eines Textes nämlich ist, muss hier nicht erneut erläutert werden – Theoretiker des Poststrukturalismus und Dekonstruktivismus haben genügend Text dazu produziert. Es ist in diesem Sinne zu verstehen, dass Literatur auf inhaltlicher Ebene nicht Ausdruck einer Gestalt sein kann. Zu viele Deutungsmöglichkeiten trägt sie in sich, um auf eine definitive Bedeutung – deren Ausdruck sie wäre – reduziert werden zu können. Die Existenz des literarischen Textes kündet nicht von einer Bedeutung, sondern von der Möglichkeit derselben. Wille zur Bedeutung heisst, die Möglichkeit schaffen zu wollen, dass Bedeutung erzeugt wird. Insofern ist die Existenz des literarischen Textes Ausdruck des Willens zur Bedeutung. 41


s e d r e k i .. .Theoret d n u s u m s i l a r u t k u r t Posts s u m s i v i t k u r t s n o k e D d n e g ü n e hab e n g . . . t r e i z u d o r p ] . . . [ Text 42

Reinreden

Ein Programm, wenn wir es verstehen als eine ästhetische Doktrin oder eine ganze Sammlung davon, der das Werk sich zu unterwerfen hat, teilt die Bedeutungen in zwei Kategorien ein: erstens diejenigen Bedeutungen, die den Regeln des Programms entsprechen; zweitens diejenigen Bedeutungen, die den Regeln des Programms nicht entsprechen. Das Programm, verstanden als Sammlung ästhetischer Regeln, ist stets qualifizierend und stets normativ. Für gewöhnlich werden Werke der zweiten Kategorie von den Urhebern des Programms als ungenügend oder unrichtig empfunden. Der Denkfehler wird offensichtlich: Literatur ist nicht Ausdruck einer Bedeutung – kann dies nicht sein – sondern nur Ausdruck des Willens dazu. Ein Programm verstanden als künstlerisches Regelwerk ist also intrinsisch zum Scheitern verurteilt, selbst wenn sich die Literaten peinlichst genau diesen Richtlinien unterwerfen würden: Der Text würde ihnen doch nicht gehorchen. Der Strom der Bedeutungen lässt sich nicht nach Belieben kanalisieren.


Unangesprochen geblieben ist bislang die Signifikantenebene, auf welcher die Gestalt sich als Form äussert. In der Dimension des Wortmaterials ist Literatur also Ausdruck des Willens zur Form. Hier scheint nun der Idee des Programms Tür und Tor geöffnet: Sicherlich ist die Form kontrollierbarer als ihr Inhalt! Ein Programm, das nur freie Lyrik als gute Lyrik postuliert, ist ein Programm, nach dem die Autoren sich sehr wohl erfolgreich richten können! Der programmatische Optimismus ist fehl am Platz. Ziel eines ästhetischen Programms ist möglichst gute Kunst. Dies liegt in seinem intrinsisch wertenden Charakter (den oben angeführten zwei Kategorien) begründet. Wenn die Idee einer Einteilung der Kunst in «gute Kunst» und «schlechte Kunst» auch mit Grund sauer aufstossen mag, muss sie hier doch angeführt werden: Sie erfasst ganz das Wesen des Programms. Nun ist es im Diskurs der «guten» und «schlechten» Kunst für gewöhnlich eine Eigenschaft des «guten» Kunstwerks, eine möglichst ideale Übereinstimmung von Form und Bedeutung zu erreichen (Kongruenz der beiden Ausprägungen der Gestalt). Es zeigt sich der Fehler programmatisch-normativen Denkens: Wenn sich die Bedeutung nicht kontrollieren lässt, darf ihre formale Gestalt nicht starr bestimmt sein – muss sie doch mit den mäandrierenden Bedeutungen Schritt halten können. Ein inhaltliches Programm ist also zum Scheitern verurteilt; ein formales Programm hingegen dazu, ungenügende Werke hervorzubringen, was nicht Sinn eines Programms sein kann. Der Grund liegt in beiden Fällen im Missverständnis, Literatur sei Ausdruck der Gestalt, obschon sie nur Ausdruck des Willens dazu ist. Wenn die Gestalt sich also nicht programmatisch regeln lässt, so müsste der Versuch beim Willen ansetzen. Die einzigen zwei formulierbaren programmatischen Bestimmungen wären dann sei gewillt zur Gestalt oder aber sei nicht gewillt zur Gestalt. Die Befolgung der zweiten Regel würde in Nichtproduktion resultieren; Erstere liesse sich einfach umformulieren zu produziere Literatur – vielleicht das einzig sinnvolle Programm, das sich denken lässt.

Reinreden

Sebastien Fanzun

43


delirium N°01 wurde mit Editorial und theoretischer Reflexion programmatisch in einen schwitterschen Rahmen gefasst. Wider den Mythos des kreativen Dichtens beklagt sich der Initiator des neuen Literatur-Kritik-Magazins über den hartnäckigen Geniegestus, mit dem die Dichterinnen und Dichter ihre wortfeilschende Schwerstarbeit dekorierten. Kommt aus dem Busch, ihr Reimdiebe und Zeilenstrolche und lasst uns eure Werke mit Anspruch und Mass im Schweisse eurer Angesichter verhandeln! So in etwa liest sich Schwitters Kampfansage, welche sich an die Lyrikerinnen und Lyriker richtet. Wo frei draufsteht, ist nicht unbedingt Freiheit drin, mahnt Schwitter an, und nur wer die Form kenne, könne sich Freiräume in den Zeilen schaffen. Zwei Momente in diesem Programm möchte ich näher betrachten und ich fahre dafür nun zunächst mit einem Kritikmoment im theoretischen Essay, welche delirium N°01 beschloss, fort. Ein zweites Moment betrifft sodann das Editorial, mit welchem ich diese kurze Replik schliessen möchte. Wenden wir uns also dem dritten Teil von Schwitters Antwort auf die Frage nach dem Gedicht als Formsache oder Geschmacksfrage zu. In diesem dritten Abschnitt wendet sich der Autor der Literaturrezeption und -produktion zu. Während es der Leserin oder dem Leser stets um Erstere, also den Gefallen am Gedicht, gehe, müsse es der Autorin oder dem Autor um die Form des Gedichts zu tun sein. Ohne das schwittersche Programm als Ganzes fassen zu können, möchte ich an dieser Stelle auf die Instanz der Kritik verweisen, um welche die Beziehung zwischen Produktion und Rezeption meines Erachtens ergänzt werden muss. Daraus ergibt sich eine Triangulation, in welcher der Kritikerin als Lesende wie auch Schreibende eine kontroverse Rolle zukommt. Als Leserin wird ihre Aufmerksamkeit vor allem durch die Lust am Text gelenkt. Auch als Kritikerin richtet sie, ausgehend von diesem ersten Vertrauensmoment, ein wohlwollendes Auge auf das Geschriebene – dies belegen nicht zuletzt die Kritiken der Erstausgabe von delirium. Folgt man sodann Schwitters Argumentation, so muss dieser unmittelbare Zuspruch gerade in Bezug auf das freie Gedicht gelten. Im Zusammenhang mit der freien Dichtung ergibt sich für die Kritikerin nämlich ein prekäres Spiel mit ebendieser Freiheit oder «Selbstgesetzgebung», wie Schwitter schreibt. Erst diese Selbstgesetzgebung, basierend auf eingehender Reflexion des Dichtens selbst, legitimiere die Autorin bzw. den Autor in der Wahl der freien Form. Die Reflexion charakterisiert Schwitter als eine alternierende Bewegung von tastendem und formendem Zugriff auf das Gedicht, wobei die tastende Hand der Form in ihrem Werden nachspüre und korrigierend eingreife, während die andere Hand im Abgleich den Stoff gestalte. Das Wohlwollen der Kritikerin bedeutet nun zunächst, diesen beiden Händen, welche in der freien Dichtung am Werk waren, nachzuspüren. Die Reflexion der Kritikerin liegt jedoch nicht in diesem Oszillieren zwischen Form und Stoff, sondern darin, sich im Nachtasten der dichterischen Gestaltungskraft der eigenen Hände bewusst zu werden. In der Vergewisserung der kritischen Tätigkeit muss nach diesem ersten Moment des Nachtastens wenigstens eine Hand freigemacht werden, um die Freiheit in der Selbstbestimmung der Dichterin oder des Dichters zu fassen. Und dieses Frei-Machen wiederum bedeutet die Autonomie der Kritikerin – denn erst mit freier Hand kann sie die Autonomie des Gegenstandes fassen. Der anfänglich wohlwollende Zuspruch wird ja nicht selten bereut und eben darum ist man als Kritikerin gut beraten, sich wenigstens eine Hand frei zu halten. Der autonome, kritische Zugriff auf das freie Gedicht kann jedoch nur bedeuten, die Selbstgesetzgebung der Dichterin bzw. des Dichters zu massregeln. Den Abgrund dieser 44

Reinreden

Replik auf delirium N°01


Anmassung zu überspringen, ist eine Aufgabe, welche dem Mut der Dichtung in nichts nachsteht, denn sie erfordert das Vertrauen in das Gedicht ebenso wie in das sekundäre Nachtasten und -fragen. Um diesen kritischen Zugriff zu üben, braucht es Schreibräume. Es gilt in diesen Räumen jedoch auch, die Position der Kritik zu verhandeln, die wohl durchaus näher beschrieben werden kann, als dass sie lediglich zwischen Literaturproduktion und -rezeption liegt. Als Letztes möchte ich nun zum Anfang des Heftes springen und also den Bogen zurückspannen: von der Übung und Arbeit am Gedicht und der Reflexion des Kritisierens zum Editorial und seinem Imperativ der Produktivität. Die Kontinuität liegt dabei in der Dekonstruktion des Mythos Kreativität, welcher im Editorial jedoch in einen anderen Zusammenhang gestellt wird, als jener der Gesetze von Literaturproduktion und -rezeption. Denn delirium N°01 schreit mit seinem ersten Atemzug nach neuen Bedingungen derselben – zappelt jedoch, wie mir scheint, noch an der Nabelschnur der Mutterstadt.

Reinreden

...ihr hässlicher Bru de r [...] zieht durch [...] Häuserschluchten.. . Es geht mir um den «Geist der Limmatstadt», der wohl in vielen Belangen jene klebrige Behäbigkeit an den Tag legt, gegen die Schwitter im Editorial anschreibt. Nun hat sich aber ein ganz anderes Charakteristikum ebendieses Zürcher Geistes durch die Hintertüre eingeschlichen. Denn nicht nur die Behäbigkeit, sondern vor allem ihr hässlicher Bruder – der Wille zur Arbeit – zieht durch die hiesigen Häuserschluchten. Er wütet in Gottsnamen mit unermüdlicher Produktions- und Konsumationskraft und beseelt das wirtschaftliche wie auch das kulturelle Leben unserer Kleinstadt. Der überproduktive Leerlauf, welcher die Zürcher Kunst- und Kulturszene prägt, ist wohl nicht zu stoppen, indem man einfach einen Gang tiefer schaltet – inhaltlich wäre damit aber zumeist schon viel getan. Mit nacktem Zeigefinger gen Norden zu zeigen, schickt sich also ganz und gar nicht, wenn unsere einzige Antwort auf die Berliner Sexyness jene der Produktivität ist. Vielmehr müssen wir uns ernsthaft fragen, wie wir den Mythos der Kreativität hier in Zürich neu besetzen können. Revolutionäre Überlegungen sind in Zürich nur schwer zu finden, aber mutige haben seit Jahrzehnten Bestand. Darum, ja, erhalten, erweitern und erschaffen wir literarische Orte der Auseinandersetzung mit «dem Mut zum Urteil und dem Mut zum Widerruf» – aber bitte ohne Profilierungsneurosen und Marktgeschrei! Dolores Zoe

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Veranstaltungen

Veranstaltungen

13. April: Sag es, wie du willst! Offene literarische Bühne Café Zähringer, 20 Uhr 04. Mai: Tot oder lesend! Podiumsdiskussion zu Kritik im delirium mit Dolores Zoe, Dalibor Suchanek und Hannes Sättele (Moderation: Fabian Schwitter) Café Zähringer, 20 Uhr 16. Mai: exercise : experiment «Drei Geometrieaufgaben» von Cédric Weidmann zu Klavierimprovisationen von Ernst Jetzer Gemeinschaftsraum Siedlung Tiefenbrunnen, Seefeldstrasse 199, 19.30 Uhr Barbetrieb Infos: www.delirium-magazin.ch

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Redaktion: Fabian Schwitter Laura Basso Samuel Prenner

Kontakt: www.delirium-magazin.ch info@delirium-magazin.ch facebook.com/Magazindelirium

Layout: Mauro Schönenberger www.captns.ch Illustration: Leonie Eichin leonie.eichin@gmail.com Fotografie Cover: Pius Bacher www.captns.ch

Beitragende: Andreas Fischer Cédric Weidmann Dalibor Suchanek Dolores Zoe Elsbeth Zweifel Fabian Schwitter Hannes Sättele Sebastien Fanzun © 2014 delirium

Auflage: 500

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