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Eroberungswahn, das «Obensein» zur Metapher für Sieger und Beherrscher. Aus dem Thron der Götter wurde der «Playground» englischer Touristen. Schliesslich – da war der SAC vorne dabei – gerieten die Berge gar zum Hort moralischer Erziehung. Rudolf Campell, SAC-Zentralpräsident meinte um 1940: «Die Treue der Seilkameraden auf das Leben übertragen (...) wird (man) sicherlich ein zuverlässiger, aufrechter und brauchbarer Mensch.» Kein Wunder forderte die Zür- cher Jugendbewegung in den 1980ern: «Nieder mit den Alpen – freie Sicht aufs Mittelmeer!» Fallen sollte das Bollwerk des Bürgertums. Und heute kämpfen Schützer und Nutzer um ihre Berge, ihr Bergbild. Berge lassen sich vermessen, kartieren und in nackte Zahlen fassen. Doch spannend ist eigentlich: Jeder Mensch nimmt die Berge anders wahr, je nach Epoche und Hintergrund. Kurz: Wie wir auf die Berge schauen, sagt viel mehr über uns als über die Berge aus. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen viel Vergnügen beim Blick auf Ihre Berge! Alexandra Rozkosny, Chefredaktorin «Die Alpen»

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editorial Der SAC feiert 150 Jahre. Ein stolzes Alter, aber kein Grund altmodisch zu sein. Eigenwillig und ein wenig kantig vielleicht – wie unser Titelbild, aber trotzdem offen und neugierig. Diesen SAC feiern auch «Die Alpen». Sie halten eine Ausgabe in den Händen, die anders da- herkommt. Es ist die erste von vier Sondernummern im Jahr 2013. Diese erscheinen statt der üblichen Ausga- ben im April, Juni, August und Oktober. In dieser Ausga- be werden Sie keinen einzigen Tourentipp finden, keine Sicherheits- und auch keine Buchtipps. Für einmal ser- vieren wir Ihnen nicht das übliche, vielseitige Mittags- buffet, sondern ein aufwendiges Abendmenü, das einem einzigen Thema gewidmet ist. Die erste Sonderausgabe gilt dem Blick auf die Berge. Eine Tour ist doch nur halb so schön, wenn die Weitsicht fehlt. Es ist der Blick in die Tiefe, der berauscht und die besten Vorlagen fürs Kopfkino liefert. Schon 1795 war die dänische Dichterin Friederike Brun von den Bergen ergriffen «und wagte keinen Blick zu verwenden, damit das Zauberbild nicht plötzlich wie eine Seifenblase vor mir zerplatze!». Ihre scheue Romantik wurde bald abgelöst vom


Inhalt

risiko ein lebenselement

s.30 mehr mensch als faktor

editorial

s.3 hut ab helm auf!

recht auf risiko

s.34 s.20

glĂźcksbringer

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riskieren, um das leben zu gewinnen

s.18

s.26

s.42


vor dem recht ist risiko nicht gleich risiko

s.50

kein meter ohne kontrolle

kleines label, grosse revolution

s.62

harte wände russische seele

agenda

impressum

s.54

s.58

s.80

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s.69


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b a t u h ! f u a m l he * Jeroen van Rooijen, 42, ausgebildeter Modedesigner, ist Stilexperte der Neuen Zürcher Zeitung und von Radio SRF 3. Er lebt in Zürich und in der Ostschweiz.


nr.1

Der Bühlkopf im Weisstannental sieht aus wie ein Drachenkopf. Als junges Mädchen zog er mich magisch an. Eines Tages machte ich mich allein auf den Weg. Nach langem Aufstieg trennte mich nur noch eine steile Geröllhalde vom Maul des Drachen. Immer wieder rutschte der feuchte Schiefer unter meinen Turnschuhen weg. Oben angekommen, war es der Schrei eines Adlers, der mich auf den Boden zurückholte: Plötzlich verstand ich, wie gefährlich meine Kraxeltour war. Heil, aber mit zittrigen Knien kam ich im Tal an.»

Kletterhelme! Du gütiger Himmel - wie sehen die überhaupt aus? Schnell googeln – aha! Das sind ja eine Art robuster Velohelme mit Halterungen für Stirnlampen. Und es gibt sie heute in allen Farben und Formen: von signalgelb über ein sattes Orange bis hin zu Grasgrün und Kobaltblau. Sie wiegen zwiNoëmi Nadelmann, Sopranistin schen 300 und 500 Gramm und sind in der Regel aus Kunststoff. Zwischen 60 und 300 Franken kann man für einen Kletterhelm ausgeben – dafür bekommt man in meiner Welt bestenfalls eine Schildmütze oder ein halbes Paar Schuhe mittelprächtiger Kategorie. Ich lerne: Die Outdoorausrüster sind nicht so unverschämt wie die Lifestylemarken und schröpfen Auf den ersten Blick recht vernünftig wirkt der ihre Klientel nur behutsam. Good to know. „Toxo“ von Salewa ... doch halt! – die Marketingabteilung hat ein viel zu grosses Logo auf die Stirn gepflastert. Dabei ist es doch total out, Logos zu ! e tragen? Würde ich nur gegen Bezahlung tun. Dasm rhel e t ! t l selbe Problem haben der sonst recht hübsche „Skye Kl mme i H r walker“ und der Vertrauen weckende „Tripod“ von tige Mammut – too much branding! Ganz aus dem Ruder Du gü gelaufen ist das Thema auch beim „Salamander“ von Grivel oder dem fast schon wie die Karikatur Der an die Macht von Labels gewöhnte Modefuzzi eines Kletterhelms aussehenden „Ultralight“ von stöbert aber erst einmal nicht den Preisen entlang, Edelrid. Damit ist man ja Calimero! sondern sondiert die Strahlkraft der Marken. Petzl, Mammut, Salewa, Stubai, Camp, Black Diamond, Keine rechte Freude machen auch der „Fuse Light“ Edelrid – für Kraxelfreunde muss das klingen wie von Stubai und der „Galeos“ von Rock Empire – sie Prada, Gucci, Dior und Chanel. Dann mal ab in die sehen in ihrer sachlichen Art zu sehr nach BauarbeiTiefe der Materie! ter- oder Tunnelbauerhelm aus. Bleiben also nur die relativ teuren Erzeugnisse von Giro im Rennen – der Rein optisch hätte ich etwas Hemmungen, mir den „Fuse II“ mutet in mattem Schwarz recht schick an, grasgrünen (bzw. für Damen hellblauen) „Armour“ doch halt, was sieht des Sperbers Auge? Das sind von Camp aufzusetzen. Das die Lüftungsschlitze gar keine Kletter-, sondern Skihelme! Da hat mich umrankende Farbmuster erinnert zu sehr an die in der Händler in die Irre geführt. Dann also zurück den siebziger Jahren populäre südamerikanische zu Mammut, wo mit dem mässig modischen, aber Zimmerpflanze Monstera Deliziosa mit ihren löchri- auch nur mässig teuren „El Cap“ ein annehmbarer gen Blättern. Das Modell „Speed“ desselben Herstel- Kompromiss bereitsteht. Sogar ohne Logo. Alterlers fällt ebenso durch: Das Dekor suggeriert mehr nativ dazu käme auch der „Half Dome“ von Black Lüftungsloch als Kopfschutz. Die optische Prüfung Diamond in die Kränze - der könnte zum „beau nicht bestanden hat auch der martialisch geformte de glacier“ taugen. Wobei ich mir ja vorher in die „Vector“ von Black Diamond – sieht sehr danach aus, Hosen machen und damit den ganzen Aufwand bei als sehne man sich heimlich nach einem Lamborg- der Evaluation des elegantesten Kletterhelms ruihini Aventador. nieren würde.

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Dass man zum Klettern im Fels einen Helm tragen sollte, ist common sense. Schliesslich bringt einem die schönste Tour nichts, wenn einem ein Brocken auf den Kopf fällt bzw. selbiger unsanft auf den Fels aufschlägt. Also: Helm auf! Doch welchen? Jeroen van Rooijen* hat zwar viel Erfahrungen mit allen Abgründen des Stils und den Steilwänden der Ästhetik, doch war er nie klettern – seine Gene empfehlen ihm eher das flache Land. Dennoch hat er sich - auf Einladung des Schweizerischen Alpen Clubs – mit der Ästhetik des Kletterhelms befasst und wagt eine (nicht ganz ernst gemeinte) Kaufempfehlung.


o k i ris s n e b e l n i e t n e m e l e werner 2 2 | «die Alpen» | Ausgabe Oktober 2013

Mit der Reduktionsmethode revolutionierte Werner Munter in den 1990er-Jahren die Lawinenkunde. Sein Ansatz war ehrlich und neu: Nullrisiko gibt es in den Bergen nicht. Dank seiner Lehre sind Bergführer und Tourenleiter heute keine Sicherheitsgaranten sondern Risikomanager und Unsicherheitsexperten. Bernard van Dierendonck

munter, bergführer und erfinder der modernen lawinenkunde, über risiko und wildnis


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Unterwegs auf der Schneeschuhtour bei Arolla nahe Werner Munters Zweitwohnsitz stehen wir vor einem etwas steileren Hang, der 72-jährige Bergfüher hält inne... Werner Munter: Der unscheinbare Hang vor uns ist 35 Grad steil und die Gefahrenstufe ist erheblich. „Die Alpen“: Aber der Spalt im Schnee - die Schneedecke hat doch keine Spannung mehr? Stimmt, aber es ist sehr warm. Ein kleines Stück Nassschnee genügt, um uns gegen Bäume und Noch eine Zahl: Wieso ist die Drei Ihre Lieblingszahl? Felsen zu schlagen. Wenn wir EntlastungsabDie Drei ist in vielen Religionen von grosser stände machen, dann sind wir im grünen Bereich. Bedeutung. Auch im Christentum spricht man von der heiligen Dreifaltigkeit. Dies kommt nicht Die Reduktionsmethode in der Anwendung. Nach von ungefähr. Denn der Mensch kann sich in der dem heiklen Stück wartet Werner Munter auf einer Regel drei bis fünf Sachen gut merken. Sobald Bank vor einer uralten Holzhütte der Alp «Pra Gra». man noch mehr Faktoren einbezieht, dann ist ein Problem schnell nicht mehr entscheidbar Zuerst etwas Persönliches: Wieso tragen Sie Ihre das gilt für den Alltag ebenso, wie für eine SkiHaare so lang? tour. (lacht) Einmal schaute mich ein Russe, ein ehe- «3x3» oder «Das Drei-Säulen-System» beim profesmaliger Coiffeur, lange an und fragte: Schnei- sionellen Risikomanagement - die Drei ist der rote dest du die Haare selbst? Er hatte recht. Ich mag Faden Ihrer Lawinenkunde. Warum? es nicht, wenn andere an mir herumschnipseln. Zuerst ging ich von fünf entscheidenden FaktoUnd den Bart trage ich seit dem Bergführerkurs. ren aus, die das Lawinenrisiko beeinflussen. Aber Mich jeden Morgen um 3 Uhr mit kaltem Wasser die Rechnung, bei der das Gefahrenpotential, die zu rasieren, dass war nicht meine Sache. Gefahrenstufe durch die Faktoren Hangneigung, Exposition, Gruppengrösse und vorhandene Spuren geteilt wird, ist anspruchsvoll. Sie bezeichne ! t ich als «professionelle Reduktionsmethode». s epas g t f Nichtprofis empfehle ich heute die «Golh u e A ng e n i dene Regel». Sie sagt: bei der Gefahrenstufe 3 aw . t h (erheblich) braucht es drei ReduktionsfaktoBei L nic das ren, davon ein erstklassiger; bei Stufe 2 deren zwei und bei gering reicht dann noch ein FakSie sagen von sich selbst, Sie leben Ihr siebtes Leben. tor. Dies sollte für alle verständlich sein! Wer Welche Ereignisse beendeten die anderen sechs? nicht auf Drei zählen kann, dessen Intelligenz Alle werden ich nicht aufzählen. Nummer Eins reicht wohl kaum für das Überleben in der Bergverlor ich in der Nesthorn Nordwand, als ich wildnis (lacht nicht). Doch bevor wir selber eine einen 300 Meter Sturz knapp überlebte. Nummer Dummheit begehen, sollten wir besser aufbreZwei beendete ein Sturz in der Wand der Ebechen. Denn die Sonne heizt den kleinen Steilhang nenfluh. Ein gebrochener Rücken war die Folge. weiter auf, bei durchnässter Schneedecke gleiten Einmal glitt mein Auto rückwärts auf einer Eisauch Fischmäuler plötzlich ab. schicht über den Strassenrand hinaus und blieb über dem Abgrund an einem Felsblock hängen. Wir wandern mit der strahlend weissen Pigne Ganz vorsichtig schaffte ich es, aus dem leicht d‘Arolla und dem wuchtigen Mont Collon vor Augen schwankenden Wagen zu steigen und mich an zurück zum Apartmenthaus. Im Büro seiner Zweitdürren Ästen wieder zur Strasse hochzuziehen. wohnung stapeln sich Bücher und Zeitschriften auf Das war Leben Nummer Sechs. Mehr als sieben den Arbeitstischen. Zettel dienen zur Sammlung von stehen mir nicht zu. Gedanken, bevor sie fein säuberlich in ein speziell


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für ihn gefertigtes Notizbuch übertragen werden. Über 6000 Seiten Bleistiftnotizen «Härte F, Stiftdurchmesser 0.5 mm» existieren bereits. Mit Gästen diskutiert Werner Munter am liebsten am Kaminfeuer bei einem Glas Roten. Es war auch dort, wo wir am Abend zuvor über das Risiko und die Berge gesprochen hatten. Die vierte Sonderausgabe unserer Zeitschrift widmet sich dem Risiko. Welche Bedeutung hat Risiko für Sie? Das Risiko ist ein Lebenselixir. Ohne wäre das Leben langweilig. In einem 100% sicheren Milieu kann sich der Mensch nicht entwickeln. Stell dir ein Kind vor, welches zum ersten Mal mit einem Fahrrad auf der Strasse fährt. Die Regeln wurden ihm beigebracht, aber schlussendlich braucht es die Freiheit, um das alles selber auszuprobieren. Das ist wichtig, aber auch riskant.

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Kann man nur aus Fehlern lernen? Aufgepasst! Bei Lawinen geht das nicht. Diese verzeihen selten Fehler. Am Anfang meiner Laufbahn als Lawinenforscher wollte ich die Grenzen selber erfahren. Dabei hat es mich einige Male erwischt, ich wurde bis zum Brustkasten verschüttet. Was ich dabei lernte: Diese Experimente sind lebensgefährlich und liefern praktisch null Informationen. Was war der Auslöser, diese Thematik anders anzugehen? Seit meinem Studium der Philosophie und Geschichte ist die Literatur über wissenschaftliche Themen meine Leidenschaft. Dabei stiess ich auf eine Publikation des französischen Philosophen Edgar Morin. Er schrieb: Es geht nicht darum, die Unsicherheit zu vermeiden. Wir müssen lernen, mit der Unsicherheit zu leben. Das war‘s! Auch beim Bergsteigen müssen wir die Unsicherheit akzeptieren. Das Risiko wird nie gleich Null sein. Aber mit Spielregeln können wir es auf ein sozial akzeptiertes Niveau reduzieren. Eine Leitzahl fand ich beim Verband Deutscher Sicherheitsingenieure. Sie rechnen, dass auf 100‘000 unsichere Handlungen ein Todesopfer in


Kauf genommen wird. Dies wurde meine Grundlage. In der Schweiz unternehmen rund 200‘000 Skitourenfahrer pro Winter eine Million Touren, damit nehmen wir 10 Lawinenopfer in Kauf. Das klingt makaber! Als ich dies den Fachkollegen vorstellte, war die Empörung gross. Jeder Tote sei doch einer zuviel, ereiferte man sich. Berufskollegen störten sich an der Aussage, dass auch wir Führer auf Touren bewusst ein Risiko eingehen. Doch wer die Sicherheit garantiert, bei dem istjeder Unfall ein Fehler! Heute richtet sich der Schweizerische Bergführerverband nach der Reduktionsmethode. Wer sich an die Regeln hält, das Risiko also kalkuliert, der steht – selbst wenn etwas passieren würde – von Rechtens wegen besser da.

nr.2

Ich arbeitete 1960 für den Walliser Tourismus und war dabei einmal mit dem Schweizer Rettungsflieger und Pionier des Gletscherflugs Hermann Geiger unterwegs. Wir landeten mit dem Flugzeug auf einem Gletscher in der Nähe von Montana. Bei der Landung war der Untergrund noch pickelhart. Während unseres Aufenthalts wurde die Schnee- und Eisschicht aber immer weicher. Geiger musste sich mit dem Flugzeug beim Start quasi abrollen lassen. Ich werde dieses gekonnte Manöver nie vergessen.

welt f

e remd n ste l l e u z r a d

Grosse Fortschritte wurde bei der Entwicklung der Sicherheitsausrüstung wie den digitalen LVS oder den ABS-Rucksäcken erzielt. Welche Auswirkung hat dies auf das Risiko? Auch wenn die Bedienung der LVS immer einfacher wird, beobachte ich an Lawinenkursen, dass man sich statt mit der Lawinenprävention die meiste Zeit mit der LVS-Schulung beschäftigt. Wir gehen doch nicht in die Berge, um gerettet zu werden?! Letzthin hörte ich von einer Bergführerausbildung in Österreich. Der Klassenlehrer liess die Aspiranten die Sicherheit des unter ihnen liegenden Hanges beurteilen. Alle waren der Meinung, dass der Hang sicher sei. Anschliessend sammelte der Lehrer die LVS ein - keiner getraute sich in den Hang...

Auch in diesem Winter waren Sie wieder 150 Tagen mit Schneeschuhen unterwegs. Was zieht Sie in die Berge? In meinen Sturm und Drang Zeiten, als ich alle Nordwände der Berner Alpen durchstieg, da war mir lange nicht klar, warum ich das mache. War es der Ehrgeiz oder gar eine Modesache? Nein, was mich bis heute suche, ist die Wildnis, das Unberührte. Weder Spuren noch Haken weisen dort den Weg. Das ist unglaublich schön! Die Wildnis, das ist wie das Risiko ein Lebenselement. Ohne diese Elemente verkümmert die Seele. Dank dem Risikomanagement sind wir im Stand, das Lawinenrisiko zu beurteilen. Nicht mit einem Bauchgefühl, denn das hat jeder Affe auch. Nein, mit Denken. Man hat schon versucht, mich mit meinen langen Haaren als weltfremden Wurzelsepp darzustellen. Das ist bis heute misslungen - denn das Denken ist neben dem Bergsteigen meine zweite Leidenschaft.

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Sind seit Einführung der Reduktionsmethode die Joseph S. Blatter, FIFA-Präsident Anzahl Lawinenopfer rückläufig? Laut den Statistiken des Schweizerischen Institutes für Schnee- und Lawinenforschung sind im geführten Tourenbereich drei Mal weniger Todesopfer zu beklagen als vorher. Im ungeführten Bereich blieb die Zahl Todesopfer gleich. Ich rate darum einer Gruppe von Kolleginnen und Kollegen vor der Tour zu einer Vereinbarung: Jede und Sie sind 72 Jahre alt und pensioniert. Aber nach jeder erklärt sich für seine eigene Sicherheit ver- Ruhestand sieht es bei Ihnen nicht aus. Was sind antwortlich. Wer dies nicht kann, soll zuhause Ihre Pläne? bleiben. Im Moment setzte ich mich mit einem mathematisch-statistischen Problem auseinander. Die Entwicklung eines Kartenspiels, welches nach chon s t den Regeln des «Lawinen 3x3» funktioniert. Es n a eine m Man h t i ist hoffentlich für die Saison 2013/14 vollendet. m mich , t s l Ich bin überzeugt, dass man dank einem spanh a c ren a versu a H nenden Spiel die Reduktionsmethode praktisch p p n else z lange r u im Schlaf beherrschen lernt. nW


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, n e r e i k s i r s a d um u z n e b e l n e n n i w e g Ein Erlebnisbericht aus den Bergen Für die einen ist die Wanderung ums Matterhorn schon aufregend genug, andere klettern an möglichst hohen oder abgelegenen Bergen. Aber allen ist wohl eines gemeinsam: die Suche nach einem intensiven Lebensgefühl. Christine Kopp


Auf einmal wurde es uns mit aller Deutlichkeit bewusst: Wir waren allein. Zwei Menschen an einem abgeschiedenen Berg in der Wildnis Alaskas, fern der Zivilisation, im unermesslich grossen Massiv der Wrangell Mountains. Das kleine Flugzeug, pilotiert von unserem Freund Paul Claus, war erst laut, dann immer leiser knatternd am immerhellen alaskischen Sommerhimmel verschwunden.

Intensives Leben

Wie soll ich heute erklären, warum wir uns damals, vor bald 20 Jahren, nur zu zweit an einem abgeschiedenen Berg in Alaska absetzen und uns damit einem doch recht grossen Risiko aussetzen liessen? Zweifelsohne ging es uns nicht nur darum, später vielleicht sagen zu können, wir hätten den Gipfel erreicht. Natürlich war das unsere Hoffnung, als wir aufbrachen. Doch sicherlich hatten wir uns auch bewusst in diese Situation begeben, weil wir auf der Suche nach jenem unübertreffbaren Gefühl des Lebendigseins waren, das bei vielen BergsteiAufstieg aus der Angst gern wahre Suchterscheinungen auslöst. Es sind Zum Glück bleibt für die Angst nicht lange Zeit. jene Momente, in denen wir aufgehen in der Aktion Wir beginnen sofort mit dem Aufstieg zum ers- und uns dabei in unserer ganzen Verletzlichkeit und ten und zugleich letzten Zwischenlager auf 2800 Vergänglichkeit spüren. Meter Höhe. Es ist eine einzige Schinderei: Die Sonne brennt unerbittlich auf uns nieder, während wir denen n i , mit Ski und schwerem Rucksack und mit dem mit e g a s a ste r Fü n f T e Zelt, Kocher und Esswaren beladenen ExpeditionsD m all zu schlitten fluchend den steilen, spaltenreichen Hang in Unf e ö n nte . k n überwinden. Er gewährt den Zugang zu einer erste r füh klassigen Aussichtsloge. Hier stellen wir unser kleines Zelt auf, mit dicken Schneemauern vor dem berüchtigten Wind geschützt, der einen in Alaskas Wir möchten also möglichst viele Sekunden, MinuBergen plötzlich überraschen kann. ten und Stunden des Gleichgewichts und jener besonderen Harmonie mit uns selbst erleben, die wir Wir beginnen sogleich, Schnee zu schmelzen und danach in den Alltag hinuntertragen können. Jene so Wasser zu kochen. Nacht wird es nicht werden: erfüllten, klaren Momente, in der wir uns ohne jede Es ist Frühsommer, und auf diesen Breitengraden Ablenkung entlang einer schmalen Grenze bewewird es in dieser Jahreszeit nie richtig dunkel. Der gen. An dieser Schnittstelle ist das Leben unglaubBlick geht hinaus über die unermessliche, Dutzende lich intensiv, verdichtet; Körper, Kopf und Seele sind Kilometer lange und breite Eisfläche des Nabesna- im Einklang, konzentriert auf diesen einen, von Gletschers; irgendwo, an seinem Ende leben ein paar höchster Wachheit und Geistesgegenwart begleiteMenschen, doch das ist zu Fuss mindestens eine ten Moment. Und so war es auch damals am Mount Woche entfernt. In mir kehrt Ruhe ein. Meine Angst Blackburn: Ich erlebte und lebte, mit jeder Faser weicht einem intensiven Lebensgefühl . meines Wesens, bewusst den Augenblick.

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Nun waren wir also auf uns gestellt – für fünf Tage, so hatten wir es mit Paul abgemacht. Fünf Tage, in denen ein Unfall zum Desaster führen könnte. Lähmende Angst: Was, wenn einer im Eislabyrinth des stolzen Mount Blackburn (4996 m) in eine Gletscherspalte stürzen würde? Was, wenn einer eine schwere Verletzung – etwa eine Verbrennung beim Kochen oder einen offenen Bruch bei einem Absturz – erleiden oder gar an einem Höhenödem erkranken sollte? Wir hätten keine Möglichkeit gehabt, Funkkontakt herzustellen und Rettung anzufordern; wir wären auf Gedeih und Verderb einem hoffentlich gütig gesinnten Schicksal ausgeliefert gewesen. Und das alles – ganz freiwillig.


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Magische Nacht Nach einer stürmischen Nacht brechen wir erst am späten Nachmittag des nächsten Tages von unserem Lager auf – Richtung Gipfel. „It’s a long, long way“, hatte Paul uns beim Abschied gewarnt, da er spürte, dass wir die eigentlich mehrtägige Tour auf lediglich zwei Etappen aufteilen wollten. Seine Worte, es sei ein langer Weg, begleiteten mich dreizehn Stunden lang, dreizehn endlose Stunden, in denen wir rund 2200 Höhenmeter zum Gipfel aufund gleich wieder abstiegen. Nach den ersten anstrengenden und steilen tausend Höhenmetern gelangen wir auf den breiten Kamm, der leicht, aber spaltendurchsetzt zum Gipfel führt. Um elf Uhr nachts geht die Sonne unter, doch dunkel wird es nicht, nur dämmrig: unter uns die Rauchfahne des Mount Wrangell, eines vergletscherten Vulkans, die in Schatten gehüllte Täler und der gleissende Firn der Gletscher. Eine magische Stimmung ... Um Mitternacht stehen wir auf dem Gipfel. Müde, durstig und mit der Gewissheit, dass ein langer Abstieg bevorsteht. Meine Gedanken sind etwas wirr, ein Zitat Reinhard Karls schiesst mir durch den Kopf: „Der Gipfel: Man ist oben, kaputt, der schwierige Abstieg wartet. Im Tal: Das erste Bier raubt einem nach den vielen Anstrengungen die Besinnung. – Aber solche Momente der Ruhe, das Gefühl es geschafft zu haben, oben zu sein, man spürt den Hauch des Glücks, für einen Moment. Der Wunsch ist erfüllt, aber er ist noch nicht Vergangenheit.“

Mein Vater ist Jagd- und Fischereiaufseher im Tessin. Ich war als Kind viel mit ihm in den Bergen unterwegs, sicher und gut ausgerüstet, versteht sich. In der Pubertät wurde dann der Ausgang wichtiger. Heute gehe ich wieder mit meinem Mann in die Alpen, ebenfalls mit den richtigen Schuhen und Kleidern. Die Berge geben mir ein Gefühl der Freiheit, aber ich suche nicht die Gefahr. Christa Rigozzi, Moderatorin und Entertainerin

Um fünf Uhr morgens sind wir beim Zelt zurück; die Sonne, die um zwei Uhr nachts wieder aufgegangen ist, steht hoch am Himmel, ein Sturm zieht auf. Kurze Rast, heisse Getränke – gegessen haben wir seit dem Vortag, getrunken seit Mitternacht nichts mehr. Dann bauen wir das Zelt ab und fahren gerade noch rechtzeitig zum flachen Gletscher tausend Meter weiter unten ab, wo Paul uns abgesetzt hatte und nun wieder abholen sollte. Heftiges Schneetreiben und Windböen setzen ein: Sie halten uns schliesslich drei volle Tage im Zelt fest, bis – an einem wunderschönen Morgen – das vertraute Knattern der kleinen, roten Maschine unseres Freundes die Rückkehr in die Wärme, ins Grün und zu lieben Menschen ankündigt. Ich erinnere mich gut: Erst dort, in einer Atmosphäre der Geborgenheit und Sicherheit, kam in mir endlich das Glücksgefühl, die Freude und nicht

zuletzt der Stolz über die gelungene Leistung – die Besteigung des Mount Blackburn, dazu noch in einer sehr schnellen Zeit – auf: Angst, Anspannung, eingebildete und tatsächlich erlebte Gefahren – alles war plötzlich weggewischt, zurück blieb das tiefe Gefühl, ein paar Tage hart an der Grenze zwischen Gefahr und Glück gelebt zu haben und dadurch das Leben nun umso intensiver auskosten zu können. Die erfolgreiche Tour zum Blackburn gehört heute, viele Jahre später, zu meinen stärksten Erinnerungen – und zu den unvergesslichen Erfahrungen, die mich fürs Leben geprägt haben.

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Glück an der Grenze


t h c re f u a ? o k i s i r

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Wie weit erlaubt das Recht dem Einzelnen, Risiken einzugehen? Sei es im Sport oder ganz allgemein in der Lebensführung? Die Antwort schwankt zwischen zwei Polen. Jörg Paul Müller, Prof. Dr.iur., Hinterkappelen Em. Ordinarius für Staats- und Völkerrecht an der Universität Bern


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Einerseits steht jedem Menschen das Recht zu, sich individuell zu entfalten und sein Dasein so zu gestalten, wie er will. Dazu gehört die Freiheit, zu arbeiten oder sich zu unterhalten, sich in der Natur zu bewegen, sich mit anderen einzulassen oder darauf zu verzichten und eben: Risiken einzugehen oder diese sorgsam zu vermeiden. Einige dieser Tätigkeiten sind durch besondere Grund- oder Menschenrechte geschützt, so die Freiheit, seine Meinung zu äussern, eine Religion auszuüben, am Wirtschaftsleben teilzunehmen oder Eigentum zu besitzen. Das hier im Vordergrund stehende Grundrecht der Persönlichen Freiheit ist sehr weit gefasst. Zu ihm gehört auch die Freiheit, in die Berge zu gehen, zu wandern, zu klettern oder anderen Bergsport zu Rettungsaufwendungen verursacht, spricht der betreiben, sei es nun allein, zu zweit oder in Grup- Grundsatz der Verhältnismässigkeit für angemespen. sene Beschränkungen oder Bedingungen (etwa in Bezug auf die Ausrüstung oder die Begleitung durch Keine Freiheit ohne Schranke kundige Führer). Bevor Verbote ausgesprochen werAnderseits ist keine Freiheit schrankenlos garan- den, sind jedoch nach dem Grundsatz der Verhälttiert. Die Freiheit des einen findet ihre Schranke an nismässigkeit andere Massnahmen zu erwägen, wie der Freiheit des anderen. So ist es ja auch auf der etwa das Anbringen von Griffen oder AuffangnetStrasse: Die Freiheit, nach eigenem Stil und Gut- zen an häufig frequentierten und unfallträchtigen dünken Auto zu fahren, findet ihre Grenze an der Stellen. Der Staat setzt ja auch gegen andere Arten Freiheit der anderen, die gleichen Strassen zu benüt- möglicher Selbstgefährdungen Gegengewichte: zen, aber auch beim Schutz der Allgemeinheit vor etwa durch Sicherheitsvorkehren an Brücken, wo übermässigen Lasten, wie sie für Polizei und Sani- häufig Suizid begangen wird, oder im Bereich des tät entstehen, wenn diese einen Unfall bewältigen sogenannten Erwachsenenschutzes, wo Massnahmüssen, und später bei medizinischen Massnah- men vorgesehen sind gegenüber Menschen, die ohne men usw. Auch ein Bergsteiger darf sich seinen Weg Fürsorge einer genügenden Selbstsorge nicht (mehr) nicht erzwingen, wenn andere in der gleichen Route fähig sind und der Selbstzerstörung oder Verwahrloklettern, und er soll nicht leichtsinnig Gefahren ein- sung anheimfallen würden. gehen im Vertrauen, dass er ja jederzeit den Rettungshelikopter anfordern kann. inen e s e In einer liberalen Staatsordnung darf wegen der d n iheit e r möglichen Belastung der Allgemeinheit die indin ke a F a r ie h D Sc viduelle Freiheit aber nicht gänzlich unterbunden ihre ndea t e s e d d werden; die Rücksicht auf die Belange des Gemeinfin iheit e r F wesens können aber zu Einschränkungen führen, die der ren. auch rechtlicher Art sein können. Massgeblich ist dabei der Grundsatz der Verhältnismässigkeit: das individuelle Bedürfnis nach Freiheit ist gegenüber der Wahrscheinlichkeit und Intensität einer mögli- Nun wird aber vom heutigen Staat ganz allgemein chen Belastung der Allgemeinheit vernünftig abzu- erwartet, dass er die Menschen vor Gefahren warnt wägen. und Vorkehren trifft, sodass diese nicht eintreffen. Dazu darf er auch Verhaltensanweisungen geben, Schutz des Menschen vor sich selbst z.B. für den Umgang mit AIDS. Anderseits kann der Nun kommt noch ein Drittes hinzu: Wer andere zu Einzelne nicht gezwungen werden, sich risikoarm Risiken einlädt, auffordert oder verführt, der trägt zu verhalten, solange nur er selbst betroffen ist und eine Verantwortung. Diese kann sich in vermögens- andere nicht mitgefährdet oder belastet werden. rechtlichen oder strafrechtlichen Folgen äussern. Auch Zwang zu einer gesunden Lebensweise, zum Wie weit darf oder muss der Mensch vor sich selbst Verzicht aufs Rauchen etwa oder zum Masshalten geschützt werden? Muss ein Eiskletterer vor der beim Essen lässt unsere Rechtsordnung nicht zu. Es hohen Gefahr an einer bestimmten Stelle der Route ist also bei der staatlichen Gefahren - Prävention zu gewarnt werden? Wo ein waghalsiges Unternehmen unterscheiden zwischen risikomindernden Hinweierfahrungsgemäss immer wieder erhebliche sen und Aufklärungen einerseits und andererseits


dem realen Zwang für Einzelne, auf Risiken im eigenen Leben zu verzichten. Ein bekannter und lange politisch heiss diskutierter Fall war die Pflicht, sich zur Sicherheit im Auto anzuschnallen. Die Rechtsauffassung hatte sich damals durchgesetzt, dass Verletzungen von Leib und Leben nie nur eine Sache des einzelnen Autofahrenden sein können, sondern dass immer auch die Allgemeinheit als mitbetroffen gedacht werden muss, etwa mit Rücksicht auf die allenfalls nötig werdenden polizeilichen und medizinischen Massnahmen. So will auch die Aufschrift auf den Zigarettenpackungen über das Todesrisiko des Rauchens den Leuten nicht einfach den Spass verderben, sondern ihnen die Risiken des Rauchens für sie selbst bewusst machen und auch auf die Unannehmlichkeiten hinweisen, die der Umgebung durch das Rauchen entstehen können. Die moderne Präventionsaufgabe des Staates darf aber nie allein darauf gerichtet sein, den Menschen einen richtigen Umgang mit sich selbst und mit ihrer Gesundheit aufzuzwingen. Solange die Ausübung persönlicher Freiheit durch urteilsfähige Menschen nicht andere schädigt oder die Allgemeinheit ungebührlich belastet, ist sie rechtlich nicht beschränkbar. Auch für die dem Staat aufgetragene Risikoabwehr gilt nämlich der Verhältnismässigkeitsgrundsatz: Die staatliche Massnahme muss angemessen sein gegenüber der Intensität einer Gefahr, gegenüber der Wahrscheinlichkeit ihres Eintritts und schliesslich der vorausgesehenen Wirkung der Prävention.

on ngen v u z t e l Ve r nnen ö k n e nd Leb e Leib u e Sach n i e r u nie n elnen z n i e s de en sein d n e r h Au tofa

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Selbstschädigung ist erlaubt Ein weiteres Problem liegt in der Frage der erlaubten Selbstschädigung oder Zerstörung. Es ist in unserer Rechtsordnung nicht verboten, sich selbst eine Körperverletzung beizufügen oder gar Selbstmord zu begehen. Anderseits ist eine Person zu Hilfe verpflichtet, wenn sie eine andere in nicht gezielt gesuchter Lebensgefahr sieht und die Hilfe zumutbar ist. Konkret heisst dies: ich bin nicht verpflichtet, den Selbstmörder von seiner geplanten Tat abzuhalten; wenn ich aber wahrnehme, dass er in

einer Notsituation ist, in der er Hilfe braucht, bin ich zum Einschreiten verpflichtet. Auf die staatliche Risikoabwehr angewandt, bedeutet dies: Der Staat kann oder darf Prävention zur Lebenserhaltung und zum Schutz vor Schädigung betreiben. Er kann und soll dies tun, indem er über Risiken aufklärt und allenfalls sogar Verbote erlässt. (Etwa das Verbot, einen nur scheinbar genügend stark zugefrorenen See zu betreten). Damit wird die Gefahr einer Schädigung von Menschen durch falsche Einschätzung des Risikos generell vermindert. Will dagegen ein Einzelner sich auf einem in privatem Eigentum liegenden gefrorenen Wasserfall beweisen, dass er ihn trotz des Risikos eines Unfalls ersteigen will und kann, darf er daran rechtlich nicht gehindert werden. Eine ähnliche Differenzierung findet sich heute sogar im Wirtschaftsrecht: Banken sind in der Regel Subjekte des Privatrechts, das heisst, sie sind eigenverantwortlich auch im Eingehen von Risiken. Nach den Bankencrashs von 2007 wurde dem Staat denn auch vorgeworfen, zu wenige Regulierungen aufgestellt zu haben, um solche Abstürze zu verhindern. Die Bankengesetzgebung wurde nun verschärft. Ähnliche Reaktionen des Staats sind aus unerwarteten Naturereignissen, wie Erdbeben, Stürmen, Epidemien bekannt oder bei sozialen Schädigungen, bei Häufung von Delinquenz, Korruption oder um sich greifender Kriminalität. Sind solche Ereignisse eingetreten, taucht regelmässig auch die Frage auf: Hat der Staat genügend gegen die Gefahr vorgekehrt? Kurz: Die Abgrenzung von Freiheit und rechtlicher Verantwortung gegenüber den Mitmenschen und der Allgemeinheit, aber auch die Aufgabe des Staates darüber hinaus, Prävention gegen mögliche Risiken der Lebensführung oder einzelner Aktivitäten zu betreiben, ohne die individuelle Freiheit unverhältnismässig zu belasten, ist eine permanente Aufgabe der Politik, der Gesetzgebung, und letztlich der Demokratie. In der Freiheit der Berge trifft den Menschen eine besondere Verantwortung. Im Genuss der Ungebundenheit im Gebirge darf man die möglichen Folgen eigener Abenteuer für die Mitmenschen nicht vergessen. Je mehr er dies tut, umso eher darf man von einer Freiheit zum Risiko sprechen.


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In seiner körperlichen Topform unterwegs zu sein ist toll und minimiert Risiken. Die meisten wissen, wie sie das trainieren müssen. Dabei geht oft vergessen, dass auch die Psyche Training braucht. Nur in geistiger Topform fällen wir Entscheide ruhig und überlegt. Wie es gelingt, dorthin zu gelangen, ist allerdings meist unklar. Markus Müller und Thomas Theurillat

«+eins» – neues Training für die Psyche


Material fürs +eins Band Ob das +eins-Band nun eine Bandschlinge oder irgendein anderes Bändel ist, ist egal; es soll mit einer Skala von 1 - 10 beschriftbar sein und deswegen mind. 25 cm lang sowie leicht knotbar sein.

Kursleiter: «Du hast gerade von einer Situation erzählt, in der du in einem optimalen Zustand zum Entscheiden warst. Was gehen dir dann für Gedanken durch den Kopf?» David: «Ich denke dann oft: nichts überstürzen, mal hingehen und gut schauen. Weder positiv ja das passt - noch negativ – uiiuii, das ist sch…. Die Gedanken sind dann gut fassbar und nicht irgendwie wirr».

Fact Sheet Persönliche Erfahrungen, fünf Coachingfragen für unterwegs und drei Auswertungsfragen im Kartenformat (www. sac-cas.ch/ausbildungskurse/alpin-merkblaetter.html > +eins).

Risiko Mensch

Risiken in den Bergen kommen von der Umwelt, der Ausrüstung oder dem Menschen selber. Gerade bei Skitouren, wo laufend entschieden werden muss, ob man noch weiter geht oder nicht, spielt der «Faktor Mensch» eine entscheidende Rolle. Beim «Und wie fühlst du dich dann, wenn du in einer guten «+eins »-Trainingskonzept geht es aber nicht um die Form bist im Umgang mit dem Lawinenthema?» Gruppengrösse noch darum, dass alle korrekt ausVielleicht so verhaltene Freude ob der Auf- gerüstet sind. Es geht um die „mentale Fitness“ des gabe. Aber auch ein bisschen angespannt. Aber oder der Entscheidungsträger/s. Genauso wie die nicht so fest, weil ich zuversichtlich bin, vor physische Topform auf Skitouren individuell ist, ist Ort die richtige Lösung zu finden. Ja, eine gute es auch die psychische. Mischung von Lockerheit und Spannung.» Auf einer Skala von 1 bis 10 nennen wir die persönliche Bestform den 10er-Zustand. Wenn nun die 1 das „Und was machst du dann typischerweise? Wie bist Gegenteil, also den psychischen „Worst Case“ dardu unterwegs in deiner Bestform? Was machst du stellt, liegt zwischen 1 und 10 das ganze Spektrum in der Pause“? der möglichen „Fitness“ im Thema Faktor Mensch. „Hmm, schwierig zu sagen. Weiss ich nicht so recht. Also ich gehe sicher ein gutes Tempo. Ich Standortbestimmung hetze nicht. Ich kann immer noch die Umge- Gemeinsam mit einer Person die +eins bereits kennt, bung anschauen. In den Pausen mach ich nichts und anhand einer Liste von Fragen wird ergründet, Besonderes“. was vom persönlichen Faktor Mensch jetzt bereits klar ist: Wie hat jemand seinen 10er- und 1erMit weiteren Fragen aus dem Instructors Manual Zustand auf Skitouren erlebt? Wie fühlt es sich an, zum 1er-Zustand und zu möglichen Strategien für souverän unterwegs zu sein? Welche Gedanken tauein Verschieben in Richtung Bestform, wird die chen dann auf und womit ist man typischerweise Standortbestimmung vervollständigt. Die wichti- beschäftigt? Solche Fragen helfen zu reflektiegen Stichworte werden von David in ein Fact Sheet ren, wie man selbst draussen tickt. Danach werden übertragen. Der untere, abtrennbare Teil davon soll mit ähnlichen Fragen bereits bekannte Strategien helfen, im Gelände die bisherigen Erfahrungen und gesucht, die eine erfolgreiche Verschiebung in RichErfolge zu konkretisieren. tung 10er-Zustand ermöglicht haben.

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Als passionierter Skitourengeher und Leiter in der Sektion nimmt David regelmässig an Lawinenkursen teil. Dabei trainiert er den Umgang mit der Lawinengefahr mittels Karten, LVS und Ausgrabtechniken. Doch wie er wann welche Entscheidung trifft, darüber weiss er wenig. Die Ausschreibung „Souverän am Berg“ hat ihn darum angesprochen. Er ist gespannt auf den Austausch über das unsichtbare Thema Mensch. Am ersten Abend findet die Standortbestimmung statt. Der Kursleiter fragt David, was er über seine menschliche Bestform, seinen „10er-Zustand“ bereits weiss und erlebt hat:


+eins - die Methode Ziele: -seinen optimalen Zustand zum Entscheiden kennen lernen -Strategien lernen, um in Richtung seines optimalen Zustands zu kommen -unterwegs seinen Zustand erkennen und einen +eins-Schritt machen

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Vorgehen: In der Standortbestimmung werden eigene Erfahrungen zum Faktor Mensch aufgearbeitet und eine Skala der persönlichen „Fitness“, um Entscheide zu treffen, wird geeicht. Diese dient als Grundlage für das Training unterwegs. Draussen bewertet der Anwender regelmässig seinen momentanen Zustand und markiert den Wert mit einem Knoten im +einsBand. Oft ist bereits das Erkennen des eigenen Zustands eine wichtige Verbesserung. Anschliessend werden anhand von fünf Fragen Ressourcen und Strategien aufgespürt und benutzt, um die aktuelle Situation bestmöglich zu gestalten. In der Hosentasche getragen, erinnert das Band mit dem Knoten daran, im Entscheidungsprozess auch weiterhin den eigenen Zustand zu beachten und mit einem +eins-Schritt zu pflegen. Wenn das gelingt, kann mit höherer Wahrscheinlichkeit ein stimmiger Entscheid gefällt werden, und man ist wesentlich entspannter unterwegs.


Fünfte Frage: Was ändert sich schon in Richtung +eins? Unterwegs „Einiges. Ich merke grad, dass alleine die Möglichkeit Der nächste Morgen ist schattig und kalt. Direkt jetzt anzurufen schon viel Stress wegnimmt“. vor der Hütte geht es los. Die Skala des persönlichen Zustandes ist als +eins-Band in der Hosentasche mit Jeder Erfolg zur Selbstwirksamkeit ist wichtig. dabei. Ähnlich wie die Verhältnisse und das Gelände Damit wachsen die Kompetenz und der Mut für Verwird auch das dritte Standbein des 3x3, der Mensch, änderungsschritte. Beides braucht es, um auch in mit +eins laufend neu beurteilt. Als Benutzer stellt schwierigen Situationen den Umgang mit sich selbst man sich regelmässig die Frage, wo auf der persönli- und dem Umfeld aktiv gestalten zu wollen. Der Knochen Skala zwischen 1 und 10 man sich gerade befin- ten soll daran erinnern, dass es in der ganzen Lawidet. Diesen Wert markiert man mit einem Knoten nenbeurteilung ein entscheidendes Detail gibt: den und stellt sich selbst fünf vorgegebene Fragen. Zustand des abwägenden Menschen. Die Fragen helDavid schätzt seinen momentanen Zustand ein. fen eigene Ressourcen zu nutzen, um einen Schritt in Richtung 10 zu machen. Am Ende des Tages kann Erste Frage: Wo bin ich jetzt auf meinem Band zwi- mit drei weiteren Fragen erforscht werden, was schen 1 und 10? Neues zu den erfolgreichen Strategien klar wurde. David: „Ich mache den Knoten bei drei. Seit ges- So wächst das Wissen über den eigenen optimalen tern Abend weiss ich, dass meine beiden Kinder Zustand im Umgang mit dem Lawinenthema weiter. mit Grippe im Bett liegen. Meine Frau hat beide Hände voll zu tun und ich bin hier am Skitouren- Stark sein im Kopf braucht viel Training machen. Das stresst mich.“ Nach der Tour bespricht die Gruppe anhand dreier Auswertungsfragen auf dem Fact Sheet erfolgreiZweite Frage: Was ist anders als bei 1? che Strategien und neue Erkenntnisse zum eigenen „Ich habe schon Lust die Tour mitzumachen. Es Faktor Mensch. David meint dazu: „Gelernt habe ist ein super Tag. Aber gleichzeitig denke ich an ich, dass +eins-Schritte manchmal Mut brauchen. zuhause und hab ein schlechtes Gewissen“. In Zukunft möchte ich meine Strategie ansprechen. Ich merke dann schon, ob das jetzt geht oder für die Bei der Arbeit mit Skalen wie es das +eins-Band ist, Gruppe zu mühsam ist“. wird erstaunlich selten die 1 gewählt. Die Frage nach Ein Campus Board macht stark in den Armen. Das dem momentanen Unterschied zu 1 erzeugt deshalb +eins-Band stärkt Kopf und Bauchgefühl. Beide oft gewisse Erleichterung. Die Erkenntnis - ich habe Trainingsgeräte erfordern Motivation und Hartnäja schon Schlimmeres gemeistert - wirkt bestärkend. ckigkeit. Bei beiden muss man selber ran und kann nur beschränkt von der Erfahrung anderer profitieDritte Frage: Was ist anders, wenn ich bei +eins bin? ren. „Hm, bei 4...wüsste ich vielleicht, dass es den Das +eins-Band hilft, die persönliche Bestform beim Kindern besser geht und meine Frau klarkommt“. Entscheiden auf Skitouren zu versinnbildlichen und zu trainieren. Also den Zustand, in dem alles perVierte Frage: Was mache ich jetzt, um den +eins- sönliche Wissen und Können in optimales Verhalten Schritt zu schaffen? umgesetzt werden kann. Es unterstützt den Erfah„Ja... ich kann mir sagen, dass es schon gut rungsaufbau über die eigene menschliche Bestform kommt, es ist sicher besser heute… ich könnte und mögliche Strategien, um diese zu erreichen. auch nochmals anrufen. Aber ich kann euch ja Nebenbei wird man vielleicht doch mehr Mensch als nicht hier draussen warten lassen“. Faktor.

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Man einigt sich, dass auch telefonieren durchaus möglich ist. David wird nochmals reingehen, seine Frau anrufen und dann nachkommen. Ein freier Kopf ist für gute Entscheide wichtig. Wer dafür die Verantwortung trägt, hat immer das Recht oder vielleicht sogar die Pflicht, einen +eins-Schritt zu machen. Auch dann, wenn dieser zunächst mit Unannehmlichkeiten verbunden ist.


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r o v m e d t s i t h c e r t h c i n o k i s i r h c i e l g o k i is rabsolute und

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Warum sind Klettern und Speedflying vor dem Recht nicht dasselbe? Die Schweizer Gesetzgebung unterscheidet heute zwischen absoluten und relativen Wagnissen. Zum Glück für Bergsteiger. Claude Chatelain

relative wagnisse


Wer eine gefährliche Sportart ausübt oder einem waghalsigen Hobby frönt, ist über die herkömmliche Unfallversicherung nicht mehr genügend versichert. Die Fachwelt spricht von Wagnissen. Dazu gehören Motocrossrennen, wettkampfmässige Rollbrettabfahrten oder Speedflying. Zumindest der Laie würde wohl auch Klettern in dieser Kategorie vermuten. Irrtum: Wohl ist auch Klettern ein Wagnis, aber nur ein relatives. Die anderen genannten Aktivitäten sind dagegen absolute Wagnisse. Der Unterschied: Wer bei einem absoluten Wagnis verunfallt, muss mit der Hälfte der von der Versicherungsgesellschaft geschuldeten Geldleistung Vorlieb nehmen. Und bei besonders schweren Fällen wird man überhaupt nicht entschädigt. Hingegen der Bergsteiger muss beim relativen Wagnis bei der obligatorischen Unfallversicherung nur dann mit einer Kürzung der Geldleistung um 50 Prozent rechnen, wenn er die üblichen Regeln oder Vorsichtsgebote in schwerwiegender Weise missachtet. Wer also beim Bergsteigen nur mangelhaft ausgerüstet ist, müsste mit einer Reduktion der Geldleistung rechnen. Das gleiche gilt für Kletterer mit fehlendem Erfahrungsausweis. Auch Schneesportaktivitäten abseits markierter Pisten oder Gleitschirmfliegen bei sehr ungünstigen Windbedingungen sind relative Wagnisse mit den entsprechenden finanziellen Konsequenzen.

Nun gibt es tatsächlich Möglichkeiten, solche Risiken zu versichern, obschon es eigentlich dem Versicherungsgedanken widerspricht, Grobfahrlässigkeit zu versichern. So bieten die privaten Versicherungsgesellschaften die so genannte UVG-Differenzdeckung an. Hier hat der Arbeitgeber die Möglichkeit, die Versicherung „Ergänzung zur obligatorischen Unfallversicherung“ beziehungsweise die eben genannte „UVG-Differenzdeckung“ zu beantragen. „Die Mobiliar verzichtet bei der Differenzdeckung auf das Recht, Leistungen wegen Grobfahrlässigkeit zu kürzen“, heisst es beim genossenschaftlich organisierten Sachversicherer mit Sitz in Bern. „Werden in der obligatorischen Unfallversicherung Leistungskürzungen oder Leistungsverweigerungen wegen Grobfahrlässigkeit oder Wagnis vorgenommen, bezahlt die Mobiliar die betreffenden Leistungen in dem Ausmass der vom Versicherer der obligatorischen Unfallversicherung vorgenommenen Kürzung oder Verweigerung.

r ahrene f r e n u als ie ohne d t s i n i p Al ste gering ung, d l i b s u ra Klet te , nseilen A e n h o n schuhe s i n n e mit T en en Hos z r u k und

– In der vierten Auflage des Fachbuches „Bundesgesetz über die Unfallversicherung / Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Sozialversicherungsrecht“ haben die Autoren Alexandra Rumo-Jungo und André Pierre Holzer konkrete Beispiele aus der Pra- Bei der Suva gibt es diese Deckung nicht, da sie xis aufgeführt. laut Gesetz keine Zusatzversicherungen anbieten darf. Zur Erinnerung: Der Markt der Unfallversiche– Ein relatives Wagnis begeht, wer – auch als durch- rungen ist in der Schweiz zweigeteilt: Auf der einen trnierter und sehr gut ausgebildeter Bergsteiger – Seite die halbstaatliche Suva; auf der anderen die den Abstieg vom Tiritsch Mir im Hindukuschgebirge privaten Versicherungsgesellschaften. Wobei das in einem Geländeabschnitt, der den Schwierigkeits- Gesetz vorschreibt, welche Branchen sich bei der grad II aufweist, ohne Anseilen bewältigen will. Suva und welche sich bei einer privaten Versicherungsgesellschaft versichern müssen. So genannte – Ein relatives Wagnis begeht, wer die „Aiguille de Suva-Betriebe haben keine andere Wahl, als die Mitla Mule“ des Mont Salève (Schwierigkeitsgrad II, z. arbeiter beim Teilmonopolisten versichern zu lassen. T. III) als unerfahrener Alpinist ohne die geringste Es sind diese vorab unfallgefährdete Berufe in Bau Kletterausbildung, ohne Anseilen, mit Tennisschu- und Industrie. Die Mobiliar wie auch die Basler Verhen und kurzen Hosen besteigt; die Tatsache dass sicherungen bestätigen jedoch, dass bei ihnen auch dasselbe Unternehmen unter denselben Umständen Suva-Betriebe die UVG-Differenzdeckung abschliesschon mehrmals ohne Zwischenfälle verlief, ändert sen können. nichts an dessen Charakter.

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t

– Ein relatives Wagnis begeht, wer bei sehr ungünstgen Wetterbedingungen mit Regen, Schnee, Nebel oder Stürme durch das Whymper-Couloir die „Aiguille Verte“ im Montblanc-Massiv besteigen will.


Bei der Basler haben knapp die Hälfte der UVGKunden eine UVG-Ergänzungsversicherung abgeschlossen. Und davon haben 80 Prozent die Differenzdeckung versichert, erklärt Firmensprecher Amos Winteler. Bei der Mobiliar hingegen wird die UVG-Differenzdeckung laut Sprecher Jürg Thalmann „eher selten“ abgeschlossen.

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Die Prämie für die Differenzdeckung variert nach Betriebsart und Höhe der Lohnsumme. Die Mobiliar gibt ein Beispiel: Für einen Detailhändler in der Sportartikelbranche mit einer Lohnsumme von 200‘000 Franken beträgt die Jahresprämie 46 Franken – pro Firma wohlverstanden, nicht pro Person. Ein anderes Beispiel von der Basler Versicherungen: Bei einer Firma mit 10 Mitarbeitern, also einer Lohnsumme von rund 700‘000 Franken, liegt der Prämiensatz bei zirka 0.2 Promille. Somit beläuft sich die Jahresprämie für die Firma bei rund 140 Franken. „Das kann aber auch mehr oder weniger sein, je nach Betriebsart und dem damit zu versicherndem Risiko. Grundsätzlich kann man aber sagen, ist diese Deckung recht günstig“, meint Amos Winteler. Günstig ist diese Prämie vor allem deshalb, weil konkrete Kürzungsfälle bei Bergsteigern eher selten sind, wie Oliver Biefer von der Suva bestätigt. Nach wie vor Gültigkeit habe der wegweisende Bundesgerichtsentscheid BGE 97 V 86 aus dem Jahr 1971. Die Bundesrichter kamen damals zum Schluss, dass die Besteigung der Aiguille de la Mule des Mont Salève an sich kein Wagnis darstelle. Und doch sahen sich die Richter dazu veranlasst, den Schwierigkeitsgrad II und zum Teil III aufgrund der fehlenden Kletterausbildung und Erfahrung sowie der schlechten Ausrüstung als Wagnis einzustufen. Dieser Fall, bei welchem ein französischer Staatsbürger im August 1966 am Mont Salève tödlich verunfallte, diente auch den oben genannten Autoren Alexandra RumoJungo und André Pierre Holzer als Paradebeispiel.


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s k c ü l g r e g n i r b Sechs bekannte schweizer Berggänger sprechen über Ihren persönlichen Bezug zum Glück in den Bergen.


nr.4

stephan siegrist Bergführer und Organisator von Himalaja Expeditionen. Er bestieg unter anderem fünf Mal den Mount Everest.

Meine grösste alpine Dummheit habe ich an einem sonnigen Julimorgen 2006 begangen, als ich mit einem Freund von Samedan aus zum Piz Ot aufstieg, eine leichte Bergwanderung. Den Wetterbericht hatten wir nicht konsultiert. Als wir fast auf dem Gipfel angelangt waren, zogen dichte Wolken auf. Zuoberst kam der Regen, und dann Blitz und Donner. Wir sind ziemlich rasch ins Tal hinunter gelaufen, kleinlaut in die Rhätische Bahn gestiegen – und haben was gelernt fürs Leben. Alex Capus, Schriftsteller

Im spanischen Klettergebiet El Chorro bauen wir zu zweit eine Highline auf, ein hoch über dem Boden aufgespanntes Balancierseil. Mein Kollege steigt Bei den objektiven Gefahren, wie ich sie am Torre über mir mit Klemmen zum Seil auf. Da löst sich Egger und in El Chorro erlebt habe, frage ich mich plötzlich ein grosser Felsbrocken. Ich springe zur schon, ob das einfach nur Glück war! Seite. Doch der Brocken prallt an der Wand ab und trifft mich hart am Kopf. Im örtlichen Spital nähen sie die Wunde und entlassen mich. Ich fliege zurück in die Schweiz. Zuhause ist mir immer wieder stchwindlig. Der Hausarzt röntgt und diagnostiziert einen Schädelbruch - Ich hätte auf der Stelle tot sein können. Mit Schrecken denke ich zurück an den Heimflug und den Druckausgleich im Flugzeug.

Bergführerin und Abenteurerin

1999, nach der Eigernordwand-Besteigung für das Schweizer Fernsehen, überreichten mir meine Eltern diese Halskette. Das Schmuckstück, ein winziger Pickel und ein Seil, hatte mein Vater beim Goldschmied im Dorf extra anfertigen lassen. Mein Vater ist inzwischen verstorben und die Kette ist der einOhne meine in Palladium eingravierte Glücksgöt- zige Luxusartikel, den ich je von ihm geschenkt ting Fortuna, welche ich an einem Lederbändel um bekommen habe. Luxus bedeutete ihm nichts und den Hals trage, gehe ich auf keine grosse Bergtour. ebenso wenig war er ein Mann der grossen Worte. Das Metall ist relativ schwer. Auf der Haut, fühlt Seine Anerkennung konnte er nur zeigen und nicht sich die Fortuna je nach Wetter warm oder kalt an. aussprechen. Diese ist mir auch darum so wichtig, Sie ist ein Teil von mir. weil darin so viel Unausgesprochenes steckt. Auch meine Frau Niki trägt ein solches Medaillon. Es sind Geschenke meines Stammgasts und Mäzens. Konkrete Erlebnisse, bei der mir diese Kette geholMit dem Mann der mit Edelmetallen handelt und fen hat, habe ich keine. Gerade in brenzligen Situmit seiner Frau bin ich seit 18 Jahren jeden Win- ationen denke ich nicht über Mystik nach. Dann ter vier Wochen auf Skitouren unterwegs. Einmal brauche ich meine volle Aufmerksamkeit, um ein bestiegen wir zusammen den Kilimanjaro. Lösung zu finden.

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Am Torre Egger in Patagonien klettert einer von uns an einem Block aus Schnee direkt über dem Standplatz. Plötzlich bricht der Block und stürzt auf uns Sichernde. Hätte diese Schneemasse auch nur etwas Eis enthalten - und das ist an Patagoniens Felsen keine Ausnahme - dann hätte uns dies glatt erschlagen. So kommen wir mit dem Schrecken und kaputten Sonnenbrillen davon.

evelyne binsack


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Der Glücksbringer gibt mir aber ein positives Grundgefühl, nur ungern ziehe ich ihn ab. Die Kette beschützt mich - dies hat bestimmt auch mit der elterlichen Sorge zur Tochter zu tun. Nun erinnere ich mich aber doch noch an ein Ereignis, in der mir ein Talisman beistand: 2007 starteten wir zu Dritt zu einem 1200 Kilometer langen Fussmarsch zum Südpol. Zusätzlich zur Halskette trug ich einen Rosenkranz. Meine Gotte hatte ihn mir zur ersten Kommunion geschenkt. Ich liess in mir vor dem Abflug in Punta Arenas segnen. Auf diesem Abenteuer geriet ich an meine Grenzen. Es war, als liefen meine inneren Batterien aus. An einem Punkt wollte ich nicht mehr ins Zelt kriechen, um mich auszuruhen, sondern noch so lange weiterlaufen, bis ich keinen Schritt mehr machen würde. Über Satellit telefonierte ich mit meiner Schwester und sagte ihr: «Er ist nahe.» Sie wusste, was ich meine und riet: «Es gibt eine universelle Energie, versuche diese anzuzapfen.» Eine erdrückend schwarze Präsenz, eine Art dunkle Wand machte mir Angst, lähmte meine Schritte. Mit autogenem Training wehrte ich mich. Da diese Bedrohnung von vorne rechts kam, zog ich den Rosenkranz ans rechte Handgelenk. Drei Tage trug ich ihn dort und aufs Mal bei einem Rast bemerkte ich: Der Rosenkranz war weg! Der Wind, die Bewegung hatten ihn von mir genommen. Meine Irritation war gross. Dann dachte ich: Cool! Jetzt habe ich zwar etwas von mir der Antarktis geopfert - aber nicht mich selbst. Und die schwarze Präsenz war überwunden. sich aber rasch wieder ändern. Was bleibt ist mein immer gleichbleibendes Ritual, mit dem ich mich auf einen schwierigen Boulder oder eine schwierige Kletterroute einstimme. Da ich eher ein langsamer Typ Mensch bin und nicht von einem Boulder zum nächsten hasten mag, lasse ich mir für diese Prozedur viel Zeit. Zuerst verteile ich Liquid Chalk - flüssiges Magnesia - auf meine Finger und die Handflächen. Der Alkohol verdunstet und kühlt die Haut. Danach tauche ich die Hände tief in den Magnesiabeutel und klopfe anschliessend das überschüssige Pulver wieProfiboulderer und Kletterer der ab. Noch in den Turnschuhen teste ich die Griffe des Boulders, reinige sie mit einer Bürste. Japanische Amulettbeutelchen gekauft in einem Wieder nehme ich Magnesia. Die Luft zirkuliert um Shintotempel, chinesische Glücksmünzen oder ein die Finger, die Haut darf weder zu feucht, noch zu afrikanisches Grigri - das ist ein winziges Täschchen trocken sein. Denn fehlt die Reibung, «si ça ne colle mit einer kleinen Koranseite drin - Glücksbringer pas», dann verpufft alle Kraft. haben mich immer begleitet. Sie sind Katalysatoren und je mehr man in sie hineinprojiziert desto stär- Es ist verrückt, aber die Fingerkuppen passen sich ker ist ihre Wirkung. Die Energie kommt aus unse- dem jeweiligen Felstyp an. Sanft wird die Hornhaut rem Inneren - darum glaube ich, dass es mit der Zeit beim Klettern im Sandstein von Fontainebleau, auch auch möglich ist, diesen Schutz sogar ohne Gegen- der neutrale Kalk gibt eine schöne Haut. Im Grastand zu erreichen. nit hingegen wird sie hart und zäh - denn dieses Gestein ist aggressiv. Momentan benutze ich keinen Talisman - das kann

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fred nicole


Ich setze mich auf die Bouldermatte. Ziehe die Kletterschuhe an und trockne die Hände wieder mit Magnesia - einen ganzen Block brauche ich davon pro Bouldertag - klatsche das übrige Pulver an den Hosenbeinen ab - eine Staubwolke steigt auf. Fokussieren. Magnesia. Abklopfen. Magnesia. Abklopfen... Konzentration. Meditation. Die Welle - plötzlich ist sie da. Haut, Griffe, Tritte, Reibung, Sloper, Leisten: Ob mir die Glücksbringer schon konkret geholfen explosiv und intensiv trägt sie mich durch den Fels. haben? Klar, was für eine Frage! Dank ihnen fühle ich mich ruhiger und beschützter. Und ich bin über sie mit Menschen verbunden, die mir Gutes wünschen.

Alpinautorin und -übersetzerin, leidenschaftliche Bergsteigerin

Auf meiner Wunschliste steht die Bonattiroute am Grand Capucin. Das Bergsteigen ist meine Passion: Ich bin über 100 Tage im Jahr unterwegs. Aber eine Extreme bin ich deshalb noch lange nicht. Der Vorstieg beschränkt sich meist auf den Klettergarten. Sonst überlasse ich die Führung gerne meinen Gefährtinnen und Gefährten. In den Rucksack kommt nur das Notwendigste. Dennoch: Fünfzig Gramm Glücksbringer gehören auf grossen Touren dazu! Am Skitouren- und am Kletterrucksack hängen je ein kleiner Plüschelefant. Zur Bonattiroute käme aber der Bär mit: Nach 15 Jahren am Hochtourenrucksack ist er der Erfahrenste! Die Elemente haben seinen Pelz zerzaust, die Äuglein sind fast verschwunden – vielleicht ist er etwas schneeblind ... Zur Verstärkung trage ich in den Bergen das Goldkettchen, das mir mein Freund geschenkt hat, und immer die gleichen Ohrringe. Talismane meiner Mutter, eine Kristallkugel meiner Tante und der Glaskäfer einer Freundin kommen in der Deckeltasche mit. Eine 46-jährige Frau mit einem Plüschtier am Rucksack? Da werden einige lächeln … Doch für mich ist das Bergsteigen schon ernsthaft genug. Abgesehen von vielen Freunden habe ich in den Bergen einen Bruder verloren. Natürlich plane ich die Touren auch als Nachsteigerin gewissenhaft und denke bei allen Entscheidungen mit; aber neben dem Rationalen braucht es für mich das Verspielte und das Emotionale.

Den verstorbenen Walter Bonatti, den Erstbegeher meiner Traumtour, kannte ich gut. In unserem letzten Gespräch redeten wir lange über seine Route am Capucin. Er sagte: «Du musst sie machen! Auch wenn du nicht mehr die Bedingungen antriffst wie wir, der Berg und das Ambiente sind dieselben – fantastisch!» Übrigens: Der visionäre Bergsteiger hatte auf grossen Touren einen Plüschbären mit dabei. Bestimmt gibt es im Universum geheimnisvolle Verbindungen zwischen Glücksbringer-Plüschbären und ihren Trägerinnen und Trägern ...

kari kobler Bergführer und Profialpinist

Mein erster Gzi Stein war ein Hammerding. Viele kleine Schafsäuglein verzierten den sonst tiefschwarzen, schwere Klunker. Diesen tibetanischen Glücksbringer trug ich 15 Jahre lang an einer Kette um den Hals - viel dachte ich mir nicht dabei. Respekt habe ich vor jeder Bergtour. Doch 2004, als wir zum K2, dem zweithöchsten Berg der Welt, aufbrechen, habe ich zum ersten Mal Angst. Bevor wir Pakistans Zivilisation verlassen, maile ich nach Hause: «Wie ein Schwert hängt die Furcht über mir.» Unterwegs bleibt das Angstgefühl. Sonst läuft alles nach Plan. Am Berg errichten wir die Lager, steigen zwischen ihnen auf und ab. Nur in einer Nacht baut eine Maus in meinem Bergschuh ein Nest.

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christine kopp


Der Gzi (auch Dzi) ist ein Achat. Die augenförmigen Ornamente sind wichtig. Ihre Anzahl ist nie höher als Neun, der heiligen Zahl im Buddhismus. Im Tibet und in Nepal werden Gzis teurer gehandelt als Gold. Es heisst, wenn man ein Haar um einen echten Stein wickelt und dieses anzündet, dann verbrenne das Haar nicht. Mein Gzi ist von roten Korallen und Metallringen eingefasst.

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Wieder liegt eine Horrornacht mit Angstzuständen hinter mir - werde ich verrückt? «Das hat alles nichts zu bedeuten», beruhige ich mich. Zu sechst brechen wir vom Lager IV zum Gipfel auf. Unsere Gruppe besteht aus erfahrenen Höhenbergsteigern. Immerhin ist meine körperliche Verfassung hervorragend. Ich übernehme die Spurarbeit. Plötzlich, auf halbem Weg zur berüchtigten «Bottle Neck»-Passage ist sie wieder da, diese lähmende Angst. Keinen Meter gehe ich mehr weiter! Keinen Meter! Etwas später kehren auch meine beiden Schweizer Kolle- Basejumper springen mit einem Fallschirm von fesgen um. Die verbleibenden zwei und ein Sherpa stei- ten Objekten wie Brücken, Türmen oder Felswänden. gen weiter. Mit einem Wingsuit - einem Flügelanzug - wird der freie Fall zum Flug. Erst zur Landung ziehen wir den Wieder im Lager IV diskutieren wir die Entscheidung Fallschirm. und blicken hinauf. Da passiert es: Direkt unter dem «Bottle Neck» verliert einer das Gleichgewicht und Vor dem Absprung ragt der Glücksbringer aus dem stürzt. Ich arbeite mich zu ihm hoch - er ist tot. Ärmel des Anzugs. Ich berühre ihn, denke an meine Eine Bergung ist undenkbar. Seine letzte Ruhestätte Freundin und weiss, dass sie jetzt mitfliegt. Innerist eine Terrasse auf 8000 Meter. lich verspreche ich ihr, alles perfekt zu machen: Der Erschüttert steigen wir ab. Im Basislager wartet Absprung wird elegant sein, die Flugroute kreativ seine Frau. Es ist furchtbar. und verspielt, das Auslösen des Fallschirms reibungslos, die Landung sanft und kontrolliert. Keinesfalls Kurz vor dem Lager fasse ich an meinen Gzi - er ist werde ich beim ersten Bodenkontakt in einen Kuhweg - verloren! fladen treten und ausrutschen! Die Tibeter sagen: So ein Stein schenkt dir ein Leben. Bevor ich mich überhaupt an den ersten Sprung von Mein neuer Gzi, habe ich meinem nepalesischen Bru- einer Autobahnbrücke bei St. Gallen wagte, hatte der Dorjee abgekauft. Sollte mir etwas zustossen, ich bereits doppelt so viele Fallschirmabsprünge aus dann gehört der Stein wieder ihm. dem Flugzeug hinter mir, wie empfohlen. Das hat sich bewährt: Bei keinem meiner 1300 Sprünge habe ich bis heute einen Kratzer abbekommen.

simon wandeler

Die Kette verstaue ich im Ärmel - sie darf beim Griff zum Auslöser des Schirms nicht stören. Ich bereite mich auf den Absprung vor, bewege meine Nase wie ein Vogel seinen Schnabel hin und her, schüttle mein «Federkleid» und springe in den Abgrund. Die Flügel geben Auftrieb. Mit 200 kmh rase ich den

Basejumper, ehemaliger Sport-, Eis- und Wett- Felswänden entlang, steure durch schmale Cankampfkletterer. yons, schlage kurz vor einem Felspfeiler einen Haken,

segle 20 Zentimeter über den Baumwipfeln, beobDie Armkette besteht aus roten Korallen, Achatstei- achte im Vorbeiflug Gämsen und Vögel. Die Atmung nen und fein gravierten Kupferringen. Meine Freun- ist gepresst. Ich jage meinen Schatten am Boden, din, hat sie mir von einem langem Surfaufenthalt in spiele mit dem Licht. Geht dann noch die Sonne Costa Rica mitgebracht. unter, so fliege ich ihr nach, mache Rollen in der Luft - das ist Freiheit!


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e t r a h , e d n ä w e h c s i s s u r e l e e s Risikobereitschaft und Risikowahrnehmung. Ein Einblick in die russische Alpinkultur. Von Robert Steiner


lüssel h c S e solut , ar der Der ab w s e g r fo l ihre s E davon e i s s t s da lles gu a s s a e gen, d und si e ausgin d r ü en w ausgeh bis zum n e g e . desw gaben s e l l a n letzte Der absolute Schlüssel ihres Erfolges war der, dass sie davon ausgingen, dass alles gut ausgehen würde und sie deswegen bis zum letzten alles gaben. Ans Umdrehen, ans Aufgeben dachten sie nicht. Immer, wenn ich mit Russen unterwegs war, hatte ich den Eindruck, einer Mission anzugehören, dazu geboren zu sein, genau dort hochzusteigen, und ich war mir sicher, dass nichts passieren konnte. Es war

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Es waren einmal ein paar Großväter, die Urlaub von Ehefrauen, Kindern und Enkelkindern nahmen und beschlossen, mit ihren Kameraden Bergsteigen zu gehen. Da sie immer noch ein bisschen Ehrgeiz und Mumm in den Knochen hatten, fiel ihre Wahl auf etwas Besonderes: Nicht die Watzmann Ostwand sollte es sein, sondern der schwierigste Berg der Erde, der K2, und zwar über eine neue Route, so extrem anspruchsvoll, dass selbst die besten Bergsteiger der Welt noch nicht daran gedacht hatten, dort hochzusteigen…. Was sich anhört wie ein Märchen oder eine allzu unglaubwürdige Hüttengeschichte, wurde am 21. und 22. August 2007 Realität. Pavel Shabalin aus Kirov, Ewgeni Vinogradski aus Ekaterinburg und Gleb Sokolov aus Nowosibirsk erreichen zusammen mit neun weiteren russischen Bergsteigern nach monatelangem Ringen über eine neue Route in der K2 Westwand den Gipfel – ohne Flaschensauerstoff. Shabalin wird während der Expedition Großvater, Sokolov bekommt sein zweites Enkelkind, Vinogradski ist ebenfalls Opa. Die „Expedition der Superopas“ erregt zu Recht Einiges an Aufsehen. So viele erfolgreiche Gipfelbesteiger an einer derart schwierigen Route gab es nicht nur selten, sondern überhaupt noch fast nie. Und das an einem Berg, den zu besteigen den Everest wie eine Wanderung aussehen lässt. Wie viele deutsche oder schweizer Großväter kennen Sie, die eine Erstbegehung am K2 hinter sich haben? Seit Ende der Neunziger Jahre erregen Bergsteiger russischer Herkunft immer wieder Aufmerksamkeit. Sei es die gewaltige Nordwand des Jannu, die K2 Westwand, die Alpensolos von Babanov oder die Erst- und Winterbegehungen des wohl erstaunlichsten Achttausenderbergsteigers der letzten Jahre, Denis Urubko. Daran schießen sich viele Fragen an. Warum sind es gerade die Russen, die solch schwierige Routen machen? Wie gehen sie mit dem Risiko um? Es ist ein schwieriges Unterfangen, sich dem Thema zu nähern. Statistiken und wissenschaftliche Literatur gibt es keine. Was bleibt, ist höchstens ein individueller, persönlicher Einblick. Seit mehr als 10 Jahren gehe ich mit Russen bergsteigen, habe mit ihnen biwakiert, gefeiert, gelitten. Einmal stürzten wir sogar zusammen ab, aber das Seil verhängte sich glücklicherweise, und wir leben heute noch. Auch ohne Zahlen ist es ziemlich sicher, dass in Russland viel weniger Leute Bergsteigen gehen als

beispielsweise in der Schweiz, der Alpinismus ist ein Randphänomen. Umso erstaunlicher ist es, dass es deutlich mehr leistungsstarke Alpinisten gibt, die extreme Winter- und Erstbegehungen am laufenden Band machen. Den Ruf, hart im Nehmen zu sein, haben die Russen also nicht umsonst. Meine erste Expedition mit Russen sollte durch die Khan Tengri Nordwand führen. Was mich erstaunte, war die unglaubliche Ruhe. Keiner im Team schien jemals an unserem Ziel zu zweifeln, die einzige Bedingung, die wir hatten, war gutes Wetter. Wir warteten und warteten, die Wodkaflaschen schwanden, das Schlechtwetter blieb und als die Zeit zu Ende ging, stiegen wir schließlich nicht in die Wand ein, sondern machten die Überschreitung des Berges – bis auf Pavel Shabalin und Iljas Tuchvatullin. Langsam kämpften sie sich die schrecklich aussehende schneeverkrustete 3000 Meter Wand hoch. Noch konnten wir sie mit dem Fernglas erkennen, dann verschwanden sie im Nebel, und schließlich sahen wir sie auch bei schönem Wetter nicht mehr: sie waren einfach weg. Nach 10 Tagen war ich felsenfest davon überzeugt, dass sie tot sein mussten; die beiden hatten nur Essen und Gas für maximal sechs Tage mit, in der Höhe fiel die Temperatur bis auf minus dreißig Grad, nirgendwo in der Wand hätte man ein Zelt aufstellen können, und soweit ich wusste, hatten sie nur einen Schlafsack dabei. Ich hätte wahrscheinlich keine zwei Biwaks dort überlebt. „Mach dir keine Sorgen, du kennst Tuchvatullin nicht! Der hat schon auf 8800 Meter ohne Sauerstoff übernachtet“, sagten die anderen. Tatsächlich wankten am 11. Tag zwei Schatten den Berg hinunter, erschöpft, wie ich noch nie Erschöpfung gesehen hatte, wie Geister aus dem Jenseits.


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die Ruhe, die Sicherheit, die sich auf mich übertrug. Angst und Zweifel fielen von mir ab. Ewgeni Dmitrienko, einer der besten jungen Bergsteiger, erzählte mir einmal, wie er in der winterlichen Trollwand im Schneetreiben vorstieg und die Nacht einbrach. Er befand sich gerade in einer sehr heiklen Skyhookpassage, als er einen Bohrhaken setzen wollte und die Bohrkrone abbrach. Zurück konnte er nicht mehr, hinauf auch nicht. Rufkontakt nach unten: Fehlanzeige. Nach einer halben Stunde spürte er, wie sich das Seil straffte. Sein Seilpartner ging wohl davon aus, dass Dmitrienko Stand hatte und stieg mit Jümars am Seil hoch, nicht wissend, dass dieses nicht an einem Stand endete, sondern an einem Kletterer an zwei fragilen Hooks. Dmitrienko konnte nichts an der Lage ändern, und dementsprechend verhielt er sich. Er machte das Beste daraus: „Ich genoss die Zeit, solange ich sie noch hatte“. Übrigens berichteten beide, keiner habe sich über die Situation aufgeregt, der einzige Satz, der fiel, war anscheinend der: „Ich hoffe, du hast noch einen Bohrmeisel?“. Diese Ruhe zeigt sich nicht selten auch daran, dass einfach wieder über die Route abgeseilt wird – auch wenn diese durch eine lange und brüchige Wand führt und es wohl nichts angenehmeres gibt, als dort steckenzubleiben, weil die Seile sich verhängt haben. Aleksandr Rutschkin seilte beispielsweise wieder über „No Siesta“ an den Grandes Jorasses ab, im Nebel und Schneesturm. Jeder andere wäre froh gewesen, oben festen Boden unter den Füßen zu haben und nicht mehr in die grausige Wand zu müssen.

Simone Moro bei einem Vortrag in München im Jahr 2012: „Ich liebe Nationen wie Polen, Russland, Kasachstan. Meine besten Freunde kommen von dort. Warum? Weil sie am Berg niemals sagen: Ich bin müde, ich muss etwas essen, ich will zurückgehen, warum sind wir hier?“ Woher diese Eigenschaft kommt, sich in besonders unangenehme Situationen zu wagen, sich zu vertrauen, und das Ganze noch zu genießen, ist mir t, soll a h letztlich unklar. Ähnlich wie die Polen in den 80er h e eimw H r e “ Jahren machten die Russen in den 90ern und auch W n „ bleibe e s u a später schwere Zeiten durch. „Obwohl wir kein Geld zu H hatten, hatten wir alles andere: erfahrene Kletterer und die Möglichkeit und den Enthusiasmus, überVielleicht ist es die Fähigkeit, sich mit Situationen all hinzugehen, wo wir wollten“, schrieb Alexanabzufinden, die Dinge so zu nehmen, wie sie sind, der Odintsov einmal. Mehr als einmal hörte ich, wie und nicht, wie sie sein könnten. Mir fiel auf, dass lachend erklärt wurde: „Wir überlebten die Revolumeine russischen Kletterpartner eigentlich fast nie tion, Lenins Terror, Stalins Terror, Hitlers Terror, den von zu Hause sprachen. Sie konzentrierten sich auf Krieg, den Kommunismus – und ihr glaubt, wir hätden Berg, nach dem Motto: „Wer Heimweh hat, soll ten Angst vor Bergen?“. zu Hause bleiben “. Einen gewissen Hang zum Risiko kann man zuminSo schreibt Anatoli Boukreev, er habe sich in einem dest den russischen Männern nicht freilich abspreHochlager über einen Seilpartner aufgeregt, der chen. Das kann man dort schon sehr schnell beim immer nur vom guten Borschtsch seiner Frau zu Autofahren erkennen. Tempo ist Trumpf, AnschnalHause redete – sollte der halt daheim bleiben und len Schwäche, je größer der Motor, desto glücklicher Borschtsch essen! der Mann. Dagegen ist Bergsteigen richtig einfühlDass all das keine singuläre Erfahrung ist, zeigt ein sam. Zitat des bekannten italienischen Bergsteigers Die Herzlichkeit der Teams, die Fähigkeit, selbst


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Als ich 20 war, befuhr ich in Begleitung eines Freundes mit Ski die Nordwand der Lenzspitze (VS). Während der Abfahrt schaute ich nach oben und sah einen grossen Stein auf mich zu rollen. Was tun? Losfahren oder stehen bleiben? Ich habe mich nicht bewegt. Der Stein hat meine Ski gestreift. Trotz Erfahrung, starken Nerven, guter Vorbereitung – ein Risiko gibt es immer. Zusätzlich zu allen Berechnungen muss immer ein Quantum Glück und ein guter Schutzengel mit einbezogen werden.

aus einem winzigen Zelt ein gemütliches Zuhause zu machen, erlebte ich oft. Wir schliefen zu siebt zusammengekauert in einem Zelt, das in Deutschland wahrscheinlich grade Mal als 2 Mann Zelt zugelassen würde. Und genau an diese Situationen erinnere ich mich heute noch am meisten. Vielleicht sind es die Freundschaften, die Zufriedenheit nach einem harten Tag, das Essen nach dem Hunger, die Wärme nach der Kälte, die Erzählungen im Nachhinein, die süchtig machen nach dem Abenteuer und Risiko. Die letzten beiden Sommer habe ich im sibirischen Klettergebiet „Stolby“ verbracht. Dort wird ungefähr so häufig ohne Seil geklettert wie bei uns mit. Hunderte, wenn nicht Tausende von Menschen klettern im Solo leichte und schwierige Routen auf die bis zu hundert Meter hohen Felstürme. Alte und Kinder, Freaks und Beamte. Früh gewöhnt man die Kinder daran, sich sicher zu bewegen, und nur das zu klettern, was man wirklich beherrscht. Das Risiko wird nicht ausgeschaltet wie bei uns; sondern der Mensch muss lernen, mit dem Risiko umzugehen, er lernt, es zu minimieren, indem er sich anpasst, indem er sich mit dem Risiko auseinandersetzt. Die Stolby sind eine Brutstätte guter Alpinisten, die „Stolbisten“ verstehen sich als kulturelle Gemeinschaft, als Menschen der Freiheit . Sie haben hier

abseits des sibirischen Industriemolochs Krasnojarsk ihre Heimat gefunden, frei nach Brechts Motto: „Die Schwärmerei für die Natur kommt von der Unbewohnbarkeit der Städte“. Sicher gibt es auch im russischen Alpinismus Todesfälle. Vitali Gorelik, einer der hoffnungsvollsten Nachwuchsbergsteiger, kam bei einer Winterexpedition am K2 um. Iljas Tuchvatullin starb an der Annapurna. Von meinen Krasnojarsker Freunden kamen in den letzten Jahren ebenfalls zwei am Berg um. Ich habe die Wittwen meiner Bekannten besucht; es war traurig. Und doch akzeptierten sie es – wer einen Bergsteiger heiratet, weiß, was passieren kann. Dass so manche Frau die Berge nicht allzu sehr liebt, zeigt eine Redensart, die ich mehr als einmal hörte: „Wenn man Berge mit Schaufeln abtragen könnte, hätten das die russischen Frauen schon lange getan“. Russisches Bergsteigen und das Risiko gehören zusammen. Nicht umsonst heißt die bekannteste russische Alpinwebseite www.risk.ru.

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Christophe Darbellay, Walliser Nationalrat und Präsident der CVP Schweiz, Martigny-Croix


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s e n i e kl , l e b la e s s o gr n o i t u l o v r50eJahre UIAA-Norm

Heute undenkbar: Bis in die 1950erJahre hatte Klettermaterial etwas Handwerkliches. Sicherheitskriterien waren Sache jedes einzelnen. Die ersten internationalen Normen zu Beginn der 1960er-Jahre haben alles verändert. Alexandre Vermeille, Redaktor


war ein m r o N Die ank ihr D . n i e t nicht Meilens e d n r e t . n Klet m Sack ka u f te i e z t a die K länger Die Arbeiten des Franzosen führten Anfang der 1960er-Jahre zur ersten internationalen Norm der UIAA für Seile. Basierend auf dem schlimmsten anzunehmenden Unfall forderte diese eine Fangstosskraft von weniger als 12 kN und ein Minimum an drei Stürzen des Faktors 2. Dieses Minimum für die heutige Norm „UIAA 101“ für dynamische Seile ist auf fünf erhöht worden.

Normen und Massen Die Norm war ein Meilenstein. Dank ihr kauften Kletternde nicht länger die Katze im Sack. So haben die Sicherheitsnormen massgeblich zur Popularisierung des Kletterns beigetragen. Das perfekte Seil ist aber immer noch ein Traum. Heute muss es die erhöhten Qualitätsstandards erfüllen, wie sie von der UIAA auch für 19 andere Kategorien von Sicherheitsmaterial definiert wurden. Die Ingenieure der Safety Commission der UIAA arbeiten eng mit rund 50 Herstellern zusammen, um die technischen Sicherheitsnormen zu entwickeln und laufend anzupassen. „Die Zusammenarbeit mit den Herstellern ist sehr fruchtbar“, erklärt Lionel Kiener,

Delegierter des SAC in der Safety Commission. „Obschon sie auf dem Markt Konkurrenten sind, legen die Hersteller die Priorität auf die Sicherheit, und keiner hat ein Interesse daran, die Anforderungen zu senken. Ein Todesfall infolge eines Materialbruchs wäre die schlimmste PR für sie.“

UIAA, EN oder beide? Die UIAA-Normen sind zwar heute der internationalen Massstab im Bereich Bergsportausrüstung, aber sie sind nicht die einzigen. Seit den 1990er-Jahren wurden sie von der europäischen EN-Norm teilweise übernommen. Diese etwas weniger strengen, aber in Europa und der Schweiz obligatorischen Standards stellen die UIAA-Normen seither in Frage. „Im Verkauf hat das UIAA-Label seine Bedeutung verloren. Es war in den USA bis letztes Jahr noch erforderlich, aber seither kann man auch dort mit der EN-Norm arbeiten“, erklärt Andres Lietha, Leiter der Abteilung Material bei Mammut. Er sähe gern eine Harmonisierung der beiden Normen, die „nicht so weit auseinander liegen“. Und das obschon er einen Vorteil der UIAA-Norm sieht: „Die UIAA kann viel schneller auf Entwicklungen reagieren als das Europäische Komitee für Normung.“ Ein Vorteil, der gemäss Lionel Kiener von einem zweiten ergänzt wird: „In der Safety Commission arbeiten Vertreter aus der ganzen Welt. Die Europäer sind noch in der Mehrzahl, aber wenn andere Länder der Welt dazu stossen, könnte dies unsere Kompetenzen in der Zukunft vergrössern.“ Das letzte Wort in Sachen UIAA-Norm ist also noch nicht gesprochen.

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n

Bald werden wir das perfekte Bergseil sehen, das alle Anforderungen der Praxis erfüllt“, freute sich der Slowene Francè Avçin in „Die Alpen“ 1959. Er war Mitglied der ersten „Commission Internationale des Cordes“ der UIAA, der Union Internationale des Associations d’Alpinisme. Man setzte damals gerade grosse Hoffnungen in die Seile aus synthetischen Fasern. Ihre Elastizität machte es möglich, die Kräfte, die auf den Stürzenden einwirken, stark zu reduzieren, und sie waren deutlich reissfester als die statischen Seile aus Naturfasern. Der Testapparat für Stürze, der Anfang der 1950er-Jahre von M. Dodero, damals Präsident der Seilkommission, entwickelt wurde, bildet immer noch die Basis der Tests von heute.


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n i ke r e t e m e n h o e l l o r t n ko Alexandra Rozkosny

Risiko im Jahr 2050


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bestellt und nachgezüchtet. Die Folgen des Alterns sind stark abgemildert, 100-jährige sind keine Seltenheit. Natürlich kostet das alles, und je mehr der und die einzelne selber schuld ist, umso mehr bezahlt man selber. Aber ich werde dereinst hoffentlich als fitte 80-Jährige noch in den Bergen unterwegs sein. Mein Handy wird mich mittels Sensoren ständig überwachen. Neulich fragte mich eine Freundin besorgt, ob sie Wohl wird es mir die Tourenplanung enorm erleichein Rabenmami sei. Sie ziehe Ihrem fünfjährigen tern, denn es kennt ja meinen aktuellen FitnesszuSohn auf dem Spielplatz keinen Helm an. Die Hälfte stand. Und der SAC und der Verein Wanderwege sind der Kinder dort sei helmbewehrt. gerade dabei, alle Routen zu digitalisieren. Diese In Zürich wurden jüngst Bobby Cars – „Rutschautos“ werden dereinst die ideale Grundlage für die Tou– aus den städtischen Krippen verbannt, die nicht renplanung bilden. Soweit, so gut. die Norm 71 erfüllen – zwei Kinder hatten sich beim Rumrasen verletzt. Keinen Meter vom Weg abweichen Etliche Autoversicherungen mögen Fahrerinnen lie- Doch was sich auch 2050 nicht verhindern lässt: ber als Fahrer: Erstere verursachen weniger Unfälle. Dass ich stolpere, dass ich mich verletze. Und das Eine repräsentative Umfrage des Beobachters von kostet ja dann doch einiges. Halte ich mich an die 2006 zeigte, dass 58% der Befragten dafür wären, Regeln, ist das ein Fall für die Versicherungen. Und dass sich das eigene Gesundheitsverhalten auf die die Regeln sind dann wohl: Keinen Zentimeter von Prämienhöhe in der Grundversicherung auswirkt. der vorgegebenen Route abweichen. Denn daneben gilt betreten strengstens verboten. Nicht nur, weil Keiner will zahlen der Rest den Wildtieren gehören soll. Sondern vor Krankheit, Unfälle, Invalidität: Das kostet. Bislang allem, weil bei einem Unfall abseits der Routen die zahlte die Gemeinschaft für diese Risiken – wenig Versicherungen nicht zahlen. unterscheidend, ob sie selbstverschuldet wären oder nicht. Doch es regt sich schon länger Widerstand meter i t n e Z gegen das Solidaritätsprinzip. Fast haarspalterisch n Ke i n e n gebene genau wird geforscht, welchen Einfluss das mensche g r o v liche Verhalten auf Krankheiten hat. Mit welchem von der eichen. w b a e t Ziel? Vordergründig wohl, um aufzuzeigen, wie wir Ro u gesünder, zufriedener und länger leben können. Gleich dahinter aber wedeln die Versicherungen mit dem Geldbeutel. Das Risiko, in unmarkiertem, weglosen Gelände zu verunfallen, oder wegen schlecht sitzender Haken Scan im Badezimmer abzustürzen, akzeptiert die Gesellschaft nicht Machen wir so weiter, sind wir einst so weit, dass mehr, zumindest was mich betrifft. Ich bin ja keine dereinst nur noch jene Risiken zu versichern sind, Spitzenalpinistin, sondern bloss ein tattriges Grosbei denen nachweislich das menschliche Verhal- mami, das der Gesundheit wegen in die Berge geht. ten keine oder nur eine kleine Rolle spielt. Die Mög- Wie die allermeisten anderen auch. Man weiss, dass lichkeiten dazu werden wir auf jeden Fall schon in Bewegung das A und O für längeres Leben, stabilere 50 Jahren haben. Davon sind viele Spitzenforscher Knochen ist – wenn man dafür keine unnötigen Risiüberzeugt. Der Physiker Michio Kaku hat den 300 ken eingeht. Wandern ist gesund. Aber nicht im Nirklügsten Köpfen aus Wissenschaft und Forschung gendwo – das wäre ein Verbrechen der Gesellschaft die Frage gestellt, wie wir in 50 oder 100 Jahren gegenüber. Also plaudere ich mit der sonoren Mänleben. Ihnen zufolge könnte es zum Beispiel sein, nerstimme aus meinem Handy, die mir nebenbei die dass wir am Morgen jeweils im Badezimmer von Besonderheiten der Landschaft erklärt. Ich kann Sensoren gescannt werden. Nach dem Duschen sie abschalten, aber nur für kurze Zeit. Dann würde erhalten wir – und notabene die Versicherungen – das Gerät nach einer Warnung einen automatischen detaillierte Infos über unseren aktuellen Gesund- Suchalarm auslösen. heitszustand. Sollte sich eine Krankheit abzeichnen, Für jeden Wanderkilometer gibt’s dann Gesundwird ein Roboter die nötige Therapie verschreiben heitspunkte, die automatisch an die Versicherung und durchführen. Wäre gar ein Organ ernsthaft übermittelt werden. Je mehr Punkte man hat, desto beschädigt sein, wird eventuell bereits ein neues weniger Prämie bezahlt man.


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nr.6

Abweichler in Tarnanzügen Aber nicht alle wollen so in die Berge. Ich kann mir gut vorstellen, dass es vor allem bei den Jungen etliche geben wird, die dann halt heimlich unterwegs sind. Unkontrolliert, ungesichert. Auf alten, vergessenen oder verbotenen Wegen und Routen. In den Wendenstöcken zum Beispiel. Sie tragen dann vielleicht graue Tarnanzüge, damit der Wildhüter sie nicht vom Fels unterscheiden kann. Wenn so einem was passiert, dann adieu! Wenn überhaupt Hilfe kommt, dann muss der das selber zahlen. Ja, die Wendenstöcke – grandiose Routen sind das. Wild, steil, luftig, kompakter Kalk, rauh, wasserzerfressen. Aber eben, die Absicherung: Wenn Bohrhaken, dann nur so alle fünf, zehn Meter. Und die Zustiege! Steilstes Grasgelände. Im 2050 halt zu viel Risiko.

Für mich entscheidet die Vorbereitung einer Tour darüber, ob ich mich in Gefahr begebe. Auch der Wetterbericht, einschliesslich derjenige der Tage vor der Tour, ist ein Schlüsselfaktor, denn er ermöglicht es, die Qualität des Schnees und die Lawinengefahr vorauszusehen. Die Erfahrung hilft mir, mich auf die Entwicklung der Wettersituation einzustellen und zu vermeiden, dass ich davon überrascht werde. Aber noch mehr hilft mir die Demut, denn ich weiss, dass alles, was mit der Natur zu tun hat, nie vollständig vorhersehbar ist. Martine Rebetez, Klimatologin, Granges (Veveyse)

Die Zeiten, als ich lange Routen kletterte, sind 2050 längst vorbei. Mit 80 Jahren gehe ich noch ganz selten mal in die Halle oder in einen einfachen Klettergarten. Da herrschen dann andere Sitten. Immer ist jemand da, der schaut, dass alle einen Helm tragen und sich ordentlich sichern. Routen dürfen – wenn man sie noch nicht beherrscht – nur im Nachstieg ausgecheckt werden. So gibt’s praktisch keine Verletzungen mehr. Die Aufregung, die Angst, wenn man über dem Haken stand und nicht sicher war, ob man den nächsten Griff halten, den kleinen Tritt belasten konnte, die gibt’s nicht mehr. Das Glücksgefühl, den Stolz, wenn es dann doch klappte, halt auch nicht mehr. Weiterlesen: Michio Kaku/Monika Niehaus: Die Physik der Zukunft, Rowohlt 2012, ISBN 978-3-498-03559-4

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Sport statt Glück


agenda

150 Jahre SAC–Jubiläumsfestival www.sac-cas.ch → 150 Jahre Öffentliche Sektionstouren Viele Sektionen des SAC bieten öffentliche Touren an. Infos auf den Homepages der Sektionen. _Jubiläumskletterei 150 Seillängen im Alpstein 18.Mai. | www.sac-stgallen.ch _Rettungsübung Rettungstechniken am Fels präsentiert von der Alpinen Rettung Ostschweiz 22.5.2013 | Klettergarten Schollberg |Sargans | www.sac-piz-sol.ch _Reptilienexkursion Reptilienwanderung im Weisstannental 26. Mai | 9 Uhr | Alp Siez | Weisstannen | www.sac-piz-sol.ch _Schaufenster Ausstellung im Schaufenster von Arcta-Sport am Brugger Stadtfest | 30. Mai bis 8. Juni | Hauptstrasse | Brugg | www.sac-brugg.ch _Sternmarsch auf den Bachtel 1.Juni | www.sac-bachtel.ch _Jubiläumstour Kreuzberge Auf den Originalrouten auf die acht Kreuzberge steigen 1. Juni bis 31. August | www.sac-stgallen.ch _Die Kander Mensch und Klima verändern eine Landschaft Öffentlicher Vortrag von Peter Mani und Daniel Tobler 3. Juni | 20 Uhr | Clublokal Hotel Freienhof | Thun | www.sac-bluemlisalp.ch

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_Mein bestes Bergfoto Die schönsten Bergbilder des Fotowettbewerbs der SAC-Sektion Bern werden im Erlebnispark Westside ausgestellt. 3. bis 30. Juni | Bern-Brünnen | sac-bern.ch _Olymp-Karte und Tourenführer Begleitveranstaltung zur Ausstellung Bergwelten: Referat von Alexa Renggli zum Werk des Alpinisten Marcel Kurz 4. Juni | 12.15 Uhr | Lesesaal der Musikabteilung | Predigerchor der Zentralbibliothek | Predigerplatz 33 | Zürich | www.zb.uzh.ch

_Bergerlebnis mit Kleinkindern Tour für Familien mit Kindern bis sieben Jahre im Gebiet Gaflei. 2. Juni | www.sac-piz-sol.ch _SAC-Erlebnispark im Westside Verschiedene Aktivitäten rund um den SAC und all seine Angebote. 3.Juni - 29. September | Bern-Brünnen | www.sacbern.ch _Der SAC im Ferienpass Die SAC Sektion Bern bietet den Jungen Bouldern im Westside. Diverse Kurse jeweils am Mittwoch und in den Ferien. Anmeldung über Berner Ferienpass «Fäger». 5. Juni bis 14. September | Westside, Bern | www.faeger.ch _Thema Wildstrubelhütte Monatssitzung mit Themenabend „Wie die SAC–Sektion Wildhorn zur Wildstrubelhütte gekommen ist. 6. Juni | Püürt Huus | Blankenburg | www.sac-wildhorn.ch _Gonzenbergwerk Dreieinhalbstündige Führung ins 13° kühle Bergwerk. Max. 40 Personen. 7. Juni | 13.30 Uhr | Treffpunkt Restaurant beim Bergwerk Sargans | Kosten Fr. 10.- | www.sac-piz-sol.ch _Jugend–Boulder–EM Die Jugend EM im Bouldern steht dieses Jahr im Zeichen des 150-Jahr- Jubiläums des SAC. Sie findet am Wochenende vom 25. und 26. Mai statt, die Titelkämpfe sind auf den Sonntag festgelegt. Mit dabei ist auch Jara Späte (Bild). Daneben lädt ein spannendes Rahmenprogramm zum Mitfiebern ein. So führt u.a. Alexandra Eyer, ehemaliges Mitglied der Nationalmannschaft, Interessierte hinter die Kulissen des Wettkampfs. Detailprogramm: 25.& 26. Mai: EuropeanYouth Championship | 27. Mai: Mont-Bell Boulder Open 29. Mai: Raiffeisen Kids Boulder Open 1. Juni: Bächli Swiss Climbing Cup 2. Juni: Mammut Youth Climbing Cup – Schweizer Meisterschaften | Sportzentrum Grindelwald www.boulderhappening.ch www.sac-cas.ch → 150 Jahre


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impressum 7 8 | «die Alpen» | Ausgabe Oktober 2013

Wunderbare morgenstimmung Wu-Tang mässiges Wetter und 50Cent see

_Herausgeber Schweizer Alpen-Club SAC, Zentralverband, Monbijoustr. 61, Postfach, CH-3000 Bern 23, Tel. 031 370 18 18, www.sac-cas.ch _Auflage Auflage 105 159 Ex. (WEMF-beglaubigt), erscheint monatlich in Deutsch, Franzosisch und Italienisch, ISSN 0002-6336 _Redaktion Chefredaktion/Management: Alexandra Rozkosny; Red. D: Peter Camenzind; Red. F: Alexandre Vermeille; Sekretariat: Hanna Muller; Ubersetzungen: Emanuel Balsiger, Christine Kopp _Kontakt: Tel. 031 370 18 85, alpen@sac-cas.ch, www.sac-cas.ch, Monbijoustr. 61, Postfach, 3000 Bern 23 Schweizer Alpen-Club SAC Club Alpin Suisse Club Alpino Svizzero Club Alpin Svizzert _Abos und Preise www.sac-cas.ch/zeitschrift → Abonnemente, Tel. 031 370 18 18, mv@sac-cas.ch Jahresabonnement: bei SAC-Mitgliedern im Jahresbeitrag inbegriffen. Nichtmitglieder: Schweiz Fr. 60.–, Ausland Fr. 76.–; Einzelhefte: SAC-Mitglieder Fr. 6.– +Porto, Nichtmitglieder Fr. 8.– +Porto _Inserate Roman Schmid, r.schmid@koemedia.ch, Tel. 071 226 92 92, Komedia AG, Geltenwilenstr. 8a, 9001 St. Gallen, www.komedia.ch _Grafisches Konzept DJ Anthonie & Magic Mauro _Produktion _Layout: DJ Anthonie & Magic Mauro _Bildproduktion: DJ Anthonie & Magic Mauro _Druck und Versand: Stampfli Publikationen AG, Postfach 8326, 3001 Bern, Tel. 031 300 66 66, www.staempfli.com _Leserfoto letzte Seite Sende dein herausragendes Foto (mind. 1 MB) an leserfoto@sac-cas.ch. Benotigte Zusatzinfos: Name des Fotografen, Aufnahmedatum und Bildlegende. Die Redaktion wahlt monatlich das beste Bild, die Publikation erfolgt ohne Honorarzahlung. Es wird keine Korrespondenz geführt. Von der Teilnahme ausgeschlossen sind Profifotografen. _Allgemeines zum Inhalt Artikel mit Bildern jeder Art werden gerne entgegengenommen, doch wird jede Haftung abgelehnt. Die Redaktion entscheidet über die Annahme, den Zeitpunkt sowie die Art der Veröffentlichung. Nachdruck Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck und Webverlinkung nur mit Quellenangabe und Genehmigung der Redaktion gestattet.


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