Edith Hessenberger
Gescheiterte Grenzüberschreitungen Geschichten, die man nicht vergisst
Die Grenze zwischen der Schweiz und dem Deutschen Reich war in den Jahren 1938 bis 1945 Schauplatz zahlreicher dramatischer Ereignisse. Hunderte von Flüchtlingen, darunter vor allem Juden, politisch Verfolgte, Intellektuelle, Wehrmachtsdeserteure und später Zwangsarbeiter hatten nicht die Möglichkeit, legal in die Schweiz auszureisen und waren gezwungen, die Flucht über die grüne Grenze zu versuchen. Durch den großen Bedarf an Fluchthelfern, die meist Berg-unerfahrene Flüchtlinge auf Schleichwegen über die Grenze führen hätten können, entstand in diesen wenigen Jahren ein eigener informeller „Wirtschaftszweig“. Die „Juden-Schmuggler“, wie sie von der älteren einheimischen Bevölkerung genannt werden, wussten sich und ihre Tätigkeit allerdings zu tarnen, so sind naturgemäß kaum schriftliche oder mündliche Quellen zu den genaueren Umständen vorhanden. Über einzelne Schicksale von Flüchtlingen kann man in Gesprächen mit Zeitzeugen hingegen einiges erfahren. In den Erzählungen leben bis heute Geschichten über Flüchtlinge weiter – immer und immer wieder erzählt, und teils in sehr unterschiedlichen Formen erhalten. Zu diesen Schicksalen zählen die „Geschichte vom verratenen Flüchtling“ und jene der „Erhängten Jüdinnen.“ Die tatsächlichen Begebenheiten sind heute nicht mehr rekonstruierbar, die Zusammenhänge sollen an dieser Stelle also in zusammengefasster Form beziehungsweise in der Vielfalt ihrer Versionen wiedergegeben werden. Die Basis für die Rekonstruktionen der Ereignisse sind, wie auch im vorangegangen Kapitel zur Person Meinrad Juen, größtenteils qualitative biographische oder themenzentrierte Interviews, die transkribiert und inhaltlich ausgewertet wurden. Aus Rücksicht auf Gewährspersonen und Angehörige wurden die Personen in Teilen dieses Beitrags anonymisiert. – Zeitzeugeninterviews sind als Quellen, besonders wenn es sich um lange zurückliegende, sozialpolitisch äußerst relevante Ereignisse handelt, stets in ihren Zusammenhängen zu sehen und zu verstehen. Berichte von Zeitzeugen können nämlich maßgeblich 177