Lebens- und Lernraum Schule P채dagogische Architektur | Ausstellung
Inhalt: Lebens- und Lernraum Schule: Pädagogische Architektur ........................................................... 1 Jeder Mensch lernt anders Wissen und Werte
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Einsichten und Ansätze
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Lernräume für die Zukunft Architektonische | Räumliche Grundlagen Prozesse aktiv gestalten Partizipation im Schulbau
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Korsetts und Rahmen: Vorschriften .................................................................................. 29 Quellen, Links + Abbildungsverzeichnis
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Eine Ausstellung der Montag Stiftungen Jugend und Gesellschaft und Urbane Räume
Lebens- und Lernraum Schule: Pädagogische Architektur Mit der auf mehrere Jahre angelegten Projektreihe Lebens- und Lernraum Schule: Pädagogische Architektur gehen die Montag Stiftungen Jugend und Gesellschaft und Urbane Räume gemeinsam der Frage nach, wie zukunftsfähige, dem selbstverantworteten und gemeinschaftlichen Lernen verpflichtete Schulen künftig gestaltet werden sollten. Dieser Anspruch auf Gestaltung umfasst ganz unterschiedliche Dimensionen von Schule: • • • • •
die grundlegenden pädagogischen Ziele, Konzepte und Methoden, die räumliche Organisation und das Raumprogramm, die architektonischen und atmosphärischen Qualitäten, die funktionale und räumliche Einbindung in den Stadtteil und seine Einrichtungen, die notwendigen Prozesse und Verfahren – in ihrer ganzen Breite zwischen Innenraumgestaltung und Schulentwicklungsplanung.
Neben der konkreten und beispielhaften Verbesserung der Lernbedingungen an einzelnen Schulen möchten die beiden Stiftungen mit dieser Projektreihe einen breiten Diskurs über die vielfältigen Wechselbeziehungen zwischen Schularchitektur und Schulpädagogik initiieren. Dieser Diskurs soll über die Grenzen der an Schule beteiligten Professionen hinweg gleichermaßen Pädagogen, Schüler, engagierte Eltern,
Schulverwaltungen, Schulaufsichten, Architekten, Gebäudemanager und andere Interessierte einbeziehen und sie zu gemeinsamen Initiativen in ihren jeweiligen Wirkungsfeldern anstiften. Vor diesem Hintergrund haben die beiden Stiftungen eine Wanderausstellung Lebens- und Lernraum Schule: Pädagogische Architektur entwickelt, die von interessierten Kommunen, Schulen und Organisationen ausgeliehen werden kann. Die Ausstellung thematisiert wichtige pädagogische und architektonische Grundlagen und zeigt anhand einiger Beispiele auf, welche Methoden, Verfahren und Instrumente, aber auch welche Einsichten, Werte und Haltungen für eine veränderte Schulbaupraxis erforderlich sind. Entsprechend vielschichtig und vielgestaltig ist die Ausstellung: Mit ihren Räumen zum Informieren, Assoziieren und Inspirieren ermöglicht sie unterschiedliche Zugänge zu den verschiedenen Dimensionen Pädagogischer Architektur. In diesem Begleitheft sind die wesentlichen Texte zusammengefasst, die für die Ausstellung erarbeitet oder zusammengetragen wurden. Sie geben einen ersten Einblick in die inhaltliche Basis der Projektreihe und die bisherige Arbeit der Montag Stiftungen zum Thema Lebens- und Lernraum Schule: Pädagogische Architektur.
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Wirksames Lernen ist gebunden an ‌ Selbstverantwortung und Mitbestimmung, Erfahrung und Handeln, Erprobung und Bewährung und an die eigene Lebenswelt.
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Jeder Mensch lernt anders
Wie kommt die Welt in unsere Köpfe? Möchten wir die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen im bestmöglichen Sinne fördern, müssen wir uns fragen, wie sie ihre Welt wahrnehmen. Wie eignen sie sich ihr Wissen an und welche Zugänge wählen sie dafür?
Ihre Erkenntnisse und Erfahrungen deuten und ordnen sie vor dem Hintergrund ihrer persönlichen Lebensgeschichte, ihrer Wünsche und Erwartungen. Folglich können verschiedene Personen ein und denselben Sachverhalt, dieselbe Aussage völlig unterschiedlich wahrnehmen.
Eine mögliche Antwort darauf geben erkenntnistheoretische Ansätze, die in den Humanwissenschaften zunehmend an Bedeutung gewinnen: Ihnen zufolge gibt es nicht die eine, objektive Wirklichkeit, die wir beobachten bzw. vermitteln können. Unser Blick in die Welt wird als ein eigener, subjektiver Prozess beschrieben. Unsere Sicht der Dinge ist gewissermaßen ein Entwurf, mit dem wir Erfahrungen und Wahrnehmungen ordnen können.
Ein solches Verständnis von Wissensaneignung hat Konsequenzen für schulisches Lernen und Lehren. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, ist Unterricht nicht als bloße Weitergabe von Buch- und Lehrerwissen in Schülerköpfe denkbar. Vielmehr generieren Schülerinnen und Schüler ihr Wissen selbst.
Zugespitzt formuliert: Wir konstruieren die Welt in unseren Köpfen – keinesfalls beliebig, sondern im Abgleich mit biologisch gegebenen Filtern und sozial erworbenen Ordnungsmustern. Menschen sehen und erleben ihre Umgebung auf unterschiedliche Weisen. 4
Schule kann demnach Lernen nicht von außen planen und steuern und erst recht nicht in Schritten und mit Methoden, die für alle gleich und verbindlich sind. Sie kann jedoch für die Konstruktion von Selbst und Welt schlechtere oder eben bessere Bedingungen schaffen. Sie kann diese Form der Eigenaktivität behindern oder so weit wie möglich fördern: Durch eine tragfähige Pädagogik und eine entsprechende Gestaltung und Architektur.
Erleben, erfahren, handeln – wie wir uns Wissen aneignen Erleben, erfahren, ausprobieren, erkennen, entdecken, erfinden, fragen, erörtern, abwägen, entscheiden, bewähren – dies sind einige bedeutsame Stationen im Lernprozess. Wir erschließen uns die Welt nicht allein auf kognitive Weise, durch das Lesen von Büchern oder das Lauschen von Vorträgen. Tafel und Kreide sind wichtige Hilfsmittel, aber schlechte Lehrmeister. Menschen wählen unterschiedliche Arten und Weisen, sich Wissen anzueignen – in ihrem eigenen Rhythmus, ihrer eigenen Gangart und über vielfältige Kanäle. Wer will festschreiben, welche Körperhaltung förderlich für erfolgreiches Lernen ist? Wenn man sie lässt, finden Kinder und Jugendliche darauf ihre eigenen Antworten.
schaftliches Handeln, auf Erforschen und Erproben. Eigenes Interesse, Neugierde, Forschergeist und Entdeckertum ebenso wie Gespräch und Austausch sind wichtige Voraussetzungen für die Selbstaneignung von Welt. Lernen benötigt Erlebnis und Erfahrung genauso wie Übung und Systematik. Beweglich und damit auf neue Bereiche übertragbar wird Wissen durch Handeln und Anwenden. Und Menschen lernen besser, wenn Inhalte und Methoden für sie persönlich einen Sinn ergeben. Mit anderen Worten: Wenn Wissen für sie wirklich verständlich und nachvollziehbar ist, sie Erkenntnisse flexibel handhaben und in ihren Alltag, ihre Lebenswelt einbinden können.
Die unterschiedlichen Lernwege, die verschiedenen Methoden und Rhythmen, mit und in denen sich Schüler Wissen aneignen, haben Konsequenzen für die Gestaltung des Schulalltags.
Individuelle Arbeitsrhythmen und Lernwege Lernen ist ein individueller Prozess, der sich in unterschiedlichen Formationen und in unterschiedlichen Schritten vollzieht: Singulär, durch eigenes Nachdenken über eine Sache, durch Recherchieren, Hinterfragen und Formulieren. Divergierend, durch den Austausch mit anderen und die Kenntnis darüber, welche Sichtweisen und Zugänge es neben den eigenen noch gibt. Regulär, durch das Hinterfragen oder Bestätigen der eigenen Herangehensweise im Vergleich und durch das Herstellen und Verstehen von verbindlichen Lösungen und Regeln. Lernen braucht den sozialen Kontext. Es ist angewiesen auf gemein-
„Darum braucht Lernen Freiraum: die Freiheit der Schule, den Unterricht jeweils neu zu denken und auf Bildung anzulegen, Zeit und Freiheit für aktive Formen der Aneignung, für selbstständiges und selbsttätiges Lernen und eigenverantwortliches Handeln. Lernen braucht individuelle und gemeinsame Rückmeldung, Präsentation und gesellschaftliche Anerkennung von Ergebnissen.“ (Blick über den Zaun – Bündnis reformpädagogisch engagierter Schulen).
Jeder ist begabt – Vielfalt bereichert Dem Konzept der messbaren kognitiven Intelligenz durch entsprechende psychometrische Tests hat der führende amerikanische Intelligenzforscher Howard Gardner ein erweitertes Modell entgegengesetzt. Die in Schule hauptsächlich abgefragten zwei Intelligenzen – sprachlich und logisch-mathematisch – ergänzt er um fünf weitere Dimensionen: die musikalische, die körperlich-kinästhetische, die räumliche, die interpersonale und die intrapersonale Intelligenz. Sie sind als Potenziale zu verstehen, die jeder Mensch zu unterschiedlichen Anteilen in sich trägt. Eine kluge Gesellschaft weiß diese Vielfalt für sich zu nutzen. Statt auf einen bestimmten Typ als Norm zu setzen, gilt es, die unter-
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schiedlichen Begabungen und Fähigkeiten in die gesellschaftliche Gesamtheit einzubringen. Kreativität oder Strukturiertheit, Intuition oder analytische Fähigkeit, Pragmatismus oder Impulsivität sind unverzichtbare und sich ergänzende Bestandteile von humanen, zukunftsfähigen demokratischen Gesellschaften. In der Wirtschaft beginnt man, dieser Einsicht Rechnung zu tragen und versteht Diversität, Andersartigkeit und Erkenntnisvielfalt zunehmend als Ergänzung, als Chance zur nachhaltigen Veränderung. Das Wissen und die Fähigkeiten mehrerer unterschiedlicher Personen sind eine solide Basis für tragfähige Entscheidungen.
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Schulen, die einen guten und konstruktiven Umgang mit Vielfalt und Heterogenität pflegen, nehmen bewusst Abstand von der Idee einer leistungshomogenen Klasse. Fachübergreifende Projektarbeit, Offenheit in der Unterrichtsgestaltung und altersgemischte Gruppen sind zwar keine Garanten für umfassenden Lernerfolg, ermöglichen bei professioneller Umsetzung jedoch die bestmögliche Förderung eines jeden Einzelnen und der Gemeinschaft. Diversität als Chance zu verstehen, heißt grundsätzlich inklusiv zu handeln, eine Schule für alle Kinder zu entwickeln. Erkenntnisse integrativer Lehr- und Lernpraxis belegen, dass die Leistungen von Kindern mit besonderem Förderbedarf deutlich besser ausfallen, wenn sie in fach- und begabungsübergreifenden Unterricht eingebunden sind. Ähnliches gilt für leistungsstarke Kinder, die in Integrationsklassen oftmals ein höheres Niveau erreichen als in stärker selektierten Gruppen. Wie fruchtbar und tragfähig eine „Pädagogik der Vielfalt“ in fachlicher, sozialer und methodischer Hinsicht sein kann, zeigt der 2006 erstmals vergebene Deutsche Schulpreis. Ausgezeichnet wurden fünf Haupt- und
Gesamtschulen, die sich neben Leistungsniveau, Unterrichtsqualität, Verantwortung, Schulklima und Selbstverständnis auch durch den Umgang mit sehr unterschiedlichen Rahmenbedingungen hervorheben. Unabhängig von den übergeordneten Wettbewerbskriterien fällt in diesen Schulen eine weitere Gemeinsamkeit auf: Sie alle legen großen Wert auf das Miteinander von jüngeren und älteren Schülern, von schwächeren und stärkeren, von behinderten und nicht behinderten Kindern und Jugendlichen.
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Wissen und Werte
Veränderte Lebenswelten und unbekannte Herausforderungen Mit zunehmend dynamischen Lebenssituationen und lebendigen Veränderungsprozessen in unserer Gesellschaft ändern sich herkömmliche Lernbiografien. Bildung betrifft schon lange nicht mehr allein Kindheit und Jugend, sondern alle Altersgruppen. Insbesondere vor dem Hintergrund demografischer Entwicklungen kann eine Gesellschaft es sich nicht leisten, Bildungspotenziale und Wissensressourcen zu verschwenden. Es gilt, kein Kind zurückzulassen, jedes individuell zu fördern und zu fordern, die Möglichkeiten der mittleren Generation weiter zu entwickeln und die Erfahrungen und Kenntnisse Älterer länger zu nutzen. Lernen wird damit zum ständigen Begleiter.
Lebenslanges Lernen 8
Die Lernbiografien der Menschen ändern sich. Sich wandelnde Anforderungen und Lebenssituationen verringern die vormals ausgedehnten Zeiteinheiten. Wir lernen, arbeiten, erholen uns im Wechsel, im Jahres-, Monats- oder Wochentakt. Schule steht vor der Aufgabe, Kinder und Jugendliche auf ein Leben vorzubereiten, das nicht bzw. nur bedingt plan- und vorhersehbar ist.
„Schüler werden noch viel mehr improvisieren müssen als ihre Eltern und Lehrer. Statt ihr Leben brav vom Blatt zu spielen, werden sie immer neue Stücke komponieren. Sie müssen ihren Rhythmus finden und immer wieder aus der Not eine Tugend machen. Wenn nichts Vorgegebenes mehr nachgespielt werden kann, kommt es auf Dialoge an.“ (Reinhard Kahl 2004)
Dynamik komplexer Lebenswelten Das Fundament einer solidarischen und erfolgreichen Gesellschaft sind Personen, die Verantwortung für ihr eigenes Handeln übernehmen können und wollen, Personen, die bereit sind, ihr Wissen und ihre Fähigkeiten zum Wohl der Gesamtheit einzubringen. Industrie und Wirtschaft verlangen zunehmend nach Mitarbeitern, deren Wissen sich nicht allein auf fachspezifische Kenntnisse begrenzt. Sie brauchen Mitarbeiter, die selbst aktiv werden, die souverän auch in neuen und unbekannten Situationen handeln können. Methodisches Wissen und soziale Kompetenzen sind notwendige Ergänzungen zum fachlichen Können.
weitere Ausbildungsphasen berufsbegleitende Weiterbildungen
in drei übergeordneten Kategorien bündelt. Beschrieben werden nicht nur Wissen und Fertigkeiten, sondern darüber hinaus Haltungen und Wertvorstellungen, die eine Kernkompetenz ausmachen. Diese Fähigkeiten und Einstellungen sind nicht allein in Fachräumen und Vorträgen zu vermitteln. Respekt und Achtsamkeit, Demokratiebewusstsein und Empathie, Ideenbildung und Entscheidungsfähigkeit brauchen eine ebensolche anregende und flexible Lernumgebung.
Wissensgesellschaft Wir werden künftig anders lernen. Weil Bildung die Basis unserer Gesellschaft ist.
9 Gleichzeitig ist der Einzelne gefordert, in dynamischen und komplexen Situationen sein Leben sinnvoll und eigenverantwortlich zu gestalten. Wichtige Voraussetzungen dafür sind, sich sicher in einer Flut von Informationen bewegen zu können, Zusammenhänge zu erkennen und zu verstehen, um schließlich umsichtig zu entscheiden und zu handeln.
Schlüssel zur Welt: Kompetenzen und Haltungen Welche Fähigkeiten und welches Wissen soll Schule nun vermitteln? Welche Kompetenzen machen souveräne und verantwortungsbewusste Persönlichkeiten aus, die unter sich ständig wandelnden gesellschaftlichen Bedingungen konstruktiv Gegenwart und Zukunft gestalten? Eine mögliche Antwort darauf gibt die 2003 veröffentlichte OECDStudie „Key Competences for a Successful Life and a Well-Functioning Society“. Sie definiert insgesamt neun Schlüsselkompetenzen, die sie
Das Soziale Atelier - die Arbeit an der Sozialen Skulptur (Projekt der Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft)
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Fehler zu machen in der Lernlandschaft sollte ein positiver Vorgang sein. Ausgangapunkt zum Weiterlernen, zur Motivation, zum Suchen und Entdecken von Zusammenh채ngen. [Hartmut Spiegel und Christoph Selter, Mathematiker und P채dagogen, 2003]
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Einsichten und Ans채tze
Was ist eine gute Schule? Auf eine einfache Frage gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher Antworten aus verschiedenen Perspektiven. Die Kultusministerkonferenz hat auf diese Frage 2003 mit Bildungsstandards, einer klaren Definition von Zielen, mit vergleich- und überprüfbaren Lernergebnissen geantwortet. Messbare Outputleistung allein als Kriterium für die Beurteilung von Schule und Unterricht greift jedoch zu kurz – dies mahnt die pädagogische Forschung deutlich an. Wie also sieht ein Ort aus, an dem das Aufwachsen und die Ausbildung junger Menschen zu selbstständigen, kohärenten und verantwortungsvollen Persönlichkeiten im besten Sinne gefördert wird? Bedeutsame Faktoren, die eine „gute Schule“ ausmachen können, sind (Hans Brügelmann 2005): 12
• eine engagierte, entschiedene Schulleitung • ein breit geteilter Grundkonsens und eine gute Zusammenarbeit im Kollegium • klare Leistungsanforderungen, ein gut organisierter Unterricht und hilfreiche Rückmeldungen zu Lernfortschritten und -schwierigkeiten an die Einzelnen • Raum für Schülerinnen und Schüler, ihre jeweils eigenen Zugänge zu unterschiedlichen Themen und Gegenständen zu finden sowie ihr eigenes Tempo zu bestimmen • eine atmosphärisch und räumlich förderliche Lernumgebung • durchsichtige Verhaltensregeln, deren Nichteinhaltung auch sanktioniert wird • Förderung der Eigen- und Mitverantwortung von Schülern • ein partnerschaftliches Verhältnis zu den Eltern und ihren formellen Vertretungen • ein Selbstverständnis als lernende Organisation Es gibt inzwischen eine Vielzahl empirischer Studien sowie umfangreiche Merkmalskataloge zu weiterführenden Gütekriterien einer guten Schule. So detailliert diese Listen sind, gemeinsam ist ihnen vor allem eine Erkenntnis: Es gibt keine allgemein verbindlichen Prüfsteine, nach
denen man die Qualität sämtlicher Schulen beurteilen könnte. Unterricht und Formen der Leistungsförderung können völlig unterschiedlich sein: Sehr gegensätzliche Schulen beispielsweise sind jede für sich betrachtet gut. Entscheidend für die Qualität von Schule ist ihre pädagogische Haltung, die gemeinsam getragene Leitidee und das Ethos, mit dem alle Beteiligten handeln.
Fachautorität oder Lernpartner? – Zur Rolle des Lehrers Eine Pädagogik, die Selbstständigkeit und Selbstorganisation von Schülern fordert und fördert, wendet sich deutlich ab vom lehrerzentrierten Unterricht. In selbstorganisierten Lernprozessen wirken und entscheiden Kinder und Jugendliche maßgeblich mit. Entsprechend liegt die Verantwortung für das Geschehen im Klassenraum nicht mehr bei dem Pädagogen allein, die Schüler selbst verantworten einen – nämlich ihren – Teil am Unterrichtsverlauf. Dem Pädagogen obliegt die Entscheidung, in welcher Rolle und Verantwortungsposition er sich sieht: als Fachautorität oder aber als anregender, herausfordernder Partner für die Schülerinnen und Schüler.
Lehrerzentriertes Lernen Rolle und Verantwortungsbereiche des Pädagogen: • trägt die Verantwortung für das gesamte Unterrichtsgeschehen und spielt gewissermaßen eine Dauer-Hauptrolle • steuert den Unterrichtsablauf: stellt gezielt Fragen, die auf bestimmte Antworten hinführen, gibt Impulse und legt fest, wie und was die Schüler zu tun haben • überwacht die Mitarbeit und die Aufmerksamkeit • motiviert zur Mitarbeit, indem er einzelne Schüler aufruft oder anspricht • steuert das Zeitmanagement im Unterrichtsgeschehen • gibt den Unterrichtsstoff in „vorportionierter“ Form vor, durch Tafelanschrieb, Arbeitsblätter, Übungsaufgaben, Hausaufgaben
Rolle und Verantwortungsbereiche der Schüler: • „konsumieren“ die angebotenen Lerninhalte und folgen dem Unterrichtsgeschehen in der vom Pädagogen vorgegebenen Weise • führen aus und bringen Fragen und Erkenntnisse dann ein, wenn es vom Lehrer vorgesehen ist • geben bei Tests, Klassenarbeiten und Prüfungen das „träge“ – weil nicht vernetzte, auswendig gelernte, verstandene, halb verstandene oder auch unverstandene – Wissen wieder, das sie, wie Forschungsergebnisse vielfach bestätigen, in kurzer Zeit wieder vergessen
Selbstorganisiertes Lernen Rolle und Verantwortungsbereiche des Pädagogen: • ist für den Unterricht verantwortlich, trägt jedoch nicht mehr für alles die Verantwortung: formuliert Kernideen und wählt Exemplarisches, stellt Fragen, zeigt Alternativen auf und öffnet den Schülern Wege und Formen, sich entsprechendes Wissen und notwendige Kompetenzen anzueignen • ist und bleibt Fachexperte – muss aber nicht mehr alles wissen; forscht mit seinen Schülern gemeinsam und fordert als inspirierender und kritischer Begleiter das Denken, Urteilen und die eigene Erfahrung der Lernenden heraus • fördert und berät seine Schüler individuell mit Blick auf Lernwege, Lernprojekte und Lernziele und öffnet Spielräume und Perspektiven für deren eigene Entwicklung • gestaltet Leistungsbeurteilungen transparent und im Dialog mit den Lernenden • sichert und gestaltet den organisatorischen Rahmen des Lernens und schafft somit günstige Bedingungen für wirksames Lernen • lehrt und lernt gemeinsam mit den Schülern und bindet Fehler als konstruktives Entwicklungspotenzial in das Unterrichtsgeschehen mit ein • steht im Dialog mit dem Kollegium und arbeitet in fach- und themenübergreifenden Teams; Schule wird zum hauptsächlichen Arbeitsort
Rolle und Verantwortungsbereiche der Schüler: • sind dafür verantwortlich, die Angebote des Lehrers für sich und ihre eigenen Interessen sinnvoll und konstruktiv zu nutzen • beschreiben und organisieren ihren Lern- und Unterrichtsprozess selbst, bestimmen Abfolge, Tempo, Methode und Ort ihrer Arbeit und wählen zwischen unterschiedlichen Aufgaben; sind die Initiatoren und Akteure ihrer eigenen Lernprojekte und Lernerfahrungen • definieren gemeinsam mit dem Pädagogen individuelle und gemeinsame Ziele und Inhalte und sind so viel stärker als bisher verantwortlich für ihren eigenen Lernerfolg • lernen von- und miteinander – in ihrer Rolle als 2. Pädagoge neben dem Lehrer – und sind damit Lernpartner und Mentoren für die Mitschüler
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Selbstorganisiertes Lernen an freien Lernorten
Neun Prinzipien für eine ermutigende Pädagogik 1. Lernen als Selbstaneignung von Welt
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4. Mit Freude lernen und gestalten
Schule muss Lernenden die Gelegenheit und den Raum geben, ihren eigenen Fragen selbstverantwortet und selbstständig nachzugehen und so eigene Lösungswege herbeizuführen. Angebotene Inhalte, Materialien und Räume sind auf diese unterschiedlichen Lernwege ausgelegt. Zeiten und Arbeitsformen ermöglichen individuelles Lernen und eigenverantwortliches Handeln. Außerschulische Lernorte werden in den Unterricht eingebunden.
Schule ist dann angemessener Ort des Lernens, wenn sie gleichermaßen lebenswert wird. Sie ist Ort anspruchsvoller Herausforderung und ehrlicher Anerkennung. Sie gibt ihren Nutzern die Möglichkeit, mit den eigenen Arbeitsergebnissen Spuren zu hinterlassen. Kurz: Schule ist für Schüler, für Lehrer und Verwaltung, für Eltern und beteiligte Partner ein Ort der Identifikation, auf den man stolz sein kann und für den man gern Verantwortung übernimmt.
2. Lernen an bedeutsamen Inhalten
5. Schule als Leistungsort
Lernen wird dann erfolgreich und nachhaltig, wenn die Aufgaben persönlich relevant sind. Das bedeutet einerseits attraktiv, interessant, emotional und persönlich wichtig und andererseits verständlich und in die eigene Gedanken- und Lebenswelt hineinpassend. Schüler müssen und wollen wissen, warum und wofür sie lernen.
„Nichts überzeugt Kinder mehr als Können“ (Theo Eckmann 2005). Dabei ist ihr eigenes Können, ihre Leistungsfähigkeit in erster Linie abhängig von der Unterrichtsgestaltung und der Unterrichtsqualität. Es gilt, von Kindern und Jugendlichen genau das zu fordern, was ihnen bei optimaler Förderung möglich ist.
3. Lernen in Zusammenhängen
6. Lernen in der Gemeinschaft mit anderen
Unterricht muss sich an der Sache orientieren, fachübergreifend angelegt sein, Sinnzusammenhänge und Verbindungen aufzeigen. Er arbeitet mit vielfältigen Methoden, ermutigt und bestärkt und ermöglicht Erfahrung und Erprobung mit allen Sinnen. Kurz: Ganzheitlich orientierter Unterricht vollzieht sich mit Kopf, Herz und Hand.
Lehren – das heißt die Lernenden individuell zu befähigen, Wissen selbsttätig zu erwerben und erfolgreich anzuwenden.
Schüler lernen von- und miteinander, im Austausch und Dialog und im Kontext eigener und gemeinsamer Ziele. Schule sollte daher Prozesse des sozialen Lernens fördern und die Kooperationsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen stärken. Projekt- und Gruppenarbeit sind wichtige Bausteine für die Aneignung von Wissen und Welt.
7. Lernen im Schnittfeld von Differenzierung und Inklusion Verschiedenheit zulassen und wertschätzen und gleichzeitig Gemeinschaft fördern – mit diesem Spannungsfeld muss Schule sich auseinandersetzen. Unterricht und Schulalltag sollten die Möglichkeiten jedes Schülers individuell fördern und einbringen in ein verantwortungsvolles Ganzes.
8. Chancengleichheit und Achtung vor dem Anderen Voraussetzung und Grundsatz ist die gleichberechtigte Teilhabe aller am Unterrichtgeschehen. Nur so kann Vielfalt, die sich aus Geschlecht und Begabung, aus sozialer, ethnischer, sprachlicher oder kultureller Herkunft ergibt, als Bereicherung erfahren und gelebt werden.
9. Schule als Lernfeld für Demokratie Schule als Ort der Mitbestimmung und Mitverantwortung bedeutet gelebte Demokratie und öffnet allen Beteiligten die Möglichkeit, Inhalte, Themen, Methoden und Wege mit zu gestalten.
Offiziellen Leistungstests, fachlich eingegrenzten Diagnosearbeiten und damit verbundener Unterrichtsgestaltung setzt der Grundschulverband vier zentrale Aspekte individueller Leistungsförderung und entsprechender Leistungserfassung entgegen, die für ein lebenslanges Lernen maßgebend sind:
Leistungen wahrnehmen und Lernstände festhalten ... und sensibel sein für individuelle Lernbedingungen, Fortschritte, Anstrengungen und Lösungsstrategien, die sich nicht an herkömmlich definierten Arbeitsergebnissen festmachen lassen – bedeutet in der Praxis: zuhören, kooperieren, das eigene Lernen reflektieren.
Leistungen würdigen und Lernentwicklungen bestätigen ... heißt, Lernende ermutigend in ihrem eigenen Entwicklungs- und Lernprozess zu begleiten, sie zu bestätigen, Schwierigkeiten als Stationen im Lernweg zu sehen und sie in diesen Prozess aktiv einzubinden – bedeutet in der Praxis u. a.: Fehler als Fenster in Denkwelten verstehen, Vergleichsaufgaben erstellen.
Wege individueller Leistungsförderung
Individuell fördern und Lerngespräche führen
Spätestens mit den Ergebnissen von Bildungsstudien wie PISA oder TIMMS wird die Frage nach einem angemessenen Nachweis der Leistungsfähigkeiten von Schülerinnen und Schülern laut. Ebenso rücken als Antwort auf bildungspolitische Maßnahmen erziehungswissenschaftliche Grundeinsichten zur individuellen Förderung und Würdigung von Kindern und Jugendlichen in den öffentlichen Diskurs.
... meint die Berücksichtigung persönlicher Lebens- und Lernbedingungen und die Förderung vor diesem Hintergrund, eine damit einhergehende anregende Lernumgebung, die Reflexion und das Nachdenken über und das Benennen von Lernprozessen und entsprechenden Erfolgen – bedeutet in der Praxis: Forschergespräche, Schreibkonferenzen, Gespräche in der Jahrgangsgruppe, mit Lehrkräften, den Lernenden selbst und ihren Eltern.
Lernwege öffnen und eigene Lernwege beschreiben ... setzt dem Lernen im Gleichschritt die Offenheit für individuell bestimmtes Lernen entgegen. Vorausgesetzt wird ein Verständnis von Lernenden als Akteure und Konstrukteure der eigenen Wissensaneignung. Der Einzelne entscheidet über Inhalt, Zeit und Form, sowohl in der Gemeinschaft als auch im Zuge individuellen Lernens – bedeutet in der Praxis: Lern- und Reisetagebücher, Lernjobs und Kompetenzraster, Portfolios, Selbstzeugnisse.
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Erziehung kann Ort der Ideen, der Chancen, des Handelns, des persönlichen Wachstums, des bewegt lebendigen Miteinanders sein, insofern Freiheit, Selbstbestimmung, Inhaltlichkeit, Nähe, Zuwendung, Qualität, Inspiration, Experimentierfreude und Akzeptanz ihr selbstverständlicher Platz eingeräumt wird.
[Theo Eckmann, Pädagoge und Erziehungwissenschaftler, Montag Stiftungen, 2005]
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Lernr채ume f체r die Zukunft Architektonische | R채umliche Grundlagen
Schule in Bewegung Die Fachhochschule Aachen hat am Beispiel der im Jahre 2002 errichtenden Montessori-Schule in Aachen untersucht, welche Bedeutung das Schulgelände, das Schulgebäude sowie der Klassenraum im gelebten Schulalltag haben. Es handelt sich um eine Ganztagsschule, die sich in einen zentralen Funktionsbereich (Mensa, Bibliothek, Fachräume etc.), mehrere altersübergreifende Lernhäuser für die Mittelstufe (Unterrichts- und Differenzierungsräume) und den Oberstufenbereich (Unterrichts- und Fachräume) gliedert. Die Kinder können ihre Lernorte frei wählen. Zu bestimmten Zeiten wird die ganze Schule (einschließlich Park und Tischtennisplatte) zum Lernort. Der Unterricht ist entrhythmisiert. Er teilt sich in formelle, klassenbasierte und informelle Einheiten. Das räumliche Verhältnis vom Schüler zum Lehrer hat sich an der Montessori-Schule in Aachen schon in kürzester Zeit verändert. Dies war Anlass für die Forschungsgruppe, auch losgelöst vom konkreten Beispiel zentrale Fragestellungen und Prinzipien für die Organisation von Raum in Schulen aufzustellen (siehe nebenstehende Abbildung).
Nutzung und Gestalt Selbstständiges Lernen, individuelle Betreuung, Ganztagsschule und coachende Lehrer passen nicht mehr in die Grundrisse der Vergangenheit, die sich im Wesentlichen aus den Raumtypen Klasse, Flur, Lehrerzimmer, Sanitäranlagen und Schulhof zusammensetzen. Die Typologien müssen angepasst werden und auf die neue, dynamische Situation reagieren. In einigen Schulhäusern der Gegenwart, aber auch in einigen der Vergangenheit ist dies bereits geschehen: Das traditionelle Klassenzimmer öffnet sich. Die „quadratische Kiste“, in der der Lehrer den Raum dominiert, genügt nicht den Ansprüchen individueller Betreuung und Differenzierung. Um den neuen Anforderungen gerecht zu werden, ist es sinnvoll, aus mehreren Klassenzimmern, Gruppenräumen und gemeinsamen Arbeitsbereichen Cluster zu bilden. Dies sind offene, aber überschaubare Einheiten aus 60 bis 120 Schülern, die in Gruppen wechselnder Größe oder auch still für sich arbeiten können.
Analyse des Workflows in der Montessori-Schule Aachen: Aktivitäten und Arbeitswege verändern sich.
Die in diesen Clustern vorhandenen gemeinsamen Arbeitsbereiche sollten eine echte funktionale Erweiterung des klassischen Unterrichts, zum Beispiel für Projektarbeit, bieten. Entscheidend ist, dass die gemeinsame Zone genügend Tageslicht erhält und möblierbar ist. Dabei ist darauf zu achten, dass ein Mehr an multifunktionalen, offenen Zonen kluge Antworten im Bereich der sozialen Kontrolle und der Raumakustik benötigt. Die wachsenden Ansprüche an Schule können immer weniger durch spezialisierte Zusatzräume befriedigt werden. Es wird darauf ankommen, Räume intelligent mehrfach zu nutzen. Unterrichts-, Gruppenund Mehrzweckräume werden dann flexibel einsetzbar, wenn sich die spezifischen Anforderungen der verschiedenen Nutzungsarten (Essen, Singen, Lesen, Spielen, Theater etc.) der Hauptnutzung unterordnen. So kann zum Beispiel eine Aula als Mensa, ein Unterrichtsraum als Projektraum oder die Turnhalle als Versammlungsraum genutzt werden. Die aktuelle niederländische Bewegung der „breiten Schule“, aber auch erste Stadtteilschulen in Deutschland, gehen noch einen Schritt weiter: Verschiedene Institutionen wie Kindertagesstätte, Sozialfürsorge, Jugendarbeit und andere teilen sich dort dasselbe Areal. Bereits beim Bau wird über mögliche Folgenutzungen nachgedacht.
Beispiel 1: Geschwister-Scholl-Gesamtschule, Lünen Hans Scharoun hat in den 1950er Jahren diesen Grundriss für die Geschwister-Scholl-Schule in Lünen entwickelt. Jeder Klasse ordnet er einen eigenen Freiluftbereich (Hof, Atrium oder Terrasse) zu. Die verschiedenen Lernstufen (von Sharoun als „Schulschaften“ bezeichnet) sind in unterschiedlichen, für ihre die jeweilige Altersgruppe spezifisch ausgelegten Gebäudeteilen untergebracht. So bilden Klasse [1], Schulschaft [2] und die gesamte Schulgemeinschaft [3] räumlich differenzierte und gleichzeitig ineinander greifende Einheiten.
Jede gute Schule zeichnet sich aber jenseits dieser funktionalen Anforderungen durch eine eigene typische Schulatmosphäre aus, die sich aus Entwurfsstil, Material, Farbe, Belichtung und Umgebung ergibt. Diese Atmosphäre ist nicht notwendigerweise an die Schulnutzung gebunden, denn „beim Besuch von Schulhäusern fällt stets die von den Kindern, ihren Zeichnungen und Arbeiten erzeugte Buntheit ins Auge. […] Farbigkeit und Materialisierung sind in diesem Sinn vom Ort, der erwünschten Lernumgebung (Wohnatmosphäre, Ateliercharakter, Erlebnisraum, Schulstube etc.) und der zu erwartenden Inbesitznahme abhängig. Der zuweilen raue Schulalltag erfordert eine robuste Farbund Materialwahl.“ [Alan Wakefield, Daniel Kurz 2004] „Von der Klassenwohnung bis zur Schule“ - Geschwister-Scholl-Gesamtschule in Lünen (Hans Scharoun; Bauzeit von 1956-62)
Qualitätskriterien Beispiel 2: Polygoon Schule, Almere (NL) Hermann Hertzberger hat in den 1990ern Jahren die Polygoon Schule in Almere von einem zentralen Marktplatz ausgehend entwickelt. Die Klassenzimmer liegen relativ klein bemessen am Rande dieses Platzes. Auf dem Platz selber wird gebastelt, kommuniziert, gearbeitet und vor allem gelebt. Foyer und Flure verwandeln sich in „öffentliche Räume“ einer demokratischen Gemeinschaft [1], mit „Lernstraßen“ für formelle und informelle Aktivitäten (als multioptionale Räume) [2] und „Schaufenstern“ zwischen Lernstraße und Klassenraum (soziale Bezüge, Präsentation von Projektergebnissen) [3].
8 Fragen zur Beurteilung von Schulentwürfen (nach Otto Seydel) Angebote des Entwurfes als ein Ort, an dem Kinder lernen 1. Gibt er genügend Raum zum individuellen Lernen und zum gemeinsamen Lernen? (d.h. allein, zu zweit, in kleinen Gruppen, in großen Gruppen – mit der Klasse, dem ganzen Jahrgang, der ganzen Schule) 2. Gibt er genügend Raum zum innengesteuerten und zum außengesteuerten Lernen? (d.h. reizarme Regionen der Konzentration und reizvolle Regionen zur Anregung, zum Beispiel Medien, Lernfelder, Labore, Schulgärten, Schulteich) 3. Gibt er genügend Raum auch zum Nichtlernen? (d.h. für richtige Pausen) Angebote des Entwurfes als ein Ort, wo Kinder leben 4. Wird der Platz, an dem jedes einzelne Kind wirklich weiß, wo es selbst und „seine Gruppe“ hingehört, und der Platz, an dem sich die Schulgemeinschaft begegnet, gesichert? (d.h. Klarheit der Gliederung, überschaubare Substrukturen für bis zu max. 150 Kinder, Fixierung eines Zentrums) 5. Schafft er genügend Raum zur Begegnung mit Freunden bei Festen und Feiern und den Raum zur Ruhe, zum Rückzug? (d.h. Innenbereich und Außenbereich) 6. Gibt er genügend Raum zur spontanen Aktion, zum Toben, und gibt er zugleich Hilfen zu Ordnung und Achtsamkeit? 7. Ist die Eigenwelt der Schule erkennbar abgegrenzt und öffnet sich die Schule zugleich für ihre Umwelt?
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Angebote des Entwurfes als ein Ort, von dem Kinder lernen 8. Ist der Ort ein ästhetisches (Licht, Farbe, Formen, Material), ökologisches (Energienutzung, Baustoffe, Verkehrsführung) und konstruktives (das Gebäude als Bauwerk) Vorbild?
Schule als „Stadt en miniature“ - Polygoon Schule in Almere (Hermann Hertzberger; Bauzeit von 1990-92) ‚
13 Fragen zur Beurteilung von Schulbauprojekten (nach Adrian Scheidegger) Pädagogische Anforderungen an Schulraumprojekte sind nicht quantifizierbar. Um ihren Einbezug in Schulraumprojekte zu gewährleisten, wurde eine Liste von Fragen zusammengestellt. Die Fragen sollen in den Planungs- und Realisierungsprozess einbezogen werden und damit die Einhaltung pädagogischer Mindestanforderungen gewährleisten. Die Gewichtung der einzelnen Anforderungen hängt vom konkreten Einzelprojekt ab. Anregende Gestaltung 1. Ermöglicht die Architektur eine helle und freundliche Gestaltung der Räume und der offenen Bereiche innerhalb des Gebäudes? 2. Ist die Anordnung der Schulzimmer und der offenen Bereiche übersichtlich? 3. Können die verschiedenen Unterrichtsräume durch eine entsprechende Umgestaltung andere Funktionen übernehmen? 4. Regen Architektur und Umgebung zu altersgemäßem Lernen, Spielen und Bewegung an? 5. Bieten Gebäude und Umgebung Anregungen für das Sehen, das Hören, das Fühlen und das Tasten? 6. Bieten die Pausenzonen (innen und außen) sowohl großräumige Spielflächen als auch Rückzugsmöglichkeiten und Nischen? 7. Regen die Innen- und Außenräume aktive Beziehungen zur Natur sowie aktives Gestalten und Verändern bestimmter Bereiche an? Flexibilität der Raumnutzung 8. Ist innerhalb der verschiedenen Räume ein kurzfristiger Wechsel zwischen verschiedenen Lehrformen möglich? 9. Können die Räume langfristig an veränderte Rahmenbedingungen angepasst werden? 10. Sind die Räume auch für nichtschulische Zwecke geeignet?
Gestaltungsmöglichkeiten für Schüler und Lehrkräfte 11. Bietet die Architektur den Schülern und Lehrkräften die Möglichkeit, Klassenzimmer und offene Bereiche flexibel zu gestalten? 12. Bieten Architektur und Umgebung einen gestalterischen Spielraum an, um den verschiedenen Bereichen ein jeweils eigenes Gesicht zu geben? 13. Ermöglicht das Projekt eine aktive Mitgestaltung naturnaher Elemente durch die Schüler und Lehrer?
Schule (und Schulsystem)
Gesundheitsfürsorge, soziale Dienste, Schulbegleitung etc.
gemeinsam zu nutzende Räume verschiedener Schulen
klassenübergreifende Lernzonen (innerhalb der Schule)
Offene Schule Klassen-/Lernraum
Freizeitpädagogik, Jugendräume etc
Lernen im Stadtteil (Projekte, Aufträge etc.) Praktika, Berufs- vorbereitung etc.
Unterrichtsangebote externer Bildungseinrichtungen (freie Musik-/Theater-/ Kunstschulen etc.
Offene Schulen bündeln Ressourcen und setzen auf Synergien. Sie werden zu zentralen Orten im Stadtteil.
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Neue Anforderungen an Lernräume Architekten, Planer und Auftraggeber müssen auf neue Anforderungen reagieren. Insbesondere die anstehenden Sanierungs-, Erweiterungs-, Umbau- und Neubaumaßnahmen für den Ganztag erfordern einen neuen Dialog zwischen Pädagogik und Architektur.
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Hier nur einige Beispiele: • Ein Kind, das 12 Jahre Ganztagsunterricht bekommt, verbringt zwischen 18.000 und 20.000 Stunden auf dem und um das Schulgelände. Im Ganztag wird die Schule zum zweiten Lebensmittelpunkt. • Schüler, aber auch Lehrer sind stärker in Bewegung: Projektunterricht, Zusammenarbeit über Klassengrenzen hinaus und Teambesprechungen prägen den Arbeitstag aller am Lernen und Lehren Beteiligten. • Lehrer befinden sich den ganzen Tag an der Schule. Sie erarbeiten den Unterrichtsstoff vor Ort, im Team oder in Einzelrecherchen. Sie werden zunehmend zu Tutoren und individuellen Begleitern. • Lernen wird mehrdimensional: Die unterschiedlichsten Aktivitäten, vom konzentrierten Zuhören über das Toben und Spielen bis zum Entspannen finden gleichzeitig statt. • Alltag in der Schule und Alltag im Stadtteil verzahnen sich zunehmend. Schulen werden zu Stadtteilzentren, in denen Aktivitäten der Erwachsenenbildung, des Vereinslebens und der sozialen Fürsorge Raum finden (siehe Abbildung Seite 21).
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Prozesse aktiv gestalten Partizipation im Schulbau
Verfahren und Mitspieler Sowohl der öffentliche Bereich Schule als auch der öffentliche Bereich Bauen sind in Nordrhein-Westfalen von komplexen Verwaltungs-, Evaluations- und Entscheidungsstrukturen geprägt.
Ein Beispiel: Die Gebäude einer Schule werden von der Kommune errichtet und in Stand gehalten. Die Kommune beschäftigt und zahlt auch die Sekretärinnen und Hausmeister. Die Lehrer hingegen werden vom Land bezahlt und von der Bezirksregierung beaufsichtigt, die wiederum für die Betreuung der Schule eine Außenstelle in der jeweiligen Kommune eingerichtet hat, die Schulaufsicht.
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Bei einem Neu- oder Umbau, einer Modernisierung oder Sanierung einer Schule sind grob vereinfacht drei Parteien beteiligt. Sie formulieren berechtigterweise Ansprüche an das Entstehende, sind bestimmten Zwängen und Hierarchien unterlegen und bewegen sich in spezifischen Sprach- und Verständnisräumen. Die Entwicklung von Schulbauten findet also in einem Dreieck statt: • • •
Auftraggeber (Politik/Schulverwaltung) Auftragnehmer (Architekt/Gebäudemanagement/Unternehmer) Nutzer (Schüler/Lehrer/Eltern/Stadtteil …)
Diese „Parteien“ werden in der Regel in einem linearen Prozess organisiert [1], der durch zusätzliche Beteiligungs- und Verfahrensstrategien maßgeblich verbessert und erweitert werden kann [2] (siehe Abbildung Seite 25). Wichtig bei diesem wie bei allen Verfahren ist, dass die Partner in ein gleichberechtigtes Miteinander treten und ihre jeweiligen Interessen und Kompetenzen offenlegen.
Einfache Grundsätze, große Wirkung Die Sprache des Anderen respektieren Planer, Architekten und Verwaltungsfachleute bedienen sich sehr unterschiedlicher Sprachen. Wer weiß schon jeweils, was ein „vorzeitiger Maßnahmenbeginn“, ein „Blendbogen“ oder ein „Vintagefaktor“ ist? Es ist notwendig, dass alle Beteiligten in Schrift, Wort und Bild so weit
wie möglich auf Verständlichkeit achten, ihre Absichten offen legen und sich bemühen, den Anderen zu verstehen.
Kompetenzen nutzen Der Bau von Lernräumen verläuft wie alle gegenwärtigen Planungsprozesse grundsätzlich mehrdimensional und ist nur im Zusammenspiel mit allen Disziplinen zu bewältigen. Wichtig ist, dass alle Beteiligten zielführende Beiträge in den Prozess einbringen können. Steuerungsgruppen, die quer zu den Hierarchien (vom Hausmeister bis zur Direktorin) als Berater von Bauprozessen tätig sind, entwickeln über die Entwurfszeit oft eigene Kompetenzen. So eingebunden treten sie damit nicht mehr als „Gegner“ auf, sondern vielmehr als Partner von Bauherr und Architekt.
Die Zeit zum Mitspieler machen Die Konzeption eines Baus, der sich auf der Grundlage von pädagogischen Konzepten entwickelt, ist nicht standardisierbar und braucht Zeit. Kompetenzen wollen entwickelt, Abstimmungen vorgenommen werden. Diese Zeit muss von Anfang an ehrlich eingeplant werden, damit sie nicht durch Beschleunigung der Prozesse notwendige Beteiligungsverfahren verhindert – zu Beginn (Grundlagenermittlung), auf dem Weg (Programme und Pläne anpassen) und gegen Ende (Bauprozess begleiten).
Schule ist kontinuierliche Veränderung Die Nutzer eines Gebäudes verändern seine Gestalt bereits unmittelbar nach der Fertigstellung. Viele Generationen Lehrer und Schüler werden in einem einmal entworfenen Um- oder Neubau arbeiten. Sie werden seine Funktionen und Atmosphären prägen. Üblicherweise nimmt jedoch die Identifikation mit dem Bau nach der Eröffnung kontinuierlich ab. Um Identifikationspotenziale zu erhalten, sollten Bauherren und Planer neuen pädagogischen Konzepten und neuen ästhetischen Einschreibungen Räume offen halten. Jede Schulgeneration sollte die Möglichkeit haben, ihre eigenen Spuren hinterlassen zu können. Seite 25: Schulbau - ein komplexer Prozess ‚
Schulentwicklung stellt Raumbedarf fest Raumbedarf wird gemeinsam mit der Schule ermittelt – auf Basis des Pädagogischen Konzepts
Schulverwaltung stellt Raumbedarf anhand von Kennzahlen zusammen
Steuergruppe in jeder Einrichtung und zwischen den Einrichtungen z. B. Architektenwettbewerb um die beste Idee oder Öffentlich-Privates Verhandlungsverfahren
Schulbauprozess klassisch
Prozessalternativen
Schulverwaltung hält Rücksprache mit der Schule Schulverwaltung legt Raumfunktionsprogramm fest und beauftragt Hochbau/Gebäudewirtschaft mit Entwurf (wird ggf. extern vergeben) Architekten/Planer entwickeln Entwurf in Abstimmung mit Hochbau und Schulverwaltung Schulverwaltung hält Rücksprache mit der Schule (Lehrer, Schüler, Angestellte, Eltern etc.)
Entwicklung von Nutzungsalternativen, Raumbüchern und atmösphärischen Skizzen
Architekten/Planer machen Ausführungsplanung Hochbau/Gebäudewirtschaft schreibt aus und beauftragt
Einbindung in die städtische Nutzung, ggf. Selbstverwaltung
Bauphase
Nutzung
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Beteiligung zahlt sich aus Den immer wieder kommunizierten Problemfeldern Vandalismus und Vernachlässigung begegnet man am besten durch Beteiligung. Die Erfahrung aus der Praxis zeigt, dass Schüler verantwortungsvoll und pfleglich mit Räumen umgehen, die sie selbst mit gestaltet haben – von der selbst „verschönerten“ Toilette über den neu angelegten Schulgarten bis hin zur gemütlichen Entspannungsecke, die mit den Eltern entworfen wurde. Jeder Schulentwicklungs- und Bauprozess muss sich dabei immer wieder der neuen Herausforderung stellen, eine adäquate Form der Mitwirkung zu finden. Zu erwarten ist in jedem Fall, dass sich der Mehraufwand zu Beginn eines solchen Prozesses später durch einen wesentlich geringeren Instandhaltungsaufwand auszahlt.
Ansprüche in Beziehung setzen
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Entwickler, Verwalter, Architekten, Lehrer, Schüler und Eltern haben ganz unterschiedliche Ansprüche an „ihre“ Schule. Schule jedoch gehört keinem Interessenvertreter persönlich, sondern wird von der Stadtgemeinschaft verantwortet. Wichtig ist deshalb, dass alle Beteiligten ihre eigenen Vorstellungen im Zusammenhang mit allen unterschiedlichen Anforderungen an das Gebäude und dessen Nutzung sehen. Dabei geht es nicht darum, Dinge gegenüber zu stellen: Kosteneffizienz darf gute Gestaltung nicht verhindern, ebenso wenig wie Brandschutz sinnvollen Grundrissen entgegen steht. Um eine für alle Nutzergruppen gute Schule zu entwickeln, haben sich Moderationsprozesse als sinnvoll und sehr erfolgreich erwiesen und im Ergebnis nicht den kleinsten gemeinsamen Nenner, sondern das größte gemeinsame Ziel aufgezeigt.
Oben: Das Klassenmodell als gemeinsames Arbeitsergebnis, Evangelische Gesamtschule Gelsenkirchen-Bismarck (Architekt: Peter Hübner) Unten: „Erzählerische Intervention: Vom tristen Gang zum Aufenthaltsraum“, ErikaMann-Grundschule Berlin (Architektur: Baupiloten Berlin)
Normen verlassen, Grenzen nutzen Jedes Bauvorhaben hat Grenzen, seien sie räumlicher, finanzieller oder zeitlicher Natur. Die Herausforderung liegt im kreativen Umgang mit diesen Vorgaben. Die überkommenen Normen des Schulbaus, die Pädagogik in Quadratmeterstandards pressten, werden zeitgemäßen Lehrund Lernkonzepten nicht mehr gerecht. Die Chance zu neuen Wegen und zur Abkehr von veralteten Normen liegt im konstruktiven Umgang mit orts- und projektspezifischen Maßgaben und nicht standardisierten Bedingungen.
Beiträge zum Gelingen: Was Pädagogen einbringen sollten, damit Architekten sinnvoll planen können Welche pädagogischen Inhalte müssen ihre Übersetzung im Raumprogramm finden? • Wie genau lautet unser wichtigstes Ziel? (Interkultureller Dialog? Ort des Rückzugs und der Geborgenheit? Ganzheitliche Bildung? Ganztagesbetreuung?) • Wie sieht unser Zeitkonzept aus? (Unterricht nach Wochenplan? Freie Arbeit? Projektorientierter Unterricht? Ganztag oder Halbtagszweig?) • Wie sieht unser Arbeitszeitkonzept aus? Wollen wir die Präsenzzeit in Schule erweitern und welche Ausstattungs- und räumlichen Bedingungen müssen dann erfüllt sein? • Für welches Lehr- und Lernkonzept steht die Schule? Welche Formen individueller Förderung gibt es? (Handlungsorientiertes Lernen? Vernetzung mit dem Umfeld? Lernen in Integrationsklassen? Fachübergreifender Unterricht? Innere Differenzierung nach persönlichen Neigungen und Fähigkeiten der Schüler?)
Wie ist die Partizipationsstruktur in der Schule und welche Gruppen sollen wie eingebunden werden? • Wie weit soll Beteiligung in der eigenen Schule gehen? Welche Ansprüche und Pflichten erwachsen daraus? • Welche Personen in der Schule sind besonders geeignet, um in einer Steuerungsgruppe mitzuarbeiten? • Gibt es neben Schülern und Lehrern noch weitere Nutzergruppen oder Kooperationspartner? • Öffnen wir die Schule zum Stadtteil? Ist die Zusammenarbeit mit anderen Institutionen oder Personen sinnvoll und vielversprechend für die Pädagogik? • Welche Instrumente und Methoden haben wir bereits, um alle Nutzergruppen in den Planungsprozess einzubinden?
Welche Anforderungen müssen die einzelnen Bereiche und Ebenen unserer Schule erfüllen? • Findet Lernen in Lernfamilien statt oder in großen Klassenverbänden? Möchten wir getrennte Basisräume für Lerngruppen bzw. Klassen und entsprechende Fachräume? • An welchen Stellen sind Vielfachnutzungen vorstellbar, wo sind sie ausgeschlossen? (Multifunktionale Räume? Klar definierte Funktionsräume?) • Welche Anforderungen müssen die Fach- und Werkräume erfüllen? • Welche räumlichen Besonderheiten lassen sich aus unserem Schulprogramm ableiten? (Demokratische Schule mit entsprechenden Dialogräumen? Inklusive Schule mit entsprechend barrierefreien Zugängen und Möglichkeiten?)
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Wir unterrichten Kinder, keine F채cher [...]. [Alfred Hinz, P채dagoge und Schulleiter, 2004]
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Korsetts und Rahmen: Vorschriften
Zum Verständnis Schulbau ist in Nordrhein-Westfalen eine Selbstverwaltungsangelegenheit der Städte und Gemeinden. Diese sind für den Bau und die Unterhaltung ihrer Schulgebäude und Schulanlagen zuständig. Gesetzliche Grundlage hierfür ist das neue Schulgesetz NordrheinWestfalen, wo es ganz allgemein heißt: „SchulG, § 79 – Bereitstellung und Unterhaltung der Schulanlage und Schulgebäude: Die Schulträger sind verpflichtet, die für einen ordnungsgemäßen Unterricht erforderlichen Schulanlagen, Gebäude, Einrichtungen und Lehrmittel […] zur Verfügung zu stellen“. Was aber sind die für einen ordnungsgemäßen Unterricht erforderlichen Schulanlagen und Gebäude?
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Starre Vorgaben der Vergangenheit „Früher“, das heißt noch bis 1995, gab es eine Vielzahl an Gesetzen, Richtlinien und sonstigen Rechtsquellen, die Auskunft erteilten und Vorgaben über die Anzahl, Größe, Art und Beschaffenheit der Schulgebäude und -räume gemacht haben. Es waren sowohl Raumprogramme verbindlich vorgeschrieben als auch detaillierte Planungsanforderungen an die zu errichtenden Räume vorgegeben, hinsichtlich ihrer Größe, ihres Zuschnitts, der Raumhöhe, der Fensteranzahl etc. Verbindlich niedergelegt waren diese Vorgaben im 1974 erstmalig erschienenen gelben Ordner „Schulbau-Richtlinien des Landes Nordrhein-Westfalen“. Es handelte sich um eine Sammlung der für den Schulbau und die Schulbauplanung wichtigen Rechtsgrundlagen, insbesondere enthielt sie die Musterraumprogramme der einzelnen Schulformen, Planungsgrundsätze, Vorgaben zur Planung betriebstechnischer Anlagen und die Bauaufsichtlichen Richtlinien für Schulen.
Zusammen mit dem damals noch gültigen Instrument der Schulbauförderung und den Schulbauförderichtlinien entstand so ein festes System von klar umrissenen Aufgaben und Pflichten. Dem Schulbau als standardisierte Bedarfsanforderung wurde das entsprechende Musterraumprogramm zugeordnet. Die Fördermittel des Landes orientierten sich an den laut Raumprogramm erforderlichen und genehmigten Flächen und den daran anknüpfenden Raumanforderungen.
Die Aufgabe des Architekten bestand darin, die festen Forderungen aus dem Raumprogramm und den sonstigen Vorgaben mit den örtlichen Gegebenheiten zusammen zu führen. Gestaltungsspielraum für die Organisation und die Funktion des Gebäudes und für räumliche Qualitäten, für die Vorstellungen der Lehrer oder der Kinder gab es nur wenig innerhalb der engen Rahmenbedingungen.
Als nächster Schritt wurde im Jahr 2000 die neue Schulbaurichtlinie als bauaufsichtliche Richtlinie eingeführt. Sie ersetzt die alten Bauaufsichtlichen Richtlinien und stellt auf nur einer Seite (!) die nötigsten Regelungen zur Gefahrenabwehr zusammen. Alle anderen, früher vorhandenen Forderungen, zum Beispiel nach der Raumhöhe in Klassenzimmern, sind ersatzlos gestrichen worden.
Ein Dialog zwischen Architekten und Pädagogen fand daher in der Regel eher reduziert statt, zum einen weil die starken Regelvorgaben keinen Spielraum übrig ließen (wie z. B. bei der Planung eines Klassenzimmers), zum anderen aber auch, weil die Schwerpunkte des Schulbaus gerade in den 1970er oder frühen 1980er Jahren andere waren (wie z.B. rationelle und standardisierte Planung und Ausführung, geringe Errichtungskosten).
Mit dem letzten Schritt, der Freigabe der Schulbaufördermittel, wurde erstmalig 2002 die Schulbauförderung pauschaliert. Die Kommunen erhalten abhängig von ihrer Schülerzahl eine Schulpauschale, die für den Bau, die Modernisierung und Sanierung, den Erwerb, die Miete oder auch das Leasing von Schulgebäuden bzw. deren Einrichtung und Ausstattung verwendet werden kann.
Gestaltungsmöglichkeiten der Gegenwart Schon seit 1995 hat sich das Regelwerk um den Schulbau vollständig geändert. Im Jahr 1995 wurden zunächst die Musterraumprogramme der Schulen ersetzt. Der entsprechende Runderlass geht einen massiven Schritt in Richtung der Flexibilisierung von Raumprogrammen und stellt einen „Katalog“ an Räumen und Fachräumen vor, aus dem die Schulträger nach pflichtgemäßem Ermessen ihre jeweiligen Raumprogramme zusammenstellen können. Ausdrücklich sind diese Vorgaben nicht verbindlich und stellen nur Rahmenvorgaben zur Orientierung dar. Die Abweichung dieser Vorgaben wird ausdrücklich erlaubt soweit nicht gegen Gesetze verstoßen wird und die Abweichung „erforderlich“ ist. Interessant ist dabei ebenfalls, was nun bewusst nicht mehr geregelt ist: So gibt es für Nebenräume, Verwaltungsräume und andere nicht unmittelbar dem Unterricht dienende Flächen in Schulen keine Vorgaben mehr, das heißt, deren Ausgestaltung ist ganz in das Ermessen der Kommune gelegt.
So kommt es, dass Schulbau heute weitgehend flexibilisiert ist. Die bereits benannten Rechtsgrundlagen regeln nur noch sehr wenig, sondern geben allgemeine Rahmenvorgaben und unverbindliche Hilfestellungen für den Bau von Schulen. Die allgemeinen Vorgaben der Landesbauordnung gelten auch für Schulen. Bis zum Jahre 2004 kamen jedoch die Forderungen aus dem Arbeitsschutz sozusagen „durch die Hintertür“ in Form der Arbeitsstättenverordnung wieder herein – dadurch wurde zum Beispiel die Größe und Höhe von Unterrichtsräumen doch wieder vorgegeben. Mit Inkrafttreten der neuen Arbeitsstättenverordnung sind dann aber die festen Regelungen weggefallen, so dass nun auch dort keine verbindlichen Vorgaben für Schulräume mehr existieren.
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Geltende Vorschriften
Gestaltungsmöglichkeiten der Zukunft
Es gelten also heute die folgenden Vorgaben (alle schulspezifischen Regelungen sind auch in der „BASS“, der bereinigten amtlichen Sammlung der Schulvorschriften aufgeführt): • Landesbauordnung (BauONW) • die Grundsätze für die Aufstellung von Raumprogrammen für allgemein bildende Schulen und Förderschulen, Runderlass des Ministeriums für Schule und Weiterbildung vom 19.10.1995, BASS 10-21 Nr. 1 – für Raumprogramme • die Schulbaurichtlinie (SchulbauR) - Runderlass des Ministeriums für Städtebau und Wohnen, Kultur und Sport vom 29.11.2000, BASS 10-21 Nr. 5) – als besondere Verwaltungsvorschrift
Die materiellen Vorgaben haben sich erheblich verringert, die Zuständigkeiten und Verfahrenswege sich vereinfacht. Die rechtlichen Voraussetzungen, nach tatsächlichem, individuellem Bedarf und nicht nach rechtlichen Vorgaben planen und bauen zu können, bestehen seit Jahren. Dennoch setzt sich diese Erkenntnis nur schleppend – fast schon „ungern“ – durch. Denn wie viel einfacher ist es, für Missstände unsinnige und einengende (oder auch, wenn etwas „passiert“: zu wenige) Vorschriften verantwortlich zu machen …
außerdem gelten folgende, bauliche Fragen eher am Rande berührenden Regelungen • Sicherheit im naturwissenschaftlich-technischen Unterricht, RdErl. des MSWWF vom 19.11.99, BASS 18-29 Nr. 5 • Brandschutztechnische Ausstattung und Verhalten in Schulen bei Bränden, Gem. RdErl. des IM und des MSW vom 19.5.2000, BASS 18-29 Nr. 1 • Strahlenschutz in Schulen, RdErl. des KM v. 22.4.94, BASS 18-29 Nr. 3 Allgemeine Hilfestellung und Empfehlungen geben überdies noch die Unfallversicherungsträger, zum Beispiel in der Unfallverhütungsvorschrift • GUV 6.3 „Schulen“ vom 29.10.2002 • Und die DIN 58125 - „Schulbau – bautechnische Anforderungen zur Verhütung von Unfällen“ vom Juli 2002
Und immer wieder wird deutlich, dass klare und detaillierte Vorgaben das Bauen auch „einfacher“ im Sinne von „weniger mühevoll“ gemacht haben, weil weniger gefragt und diskutiert werden musste. Im Umkehrschluss wird aber deutlich, dass gerade darin auch die besondere Chance liegt: Denn nur durch • ein stetiges Hinterfragen althergebrachter Grundsätze, • und ein Neu-Diskutieren von gewohnten Größen, Flächen und Zuordnungen können im gemeinsamen Dialog von Architekten, Lehrern und Schülern tatsächlich neue Schulgebäude geplant und gebaut werden. Die rechtlichen Voraussetzungen dafür sind längst gegeben.
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Quellen + Links Abbildungsverzeichnis
Quellen:
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Link: • www.paedagogische-architektur.de
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Die Ausstellung kann von interessierten Organisationen bei den Montag Stiftungen gebucht werden. Sie benötigt mindestens 100 qm freie Ausstellungsfläche (Maße: Länge 12,50m, Breite 8,00m, min. Höhe 2,50m, Boden: bedruckter Teppich).
Herausgeber: Frauke Burgdorff (Montag Stiftung Urbane Räume gAG) Karl-Heinz Imhäuser (Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft)
Ausstellung: Frauke Burgdorff, Karl-Heinz Imhäuser, Kristin König (Montag Stiftungen) Kerstin Huven Monika Söller, Anita Novak, Henning Schäle (raum.4) Jürgen Oelgemoller (designbuero Münster)
Begleitheft: Frauke Burgdorff, Karl-Heinz Imhäuser, Kristin Koenig (Montag Stiftungen) Kerstin Huven Päivi Kataikko, Dirk E. Haas (RE.FLEX architects_urbanists)
Kontakt: Montag Stiftungen Villa Prieger Raiffeisenstraße 2 53113 Bonn Kristin König (Montag Stiftung Urbane Räume gAG) Tel. 0228-26716-470, k.koenig@montag-stiftungen.de Jörn Solbrig (Kommunikation und PR der Montag Stiftungen) Tel. 0228-26716-632, j.solbrig@montag-stiftungen.de
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