17 minute read
SAISONTHEMA
VERSCHWINDEN IM RÜCKSPIEGEL
Eine besondere Facette des Saisonthemas «Helden im Rückspiegel» zeigt sich im Konzertprogramm mit Ian Bostridge am 3. und 4. März: Der «Rückspiegel» ist stets auch Sprachbild für Abschied und Trauer – längst nicht bloss dann, wenn «Helden» (oder «Heldinnen») darin aufscheinen.
Advertisement
Eine «Heldin» nennt 1727 Johann Sebastian Bachs Trauerode die sächsische Kurfürstin; als «Fürbild» solle sie uns in Erinnerung (wir könnten sagen: im Rückspiegel sichtbar) bleiben. Den Mord an Gustav III. beklagt der schwedische Hofkapellmeister Joseph Martin Kraus 1792 ganz ohne Worte. So ergreift die spürbare Betroffenheit seiner Musik auch uns.
Passt nicht das Bild des «Rückspiegels» zu dieser erschreckenden Erfahrung, die Kraus mit uns teilt? Was uns eben noch nahe war, lebendig vor Augen stand, ist uns plötzlich entrissen, nur noch stumm und ausschnittsweise in unserer Erinnerung bewahrt. Unweigerlich wächst die Distanz, und immer kleiner und fremder wird das Verschwindende.
Zugegeben, die Metaphernspielerei wird dem Thema vielleicht nicht gerecht. Wie aber wäre denn angemessen zu sprechen von den «Unbegreiflichkeiten», vom «Rätsel des Todes, mit dem Philosophen und Theologen sich ertragreich und aussichtslos herumschlagen», wie es Peter Gülke nennt? Der Musikwissenschaftler und Dirigent hat 2015 ein anspruchsvolles, mitunter schmerzhaftes (und aus genau diesen Gründen lesenswertes) Buch über «Musik und Abschied» geschrieben.
Das unweigerliche und verfremdende Verschwinden beobachtet auch Gülke, findet dafür jedoch poetischere Bilder als dasjenige des Rückspiegels: «Vor ikonenhafte Goldgründe geratend, rücken die Toten tiefer ins Totsein hinein.» Seine Trauer-Reflexionen verbindet Gülke mit musikalischen Betrachtungen. So erläutert er, wie die Arie «Ich freue mich auf meinen Tod» (aus der Bach-Kantate «Ich habe genug») nicht einfach irgendeine krude barocke Jenseitslust darstellt, sondern als «Rollenprosa» verstanden werden muss: Es ist der neutestamentliche Prophet Simeon, der hier lebenssatt seinem Ende entgegenblickt. Wobei der trauernde Gülke der Idee, ein solches Ende trostreich zu finden, gleich wieder skeptisch gegenübersteht: «Welcher Betroffene aber will es sinnvoll finden, will getröstet sein?» Und: «Noch der bestgemeinte Trost erscheint abstrakt, hängt zu hoch über dem Geschehenen.»
Gegenüber solchem kategorial unzureichenden Trost sieht Gülke die Musik im Vorteil: «Musik braucht, um zu helfen, nicht eigens von unseren Freuden und Leiden zu sprechen; sie brauchte ausser sich selbst nichts zu meinen, hülfe schon, wenn sie nur klingt, nur anwesend ist, Gesellschaft leistet, uns in ihre Schwingungen hereinnimmt und zu verstehen gibt, dass sie sonst nichts will.» Dies allein heilt unsere Wunden nicht. Aber es hilft erklären, warum Abschied und Trauer Musik nötig haben – nicht nur im ersten Moment des Verschwindens, sondern immer wieder beim suchenden Blick in den Rückspiegel.
DER SPÄTE SCHUMANN
Nach wie vor stehen Schumanns Violinsonaten im Schatten seiner berühmten und populären Werke. Zugegeben: Erst spät fand der Komponist zur Violine. Und zur Form der Sonate hatte er zeitlebens eine etwas ambivalente Beziehung. Dennoch schrieb er mit seinen drei Violinsonaten grossartige – auch neuartige – Kammermusik, zu entdecken in einer Sonntags-Matinee mit Roberto González-Monjas und Kit Armstrong.
Es war im Januar 1850, als der Gewandhaus-Konzertmeister Ferdinand David den mit ihm befreundeten Robert Schumann um neue Werke für die Violine bat. «Es fehlt so sehr an was Gescheidtem Neuen», schrieb er ihm, «und ich wüsste Niemand, der es besser könnte als Du. Wie schön wäre es, wenn Du jetzt noch etwas derartiges machtest, was ich Dir dann mit Deiner Frau vorspielen könnte.» Allerdings sollte es Herbst 1851 werden, bis Schumann dieser Bitte nachkam. Und es war das erste Mal, dass er sich, von Haus aus bekanntlich Pianist, der Violine annahm. Eine späte Hinwendung – und genau das wurde den beiden Violinsonaten Nr. 1 und Nr. 2 zum Verhängnis. Denn Schumann war bereits 41 Jahre alt, als er sie zu Papier brachte – eine späte Premiere.
«Die erste Violinsonate hat mir nicht gefallen; da habe ich denn noch eine zweite gemacht, die hoffentlich besser geraten ist.» Meinte Schumann das ernst oder ironisch? Wie auch immer, gewisse Bedenken gegenüber diesen Sonaten hegte in späteren Jahren ausgerechnet Schumanns Gattin Clara. Denn 1854 hatte Schumann bekanntlich versucht, sich mit einem Sprung in den Rhein das Leben zu nehmen, was zur Folge hatte, dass vielen Musikkennern seine letzten Kompositionen – die Violinsonaten, aber auch das Violinkonzert – auf Schumanns fortschreitenden psychischen Zerfall hinzudeuten schienen und als «düster» und «verworren» abgetan wurden. Erst in neuerer Zeit hat die Schumann-Forschung nachgewiesen, dass gerade dieser Spätstil Schumanns durchaus eine selbstbewusste, klar strukturierte künstlerische Eigenständigkeit aufweise. Allerdings – und das war die logische Folgerung dieser neuen Einschätzung – sollten für dieses Spätwerk nicht dieselben Massstäbe angewandt werden wie zur Beurteilung des genialen Frühwerks, der grossen Klavierzyklen und der Lieder.
EINE GEHEIM GEHALTENE DRITTE SONATE … Damit waren beste Voraussetzungen für eine Neubeurteilung von Schumanns Violinsonaten geschaffen. Jedenfalls für die Sonaten Nr. 1 a-Moll op. 105 und Nr. 2 d-Moll op. 121. Denn dass Schumann noch eine dritte Violinsonate komponiert hatte, wussten über lange Zeit nur Eingeweihte. Offensichtlich hatte sie Schumanns Gattin Clara nach Roberts Tod – wohlweislich? – unter Verschluss gehalten, also nie zur Veröffentlichung freigegeben. Erst mit den Vorbereitungen zur neuen Schumann-Ausgabe wurde klar, dass da noch ein ungehobener Schatz verborgen liegt. 1956 wurde Schumanns Violinsonate Nr. 3 a-Moll als Werk ohne Opuszahl Nr. 2 zum ersten Mal gedruckt. Aber erst die kritischen Neuausgaben der Jahre 2001 und 2007 erschlossen das Werk unwiderruflich dem heutigen Musikleben.
Warum hat das so lange gedauert? Vermutlich hängt es mit der etwas unorthodoxen Entstehungsgeschichte des Werks zusammen. Im Oktober 1853 entstanden zwei Sonatensätze als Teil eines Gemeinschaftswerks von Schumann, Johannes Brahms sowie dem Schumann-Schüler Albert Dietrich, wobei die beiden Letztgenannten je einen weiteren Satz beitrugen. Gedacht war dieser Viersätzer für einen Vierten im Bunde: den Geiger Joseph Joachim. Er sollte bei einer Aufführung der Sonate herausfinden, von wem die einzelnen Sätze stammen. Was diesem offenbar mühelos gelang. Bekannt wurde das Werk in der musikwissenschaftlichen Literatur schliesslich unter dem Titel F.A.E.-Sonate; zum ersten Mal veröffentlicht wurde sie allerdings erst 1935.
EINE SPANNENDE ENTDECKUNGSREISE Schumann seinerseits ging bereits im Oktober 1853 daran, seine beiden bereits komponierten Sätze (Intermezzo und Finale) um zwei weitere Sätze (Kopfsatz und Scherzo) zur eigenen, viersätzigen Sonate zu ergänzen. Joseph Joachim schätzte diese dritte Sonate auf Anhieb und lobte ihre «konzentriert energische Weise». Das Werk rechtfertigt solches Lob in jeder Hinsicht: Als bedeutendes Zeugnis von Schumanns später Schaffensphase widerlegt es alle Vorurteile gegenüber der angeblich nachlassenden Schöpferkraft des Komponisten.
Erleben Sie Schumanns drei Violinsonaten in einer Sonntags-Matinee – in der Interpretation von Roberto González-Monjas und Kit Armstrong, dem perfekt aufeinander eingespielten Kammermusikduo, wird das zweifellos zu einem besonderen Ereignis. Sicher erinnern Sie sich: 2017 führten die beiden Künstler in Winterthur an drei Abenden sämtliche Violinsonaten von Beethoven auf, 2019 folgten die drei Brahms-Sonaten und 2020, wiederum an drei Abenden, die reifen Sonaten von Mozart. Nun also Schumann – seine späten Violinsonaten. Es wird eine spannende musikalische Entdeckungsreise werden.
Werner Pfister
Hauskonzert
SO 28. MÄR 11.00 Uhr
AUS ERSTER HAND
Zum Saisonbeginn war Pierre-Laurent Aimard beim Musikkollegium Winterthur in Beethovens fünf Klavierkonzerten zu erleben. Nun kehrt der Meisterpianist mit Werken von Mozart, Ligeti und Bach zurück. Ob Barock, Wiener Klassik oder zeitgenössische Moderne – stets beeindruckt Aimard mit stilistischer Kompetenz und einer tieflotenden analytischen Genauigkeit.
Den Anfang macht Pierre-Laurent Aimard dieses Mal mit Mozart – mit dem «Concerto per il Clavicembalo del Sgr. Cavaliere Amadeo Wolfgango Mozart nel Decembre 1773», wie es im Autograph des Klavierkonzerts Nr. 5 KV 175 heisst. 17 Jahre alt war Mozart damals, und eigentlich war es sein erstes «ureigenes» Klavierkonzert. Denn die vier vorangegangenen waren sogenannte «Pasticci», also keine originären Eigenschöpfungen, sondern Kompositionen, die auf Werken anderer Meister basierten. Erst mit dem fünften Klavierkonzert beginnt der eigentliche Mozart, sechs Jahre nach der Niederschrift der «Pasticci» – eine Zeitspanne, in der sich Mozart nicht nur das kompositorische Handwerk, sondern auch eine unvergleichliche Fülle an künstlerischer Einbildungskraft zu erwerben vermochte.
Mozart hat die Gattung des Klavierkonzerts zwar nicht erfunden, aber er hat sie mit seinen Beiträgen weit über das hinaus gehoben, was er an Vorläufer-Werken von Bach und dessen Söhnen, von Haydn, Wagenseil und anderen vorfand. Unter Mozarts Händen – auch dank seiner eminenten pianistischen Kunst – avancierte das Klavierkonzert zur beliebtesten konzertanten Gattung der Wiener Klassik und ist es eigentlich bis heute geblieben. Mozart schrieb die meisten für den eigenen Gebrauch, und wo immer er sie spielte, machte er Furore (und oft auch Geld) damit. Dass er dabei am Flügel oft spontan improvisierte, zeigt seine Bemerkung zum F-Dur-Klavierkonzert KV 175: «Wenn ich dieses Concert spiele, so mache ich allzeit was mir einfällt …» Er nahm es 1774 auch nach Mannheim mit: «Da habe ich mein altes Concert ex D gespielt, weil es hier recht wohl gefällt.» Und als es Jahre später um eine Veröffentlichung des Werks ging, meinte er: «Wegen dem Concert … möchte ich es doch unter 6 Duckaten nicht hergeben.» Recht hatte er!
GYÖRGY LIGETI Im selben Konzertprogramm stellt PierreLaurent Aimard auch das Klavierkonzert von György Ligeti vor. Dieser hielt Aimard schlicht für den besten Interpreten seiner Klaviermusik. Die persönliche Wertschätzung war gegenseitig, und sie geht bis auf die frühen 1980er Jahre zurück: «Ich spielte regelmässig seine Musik», erinnert sich Aimard, «wirkte bei Porträtkonzerten mit und brachte wiederholt Kompositionsaufträge zur Uraufführung. Es war eine faszinierende Erfahrung.» Ligeti gestand seinerseits, dass Aimards souveränes Klavierspiel ihn sogar zur Komposition einiger seiner komplexesten Klavieretüden inspiriert habe. Und schliesslich sorgte er dafür, dass dieser Pianist bei der Gesamteinspielung seiner Werke im Rahmen der «György Ligeti Edition» (Sony) und ihrer Fortsetzung bei Teldec unter dem Titel «The Ligeti Project» eine Schlüsselrolle übernehmen konnte.
Dank Aimard erwartet Sie also Ligeti aus erster Hand. Und das will etwas heissen, denn wer tiefer in die Klaviermusik dieses Komponisten eintaucht, sieht sich mit zahlreichen Fragen konfrontiert. Obwohl die Hauptquelle für die interpretatorische Auseinandersetzung selbstredend der gedruckte Notentext ist, hat der Komponist immer wieder auf die Bedeutung des Nicht-Notierten bzw. des Nicht-Notierbaren hingewiesen: «Nun ist es so, dass ein Teil dessen, was die Aufführungsweise betrifft – Tonhöhen, rhythmische Konfigurationen, auch Tempo usw. –, genau angegeben werden kann. Und doch gibt es dann etwas, das man nicht genau angeben kann: nicht nur die Dynamik, sondern das, was den Geist der ganzen Sache ausmacht.» Aimard versteht das sozusagen als Aufforderung an die Interpreten: «Komponisten benötigen Interpreten, die ihre eigene Kraft einbringen, ihre Vorstellungskraft und ihre Emotionen.»
JOHANN SEBASTIAN BACH Nur zweieinhalb Wochen später kehrt Pierre-Laurent Aimard erneut nach Winterthur zurück – dieses Mal mit Bach, mit dem zweiten Band des «Wohltemperierten Klaviers». Ein rares Ereignis, soviel darf jetzt schon vorausgeschickt werden, denn wenn überhaupt spielen die meisten Pianisten lieber den ersten Band. Als sich Johann Sebastian Bach im Jahr 1722 für das Amt des Thomaskantors in Leipzig bewarb, dürfte ihm klar gewesen sein, dass von ihm ein Nachweis seiner pädagogischen Fähigkeiten verlangt würde. Was hätte von solchen Fähigkeiten eindrücklicher zeugen können als ein eigenes, pädagogisch konzipiertes Werk? Vermutlich waren es solche Überlegungen, die ihn zu einer ersten Sammlung mit dem Titel «Das Wohltemperierte Klavier» veranlassten, worin er 24 Präludien und Fugen (die zum grossen Teil schon in früheren Jahren entstanden waren) zusammenfasste.
Die Sammlung stiess auf ein grosses Echo, und so liess Bach gut 20 Jahre später einen zweiten Band folgen, noch etwas umfangreicher und tiefgreifender als der erste. Dass sich Pierre-Laurent Aimard beim barocken Bach ebenso profund auskennt wie beim Zeitgenossen Ligeti, demonstrierte er beeindruckend mit einer Einspielung vom ersten Band des «Wohltemperierten Klaviers»: einer Interpretation, die luzide Transparenz mit fast meditativer Versenkung verbindet. Aimard spielt Bach mit einer Disziplin, die nicht aus äusserlicher Motorik, sondern aus innerer Freiheit erwächst, und er findet stets die richtige Balance zwischen Spannung und Gelöstheit, zwischen Eleganz und Strenge, um den musikalischen, den eigentlichen «Geist des Sache» (um Ligetis Wort nochmals zu zitieren) zum Vorschein zu bringen.
DIE FÜNFTE FÜNFTE
Fünfmal eine fünfte Sinfonie: Wie ein roter Faden zieht sich diese Idee von Chefdirigent Thomas Zehetmair durch das Saisonprogramm 2020/21 des Musikkollegiums Winterthur. Nach Beethoven, Nielsen, Bruckner und Tschaikowsky dirigiert er nun das Finale: die fünfte Sinfonie von Antonín Dvořák.
Aufgepasst! Vielleicht befindet sich in Ihrer altehrwürdigen, jahrzehntelang liebevoll umsorgten LP-Sammlung tatsächlich eine Fünfte von Antonín Dvořák. Bei mir ist es eine Einspielung von 1953 unter dem Dirigenten Ferenc Fricsay. Doch legt man diese auf, kommt man sofort ins Staunen: Das ist doch die berühmte Neunte, die Sinfonie «Aus der Neuen Welt»! Ein Etikettenschwindel? Nein, eine Tatsache, wenn auch eine aus heutiger Sicht etwas verwunderliche. Denn in damaliger Zeit, als noch Mono-Aufnahmen den Ton angaben, hielt man nichts, rein gar nichts von Dvořáks frühen Sinfonien Nr. 1 bis Nr. 4. Nennens- und also auch hörenswert waren sie erst ab Nummer 5, und folglich begann man hier mit der Zählung: Dvořáks erste Sinfonie. Auf diese Weise gelangte die Neunte damals zur Fünften. Erst in den 1960er Jahren und nun in modernem Stereo erschienen erste Gesamteinspielungen aller neun Sinfonien – unter István Kertész, Witold Rowicki und Rafael Kubelik.
DAS JAHR 1875 Wie gesagt: Bereits vier Sinfonien hatte Dvořák vollendet, als er sich 1875 an seine Fünfte machte. Es war ein bemerkenswertes Jahr. Carl Gustav Jung, Albert Schweitzer, Maurice Ravel sowie die Dichter Thomas Mann und Rainer Maria Rilke wurden 1875 geboren, Eduard Mörike und Hans Christian Andersen starben im selben Jahr. C. F. Meyer schrieb seine beliebte Novelle «Der Schuss von der Kanzel», Smetana komponierte seinen unsterblichen Zyklus «Mein Vaterland» (mit der berühmten «Moldau») und Tschaikowsky sein genauso unsterbliches erstes Klavierkonzert. In Paris geriet die Uraufführung von Bizets «Carmen» in der Opéra-Comique zum totalen Flop, in Birmingham – das später für Dvořáks Weltruhm eine wichtige Rolle spielen sollte – wurde 1875 als Weltpremiere zum ersten Mal ein Sechstagerennen durchgeführt. Und die Frauenmode entdeckte damals die sogenannte «Tournüre», die (frei nach Wikipedia) nicht mehr den ganzen Unterleib umschloss, sondern den Rock nur noch über dem Gesäss der Frau mit Hilfe von Halbgestellen aus Stahl, Fischbein und Rosshaar aufbauschte.
Ein Jahr zuvor, 1874, konnte Dvořák in Prag die Uraufführung seiner dritten Sinfonie dirigieren, und er hörte bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal überhaupt eine seiner Sinfonien. Offensichtlich ein Erfolg, denn noch im selben Jahr wurde ihm – dank der Fürsprache von Johannes Brahms – der Österreichische Staatspreis verliehen. Zwei Jahre später setzte sich Brahms erneut für seinen Schützling ein, indem er sich bei seinem Verleger
Klarinetten-Solo zu Beginn des ersten Satzes
Fritz Simrock für die Veröffentlichung von Dvořáks «Klängen aus Mähren» einsetzte. Sie wurden ein verlegerischer Erfolg, sodass Dvořák umgehend die «Slawischen Tänze» folgen liess – und die wurden ein Welterfolg.
VERLEGERISCHER ETIKETTENSCHWINDEL Nun war die Zeit reif für die Uraufführung von Dvořáks fünfter Sinfonie, die am 25. März 1879 wiederum in Prag stattfand. Der Verleger Simrock gab ihr – dieses Mal ist es ein Etikettenschwindel – aus verkaufstechnischen Erwägungen die hohe Opuszahl 76, um sie als «reifes» Werk des böhmischen Meisters auszuweisen. Dieser hatte eigentlich die Opuszahl 24 vorgesehen, was chronologisch stimmiger gewesen wäre. Simrock setzte sich aber gegen den Willen Dvořáks durch, was paradoxerweise zur Folge hatte, dass die beiden nachfolgenden Sinfonien Nr. 6 und Nr. 7 niedrigere Opuszahlen bekamen.
Gleich der Beginn der fünften Sinfonie zeigt mit ihren wunderbaren Holzbläsern, dass Dvořák den für seine Musiksprache so charakteristischen böhmischen Tonfall nun definitiv gefunden hatte. Ganz natürlich entfaltet sich das Hauptthema aus dem F-Dur-Dreiklang in Terzen und Sexten der Klarinetten. An die Stelle eines langsamen Satzes tritt eine Dumka, einfach und sehr melodisch gehalten. Interessant dann die Überleitung zum Scherzo: «Dopo una piccola pausa», wie es in der Partitur heisst, beginnt die Dumka von Neuem, um dann in ein Allegro scherzando zu münden, das an den Tonfall der «Slawischen Tänze» erinnert. Das wuchtige Finale ist von harmonischen Spannungen und Konflikten durchdrungen und orientiert sich mehr an f-Moll als an F-Dur. In nur sechs Sommerwochen hatte Dvořák das Werk zu Papier gebracht – ähnlich eruptiv wie sein heimlich bewundertes Vorbild Schubert. Das heisst, das rasche Arbeitstempo war kein Zeichen von Flüchtigkeit oder musikantischer Unbekümmertheit, sondern ein konstitutionell bedingtes Phänomen: Dvořáks Arbeitsrhythmus pulsierte eben schneller als der des bedächtigeren Brahms oder des ungemein selbstkritischen Bruckner.
Werner Pfister
Abonnementskonzert
MI/DO 14./15. APR 19.30 Uhr
VIER BEEINDRUCK‑ ENDE WEGE
Die Namen von Komponistinnen gehören nicht zum Standardvokabular – obwohl es durchaus bedeutende Komponistinnen gab und gibt. Zu ihnen gehören Galina Ustwolskaja, Iris Szeghy, Bettina Skrzypczak und Sofia Gubaidulina, die allesamt faszinierende wie vielfältige Werdegänge aufweisen.
Geboren 1919, ist die Russin Galina Ustwolskaja die älteste im Konzert des Musikkollegiums Winterthur am 22. April 2021 zu hörende Komponistin. Da Ustwolskaja bis zu ihrem Tod 2006 zurückgezogen in einer Plattenbauwohnung in St. Petersburg lebte und sich selten zu Interviews bewegen liess, weiss man vergleichsweise wenig über sie und ihr Schaffen. So stehen ihre Kompositionen für sich. Auch als sie in den 1980er Jahren immer mehr Bekanntheit erlangte, behielt sie ihren zurückgezogenen Lebensstil bei, was erstaunlich ist, wenn man Dmitri Schostakowitschs Urteil über ihre Musik betrachtet: «Ich bin überzeugt, dass die Musik G. I. Ustwolskajas weltweite Ankerkennung finden wird bei allen, die der Wahrhaftigkeit in der Musik entscheidende Bedeutung beimessen.»
Doch genau dank dieser Zurückgezogenheit und ihres Stils, der nicht den üblichen Merkmalen avantgardistischer Werke entsprach, blieb sie von der Aufmerksamkeit des Regimes verschont. Ihre Werke wurden nie verboten, auch wenn immer wieder der Vorwurf laut wurde, ihre Werke seien «dicht» und «hartnäckig». Man erkannte jedoch mit der Zeit, dass diese Dichte wie ein Laserstrahl wirkte und somit eine äusserst prägnante und gezielte Wirkung entfaltete.
DER RICHTIGE FALSCHE WEG Anders erging es Sofia Gubaidulina. Geboren 1931 in der tatarischen Stadt Tschistopol, begann sie 1949 am Moskauer Konservatorium Komposition zu studieren und wurde ebenfalls von Dmitri Schostakowitschs unterrichtet, der sie ermutigte: «Haben Sie keine Angst, Sie selbst zu sein. Ich wünsche Ihnen, dass Sie auf Ihrem eigenen falschen Weg weitergehen» – Sätze, die für sie lebenslang von besonderer Bedeutung blieben.
Diese Ermutigung benötigte sie als Komponistin, die sich den Vorschriften der diktatorischen Sowjet-Zeiten nicht fügte. Sie persönlich fand zwar, dass sie weniger gefährdet gewesen war als etwa Schostakowitsch oder Prokofieff, doch landeten ihre Werke 1979 ebenfalls auf der schwarzen Liste. Aber auch hier fand Gubaidulina eine Kehrseite: Da ihre Werke nicht mehr gespielt und publiziert wurden, war sie frei im Komponieren. Ihr Überleben sicherte sie sich dabei mit der Komposition von Filmmusik.
Als sie 1981 in den Westen ging, begann damit nicht nur ihre internationale Karriere, sondern sie wurde auch Teil eines wichtigen Ereignisses des westlichen Musiklebens: das Auftreten russischer Komponisten und Komponistinnen. Bis heute lebt sie in Deutschland, in der Nähe von Hamburg, wo sie nach wie vor eine wich-
tige Figur des zeitgenössischen Musiklebens ist. Dies zeigt sie etwa, indem sie ihren 78. Geburtstag beim NDR und ihren 85. Geburtstag mit den Berliner Philharmonikern feierte.
«EINE BRÜCKE ZWISCHEN MIR UND DEM ZUHÖRER» «Musik ist […] eine Sehnsucht nach Monolog und Dialog zugleich, nach Selbstäusserung, Selbstbestätigung und Selbsthingabe, eine Frage, die für Antworten steht, eine Antwort, die für Fragen steht.» Die Werdegänge beider Komponistinnen könnten mit diesen Worten gut beschrieben werden – lebten und leben sie doch von der Wahl eines eigenen Weges in schwierigen Zeiten.
Das Zitat stammt jedoch von der ungarischen Slowakin Iris Szeghy, deren Stil jenem von Ustwolskaja gar nicht so unähnlich zu sein scheint. «In ihrer Musik», so beschrieb es der Journalist Thomas Meyer 2005, «spricht Iris Szeghy Gefühle und Gedanken in einer direkten Art und Weise aus»; in ihrem Stil finde sich die «Reduktion auf das Wesentliche» und das Beibehalten einer «Vielschichtigkeit». Auch Szeghy selber sah es ähnlich: «Für mich ist Kunst oder meine Musik gleichsam eine Botschaft, eine Brücke zwischen mir und dem Zuhörer, aber auch eine Brücke zwischen etwas, was mich beschäftigt, und mir selber.»
Mit Jahrgang 1956 gehört Szeghy bereits zu einer neuen Generation von Komponistinnen, welcher die Tore für eine internationale Karriere viel früher offenstanden. So folgte auf das Klavier- und Kompositionsstudium in Košice und Bratislava sowie auf ihre Dissertation in Bratislava (1971 bis 1986) eine Reisezeit: Aufenthalte und Arbeitsaufträge etwa in Budapest (1989), Warschau (1991), San Diego (1994) oder Hamburg (1995). Im Jahr 2002 liess sie sich dann schliesslich in Zürich nieder, wo sie 2008 mit dem Kompositionspreis des Kantons Zürich ausgezeichnet wurde.
DER BLICK IN DIE ZUKUNFT Den Wunsch nach Musik als Kommunikationsmittel hegt auch Bettina Skrzypczak. Für die 1963 geborene Polin, die seit 1988 in der Schweiz lebt, bedeutet dies aber weitaus mehr als Komponieren. So fördert sie junge Schweizer Musiktalente – etwa als Dozentin für Musiktheorie an der Hochschule Luzern oder mit der Leitung von Projekten für junge Komponistinnen und Komponisten Dabei beschäftigt sie sich gleichermassen mit der Vermittlung musiktheoretischer Fertigkeiten wie auch mit der aktuellen Lage – momentan Corona –, in der sie und die nachfolgende Generation sich befinden. Für Skrzypczak sind diese Komponistinnen und Komponisten die Zukunft der Musikwelt, denn sie sollen sich mit dem Zeitgeschehen auseinandersetzen: «Jeder Künstler, jede Künstlerin besitzt die Fähigkeit, die Welt so intensiv wahrzunehmen und Anteil an den Veränderungen zu nehmen.» Diese Worte spiegeln ihre grundlegende Haltung sowie auch die Auswirkung der Corona-Pandemie: Die Auseinandersetzung «mit diesem beispiellosen Geschehen» durch Kunst ist zwingend nötig.
Ihr Engagement bleibt dabei auch nicht unbemerkt. Just 2020 wurde sie mit dem «Heidelberger Künstlerinnenpreis» ausgezeichnet, dessen Ehre 1991 auch Sofia Gubaidulina zuteil geworden war.
So unterschiedlich diese vier Komponistinnen auch sind, verbindet sie der Wille und die Berufung, die Welt und die daraus folgenden Gedanken unverfälscht in Musik auszudrücken. Für sie alle war und ist Musik eine unabdingbare Kommunikationsform, und so verleihen sie ihrer Zeit individuelle Stimmen, die – im Sinne Szeghys – Fragen stellen und Antworten liefern, die wiederum neue Fragen hervorrufen.
Viviane Nora Brodmann
Hauskonzert
DO 22. APR 19.30 Uhr