Auftakt März/April 2021

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SAISONTHEMA

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VERSCHWINDEN IM RÜCKSPIEGEL

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Eine besondere Facette des Saisonthemas «Helden im Rückspiegel» zeigt sich im Konzertprogramm mit Ian Bostridge am 3. und 4. März: Der «Rückspiegel» ist stets auch Sprachbild für Abschied und Trauer – längst nicht bloss dann, wenn «Helden» (oder «Heldinnen») darin aufscheinen.

ine «Heldin» nennt 1727 Johann Sebastian Bachs Trauerode die sächsische Kurfürstin; als «Fürbild» solle sie uns in Erinnerung (wir könnten sagen: im Rückspiegel sichtbar) bleiben. Den Mord an Gustav III. beklagt der schwedische Hofkapellmeister Joseph Martin Kraus 1792 ganz ohne Worte. So ergreift die spürbare Betroffenheit seiner Musik auch uns. Passt nicht das Bild des «Rückspiegels» zu dieser erschreckenden Erfahrung, die Kraus mit uns teilt? Was uns eben noch nahe war, lebendig vor Augen stand, ist uns plötzlich entrissen, nur noch stumm und ausschnittsweise in unserer Erinnerung bewahrt. Unweigerlich wächst die Distanz, und immer kleiner und fremder wird das Verschwindende. Zugegeben, die Metaphernspielerei wird dem Thema vielleicht nicht gerecht. Wie aber wäre denn angemessen zu sprechen von den «Unbegreiflichkeiten», vom «Rätsel des Todes, mit dem Philosophen und Theologen sich ertragreich und aussichtslos herumschlagen», wie es Peter Gülke nennt? Der Musikwissenschaftler und Dirigent hat 2015 ein anspruchsvolles, mitunter schmerzhaftes (und aus genau diesen Gründen lesenswertes) Buch über «Musik und Abschied» geschrieben. Das unweigerliche und verfremdende Verschwinden beobachtet auch Gülke, findet dafür jedoch poetischere Bilder als dasjenige des Rückspiegels: «Vor ikonenhafte Goldgründe

geratend, rücken die Toten tiefer ins Totsein hinein.» Seine Trauer-Reflexionen verbindet Gülke mit musikalischen Betrachtungen. So erläutert er, wie die Arie «Ich freue mich auf meinen Tod» (aus der Bach-Kantate «Ich habe genug») nicht einfach irgendeine krude barocke Jenseitslust darstellt, sondern als «Rollenprosa» verstanden werden muss: Es ist der neutestamentliche Prophet Simeon, der hier lebenssatt seinem Ende entgegenblickt. Wobei der trauernde Gülke der Idee, ein solches Ende trostreich zu finden, gleich wieder skeptisch gegenübersteht: «Welcher Betroffene aber will es sinnvoll finden, will getröstet sein?» Und: «Noch der bestgemeinte Trost erscheint abstrakt, hängt zu hoch über dem Geschehenen.» Gegenüber solchem kategorial unzureichenden Trost sieht Gülke die Musik im Vorteil: «Musik braucht, um zu helfen, nicht eigens von unseren Freuden und Leiden zu sprechen; sie brauchte ausser sich selbst nichts zu meinen, hülfe schon, wenn sie nur klingt, nur anwesend ist, Gesellschaft leistet, uns in ihre Schwingungen hereinnimmt und zu verstehen gibt, dass sie sonst nichts will.» Dies allein heilt unsere Wunden nicht. Aber es hilft erklären, warum Abschied und Trauer Musik nötig haben – nicht nur im ersten Moment des Verschwindens, sondern immer wieder beim suchenden Blick in den Rückspiegel.

Felix Michel


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