Messerstecherei Kerner 77 Fehler

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Messerstecherei Die Alarmierung von NEF und RTW erfolgt mit dem Einsatzstichwort: „Messerstecherei mit einem Schwerverletzten“. In einem Einkaufszentrum wird der Verletzte am Boden liegend vorgefunden. Um ihn herum befinden sich etwa 10 Polizeibeamte, die sich um Aufklärung, Spurensicherung und Zeugenbefragung kümmern. Ein Polizist erklärt, es seien bislang keine Zeugen des Kampfes gefunden worden, die Tatwaffe (ein großes Küchenmesser aus den Beständen des Marktes) liegt unweit des Verletzten am Boden. Der Verletzte, ein Mann etwa Mitte 30, ist wach, offenbar auch bewusstseinsklar und reagiert zunächst adäquat auf die Ansprache des Notarztes. Bei der initialen Untersuchung finden sich drei je etwa 3 Zentimeter breite Stichwunden im Bereich des unteren Abdomens. Das Messer ist auf einer Strecke von mindestens 10 Zentimetern blutverschmiert, sodass von einer Eindringtiefe in eben dieser Länge auszugehen ist. Weitere Verletzungen finden sich nicht, insbesondere keine Abwehrverletzungen an den Händen sowie keine weiteren Kampfspuren. Die Kleidung des Verletzten ist nicht beschädigt. Der Patient zeigt stabile Vitalparameter (RR 120/70 mmHg, HF 90/min, SpO2 98 %). Er macht zunächst keine Angaben zum Ereignis oder Tathergang, wiederholt nur mehrfach, er sei in Gefahr, in Lebensgefahr. Im Verlauf der Untersuchung wird er unruhiger und besteht darauf, dass nicht nur das Team des Rettungsdienstes bei ihm sei, sondern verlangt die Anwesenheit eines uniformierten Polizisten. Es entsteht eine sehr angespannte und unruhige Situation, als der Patient erklärt, dass er als Zivilbeamter des BKA im Einsatz sei und eigentlich von Polizeiärzten versorgt werden müsse, nicht aber vom zivilen Rettungsdienst. Er müsse sofort in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen werden und verlange unverzüglich nach Polizeischutz. Dieser müsse ihn auch vor den Maßnahmen des Rettungsdienstes schützen. Dabei erregt sich der Patient mehr und mehr: Aus den mit sterilen Kompressen oberflächlich abgedeckten Bauchstichwunden fließen vermehrt Blut und Blutkoagel. Die erneute Kontrolle der Vitalparameter zeigt eine Verschlechterung (RR 100/60 mmHg, HF 110/min, SpO2 93 %), sodass der Verdacht auf einen beginnenden Schock besteht. Die Anlage der Infusion und die Insufflation von O2 mit 4 l/min wird vom Patienten zunächst verweigert und erst durch die Intervention eines der Polizeibeamten, der dem Patienten versichert, die Handlungen des Rettungsdienstes genau zu überwachen, ermöglicht. Zunächst erfolgt eine Infusion mit Ringer-Lactat 500 ml, zudem werden eine sedierende Medikation und weitere Maßnahmen vorbereitet. Der Patient wird zur weiteren Versorgung und dem Transport in die Klinik vorbereitet. Bei dieser Aktion beginnt er, um Hilfe zu rufen, nach dem Zeugenschutzprogramm verlangend zu schreien und die Polizei aufzufordern, ihm als „Undercover-Agent“ des BKA endlich zu helfen. Er versucht trotz der Verletzung, sich von der Trage zu rollen und muss zunächst von mehreren Polizeibeamten festgehalten werden. Eine Medikation mit Diazepam 10 mg i. v. und Promethazin 25 mg i.v. wird verabreicht, zunächst aber ohne erkennbaren Erfolg.

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Ein Polizeibeamter erkennt dann in dem Patienten jenen Mann wieder, der noch vor wenigen Stunden vergeblich versucht hatte, eine Anzeige wegen Vergiftung und Fremdbeeinflussung bei der lokalen Polizeidienststelle anzubringen. Er hatte abgewiesen werden müssen, da alle Beamten wegen einer Messerstecherei im Rahmen von Bandenkämpfen im Einsatz gewesen waren. Der Verweis auf einen baldigen Besuch einer Polizeistreife bei ihm zuhause habe ihm zunächst scheinbar genügt und er sei wieder gegangen. Nachdem der Patient in den RTW verbracht worden ist, zeigen sich stabile Vitalparameter, allerdings entwickelt sich die psychische Symptomatik deutlich massiver. Der Patient ist nun manifest wahnhaft und aggressiv, muss mit zusätzlichen Gurten fixiert werden und erhält schließlich zunächst Haloperidol 10 mg i.v. und bei weiter bestehender Unruhe eine Sedierung und Analgesie mit Midazolam und Fentanyl in gewichtsangepassten Dosierungen. Der weitere Transport in die Klinik und die dortige notfallmäßige Operation verlaufen unproblematisch, obwohl tatsächlich eine Einstichtiefe von fast 10 cm im Abdomen festgestellt werden kann. Es ist jedoch zu keiner Eröffnung von Darm oder Blase und keiner schwerwiegenden Verletzung anderer innerer Organe gekommen. Im weiteren Verlauf der polizeilichen Ermittlungen zeigt sich schnell, dass nur der Patient selbst und keine anderen Menschen die abdominalen Verletzungen verursacht haben. In seiner Wohnung hatte sich der Patient, wie die polizeilichen Untersuchungen später zeigten, fast vollständig isoliert und befand sich offenbar schon seit längerer Zeit in einem ängstlich-gespanntem Wahn, bedroht und abgehört zu werden. Nach dem Abweisen seiner Anzeige bei der Polizeidienststelle hatte er mitgehört, dass eine Messerstecherei die Polizeiaktivitäten derzeit bestimme, dies in sein Wahnsystem eingebaut und sich selbst durch drei tiefe Messerstiche mit einem großen Küchenmesser verletzt. Nach der chirurgischen Versorgung wird der Patient der zuständigen psychiatrischen Klinik zur weiteren Behandlung zugewiesen. Es besteht bei ihm eine dauerhafte Amnesie für das Ereignis selbst.

Hintergrund In der Regel werden bei Einsätzen des Rettungsdienstes Patienten mit einer psychiatrischen Erkrankung auch als solche schnell erkannt. Allerdings gibt es immer wieder Situationen, in denen eine psychische Störung nicht von Beginn an erkennbar ist. Dieser Fall eines schizophrenen Patienten zeigt, dass es im Rahmen einer Psychose kaum Grenzen gibt, die von Patienten im Wahn nicht überschritten werden. Dies schließt gefährliche Selbstverletzungen, wahnhaft begründete Bedrohungen oder Verletzungen anderer Menschen, Suizid oder Tötung eines Anderen mit ein. Eigenschutz und Schutz von Mitarbeitern sowie anderer Personen in der Umgebung gehen gerade bei unklaren Situationen mit psychisch erkrankten Patienten jeder medizinisch sinnvollen Behandlungsmaßnahme eindeutig voran.

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Rechtlich ist die hier geschilderte Situation nach den im Verlauf gewonnenen Erkenntnissen eindeutig. Da berechtigte Zweifel an der Fähigkeit des Patienten zur freien Willensbildung aufgrund einer psychischen Erkrankung bestehen, kann unter Einbindung der Polizei eine notärztliche Behandlung zur Vermeidung schwerer gesundheitlicher Folgen auch gegen den geäußerten Willen des Patienten erfolgen. Diese Situation ist bei akuten schizophrenen Psychosen häufig gegeben – die Patienten sind in der Regel nicht in der Lage, zwischen Wahnwelt und Realwelt angemessen zu unterscheiden und damit auch in ihrer freien Willensbildung beeinträchtigt. Im Fall einer Gefahr für den Patienten selbst oder für Menschen in seiner Umgebung sind – unter Berücksichtigung des Eigenschutzes – alle erforderlichen medizinischen Maßnahmen durchzuführen. Hierbei muss dann die Polizei eingebunden werden. Ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt dieses Falles ist die medizinische Versorgung. Hier bietet es sich an, mit einem hochpotenten Antipsychotikum, etwa Haloperidol, eine rasche Entlastung von psychotischen Symptomen zu initiieren und zudem eine milde Sedierung zu erreichen. Midazolam kann im Rahmen einer Analgosedierung eingesetzt werden, verfügt aber über keinen antipsychotischen Effekt. Auch Promethazin ist nur bedingt geeignet, da es einen sedierenden, jedoch nur einen sehr schwachen antipsychotischen Effekt aufweist. Das kann dazu führen, dass der Patient in seinem Wahn bleibt, aber bemerkt, dass er „müde“ gemacht wird, wodurch Ängste und Wahn dann noch verstärkt werden können.

Fehler und Gefahren 

Bei unklarer Situation mit körperlichen Verletzungen kann eine begleitende oder ursächliche psychiatrische Erkrankung übersehen werden.

 Midazolam als häufig eingesetztes Sedativum kann Psychosen nicht

durchbrechen.  Promethazin ist nicht geeignet, um bei manifesten Psychosen eine

Symptomreduktion zu erreichen, sondern dämpft den Antrieb, wodurch es zu einer Verstärkung von Ängsten und Wahn kommen kann.

Fehlervermeidung  Stets bei der körperlichen Untersuchung auch einen „(orientierenden)

psychischen Status erheben und sich nicht vom Offensichtlichen“ (z. B. Polizei, Messerstecherei etc.) täuschen lassen.  Behandlung trotz Ablehnung des Patienten nur bei eingeschränkter

Urteilsfähigkeit des Patienten und nur mit polizeilicher Unterstützung.  Indikationsgerechte Auswahl von Psychopharmaka.

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Die Willensbildung/-äußerung Wil Es ist zu z unterscheiden zwischen dem natürlichen Willen und dem freien Willen. Der natürliche Wille ist eine Willensäußerung, die ohne Reflektion der Chancen und Risiken von angebotenen Alternativen erfolgt. Ein Beispiel hierfür wäre ein Kind, das sich gegen eine Infusion ausspricht, weil es „die Spritze“ nicht will – obwohl es ohne die Infusion möglicherweise Schaden nehmen würde. Der freie Wille dagegen ist das Ergebnis eines Prozesses der Willensbildung, bei dem „frei“, d. h. ohne Einschränkung durch Erkrankung oder Behinderung und ohne äußeren Zwang das Für und Wider einer Handlung bedacht wird und nach Abwägen der möglichen Konsequenzen eine Willensäußerung erfolgt. Dies kann in der Folge durchaus zum Tod des Betroffenen führen – ist aber so lange zu respektieren, wie es im Zustand des freien Willens geschehen ist. Bei Patienten mit schweren psychischen Erkrankungen – etwa akuten Psychosen oder schwer ausgeprägten DemenzSyndromen – ist die freie Willensbildung meist nicht mehr gegeben (das kann auch phasenweise sein). Aufgabe des Notarztes ist es daher zu prüfen, ob eine Behandlungsverweigerung Ausdruck des freien Willens oder „nur“ des natürlichen Willens ist. Entsprechend ist die Behandlung dann ggf. trotzdem – mit Unterstützung durch Betreuer oder Polizei – durchzuführen oder zu unterlassen.

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