2/77 Fehler und Irrtümer in der Notfallmedizin

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Todesfeststellung An einem kalten Wintertag alarmiert die Rettungsleitstelle RTW und NEF in ein Mehrfamilienhaus zu einer bewusstlosen Person. Der RTW ist deutlich vor Eintreffen des NEF vor Ort und trifft auf einen jungen Mann, der leblos vor einem Sofa liegt. Wohnzimmer- und Küchenfenster sind geöffnet. In der gesamten Wohnung herrschen sehr kühle Temperaturen. Der Mann hat einen rigiden Muskeltonus, die Haut ist kalt und auf den ersten Blick finden sich weder Atmung noch Kreislaufzeichen. Die Pupillen sind weit und lichtstarr. In der Wohnung findet sich ein Fixerbesteck. Auch das äußere Erscheinungsbild des Patienten lässt eine Drogenabhängigkeit vermuten. Über Funk übergibt die RTW-Besatzung die Meldung „Patient ex“ an das anfahrende NEF. Der ca. 10 Minuten später eintreffende Notarzt bestätigt die klinischen Befunde und vermutet ebenfalls den Tod des Patienten. Im Rahmen der Routinedokumentation fordert er einen EKG-Streifen zur Verifizierung und zum Nachweis einer Asystolie. Nach Anschließen des Monitors erkennen die Helfer eine Sinusbradykardie mit einer Frequenz von etwa 25/ min. Die dann eingeleiteten Reanimationsmaßnahmen verlaufen problemlos. Nach der ersten intravenösen Gabe von 1mg Adrenalin entwickelt der Patient einen schwach tastbaren Puls. Die Frequenz beträgt jetzt 65/min. Intubiert und beatmet erreicht der Patient schließlich unter fraktionierter Gabe von Adrenalin das Krankenhaus. Nach zwei Wochen kann er ohne neurologische Defizite entlassen werden.

Hintergrund Die ärztliche Leichenschau birgt ihre Tücken und ist keineswegs eine banale Angelegenheit. Nicht umsonst sollte ihr während der Ausbildung des Notarztes und der ärztlichen Ausbildung im Allgemeinen eine große Bedeutung zukommen. Der vorliegende Fall ist kein Einzelfall. Im Zustand der Vita minima sind bei der einfachen körperlichen Untersuchung des Patienten häufig keine Lebenszeichen erkennbar – allerdings auch keine sicheren Todeszeichen.

Fü eine Todesfeststellung reichen fehlende Lebenszeichen nicht FFür aus – darüber hinaus müssen sichere Todeszeichen vorliegen und au verifiziert werden. Pulslosigkeit, fehlende Atmung, tiefe Körpertemperatur, Nulllinie im EKG oder weite und lichtstarre Pupillen sind unsichere Todeszeichen. Beispielsweise können EKG-Ausschläge bei extremer Hypothermie über Minuten fehlen.

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Es gibt zwei Notfallsituationen, in denen das Risiko eines irrtümlich angenommenen Todes des Patienten besonders hoch ist: Die Unterkühlung und die Intoxikation.

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So gilt im Zusammenhang mit der Unterkühlung der Grundsatz „nobody is dead until he is warm and dead“, was in der Praxis be„nobo „nobod deutet, dass oftmals bis zur Wiedererwärmung reanimiert werden muss.

Darüber hinaus existieren zahlreiche Fallberichte von erfolgreich reanimierten Patienten mit Hypothermie aus der alpinen und maritimen Notfallmedizin. Während Fäulnis bzw. Verletzungen, die nicht mit dem Leben vereinbar sind, von (fast) jedem Laien richtig gedeutet werden, ist das richtige Erkennen von Totenflecken (Livores) und Leichenstarre (Rigor mortis) fehlerträchtig. Letztere kann insbesondere bei hypothermen Patienten leicht mit einer Kältesteifigkeit verwechselt werden. Kältesteifigkeit bleibt nach Fremdbewegung der Extremitäten weiterhin bestehen, während die Leichenstarre bricht und im Anschluss daran bei weiterer Fremdbewegung fehlt. Voraussetzung dafür ist, dass die Leichenstarre bereits voll ausgebildet war (d. h. 6–12 Stunden post mortem). In früheren Stadien kann durch zuvor nicht erstarrte Fasern nach einiger Zeit eine neue Starre einsetzen. Totenflecken treten ca. 20–30 Minuten nach dem Tod auf und sind bis zu 36 Stunden post mortem mit dem Finger zumindest teilweise wegdrückbar. Ein weiterer Fehler bestand darin, dass der Notarzt nicht konsequent nach Eintreffen vorging, sondern sich von dem Eindruck der RTW-Besatzung leiten ließ. Grundsätzlich gilt, dass bei der Übernahme eines Patienten dessen Zustand eigenhändig und unabhängig reevaluiert werden muss.

Fehler und Gefahren  Keine Unterscheidung zwischen fehlenden Lebenszeichen und siche-

ren Todeszeichen.  Ausschließliches Heranziehen unsicherer Todeszeichen zur Feststel-

lung des Todes (Asystolie, lichtstarre Pupillen). Keine Verifizierung von sicheren Todeszeichen.  Keine Berücksichtigung der Besonderheiten unterkühlter Patienten

(z. B. vita minima, Bergungstod, Besonderheiten der Reanimation).  Verwechslung von Leichenstarre mit Kältesteifigkeit.

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Fehlervermeidung  Korrekt durchgeführte ärztliche Untersuchung mit Suche nach siche-

ren Todeszeichen.  Bei Übernahme grundsätzlich vollständige und unabhängige Evalu-

ierung des Patientenzustandes.

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