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6 Kritik: Natalia Pantelidou

Architekten: Renzo Piano Building Workshop

Fotos: Michel Denancé

Kultur auf dem Tablett

Ein fragiler, luftiger Pavillon am Ende eines Gartens? Der erste Eindruck täuscht...

Am Stadtrand von Athen ist ein großes, neues Kulturzentrum entstanden – mit zahlreichen öffentlichen Funktionen, darunter Opernsaal und Nationalbibliothek. Dabei handelt es sich nicht nur um Stadtreparatur an einem vernachlässigten Küstenstrich, sondern sorgt auch für eine Neubelebung des städtischen Lebens in der griechischen Kapitale.


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6 ...in Wahrheit handelt es sich um ein gewaltiges Kulturzentrum mit einem weitläufigen Park auf dem Dach.

LUF TAUFNAHME: RUBY ON THURSDAYS

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FOTO OBE N: SNFCC; UNTE N: SNFCC/ YIORGIS YE ROLYMBOS

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Linke Seite: Eine der Hauptrollen des

Prädestiniert dazu

neuen Vielzweck-

ist die Agora-Ebene,

gebäudes ist, einen

die Mittelpunkt und

Treffpunkt für Kultur-

Verteiler zugleich

interessierte in der

bildet. Oben: der

Stadt zu schaffen.

Opernsaal

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6 Die Architekten bezeichnen den in 32 Metern Höhe gelegenen Pavillon wegen seines imposanten Rundblicks auch als „Leuchtturm“.

FOTO: M ARIO CARRIE RI

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or gut einem Jahr öffnete die „Stavros Niarchos Foundation“ die Tore ihres neuen 230.000 Quadratmeter großen Kulturzentrums in Athen. Am Rande der Bucht von Faliro gelegen, ist das Gebäude knapp vier Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Der Komplex vereint nicht nur verschiedene kulturelle Einrichtungen, darunter die Nationaloper und -bibliothek, sondern umfasst außerdem einen 170.000 Quadratmeter großen Park. Das „Stavros Niarchos Foundation Cultural Center“ (SNFCC) strahlt einen Optimismus aus, der nicht nur der Stadt Athen, sondern dem ganzen Land neuen Schwung verspricht. Das Gelände des Neubaus mit seiner ausgedehnten Außenanlage befindet sich im sogenannten Faliro-Delta und wurde zuvor als Parkplatz genutzt. Nach einem begrenzten internationalen Architekturwettbewerb wurde das Büro des ital i en i schen A rch i tek ten Renzo Pi a no im Februar 2008 mit dem Bau beauftragt. Finanziert wurde der Komplex mit einer Spende in Höhe von 596 Millionen Euro durch die Stiftung des 1996 verstorbenen Reeders und Milliardärs Stavros Niarchos. Im Februar 2017 wurde das SNFCC offiziell der griechischen Regierung übergeben. Die Stiftung wird das Zentrum allerdings noch fünf Jahre lang finanziell und durch kulturelle Programmbeiträge unterstützen. Bevor das Gelände des SNFCC während der Olympischen Spiele 2004 als Parkfläche genutzt wurde, befand sich hier die Athener Pferderennbahn. Trotz der großen Nähe zum Meer bestand keine visuelle oder physische Verbindung zum Wasser, da eine Stadtautobahn das Gelände von der Küstenlinie trennt. Diese Trennungssituation inspirierte Renzo Piano zu einem Konzept, das darauf angelegt ist, die Verbindung zur Stadt und zum Meer wiederherzustellen. Die südwestliche Ecke des Geländes ist dem Meer am nächsten. Hier wurde ein künstlicher Hügel in Form eines flachen Keils errichtet, der nach Nordosten abfällt. Auf der allmählich ansteigenden Fläche ist ein Park angelegt, der nach oben hin zum höchsten Punkt des Kulturzentrums führt: Hier erreicht der Keil eine Höhe von 32 Metern, und hier wird die Intention des Architekten am deutlichsten, das Meer über das sinnliche Erleben zu einem Teil des Geländes zu machen. Während ihm die Brise um die Nase weht, bieten sich dem Besucher spektakuläre Ausblicke auf die Küstenlinie. Der „Pavillon“ fügt sich harmonisch in die Grünanlagen ein.

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Das SNFCC ist neuer Standort der griechischen Nationaloper und der Nationalbibliothek. Erstere umfasst einen Opernsaal mit 1.400 und einen Theatersaal mit 400 Plätzen. Die Bibliothek hat Platz für 750.000 Bücher. Sobald der Umzug der Nationalbibliothek abgeschlossen ist, werden die in die hölzernen Regale eingestellten Bücher einen Teil der Innenfassade der Bibliothek bilden. Auch der Umzug der griechischen Nationaloper soll bis zum Herbst 2017 vollzogen sein. Oper und Bibliothek sind beide mit einem öffentlichen Foyer verbunden, das an eine antike Agora erinnert – ein Platz, mit Dionysos-Marmor ausgelegt, auf dem Menschen sich verabreden oder zufällig begegnen können. Frei verteilte Cafétische laden zu Gesprächen an. Wer nach oben sieht, erblickt einen Glaswürfel, ein Observatorium, welches das „Auge“ des Platzes bildet und per Aufzug vom Erdgeschoss oder direkt vom höchsten Punkt des Parks aus erreichbar ist. Je mehr der Park auf dem Gebäudekeil ansteigt, desto „natürlicher“ und reichhaltiger wird seine Flora: Die Bepflanzung umfasst in erster Linie mediterrane Exemplare wie Pinien und Olivenbäume, die Trockenheit gut aushalten. Buchsbaum, Oregano, Eukalyptus, Lavendel, Thymian, Rosmarin und Rosenbüsche sorgen für vielfältige Sinneswahrnehmungen. Der Parkbereich auf der langen Hangseite des Keils schließt an Sportanlagen, Spielplätze, einen Gemüsegarten und ein Labyrinth an, Bereiche, die untereinander durch zahlreiche Wege verbunden sind. Eine Rasenfläche am Fuß des Hügels lädt zu Aktivitäten aller Art ein – zu Ballspielen, Picknick oder einfach zum Ausruhen.

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ieser „Kulturhügel“ integriert auch den nahegelegenen Stadtteil Kallithea in das Sichtfeld der Besucher. Außerdem konterkarieren die Gerüche und Düfte der Parkvegetation die Betonmassen und Asphaltflächen jenseits der Grünanlagen. Die Wiederherstellung einer optischen und atmosphärischen Verbindung zwischen Gelände und Meer ist die zentrale Geste, die Renzo Pianos Entwurf zugrunde liegt. Diese Intention wird durch einen 400 Meter langen, mit Meerwasser gefüllten Kanal verstärkt, der unterhalb des Parks entlang der Nordsüdachse der Wege angelegt ist. Der Kanal ist nicht nur ein wichtiges landschaftliches Gestaltungselement, sondern er füllt, indem er im Sommer kühlt und gegen Überschwem-

mungen schützt, auch ökologische Funktionen. Zur Bewässerung des Parks wurde eine Regenwassersammelanlage installiert. Das vom Park selbst absorbierte Regenwasser schirmt zudem das Innere des Gebäudekomplexes gegen starke Temperaturschwankungen der Außenluft ab.

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achhaltigkeit und Ökologie spielten für die Gestaltung der Grünanlagen wie auch für den Entwurf des Gebäudes eine entscheidende Rolle. Ein luftiger Baldachin von 100 x 100 Metern, der den höchsten Punkt des Komplexes markiert, ist mit 10.000 Quadratmetern Solarzellen bestückt. Mit einer Produktion von 2.280 kWh pro Jahr kann der Strombedarf der Anlage gedeckt werden. Die Solarzellen, kombiniert mit einer Anlage zur natürlichen Ventilation, reduzieren den Energiebedarf des Projekts spürbar, der außerdem mit der LE E D-Zer ti f izierung in Platin p rämier t wurde. Es ist die höchste Auszeichnung dieser Art, die ein Gebäude in Griechenland bisher erreicht hat. Das SNFCC ist daher nicht nur ein Beispiel herausragender Architektur, sondern die Stiftung will hier auch in Sachen Umweltfreundlichkeit mit gutem Beispiel vorangehen. Das Kulturzentrum mit seinen ausgedehnten Grünanlagen ist für die Bürger Athens selbstverständlich auch kulturell eine Bereicherung. Mit einem Mal verfügt die Stadt über einen der größten innerstädtischen Parks Europas. Die Schuhe auszuziehen und das Gras unter den Füßen zu spüren, ist eigentlich nichts Ungewöhnliches, aber für die meisten Griechen dennoch eine neue Alltagserfahrung. Auf dem Kanal kann man an manchen Tagen sogar einer Segelregatta zusehen. Die Besucher nehmen den Park auf vielfältige Weise in Besitz, sie veranstalten dort spontan Konzerte, Yogastunden und Fahrradtouren. Zu den besonders gelungenen Me rkmalen des E nt wu r fs gehö r t das h a r m on i sche I ne i n a n de r f l i eßen von bebauten und freien Flächen, die nicht konkurrieren, sondern eine harmonische Balance bilden und zugleich in einen Dialog treten. Über die großen Glasfassaden der Oper und der Bibliothek sind die Außenräume selbst im Inneren präsent. Der im oberen Be reich de r Bi bl iot hek angeo rdnete gläserne Lesesaal bietet ein fantastisches Panorama der Umgebung. Er ist ein Beispiel für das enthusiastische Bekenntnis zur modernen Wissensgesellschaft, das der Komplex als Ganzes ausstrahlt.

Die Tätigkeiten der Stavros Niarchos Foundation umfassen die Vergabe von Stipendien in den Bereichen Kunst, Pädagogik, Gesundheit und Sport sowie die Planung und Durchführung von Ausstellungen, Workshops und Musikveranstaltungen. Daher ist das SNFCC mittlerweile nicht nur für Einheimische eine große Attraktion, sondern auch fü r Tou risten aus dem In- und Ausland. Der Entwurf von Renzo Piano erfüllt gleich mehrere Zielsetzungen: Er hat eine städtische Brachfläche revitalisier t und sie optisch und atmosphärisch wieder mit dem Meer verbunden, er fördert zudem umweltbewusstes Verhalten und Denken und inspiriert mit einer Vielfalt an kulturellen Möglichkeiten. Es ist zu hoffen, dass dieses Leuchtturmprojekt Identität und Gemeinsinn der Athener stärkt.

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„Leuchtturm“

Park

Längsschnitt 1

Oper

Agora

Bibliothek

Längsschnitt 2

as SNFCC ist außerdem die erste PrivatePublic-Partnership ihrer Art in Griechenland und eines der bedeutendsten Bauprojekte des Landes im Kultur- und Bildungssektor. Die Erwartungen an den griechischen Staat sind daher besonders hoch, dass nach Übertragung der Verantwortlichkeiten an die Behörden das Prestige des Kulturzentrums gewahrt bleibt und der Unterhalt des Gebäudes und der Außenanlagen langfristig und kompetent gesichert wird. Mit anderen Worten, der Staat ist es der griechischen Gesellschaft schuldig, diesen neuen öffentlichen Ort und seine Einrichtungen zu bewahren und auf diese Weise aus Zuschauern aktive Nutzer zu machen.

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Aus dem Englischen von

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Michael Wachholz

„Agora“-Ebene

TECHNISCHE DATE N:

Nutzfläche: 230.000 m²

Oper: 33.000 m²

Bibliothek: 24.000 m²

Park: 170.000 m²


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6 BAUHERR: Stavros Niarchos Foundation ARCHITEKTEN: Renzo Piano Building Workshop zusammen mit Betaplan, Athen

MITARBE ITE R: G. Bianchi, V. Laffineur (Projektpartner), S. Doerflinger, H. Houplain, A.Gallissian mit A. Bercier, A. Boldrini, K. Doerr, S. Drouin, G. Dubreux, S. Giorgio-Marrano, C. Grispello, M.A. Maillard, E. Ntourlias, S. Pauletto, L. Piazza, M. Pimmel, L. Puech und B. Brady, C. Cavo, A. Kellyie, C. Menas Porras, C. Owens, R. Richardson; S. Moreau; O. Aubert, C. Colson und Y.Kyrkos (Modellbau) AUSFÜHRENDE ARCHITEKTEN: Lageplan

Betaplan LANDSCHAFTS-

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ARCHITEKTEN: Deborah Nevins and Associates, Inc., in Zusammenarbeit mit H. Pangalou and Associates TR AGWERKSPL ANUNG: Expedition Enginieering in Zusammenarbeit mit Omete HAUSTECHNIK: Arup/LDK Consultants Querschnitt mit Opernsaal BAUZE IT: 2008 bis 2016 STANDORT: Peisistratou & Sachtouri-Straße, Kallithea, Athen, Griechenland

Grundriss Ausschnitt Oper


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