Das FrauenMagazin mit eigensinn
das frauenmagazin mit eigensinn entkörperlichte liebe: leidenschaft in digitalen zeiten | wozu die scham? warum sie auch zu etwas nütze ist | um ein haar: eine kleine kulturgeschichte | die unvollendete: eva hesse | klassische klarheit: Mode von garment
Alles ist mÖglich? DOSSIER Unser Leben in der multioptionalität
01| 2013
Fotos: xxx
01 | 2013 De 5,90 € / At 6,90 € / lux 7 € / ch 9,90 chf
01/2011 nova
1
Dies hier ist ein Porbeheft, die Seitenabfolge ist unvollst채ndig (40 von 114 Seiten) und weicht vom Origianal ab. Viel Spass beim Durchbl채ttern. Kontakt: mail@nova-magazin.de
editorial
Titelmotiv: Maia Flore illustr ation: K a ja Par adiek
liebe leserinnen!
Man könnte fragen: Warum ein neues Frauenmagazin? Gibt es denn nicht schon genug? Ja, es gibt unzählige. Aber leider keines, das uns in seiner Gesamtheit anspricht. Keines, mit dem wir uns wirklich identifizieren können. Immer wieder standen wir vor dem Zeitschriftenregal, hatten Lust auf kurzweiligen und unterhaltsamen Lesestoff, der uns an- und nicht aufregt. Doch das ultimative Make-Up der Saison, Venus-Horoskop, neuste Erkenntnisse gegen Cellulite, Life Changing-Sex, Feminista Fashion, Glücksrezepte für den Alltag – sind das die Themen, um die sich unser Frauendasein dreht? Wir denken: nein! Es ist Zeit für ein neues Frauenmagazin, das reflektiert und inspiriert anstatt zu optimieren. Das uns nicht ständig nur um uns selbst kreisen lässt, sondern zeigt, was um uns herum, in Kultur und Gesellschaft passiert. Ein Magazin, das uns mit charismatischen Frauen und anregenden Geschichten ermutigt, zu uns selbst zu stehen, an unsere Originalität und Einzigartig-
keit zu glauben. Ein Magazin, das uns in interessante Lebensmodelle blicken lässt und uns mit Fragen über das Leben konfrontiert. Ein Magazin, in das wir uns zum Schauen und Schmökern versenken können, mit dem wir ein Stück weit dem Alltag entfliehen und uns mit Muße entschleunigen können. Dass wir mit Nova das Rad nicht neu erfinden können, ist uns bewusst, aber auch gar nicht unser Anspruch. Vielmehr wollen wir all jene Frauen klug und niveauvoll unterhalten, die es – außer beim Friseur oder im Wartezimmer – aufgegeben haben, ein Frauenmagazin zu lesen, es aber gerne wieder tun würden. Wir hoffen, dass Ihr sie mögen werdet, die „Neue“. Anregungen, was wir noch besser machen können, sind jederzeit willkommen, Lob ebenso! Es grüßen Euch herzlichst Eure Novas
editorial nova
003
Themen Nova, Das Frauenmagazin mit Eigensinn, Ausgabe 01/2013
lebensArt 006 nova-ensemble 012 das ideal von schönheit Erin Cone: Malerin mit Vorliebe für ästhetische Frauenfiguren
016 essthetik zum einverleiben
Eat Art-Künstlerin Sonja Alhäuser mischt Kulinarik und Erotik zu einer hedonistischen Rezeptur
022 Das Dorf in der Stadt Eimsbüttel: Warum auch Familien dieses Hamburger Soziotop lieben
028 Klassische Klarheit Garment: Ein Mode-Porträt über alltagstaugliche Eleganz
035 zurück auf die bäume Ein Baumhaus als Rückzugsort
036 mit körper, geist und seele
Warum Swami Ramapriyanandas Leben dem Yoga gilt
KraftAkt 040 Frau mit Strahlkraft Wie die gehandicapte Afrikanerin Irene Laker mit ihrem Friseursalon zu neuem Selbstbewusstsein fand
050 jetzt oder nie Wenn man sich immer noch nicht fürs Muttersein entscheiden kann
052 Die Unvollendete Eva Hesses intensives Leben für die Kunst, das viel zu früh endete
058 Golden Girl Vorbild für Optimismus und Lebenslust im Alter: Daggy Prüter
060 Ich k ann nicht mehr
und will nicht mehr
Katja Kullmann fordert: Schluss mit dem Scheiter-Porno! Ein Plädoyer gegen das Scheitern
jetztzeit 066 Gut Holz Produkte aus Naturmaterialien, die man einfach gerne anfasst
067 Alles ist möglich? Dossier: Unser Leben in der Multioptionalität
068 Zurück auf Los Wie Anja Beyer ihr Leben auf Null stellte und komplett neu anfing
074 Weniger ist mehr Tanja Diezmanns kreative Ideen zur Entschleunigung
076 In der
Multioptionsfalle
Andrea Diener über ihr Dasein im ständigen Konjunktiv
080 Auf fremden FüSSen Verdammt zur Häuslichkeit: Ein Frauenleben im 19. Jahrhundert
NahKontakt 084 Die Ökonomie
der Beziehung
Geben und Nehmen: Gilt das wirtschaftliche Prinzip auch in der Paarbeziehung?
086 Wozu die Scham? Warum Intimität auch zu etwas nütze sein kann
092 Held meiner Jugend Hiltrud Bontrups einstiger TVSchwarm Jean-Michael Vincent
094 Liebe digital Wie innig kann man kommunizieren, wie nah sich hier kommen? Ein Lesestück von Joachim Bessing
098 Sein bestes Stück Neulich in der Autowaschstraße: Männer im Putzwahn
099 always on my mind Wenn Liebe restlos verwirrt: Ein Gedicht von Albert Ostermaier
100 Um ein Haar Eine kleine Kulturgeschichte über das, was wir täglich auf uns herumtragen
106 Das Bratk artoffelverhältnis
Vergessene Wörter, die fast kaum jemand mehr kennt
107 So war das Eine Fortsetzungsgeschichte über Hannah und Hans Fichtelbach
112 Erschreckend schön Gegen die Perfektion des Schönheitswahns
113 Impressum 114 Achtung Baustelle! Was man schon lange hätte erledigt haben wollte
inhalt nova
005
Themen Nova, Das Frauenmagazin mit Eigensinn, Ausgabe 01/2013
lebensArt 006 nova-ensemble 012 das ideal von schönheit Erin Cone: Malerin mit Vorliebe für ästhetische Frauenfiguren
016 essthetik zum einverleiben
Eat Art-Künstlerin Sonja Alhäuser mischt Kulinarik und Erotik zu einer hedonistischen Rezeptur
022 Das Dorf in der Stadt Eimsbüttel: Warum auch Familien dieses Hamburger Soziotop lieben
028 Klassische Klarheit Garment: Ein Mode-Porträt über alltagstaugliche Eleganz
035 zurück auf die bäume Ein Baumhaus als Rückzugsort
036 mit körper, geist und seele
Warum Swami Ramapriyanandas Leben dem Yoga gilt
KraftAkt 040 Frau mit Strahlkraft Wie die gehandicapte Afrikanerin Irene Laker mit ihrem Friseursalon zu neuem Selbstbewusstsein fand
050 jetzt oder nie Wenn man sich immer noch nicht fürs Muttersein entscheiden kann
052 Die Unvollendete Eva Hesses intensives Leben für die Kunst, das viel zu früh endete
058 Golden Girl Vorbild für Optimismus und Lebenslust im Alter: Daggy Prüter
060 Ich k ann nicht mehr
und will nicht mehr
Katja Kullmann fordert: Schluss mit dem Scheiter-Porno! Ein Plädoyer gegen das Scheitern
jetztzeit 066 Gut Holz Produkte aus Naturmaterialien, die man einfach gerne anfasst
067 Alles ist möglich? Dossier: Unser Leben in der Multioptionalität
068 Zurück auf Los Wie Anja Beyer ihr Leben auf Null stellte und komplett neu anfing
074 Weniger ist mehr Tanja Diezmanns kreative Ideen zur Entschleunigung
076 In der
Multioptionsfalle
Andrea Diener über ihr Dasein im ständigen Konjunktiv
080 Auf fremden FüSSen Verdammt zur Häuslichkeit: Ein Frauenleben im 19. Jahrhundert
NahKontakt 084 Die Ökonomie
der Beziehung
Geben und Nehmen: Gilt das wirtschaftliche Prinzip auch in der Paarbeziehung?
086 Wozu die Scham? Warum Intimität auch zu etwas nütze sein kann
092 Held meiner Jugend Hiltrud Bontrups einstiger TVSchwarm Jean-Michael Vincent
094 Liebe digital Wie innig kann man kommunizieren, wie nah sich hier kommen? Ein Lesestück von Joachim Bessing
098 Sein bestes Stück Neulich in der Autowaschstraße: Männer im Putzwahn
099 always on my mind Wenn Liebe restlos verwirrt: Ein Gedicht von Albert Ostermaier
100 Um ein Haar Eine kleine Kulturgeschichte über das, was wir täglich auf uns herumtragen
106 Das Bratk artoffelverhältnis
Vergessene Wörter, die fast kaum jemand mehr kennt
107 So war das Eine Fortsetzungsgeschichte über Hannah und Hans Fichtelbach
112 Erschreckend schön Gegen die Perfektion des Schönheitswahns
113 Impressum 114 Achtung Baustelle! Was man schon lange hätte erledigt haben wollte
inhalt nova
005
Lebensart Alles, was schön ist: Lebenswelten, Modeporträt, Genussbringer, Frauenbilder, ungewöhnliche Lebensstile
Foto: charlotte schreiber Quelle: u.a. pressetext.com
der look der 60er Von Yves Saint Laurents Prêt-à-porter-Linien, der unfehlbaren Eleganz Jackie Kennedys über die viel imitierten Looks der Stilikonen Twiggy und Edie Sedgwick bis zu den farbenprächtigen Druckstoffen von Marimekko und dem psychedelischen Hippie-Stil San Franciscos: Die Aufbruchstimmung der 1960er-Jahre spiegelt sich auch in der Mode dieser Zeit. Getragen vom Enthusiasmus der Jugend schien plötzlich alles möglich. Gewagte, kräftige Farben wurden Ausdruck des optimistischen und unbeschwerten Geists der Epoche. „50 Fashion Looks der 60er-Jahre“ von Paula Reed, erschienen im Prestel Verlag, 12,95 Euro, zeigt in Vintagefotos, begleitet von unterhaltsamen Texten, die wichtigsten Fashiontrends und ikonischen Outfits aus diesem turbulenten und bahnbrechenden Modejahrzehnt.
010
nova JetztZeit
grün macht glücklich Eine Studie der Universität von Exeter hat ergeben: Menschen, die in begrünten Stadtvierteln leben, sind zufriedener. Die Wissenschaftler werteten die Daten einer
nationalen Umfrage aus, für die rund 10.000 Erwachsene über einen Zeitraum von 17 Jahren begleitet wurden, als sie immer wieder umzogen. Die Probanden sollten ihre psychische Gesundheit in Bezug auf die jeweilige Wohnumgebung beurteilen. Dabei kam heraus, dass diejenigen, die in einem Gebiet mit mehr Pflanzen lebten, weniger unter Stress litten und eine höhere Zufriedenheit feststellten. Was ist deutsch? Die deutsche Sprache ist komplex, vielschichtig und detailverliebt. Die italienischen Autorinnen Vanna Vanucci und Francesca Predazzi widmen sich in ihrem Buch so unübersetzbaren Wörtern wie „Feierabend“, „Zweisamkeit“ oder „Schadenffreude“. Und beleuchten wie Land und Leute davon geprägt sind. In einer Verbindung mit historischen Ereignissen, Literatur und Politik entsteht ein facettenreiches Gesellschaftsporträt. „Feierabend. Eine Reise in die deutsche Seele“ von Vanessa Vanucci und Francesca Predazzi, Riemann Verlag, 12,99 Euro
Lebensart nova
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Lebensart Alles, was schön ist: Lebenswelten, Modeporträt, Genussbringer, Frauenbilder, ungewöhnliche Lebensstile
Foto: charlotte schreiber Quelle: u.a. pressetext.com
der look der 60er Von Yves Saint Laurents Prêt-à-porter-Linien, der unfehlbaren Eleganz Jackie Kennedys über die viel imitierten Looks der Stilikonen Twiggy und Edie Sedgwick bis zu den farbenprächtigen Druckstoffen von Marimekko und dem psychedelischen Hippie-Stil San Franciscos: Die Aufbruchstimmung der 1960er-Jahre spiegelt sich auch in der Mode dieser Zeit. Getragen vom Enthusiasmus der Jugend schien plötzlich alles möglich. Gewagte, kräftige Farben wurden Ausdruck des optimistischen und unbeschwerten Geists der Epoche. „50 Fashion Looks der 60er-Jahre“ von Paula Reed, erschienen im Prestel Verlag, 12,95 Euro, zeigt in Vintagefotos, begleitet von unterhaltsamen Texten, die wichtigsten Fashiontrends und ikonischen Outfits aus diesem turbulenten und bahnbrechenden Modejahrzehnt.
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nova JetztZeit
grün macht glücklich Eine Studie der Universität von Exeter hat ergeben: Menschen, die in begrünten Stadtvierteln leben, sind zufriedener. Die Wissenschaftler werteten die Daten einer
nationalen Umfrage aus, für die rund 10.000 Erwachsene über einen Zeitraum von 17 Jahren begleitet wurden, als sie immer wieder umzogen. Die Probanden sollten ihre psychische Gesundheit in Bezug auf die jeweilige Wohnumgebung beurteilen. Dabei kam heraus, dass diejenigen, die in einem Gebiet mit mehr Pflanzen lebten, weniger unter Stress litten und eine höhere Zufriedenheit feststellten. Was ist deutsch? Die deutsche Sprache ist komplex, vielschichtig und detailverliebt. Die italienischen Autorinnen Vanna Vanucci und Francesca Predazzi widmen sich in ihrem Buch so unübersetzbaren Wörtern wie „Feierabend“, „Zweisamkeit“ oder „Schadenffreude“. Und beleuchten wie Land und Leute davon geprägt sind. In einer Verbindung mit historischen Ereignissen, Literatur und Politik entsteht ein facettenreiches Gesellschaftsporträt. „Feierabend. Eine Reise in die deutsche Seele“ von Vanessa Vanucci und Francesca Predazzi, Riemann Verlag, 12,99 Euro
Lebensart nova
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das ideal von schönheit Interview: Nadine Lischick Malerei: Erin Cone
Die amerikanische Malerin Erin Cone widmet sich mit Vorliebe einem ganz bestimmten Motiv: ästhetische Frauenfiguren. Oft greift sie dabei auf das nächstliegende Modell zurück, nämlich sich selbst. Wir wollten von der Künstlerin wissen, warum sie Selbstporträts so reizen, Frauen so faszinierend sind und Schönheit sie magisch anzieht.
Adrift: Acryl auf Leinwand, 2008
Nova: Frauen scheinen dich bei deiner Malerei besonders anzuziehen... Erin Cone: Ja, damit ging es auf dem College los, als wir die Aufgabe gestellt bekamen, anhand eines Fotos ein Selbstporträt von uns anzufertigen. Für meine erste Ausstellung habe ich auch mal meinen Mann gezeichnet. Das Bild wurde auch verkauft, aber seitdem habe ich ihn nicht wieder gemalt. Ich weiß nicht warum, aber ich denke ich habe einfach mehr zu sagen, wenn ich Frauen male. Nova: Was ist so faszinierend an Frauen? Erin Cone: Mich reizen die gefühlvollen
Posen, die Anmut und Eleganz, die Frauenfiguren ausstrahlen können. Die Kunst hat sich ja immer und immer wieder dem weiblichen Körper gewidmet. Außerdem bin ich selbst eine Frau, und wir alle wissen wie es ist, in den Spiegel zu blicken. Wir alle tragen diese Idee von einem idealisierten Körper irgendwo in uns. Den will ich mit meinen Bildern darstellen.
einfacher zu finden als ich selbst. Ich habe in der Vergangenheit auch schon Modelle gebucht, aber ich komme auch deshalb immer wieder zu mir selbst zurück, weil ich meine Arbeiten nicht als Porträts betrachte, sondern es mir um diese idealisierte Darstellung der weiblichen Figur geht. Ich betrachte die Figur als etwas Abstraktes. Komposition ist mir in meinen Bildern sehr wichtig, ebenso das Schaffen eines Gesamtbilds. Bei Selbstporträts ist das einfacher, denn wenn ich eine andere Person male, bin ich viel zu fasziniert von diesem individuellen Gesicht, und es wird doch ein Porträt draus. Nova: Wie oft hast hast du dich schon selbst gemalt? Erin Cone: Ich habe in den letzten zehn oder zwölf Jahren um die 550 Bilder gemalt, und ich würde schätzen, dass die Hälfte oder sogar drei Viertel davon Selbstporträts sind.
Nova: Ein Großteil deiner Bilder sind
Nova: Wird das nicht langweilig? Erin Cone: Nein, eben weil ich meine Bil-
Selbstporträts. Warum? Erin Cone: Das hat einen ganz einfachen Grund: Kein Modell ist greifbarer und
der nicht als Porträt sehe, sondern mir jedes Mal Neues und Interessantes in Bezug auf die Komposition und die Far-
ben überlege. Das einzig Störende ist, dass ich über die Jahre älter geworden bin. Mein erstes Selbstporträt habe ich gemalt, als ich 18 war, mittlerweile bin ich 36. Es wird zunehmend schwieriger, alles so auszuleuchten, dass ein gutes Bild entsteht (lacht). Nova: Geht es dir bei deinen Bildern auch um deine eigene Femininität? Erin Cone: Das Selbstporträt hat bei mir nicht so viel Bedeutung wie vielleicht bei anderen Künstlern. Ich will mich nicht selbst erforschen – auch wenn man als Künstler natürlich mit jedem Bild ein Stück von sich selbst einfängt. Nova: Spielt eigentlich Mode in deinen Bildern eine Rolle? Erin Cone: Ja, da hat sich eine interessante Entwicklung vollzogen. Als ich damals meinen Mann gezeichnet habe, trug er ein stinknormales, weißes Männerhemd. Danach habe ich dieses Hemd auch weibliche Modelle tragen lassen – was dazu führte, dass die Betrachter in meinen Bildern eine Geschlechter-Botschaft vermuteten. Das war gar nicht meine Absicht. Aber von da an habe ich mir mehr Gedanken über die Kleidung
Lebensart nova
013
Klassische Klarheit interview: Mariet ta Duscher-Miehlich Fotos: Charlot te Schreiber
jacke Lars, hemd Luc und hose alfons: k apuzenWindjacke aus leichter baumwolle, tailliertes kurzarmhemd aus ringeljersey und hüfthose mit bügelfalten und schmaler beinform
Rock hazel: die üppige stofffülle wird in der taille von doppelt gelegten kellerfalten gebändigt und wiegt fast nichts. luftigleichter 50ties- glamour
028 nova lebensart
lebensart nova
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Klassische Klarheit interview: Mariet ta Duscher-Miehlich Fotos: Charlot te Schreiber
jacke Lars, hemd Luc und hose alfons: k apuzenWindjacke aus leichter baumwolle, tailliertes kurzarmhemd aus ringeljersey und hüfthose mit bügelfalten und schmaler beinform
Rock hazel: die üppige stofffülle wird in der taille von doppelt gelegten kellerfalten gebändigt und wiegt fast nichts. luftigleichter 50ties- glamour
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unsere mode orientiert sich an der zeitlosen schönheit klassischen designs. Wir möchten aber bewährte formen stilistisch weiterentwickeln. neben der optik ist auch der Gebrauchswert wichtig
Dieses Rot sticht sofort ins Auge, zieht den Betrachter magisch an. Der guckt und staunt. Wie es dort in der Auslage hängt, dieses Kleid, so schlicht, aber doch raffiniert, ein Statement für sich. Ebenso schlicht präsentiert sich das Geschäft selbst: kein Schnörkel, keine Deko, eher ein großer begehbarer Kleiderschrank, der die Aufmerksamkeit aufs Wesentliche lenkt: Kleidung. Garment im Hamburger Karo-Viertel ist mittlerweile eine feste Größe im Prêt-àporter-Segement für Damen und Herren. Hier entwerfen die beiden Modedesignerinnen Kathrin Müller und Ullinca Schröder ihre Modelle. Nova stieg ins Herzstück ihres Ladens hinab und traf sie am Arbeitstisch ihres kleinen Musterateliers. nova: Garment heißt ins Deutsche übersetzt schlicht „Kleidungsstück“ oder „Bekleidung“. Da klingt nichts Prätentiöses mit... Ullinca Schröder: Ja, so elementar wie unser Name, ist auch der Anspruch, der unserer Mode zugrunde liegt. Kontinuität und Kombinierbarkeit sind fester Bestandteil unseres Kollektionsprinzips. Und guter Stil heißt für uns, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. nova: Was ist das Wesentliche bei euren Modellen? K athrin Müller: Unsere Mode orientiert sich an der zeitlosen Schönheit klassischen Designs. Wir möchten aber bewährte Formen stilistisch weiterentwickeln: In Schnitten, die durch Proportion und Linie bestechen, in ungewöhnlichen Details und Materialien. Neben der Optik ist uns aber auch der Gebrauchswert wichtig. Ullinca schröder: Die Raffinesse unserer vordergründig schlichten Mode offenbart sich bewusst erst auf den zweiten Blick. Wir machen Kleidungsstücke, die über die Saison hinaus Bestand haben. Langlebig, aber nie langweilig. Sie sol-
032 nova lebensart
len vom ersten Anprobieren an zu echten Lieblingsstücken werden. nova: Wie würdet ihr eure Mode kurz beschreiben? Ullinca schröder: Klar, raffiniert, zeitlos, elegant. nova: Wie seid ihr zur Mode gekommen? Ullinca schröder: Meine Mutter hat für
uns Kinder genäht und mich regelmäßig in die Kaufhäuser mitgenommen, um Stoffe einzukaufen. Dadurch war ich in Sachen Nähen ziemlich geschult, und es hat einfach auch Spaß gemacht. Ich habe mich auch sehr gerne verkleidet. Etwa mit 16 habe ich mich dann selbst an unsere Nähmaschine gesetzt und alles hoch und runter genäht, was die Burda-, Carina-, Brigitte- und Neue Mode-Hefte der 60er- und 70er-Jahre hergaben. Denn: Taschengeld war knapp und irgendwie hat mich Mode auch immer interessiert. Das war für mich eine Herausforderung, alles so hinzubekommen, sich durch diese Anleitungen durchwühlen zu müssen. Ich hatte den Drang, selber herauszufinden wie das geht und dass mir da keiner dabei dreinredet. K athrin müller: Bei mir war das sehr ähnlich. Auch meine Großmutter und meine Mutter haben genäht. Als Kind habe ich ohne Ende Anziehpuppen mit Kleidchen zum Überklappen gezeichnet. Auch meine Puppen wurden die ganze Zeit benäht, für alle möglichen Zeiten, Lebenswelten und geografischen Gebiete. Meine beiden Schwestern und ich haben ganze Barbie-Familien mit unseren Kollektionen bestückt. Später kam ich dann selbst an die Reihe. nova: Ullinca, du bist klassisch ausge-
bildete Tänzerin, hattest sogar ein Engagement am Staatstheater am Gärtnerplatz in München und hast dann Kostümassistenz bei Filmproduktionen gemacht. Warum bist du eigentlich
nicht in diesem Fach geblieben? Ullinca schröder: Ich habe mich für die Mode entschieden, weil sie zeitgemäßer ist und mit dem täglichen Leben zu tun hat. Das ist keine Kunstwelt, sondern anwendbar. Das hat mich mehr gereizt. Allerdings arbeite ich seit 1994 kontinuierlich für den Choreografen Jan Pusch. Insofern bin ich dem Tanz und dem Theater doch treu geblieben. nova: Mit welchen Materialien, Stoffen und Details arbeitet ihr am liebsten? Ullinca schröder: Mit hochwertigen, klassisch-zeitlosen Materialien, die nicht nur schön aussehen, sondern sich auch im Alltag bewähren. Wir mögen klassische Muster wie Fischgrät, Hahnentritt, Nadelstreifen und Karos, aber gern auch mal ausgefallene Drucke, am liebsten mit grafischen Mustern. k athrin müller : Ein schöner Knopf ist ebenfalls ein wichtiges Detail. Wir verwenden auch gerne mal kontrastreiche Pipings oder Absteppungen, um Konturen zu betonen und Farbakzente zu setzen. Und Gürtel mit bezogenen Schnallen gibt es eigentlich in jeder Kollektion.
kontinuität und kombinierbarkeit sind fester bestandteil unseres kollektionsprinzips. und guter Stil heiSSt für uns, sich auf das wesentliche zu konzentrieren
Das ist eine BU sich zur Abwechslung mal jemand anderen Per Mausklick sich sdjf
Kathrin legt „Renata“ auf den Tisch: eine taillierte Bluse mit seitlichen Teilungsnähten und klassischer Kragenform, auf der auf weißem Untergrund filigran eine bunte Botanik aufblüht. Mit der Hand fährt sie über den seidenartigen Baumwollstoff, der sich „tana lawn“ nennt, und kein Bügeleisen braucht, um ihn nach dem Waschen wieder in Fasson zu bringen. K athrin müller: Das ist einer unserer Lieblinge und Bestseller dieser Saison. Ullinca schröder: Unwiderstehlich, oder? Qualität und Farben – da stimmt einfach alles. nova: Was inspiriert euch bei euren Entwürfen? Ullinca schröder: In erster Linie Stoffe, aber auch Formen und Farben, die man irgendwo sieht – ob das jetzt eine Vase ist oder ein Polsterbezug von einem Sofa, wo man sich denkt: Ach, das ist ja
lebensart nova
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unsere mode orientiert sich an der zeitlosen schönheit klassischen designs. Wir möchten aber bewährte formen stilistisch weiterentwickeln. neben der optik ist auch der Gebrauchswert wichtig
Dieses Rot sticht sofort ins Auge, zieht den Betrachter magisch an. Der guckt und staunt. Wie es dort in der Auslage hängt, dieses Kleid, so schlicht, aber doch raffiniert, ein Statement für sich. Ebenso schlicht präsentiert sich das Geschäft selbst: kein Schnörkel, keine Deko, eher ein großer begehbarer Kleiderschrank, der die Aufmerksamkeit aufs Wesentliche lenkt: Kleidung. Garment im Hamburger Karo-Viertel ist mittlerweile eine feste Größe im Prêt-àporter-Segement für Damen und Herren. Hier entwerfen die beiden Modedesignerinnen Kathrin Müller und Ullinca Schröder ihre Modelle. Nova stieg ins Herzstück ihres Ladens hinab und traf sie am Arbeitstisch ihres kleinen Musterateliers. nova: Garment heißt ins Deutsche übersetzt schlicht „Kleidungsstück“ oder „Bekleidung“. Da klingt nichts Prätentiöses mit... Ullinca Schröder: Ja, so elementar wie unser Name, ist auch der Anspruch, der unserer Mode zugrunde liegt. Kontinuität und Kombinierbarkeit sind fester Bestandteil unseres Kollektionsprinzips. Und guter Stil heißt für uns, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. nova: Was ist das Wesentliche bei euren Modellen? K athrin Müller: Unsere Mode orientiert sich an der zeitlosen Schönheit klassischen Designs. Wir möchten aber bewährte Formen stilistisch weiterentwickeln: In Schnitten, die durch Proportion und Linie bestechen, in ungewöhnlichen Details und Materialien. Neben der Optik ist uns aber auch der Gebrauchswert wichtig. Ullinca schröder: Die Raffinesse unserer vordergründig schlichten Mode offenbart sich bewusst erst auf den zweiten Blick. Wir machen Kleidungsstücke, die über die Saison hinaus Bestand haben. Langlebig, aber nie langweilig. Sie sol-
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len vom ersten Anprobieren an zu echten Lieblingsstücken werden. nova: Wie würdet ihr eure Mode kurz beschreiben? Ullinca schröder: Klar, raffiniert, zeitlos, elegant. nova: Wie seid ihr zur Mode gekommen? Ullinca schröder: Meine Mutter hat für
uns Kinder genäht und mich regelmäßig in die Kaufhäuser mitgenommen, um Stoffe einzukaufen. Dadurch war ich in Sachen Nähen ziemlich geschult, und es hat einfach auch Spaß gemacht. Ich habe mich auch sehr gerne verkleidet. Etwa mit 16 habe ich mich dann selbst an unsere Nähmaschine gesetzt und alles hoch und runter genäht, was die Burda-, Carina-, Brigitte- und Neue Mode-Hefte der 60er- und 70er-Jahre hergaben. Denn: Taschengeld war knapp und irgendwie hat mich Mode auch immer interessiert. Das war für mich eine Herausforderung, alles so hinzubekommen, sich durch diese Anleitungen durchwühlen zu müssen. Ich hatte den Drang, selber herauszufinden wie das geht und dass mir da keiner dabei dreinredet. K athrin müller: Bei mir war das sehr ähnlich. Auch meine Großmutter und meine Mutter haben genäht. Als Kind habe ich ohne Ende Anziehpuppen mit Kleidchen zum Überklappen gezeichnet. Auch meine Puppen wurden die ganze Zeit benäht, für alle möglichen Zeiten, Lebenswelten und geografischen Gebiete. Meine beiden Schwestern und ich haben ganze Barbie-Familien mit unseren Kollektionen bestückt. Später kam ich dann selbst an die Reihe. nova: Ullinca, du bist klassisch ausge-
bildete Tänzerin, hattest sogar ein Engagement am Staatstheater am Gärtnerplatz in München und hast dann Kostümassistenz bei Filmproduktionen gemacht. Warum bist du eigentlich
nicht in diesem Fach geblieben? Ullinca schröder: Ich habe mich für die Mode entschieden, weil sie zeitgemäßer ist und mit dem täglichen Leben zu tun hat. Das ist keine Kunstwelt, sondern anwendbar. Das hat mich mehr gereizt. Allerdings arbeite ich seit 1994 kontinuierlich für den Choreografen Jan Pusch. Insofern bin ich dem Tanz und dem Theater doch treu geblieben. nova: Mit welchen Materialien, Stoffen und Details arbeitet ihr am liebsten? Ullinca schröder: Mit hochwertigen, klassisch-zeitlosen Materialien, die nicht nur schön aussehen, sondern sich auch im Alltag bewähren. Wir mögen klassische Muster wie Fischgrät, Hahnentritt, Nadelstreifen und Karos, aber gern auch mal ausgefallene Drucke, am liebsten mit grafischen Mustern. k athrin müller : Ein schöner Knopf ist ebenfalls ein wichtiges Detail. Wir verwenden auch gerne mal kontrastreiche Pipings oder Absteppungen, um Konturen zu betonen und Farbakzente zu setzen. Und Gürtel mit bezogenen Schnallen gibt es eigentlich in jeder Kollektion.
kontinuität und kombinierbarkeit sind fester bestandteil unseres kollektionsprinzips. und guter Stil heiSSt für uns, sich auf das wesentliche zu konzentrieren
Das ist eine BU sich zur Abwechslung mal jemand anderen Per Mausklick sich sdjf
Kathrin legt „Renata“ auf den Tisch: eine taillierte Bluse mit seitlichen Teilungsnähten und klassischer Kragenform, auf der auf weißem Untergrund filigran eine bunte Botanik aufblüht. Mit der Hand fährt sie über den seidenartigen Baumwollstoff, der sich „tana lawn“ nennt, und kein Bügeleisen braucht, um ihn nach dem Waschen wieder in Fasson zu bringen. K athrin müller: Das ist einer unserer Lieblinge und Bestseller dieser Saison. Ullinca schröder: Unwiderstehlich, oder? Qualität und Farben – da stimmt einfach alles. nova: Was inspiriert euch bei euren Entwürfen? Ullinca schröder: In erster Linie Stoffe, aber auch Formen und Farben, die man irgendwo sieht – ob das jetzt eine Vase ist oder ein Polsterbezug von einem Sofa, wo man sich denkt: Ach, das ist ja
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Rück zugsort
Foto: Beate killi
Zurück auf die Bäume
Beate Killi ist überzeugt: „In Bäumen für eine Weile zu leben – sei es in einem Baumhaus oder auch nur an einer geschützten Stelle in einem hohlen Stamm – ist ein weit verbreiteter Kindheitstraum. Unabhängig davon, ob man als Kind die Möglichkeit hatte, diesen Traum für eine Weile zu leben, bleibt der Reiz, die Welt ungesehen von oben zu betrachten und der Natur ganz nahe zu sein, den meisten Erwachsenen erhalten.“ Die Industrie-Designerin schuf ein Baumhaus aus einer wetterbeständigen, textilen Hülle sowie einfachen Latten aus dünnem Sperrholz, die den Stoff spannen. Es bietet Platz für
zwei Besucher und ist eingerichtet mit einer Lampe, zwei Sitzkissen und einem Tisch, der auch als Aufzug für ein Picknick verwendet werden kann. In das Baumhaus gelangt man durch eine Luke mit Strickleiter, die einfach mit dem Tischtablett zu schließen ist. Leider ist es noch nicht serienreif. Beate Killi wollte in ihrer Bachelor-Arbeit einen Ort entwerfen, an dem man entspannen und die Seele baumeln lassen kann. Frei nach Antoine de Saint-Exupéry: „Denn je höher eine Wahrheit ist, von desto höherer Warte musst du Ausschau halten, um sie zu begreifen.“ www.beate-killi.de
Lebensart nova
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ICH KANN NICHT MEHR UND WILL NICHT MEHR Text: K atja Kullmann Fotos: Lee Materazzi
Überall Burn-out-Berichte und Psycho-Beichten. Jaja, wir leben in einer Ära des Scheiterns, sagt Katja Kullmann – und ruft dazu auf: Schluss mit dem Scheiter-Porno! Jetzt ist nicht die Zeit für Melodramatik, sondern für den harten Stoff, Macht, Geld, Gerechtigkeit.
Cleaning Supplies, 2009
Das Ding „Zeit“ ist eine faszinierende Angelegenheit. Genau wie das Ding „Gesellschaft“. Beide Dinger sind um uns herum, prägen unser Leben. Aber wir können sie nur sehr schwer fassen – weil wir selbst voll drinhängen, mitmachen, dabei sind. Wenn man zu nahe dran ist, verschwimmen nicht nur die Buchstaben auf dem Papier, es verschwimmen auch die „Zeichen der Zeit“. Am ehesten erkennen wir sie an neuen Vokabeln, die scheinbar aus dem Nichts auftauchen: Plötzlich nehmen wir Begriffe wie „Social Media“ oder „Wellness“ in den Mund – Wörter, die wir kurze Zeit vorher noch gar nicht kannten und die uns dennoch sofort ganz selbstverständlich erscheinen, weil sie ein paar Details in der wirren Jetztzeit ganz gut markieren. „Was ist hier eigentlich gerade los?“: Schon immer haben Menschen sich diese Frage gestellt. Im Jahr 1796 hat der Philosoph Johann Gottfried Herder den Begriff „Zeitgeist“ erfunden. Er klingt überraschend modern, man versteht ihn sofort: Der „Zeitgeist“, das ist die herrschende Denk- und Fühlweise, das sind die Gesprächsthemen und der Tonfall einer Epoche. Wer unsere Gegenwart aufmerksam belauscht, der hört den Zeit-
geist ächzen: „Ich kann nicht mehr“. Wir leben in einer Ära des Scheiterns. „Coaching“ und „Ritalin“, „Angststörungen“ und „ADHS“: Noch vor ein paar Jahren kursierten diese Begriffe nur unter Psychologie-Experten. „Staatsanleihen“, „Schuldenschnitt“, „Wohlstandsschere“: Kein Zeitungsleser hat sich vor sechs bis sieben Sommern mit diesen Wortungetümen herumschlagen müssen. „Shitstorm“ und „Prekariat“, „Kostenexplosion“ und „Rentenloch“: Das ist der Sound unserer Gegenwart. Die immer irgendwie passende Überschrift lautet: „Burn-out“. Nichts, einfach gar nichts, scheint noch zu funktionieren. Sprachforscher sind sich uneinig, ob das Wort „Scheitern“ etwas mit dem frisch vom Stamm geschlagenen Holzscheit zu tun hat – mit einer „Spaltung“ also. Oder ob es vom persischen Wort „Scheitan“ rührt – „Scheitan“ wie „Satan“. Fest steht, dass der renommierte US-Soziologe Richard Sennett noch vor gut einem Jahrzehnt behauptete: „Das Scheitern ist das letzte große Tabu.“ Mit diesem Satz wurde er damals, kurz bevor das World Trade Center einkrachte und das Wort „Krise“ in den Schlagzeilen aufblitzte, oft zitiert. In seinem Buch „Der flexible Mensch“ schrieb er 1998: „Es
gibt jede Menge populärer Sachbücher über den Weg zum Erfolg, aber kaum eines zum Umgang mit dem Scheitern. Wie wir mit dem Scheitern zurechtkommen, mag uns innerlich verfolgen, aber wir diskutieren es selten mit anderen.“
Je mehr Flops und FehlInvestitionen uns um die Ohren sausen, desto weniger schämen wir uns für unser persönliches Missmanagement Inzwischen ist alles anders. Genau das Gegenteil ist eingetreten. Die Talkshows sind voll mit Halb- und Ex-Prominenten, die Pleiten, Pech und Pannen beichten – hier eine versenkte Kapitalanlage, dort eine Privatinsolvenz. Nachrichtenmagazine wie Spiegel, Focus, Stern bringen alle paar Wochen eine Titelgeschichte zum Thema „Depression“. Sogenannte Frauenzeitschriften stellen Fallbeispiele aus dem „echten Leben“ vor, die eine Art Trost versprechen und sich immer gleich lesen, nämlich etwa so: „Silke S.,
Kraftakt nova
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Fahrrad de Luxe: Das Waldmeister Rad, 12.900 Euro
www.waldmeister-bikes.de
Auto-Lampe aus Holz von Ferm Living, 65 Euro
www.lilac-lane.de
Kopfhörer „Covers for beats“ von Lazerwood, ca. 27 Euro
www.lazerwood.com
Lampe „Teardrop“ von Massow Design, ca. 16 4 Euro
www.hemmesphere.co.uk Echtholzfurnier fürs iPhone von Eden, ca. 89 Euro
www.eden-made.de
Mini-Holzlautsprecher „Rock on wood“, ca. 25 Euro
www.uncommongoods.com
Plattenspieler „Barky“ von Audiowood, ca. 1.186 Euro
Postkarte „Osterglocken 3D“, ca. 4 Euro
www.audiowood.com
Leopold Zebranoholz Sonnenbrille, 159 Euro
www.aufdemkerbholz.de
gut holz Holz ist Kraft, Wärme, Beständigkeit. Holz ist Natur. Holz lebt. Wir stellen Produkte vor, die nicht nur gut aussehen, sondern die man auch gerne anfasst. 066 nova JetztZeit
Fotos: Christian Rokosch (1)/Fahrr ad; PR
www.formes-berlin.com
dossier
alles ist möglich? illustration: k a ja paradiek
Yes, we can! Willkommen in der Welt der unbegrenzten Möglichkeiten. Wir können uns heute entscheiden, wie wir unser Dasein gestalten wollen. Ist das nun Fluch oder Segen? Ein Dossier über unser Leben in der Multioptionalität.
Die Emanzipation ist weitestgehend ausgefochten, beim Konsumieren haben wir die Qual der Wahl und wie wir unser Leben gestalten, dafür gibt es mittlerweile die unterschiedlichsten Entwürfe: monogam, alleinerziehend, hetero- oder homosexuell, polyamor, geschieden, Patchworkfamilie, wilde Ehe oder Single – alles Privatsache. Wir sind so frei! Alles schwebt. Gesellschaftliche Zwänge, Kirchenknechtschaft, unterdrückende Regierungen – das alles gibt es nicht mehr. Das Leben ist offen für Veränderungen und vielfältige Entscheidungsmöglichkeiten. Ein Optionsleben. Man muss den Baum nur schütteln, um die Potenziale zu greifen. Doch gilt es, hierbei etwas Essentielles zu beherrschen: die Kunst der Jonglage. Was heißt, mehrere Dinge gleichzeitig unter einen Hut zu bringen, permanent Entscheidungen zu treffen. Was bedeutet das für uns? Nova wirft einen Blick in die Vielfalt unserer heutigen Möglichkeiten.
068 zurück auf los Wie Anja Beyer ihr Leben noch mal neu anfing
074 weniger ist mehr Tanja Diezmanns kreative Ideen zur Entschleunigung
076 multioptionsfalle Andrea Diener über unser Dasein im ständigen Konjunktiv
080 auf fremden füssen Beschränkt aufs Häusliche: Ein Frauenleben im 19. Jahrhundert
JetztZeit nova
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dossier
dossier
zurück auf los Text: Mariet ta Duscher-Miehlich
Wie wäre es, alles hinter sich zu lassen? Sein Leben auf Null zu stellen und noch mal ganz neu anzufangen? Alle Optionen zu ergreifen, die sich einem bieten? Anja Beyer hat es getan. Mit 36 hat sie den kompletten Neustart gewagt – mit einer neuen Ausbildung, einem neuen Beruf, einem neuen Wohnort und einer Frau als Lebenspartnerin.
Gelächter, Geplapper, Schnittchen, die in den Mün- kauft hat sie ihn in dem kleinen Bistro ums Eck in dern hoher Marketing-Tiere verschwinden – all das Berlin-Moabit, wo sie mittlerweile wohnt. In diesem widert sie an. Weil sie die Mäuler an schnappende klassizistischen Haus des vorigen Jahrhunderts, dem Krokodile erinnern, die nach Geld stinken, viel Geld. man seine schmucke Fassade nach dem Krieg abgeIhr Blick wendet sich ab, zur Rennschlagen und damit gesichtslos bahn hin, auf der edle Vollblüter ihre gemacht hat und wo sich gleich gedas war Runden traben, immer im Kreis, genüber die Betonbrücke einer ein schleichender rundherum. Sie nippt an ihrem OranSchnellstraße spannt. prozess, hat gensaft, der trotz der Premium-MarKurz nach der Wende, 1991, geht viele jahre gedauert, ke irgendwie schal schmeckt, zupft an die geborene Magdeburgerin mit ihwo es immer der Hose ihres grauen Anzugs, den sie ren damaligen Freund in den WesEine latente sich extra für die exklusive Kundenten, nach Koblenz. Sie ist 20. Das unzufriedenheit veranstaltung auf der Horner TrabLeben liegt vor ihr. In ihrem gelerngab rennrennbahn kaufen sollte, zieht an ten Beruf als Wirtschaftskauffrau den Ärmeln des Blazers, die ihr zu findet sie einen Job in einer Speditikurz erscheinen. Anja Beyer* fühlt sich wie verkleidet on, lernt nette Kollegen kennen, schließt neue und extrem unwohl. „Das war nicht mein Menschen- Freundschaften. Endlich kann sie sich eine Selbstänschlag, waren nicht meine Gespräche, so oberflächlich digkeit leisten, mit eigener Wohnung, Ausgehen, und materiell“, erinnert sie sich an ihre Zeit als Ver- Auto und Urlaub. Einfach leben, ohne sich großartig kaufsassistentin in einem Hamburger Unternehmen Gedanken machen zu müssen, was morgen ist. Bis für Außenwerbung. „Es hat mich regelrecht angewi- nach acht Jahren die Beziehung mit ihrer Jugendliebe dert. Letztendlich war es das Ereignis, worauf ich zerbricht, plötzlich eine Lücke aufklafft. Und sie wusste: Das halte ich nicht länger aus. Ich muss etwas spürt, dass dies nicht der Ort ist, an dem sie Wurzeln ändern.“ schlagen möchte. Weil etwas fehlt. Ihr Leben hakte, lief nicht mehr rund. Passte einAls sie von Hamburg zu erzählen beginnt, leuchten fach nicht mehr. Wie ein Kleid, das über die Zeit zu ihre großen grünen Augen. „Da wollte ich hin, unbeeng geworden war und sich unangenehm um den Kör- dingt“, sagt sie. „Diese Lebendigkeit dort, die gigantiper spannte. „Das war ein schleichender Prozess, hat sche Hafenkulisse, das Großstädtische – Hamburg viele Jahre gedauert, wo es immer eine latente Unzu- hat mich vom ersten Augenblick an fasziniert.“ Ihr friedenheit gab“, erzählt Anja Beyer, die jetzt auf ih- wird klar, dass ihr die süddeutsche Mentalität nur werem kleinen Sofa mit dem eierschalenfarbenen Leinen- nig entspricht, der Norden sich besser anfühlt für sie. überwurf sitzt und ein Stück vom Apfelkuchen ab- Ein Mann ist schließlich ihr Sprungbrett dafür. Die beißt. Kuchen, da könne sie nicht widerstehen. Ge- große Liebe ist es nicht. Aber als sich Anja Beyer ein
068 nova JetztZeit
Jahr später von ihm trennt, bleibt sie in Hamburg. schen. Für Ende Juli hatte sie bereits ihre Kündigung, Überzeugt davon, dass die Stadt im hohen Norden der aber der verfrühte Rausschmiss kam völlig unverrichtige Platz für sie ist, versucht sie Fuß zu fassen. hofft. „Ich habe mich wirklich schlecht gefühlt“, sagt Fängt in einer Werbeagentur einen Job als Teamassis- sie. „Es hat eine Weile gedauert bis ich realisiert hatte, tentin an, findet eine Handvoll Menschen, denen sie dass ich morgen nicht mehr zur Arbeit gehen werde.“ sich nahe fühlt. Am nächsten Tag läuft sie durch ihr Viertel HamAnja Beyer lässt sich treiben. Schwimmt auf einer burg-Ottensen und denkt: Jeder starrt mich an. Ich schillernden Welle. Kultur, Unterhaltung, Shopping, habe ein Schild auf der Stirn, auf dem steht: Ich bin Männer – alles da. Sie muss nur zugreifen. Und sie tut jetzt arbeitslos. „Der Arbeit so prompt entrissen, fühles. Führt ein Singleleben wie es in vielen Großstädten te ich mich erst mal ziemlich komisch. Nirgendwo datypisch ist, mit all den verkorksten Männergeschich- zugehörig, nichts mehr wert. Auf einmal war ich nutzten, dem Freizeit- und Konsumwahn, dem ständigen los, von einem Tag auf den anderen.“ Kreisen um sich selbst. Zwei Jahre, drei Jahre, vier JahAnja Beyer, die fast ein halbes Jahr lang ohne Arre. Das, was für andere Berufung oder Selbstverwirkli- beit sein wird, will in der Zeit zwischen Arbeitschung ist, ist für sie lediglich ein Job, um ihr Leben zu agentur und Bewerbungen schreiben etwas Sinn finanzieren. „Ich hatte nie einen wirkvolles tun. In einer Obdach losenlichen Plan, was berufliche Dinge anEinrichtung, die von drei Franziskamich ehrenamtlich geht“, gesteht Anja Beyer. „Spaß sollner-Schwestern geleitet wird, hilft zu engagieren, hat te mir in erster Linie das Private sie bei der Essensausgabe, schmiert mir sehr viel gegeben bringen.“ Bis sie 2004 plötzlich ihren Brote, setzt Tee auf, spricht Leuten und mir den weg in Job verliert. Mut zu. Und merkt, wie gut ihr das Es ist Juni, ein warmer Sommer- den sozialen bereich tut. „Dort ist mir erstmals bewusst geöffnet tag. Anja Beyer sitzt an ihrem Schreibgeworden, dass es mir total viel gibt, tisch in einer Hamburger WerbeagenMenschen etwas Gutes zu tun, dass tur, einem schicken Industrieloft, wo einst Schiffs- man auch ganz viel zurückbekommt. Das Gefühl schrauben geschmiedet wurden, checkt wie jeden kannte ich bis dahin nicht. Und es war mir gar nicht Morgen ihre E-Mails, als einer der Geschäftsführer so bewusst, dass ich eher für diesen Bereich geschafins Büro reinplatzt und sie auffordert: „Anja, jetzt fen bin. Rückmeldung und Dankbarkeit zurückzuschalt mal deinen Rechner aus und pack deine Sachen bekommen, das war für mich unheimlich bereizusammen. Du gehst.“ Mitnehmen darf sie nichts aus chernd. Mich ehrenamtlich zu engagieren, hat mir ihrem Büro. Sie fühlt sich wie ein Schwerverbrecher, sehr viel gegeben und mir einen anderen Weg aufgefährt den Computer runter, steht auf und geht raus auf zeigt, mir letztendlich den Weg in den sozialen Bedie Straße, wo die Autos unbemerkt an ihr vorbeirau- reich geöffnet.“
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zurück auf los Text: Mariet ta Duscher-Miehlich
Wie wäre es, alles hinter sich zu lassen? Sein Leben auf Null zu stellen und noch mal ganz neu anzufangen? Alle Optionen zu ergreifen, die sich einem bieten? Anja Beyer hat es getan. Mit 36 hat sie den kompletten Neustart gewagt – mit einer neuen Ausbildung, einem neuen Beruf, einem neuen Wohnort und einer Frau als Lebenspartnerin.
Gelächter, Geplapper, Schnittchen, die in den Mün- kauft hat sie ihn in dem kleinen Bistro ums Eck in dern hoher Marketing-Tiere verschwinden – all das Berlin-Moabit, wo sie mittlerweile wohnt. In diesem widert sie an. Weil sie die Mäuler an schnappende klassizistischen Haus des vorigen Jahrhunderts, dem Krokodile erinnern, die nach Geld stinken, viel Geld. man seine schmucke Fassade nach dem Krieg abgeIhr Blick wendet sich ab, zur Rennschlagen und damit gesichtslos bahn hin, auf der edle Vollblüter ihre gemacht hat und wo sich gleich gedas war Runden traben, immer im Kreis, genüber die Betonbrücke einer ein schleichender rundherum. Sie nippt an ihrem OranSchnellstraße spannt. prozess, hat gensaft, der trotz der Premium-MarKurz nach der Wende, 1991, geht viele jahre gedauert, ke irgendwie schal schmeckt, zupft an die geborene Magdeburgerin mit ihwo es immer der Hose ihres grauen Anzugs, den sie ren damaligen Freund in den WesEine latente sich extra für die exklusive Kundenten, nach Koblenz. Sie ist 20. Das unzufriedenheit veranstaltung auf der Horner TrabLeben liegt vor ihr. In ihrem gelerngab rennrennbahn kaufen sollte, zieht an ten Beruf als Wirtschaftskauffrau den Ärmeln des Blazers, die ihr zu findet sie einen Job in einer Speditikurz erscheinen. Anja Beyer* fühlt sich wie verkleidet on, lernt nette Kollegen kennen, schließt neue und extrem unwohl. „Das war nicht mein Menschen- Freundschaften. Endlich kann sie sich eine Selbstänschlag, waren nicht meine Gespräche, so oberflächlich digkeit leisten, mit eigener Wohnung, Ausgehen, und materiell“, erinnert sie sich an ihre Zeit als Ver- Auto und Urlaub. Einfach leben, ohne sich großartig kaufsassistentin in einem Hamburger Unternehmen Gedanken machen zu müssen, was morgen ist. Bis für Außenwerbung. „Es hat mich regelrecht angewi- nach acht Jahren die Beziehung mit ihrer Jugendliebe dert. Letztendlich war es das Ereignis, worauf ich zerbricht, plötzlich eine Lücke aufklafft. Und sie wusste: Das halte ich nicht länger aus. Ich muss etwas spürt, dass dies nicht der Ort ist, an dem sie Wurzeln ändern.“ schlagen möchte. Weil etwas fehlt. Ihr Leben hakte, lief nicht mehr rund. Passte einAls sie von Hamburg zu erzählen beginnt, leuchten fach nicht mehr. Wie ein Kleid, das über die Zeit zu ihre großen grünen Augen. „Da wollte ich hin, unbeeng geworden war und sich unangenehm um den Kör- dingt“, sagt sie. „Diese Lebendigkeit dort, die gigantiper spannte. „Das war ein schleichender Prozess, hat sche Hafenkulisse, das Großstädtische – Hamburg viele Jahre gedauert, wo es immer eine latente Unzu- hat mich vom ersten Augenblick an fasziniert.“ Ihr friedenheit gab“, erzählt Anja Beyer, die jetzt auf ih- wird klar, dass ihr die süddeutsche Mentalität nur werem kleinen Sofa mit dem eierschalenfarbenen Leinen- nig entspricht, der Norden sich besser anfühlt für sie. überwurf sitzt und ein Stück vom Apfelkuchen ab- Ein Mann ist schließlich ihr Sprungbrett dafür. Die beißt. Kuchen, da könne sie nicht widerstehen. Ge- große Liebe ist es nicht. Aber als sich Anja Beyer ein
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Jahr später von ihm trennt, bleibt sie in Hamburg. schen. Für Ende Juli hatte sie bereits ihre Kündigung, Überzeugt davon, dass die Stadt im hohen Norden der aber der verfrühte Rausschmiss kam völlig unverrichtige Platz für sie ist, versucht sie Fuß zu fassen. hofft. „Ich habe mich wirklich schlecht gefühlt“, sagt Fängt in einer Werbeagentur einen Job als Teamassis- sie. „Es hat eine Weile gedauert bis ich realisiert hatte, tentin an, findet eine Handvoll Menschen, denen sie dass ich morgen nicht mehr zur Arbeit gehen werde.“ sich nahe fühlt. Am nächsten Tag läuft sie durch ihr Viertel HamAnja Beyer lässt sich treiben. Schwimmt auf einer burg-Ottensen und denkt: Jeder starrt mich an. Ich schillernden Welle. Kultur, Unterhaltung, Shopping, habe ein Schild auf der Stirn, auf dem steht: Ich bin Männer – alles da. Sie muss nur zugreifen. Und sie tut jetzt arbeitslos. „Der Arbeit so prompt entrissen, fühles. Führt ein Singleleben wie es in vielen Großstädten te ich mich erst mal ziemlich komisch. Nirgendwo datypisch ist, mit all den verkorksten Männergeschich- zugehörig, nichts mehr wert. Auf einmal war ich nutzten, dem Freizeit- und Konsumwahn, dem ständigen los, von einem Tag auf den anderen.“ Kreisen um sich selbst. Zwei Jahre, drei Jahre, vier JahAnja Beyer, die fast ein halbes Jahr lang ohne Arre. Das, was für andere Berufung oder Selbstverwirkli- beit sein wird, will in der Zeit zwischen Arbeitschung ist, ist für sie lediglich ein Job, um ihr Leben zu agentur und Bewerbungen schreiben etwas Sinn finanzieren. „Ich hatte nie einen wirkvolles tun. In einer Obdach losenlichen Plan, was berufliche Dinge anEinrichtung, die von drei Franziskamich ehrenamtlich geht“, gesteht Anja Beyer. „Spaß sollner-Schwestern geleitet wird, hilft zu engagieren, hat te mir in erster Linie das Private sie bei der Essensausgabe, schmiert mir sehr viel gegeben bringen.“ Bis sie 2004 plötzlich ihren Brote, setzt Tee auf, spricht Leuten und mir den weg in Job verliert. Mut zu. Und merkt, wie gut ihr das Es ist Juni, ein warmer Sommer- den sozialen bereich tut. „Dort ist mir erstmals bewusst geöffnet tag. Anja Beyer sitzt an ihrem Schreibgeworden, dass es mir total viel gibt, tisch in einer Hamburger WerbeagenMenschen etwas Gutes zu tun, dass tur, einem schicken Industrieloft, wo einst Schiffs- man auch ganz viel zurückbekommt. Das Gefühl schrauben geschmiedet wurden, checkt wie jeden kannte ich bis dahin nicht. Und es war mir gar nicht Morgen ihre E-Mails, als einer der Geschäftsführer so bewusst, dass ich eher für diesen Bereich geschafins Büro reinplatzt und sie auffordert: „Anja, jetzt fen bin. Rückmeldung und Dankbarkeit zurückzuschalt mal deinen Rechner aus und pack deine Sachen bekommen, das war für mich unheimlich bereizusammen. Du gehst.“ Mitnehmen darf sie nichts aus chernd. Mich ehrenamtlich zu engagieren, hat mir ihrem Büro. Sie fühlt sich wie ein Schwerverbrecher, sehr viel gegeben und mir einen anderen Weg aufgefährt den Computer runter, steht auf und geht raus auf zeigt, mir letztendlich den Weg in den sozialen Bedie Straße, wo die Autos unbemerkt an ihr vorbeirau- reich geöffnet.“
JetztZeit nova
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dossier
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In der Multioptionsfalle Text: Andrea Diener
Ob im Job oder Privaten: Die Vielfalt der Möglichkeiten macht uns verrückt. Wir leben in einem ständigen Konjunktiv des „Ich könnte“ und „Ich sollte“. Die Qual der Wahl, sie ist für uns Alltag geworden.
Nein, das Leben ist kein Fertiggericht. Es ist eher ein Mit dem Durchatmen aber kommt das Denken. Mit kaltes Buffet, von dem man unmöglich alles probie- dem Wochenende, mit dem Urlaub, mit dem Feierren kann. Dass ich eingelegte Artischockenherzen abend, hinterrücks attackieren einen ungewollte nicht mag, weiß ich, ich mag lieber Fisch, davon will Hirnaktivitäten. Plötzlich kommt man zu Bewusstich unbedingt etwas nehmen, aber der Menschen- sein, wie nach einem langen Koma, taucht auf, pulk davor schreckt mich ab. Fisch ist hart um- schnappt nach Luft und schaut sich um: Wo bin ich kämpft. Ich wende mich also dem hier eigentlich, was mach ich hier eiSalat zu, neben dem stehe ich zufäl- man kleidet sich mit gentlich? Man kocht Kaffee, duscht lig gerade, und praktischerweise lebensmodellen an und fragt sich: Wie bin ich hineingescheint er nicht sehr begehrt. Ich raten in diese Wohnung, in diese Bewie eine papierpuppe: häufe gerade grüne Blätter auf den ziehung, in dieses Leben? Hab ich Vielleicht wäre Teller, da sehe ich das Chicken Tanmich jemals dafür entschieden? Hat anders alles doch doori. Ich will Chicken Tandoori, mich überhaupt mal jemand gefragt? viel besser aber bloß nicht zuviel, das macht Vielleicht neigt man zur Larmoyanz satt und ich will später noch vom und heult: Nie fragt mich einer. Fisch probieren und außerdem die Desserts. Die sind Manchmal, wenn man nichts Besseres zu tun hat, alle heftig, Mousse au Chocolat und Panna cotta, fängt man auch an, sich Paralleluniversien auszumadas muss ich schon mal einplanen, aber erst... Halt, len: Ich mit Kind, ich ohne Kind, ich verheiratet mit der Fischpulk lichtet sich, schnell rüber, ach Mist, der Jugendliebe, ich mit Studium, ich ohne Studium, nur noch Aal übrig. Also doch Salat. So geht das die ich ausgewandert in ein Cottage in Südengland. Kleiganze Zeit. det sich mit Lebensmodellen an wie eine PapierpupMan kann sich natürlich auch gut und gerne mit pe: Vielleicht wäre anders alles doch viel besser. Vielanderen Dingen ablenken. Wenn man in der Tret- leicht wäre ich in Südengland mehr ich selbst, noch mühle steckt, damit beschäftigt ist die Tage abzuha- ichiger, am ichigsten. Es heißt ja immer, dass man zu ken, dann merkt man es nicht. Denkt nicht darüber sich selbst kommen soll, aber dann? Soll man dann nach, was alles sein könnte, denn das, wo man gera- da bleiben, einfach stehenbleiben und froh sein, dass de drinsteckt, ist einem ohnehin schon zu viel. Man man sich gefunden hat? ist froh, regelmäßig in der Betriebskantine seine Es gibt viele Möglichkeiten, mit seinem Dasein zu Nahrungsversorgung sichern zu können und ausrei- hadern, aber die verletzendste und unfruchtbarste ist chend zu schlafen. Man nimmt die Zeit eigentlich die, sich mit anderen zu vergleichen: Meine Freundin nur noch wahr, weil man regelmäßig den Terminka- ist genauso alt wie ich und leitet schon ein Büro. Meilender umblättern muss und das Geld auf dem Kon- ne Schwester ist jünger und verdient viel besser als to auf- und abschwillt. ich. Alle aus meiner alten Klasse sind schon verheira-
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dossier
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In der Multioptionsfalle Text: Andrea Diener
Ob im Job oder Privaten: Die Vielfalt der Möglichkeiten macht uns verrückt. Wir leben in einem ständigen Konjunktiv des „Ich könnte“ und „Ich sollte“. Die Qual der Wahl, sie ist für uns Alltag geworden.
Nein, das Leben ist kein Fertiggericht. Es ist eher ein Mit dem Durchatmen aber kommt das Denken. Mit kaltes Buffet, von dem man unmöglich alles probie- dem Wochenende, mit dem Urlaub, mit dem Feierren kann. Dass ich eingelegte Artischockenherzen abend, hinterrücks attackieren einen ungewollte nicht mag, weiß ich, ich mag lieber Fisch, davon will Hirnaktivitäten. Plötzlich kommt man zu Bewusstich unbedingt etwas nehmen, aber der Menschen- sein, wie nach einem langen Koma, taucht auf, pulk davor schreckt mich ab. Fisch ist hart um- schnappt nach Luft und schaut sich um: Wo bin ich kämpft. Ich wende mich also dem hier eigentlich, was mach ich hier eiSalat zu, neben dem stehe ich zufäl- man kleidet sich mit gentlich? Man kocht Kaffee, duscht lig gerade, und praktischerweise lebensmodellen an und fragt sich: Wie bin ich hineingescheint er nicht sehr begehrt. Ich raten in diese Wohnung, in diese Bewie eine papierpuppe: häufe gerade grüne Blätter auf den ziehung, in dieses Leben? Hab ich Vielleicht wäre Teller, da sehe ich das Chicken Tanmich jemals dafür entschieden? Hat anders alles doch doori. Ich will Chicken Tandoori, mich überhaupt mal jemand gefragt? viel besser aber bloß nicht zuviel, das macht Vielleicht neigt man zur Larmoyanz satt und ich will später noch vom und heult: Nie fragt mich einer. Fisch probieren und außerdem die Desserts. Die sind Manchmal, wenn man nichts Besseres zu tun hat, alle heftig, Mousse au Chocolat und Panna cotta, fängt man auch an, sich Paralleluniversien auszumadas muss ich schon mal einplanen, aber erst... Halt, len: Ich mit Kind, ich ohne Kind, ich verheiratet mit der Fischpulk lichtet sich, schnell rüber, ach Mist, der Jugendliebe, ich mit Studium, ich ohne Studium, nur noch Aal übrig. Also doch Salat. So geht das die ich ausgewandert in ein Cottage in Südengland. Kleiganze Zeit. det sich mit Lebensmodellen an wie eine PapierpupMan kann sich natürlich auch gut und gerne mit pe: Vielleicht wäre anders alles doch viel besser. Vielanderen Dingen ablenken. Wenn man in der Tret- leicht wäre ich in Südengland mehr ich selbst, noch mühle steckt, damit beschäftigt ist die Tage abzuha- ichiger, am ichigsten. Es heißt ja immer, dass man zu ken, dann merkt man es nicht. Denkt nicht darüber sich selbst kommen soll, aber dann? Soll man dann nach, was alles sein könnte, denn das, wo man gera- da bleiben, einfach stehenbleiben und froh sein, dass de drinsteckt, ist einem ohnehin schon zu viel. Man man sich gefunden hat? ist froh, regelmäßig in der Betriebskantine seine Es gibt viele Möglichkeiten, mit seinem Dasein zu Nahrungsversorgung sichern zu können und ausrei- hadern, aber die verletzendste und unfruchtbarste ist chend zu schlafen. Man nimmt die Zeit eigentlich die, sich mit anderen zu vergleichen: Meine Freundin nur noch wahr, weil man regelmäßig den Terminka- ist genauso alt wie ich und leitet schon ein Büro. Meilender umblättern muss und das Geld auf dem Kon- ne Schwester ist jünger und verdient viel besser als to auf- und abschwillt. ich. Alle aus meiner alten Klasse sind schon verheira-
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Die Ökonomie der beziehung Text: Hiltrud Bontrup Illustration: stephanie wunderlich
Wer etwas bekommt, muss auch etwas geben. Gilt das wirtschaftliche Prinzip auch bei Paaren? Hiltrud Bontrup ist der Meinung: Wer einen Menschen wirklich liebt, muss dankbar sein, wenn der ihm Wünsche abschlägt.
Franka könnte schreien vor Glück. Er hat Ja gesagt. Sie jubelt nicht, jedenfalls nicht in Gregors Gegenwart. Sie weiß, er tut es ihr zuliebe. Aber sie grinst. Es ist nicht nur die Freude auf das Haus mit Garten. Es ist ein Siegergrinsen. Sie hat sich durchgesetzt. Endlich. Zwei Jahre hat sie ihn bearbeitet: Sie würden die Sonne im Garten genießen, all das Grün. Bestimmt wohnen am Stadtrand auch relaxte Leute. Und sie ziehen doch sowieso nicht mehr ständig durch die Clubs. Zwei Jahre Diskussionen, Streit und Tränen. „Wenn es dir wirklich so wichtig ist“, sagte er plötzlich. Es war ganz still an ihrem Tisch gewesen. Seit zehn Minuten hatte keiner was gesagt. Er kaute sein Brötchen und starrte vor sich hin. Sie dachte an die Margeriten auf dem Balkon. Ein Kirschbaum wäre schöner. Aber noch mal davon anfangen? Sie traute sich nicht mehr, seit er letztens explodiert war. „Ich will kein Wort mehr davon hören!“ Seitdem schwieg sie, worüber sonst auch reden? Doch jetzt – gewonnen! Und verloren. Wenn Franka sich durchsetzt, zahlt sie einen Preis. So will es die Ökonomie der Liebe. Wer etwas bekommt, muss auch etwas geben. Wer den
084 nova NahKontakt
anderen niederringt, den eigenen Willen durchboxt, der mag sich überlegen fühlen. Vielleicht ist er sogar im Recht, ganz objektiv gesehen. Den anderen selbst aber wird er verlieren, mit jedem Sieg ein Stückchen. Ein Stück Loyalität, ein Stück Vertrautheit, ein Stück Liebe.
am ende sind es nicht selten die starken, die hintergangen und verlassen werden Du kriegst das Haus – was kriege ich? Wer immer mittendrin stecken wollte im prallen Leben, die nächste Bar nie mehr als zehn Minuten entfernt, der opfert ein Lebensideal. Doch nicht umsonst und nicht für selbstgebackenen Kuchen auf der Terrasse. Wer sich in seinen Werten und Wünschen so beschneiden lässt, sucht irgendwann den Ausgleich. Selbstbestimmung ist die Währung. Dann geht Gregor mit Nele, der neuen Kollegin, nach der Arbeit noch in seine Lieblingskneipe. Franka hat ja ihr Haus.
Das war ihr ja so wichtig. Und Gregor ist jetzt auch was wichtig: Das Gefühl, selbst nicht zu kurz zu kommen. Hat er nicht jedes Recht dazu? Sie müssen einem nicht leid tun, die Schwachen, die in Beziehungen immer unterliegen. Sie gehen den leichteren Weg: weniger Kampf, mehr Alleingang. Klar kostet es Kraft gegenzuhalten, Wünsche auszuschlagen, eine harte Kante zu ziehen. Klar kostet es Mut, Nein zu sagen und den anderen zu enttäuschen. Es ist viel einfacher, nachzugeben und heimlich Vergeltung zu genießen. Es hat nur eine Konsequenz: Die Schnittmenge zweier Leben wird kleiner. Die Kluft wird größer. Mit jeder kleinen Rache schrumpft der Respekt voreinander ein wenig mehr. Am Ende sind es nicht selten die Starken, die hintergangen und verlassen werden. Dabei richten sie doch alles perfekt ein. Das Haus mit Garten, die Familie, in der jeder seine Rolle spielt. Den Liebsten, der sich so willig dareinfindet, dass er alleine kaum noch lebensfähig scheint. Nur dass es so nicht funktioniert. Wer einen Menschen wirklich liebt, muss dankbar sein, wenn der ihm Wünsche abschlägt.
Die Ökonomie der beziehung Text: Hiltrud Bontrup Illustration: stephanie wunderlich
Wer etwas bekommt, muss auch etwas geben. Gilt das wirtschaftliche Prinzip auch bei Paaren? Hiltrud Bontrup ist der Meinung: Wer einen Menschen wirklich liebt, muss dankbar sein, wenn der ihm Wünsche abschlägt.
Franka könnte schreien vor Glück. Er hat Ja gesagt. Sie jubelt nicht, jedenfalls nicht in Gregors Gegenwart. Sie weiß, er tut es ihr zuliebe. Aber sie grinst. Es ist nicht nur die Freude auf das Haus mit Garten. Es ist ein Siegergrinsen. Sie hat sich durchgesetzt. Endlich. Zwei Jahre hat sie ihn bearbeitet: Sie würden die Sonne im Garten genießen, all das Grün. Bestimmt wohnen am Stadtrand auch relaxte Leute. Und sie ziehen doch sowieso nicht mehr ständig durch die Clubs. Zwei Jahre Diskussionen, Streit und Tränen. „Wenn es dir wirklich so wichtig ist“, sagte er plötzlich. Es war ganz still an ihrem Tisch gewesen. Seit zehn Minuten hatte keiner was gesagt. Er kaute sein Brötchen und starrte vor sich hin. Sie dachte an die Margeriten auf dem Balkon. Ein Kirschbaum wäre schöner. Aber noch mal davon anfangen? Sie traute sich nicht mehr, seit er letztens explodiert war. „Ich will kein Wort mehr davon hören!“ Seitdem schwieg sie, worüber sonst auch reden? Doch jetzt – gewonnen! Und verloren. Wenn Franka sich durchsetzt, zahlt sie einen Preis. So will es die Ökonomie der Liebe. Wer etwas bekommt, muss auch etwas geben. Wer den
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anderen niederringt, den eigenen Willen durchboxt, der mag sich überlegen fühlen. Vielleicht ist er sogar im Recht, ganz objektiv gesehen. Den anderen selbst aber wird er verlieren, mit jedem Sieg ein Stückchen. Ein Stück Loyalität, ein Stück Vertrautheit, ein Stück Liebe.
am ende sind es nicht selten die starken, die hintergangen und verlassen werden Du kriegst das Haus – was kriege ich? Wer immer mittendrin stecken wollte im prallen Leben, die nächste Bar nie mehr als zehn Minuten entfernt, der opfert ein Lebensideal. Doch nicht umsonst und nicht für selbstgebackenen Kuchen auf der Terrasse. Wer sich in seinen Werten und Wünschen so beschneiden lässt, sucht irgendwann den Ausgleich. Selbstbestimmung ist die Währung. Dann geht Gregor mit Nele, der neuen Kollegin, nach der Arbeit noch in seine Lieblingskneipe. Franka hat ja ihr Haus.
Das war ihr ja so wichtig. Und Gregor ist jetzt auch was wichtig: Das Gefühl, selbst nicht zu kurz zu kommen. Hat er nicht jedes Recht dazu? Sie müssen einem nicht leid tun, die Schwachen, die in Beziehungen immer unterliegen. Sie gehen den leichteren Weg: weniger Kampf, mehr Alleingang. Klar kostet es Kraft gegenzuhalten, Wünsche auszuschlagen, eine harte Kante zu ziehen. Klar kostet es Mut, Nein zu sagen und den anderen zu enttäuschen. Es ist viel einfacher, nachzugeben und heimlich Vergeltung zu genießen. Es hat nur eine Konsequenz: Die Schnittmenge zweier Leben wird kleiner. Die Kluft wird größer. Mit jeder kleinen Rache schrumpft der Respekt voreinander ein wenig mehr. Am Ende sind es nicht selten die Starken, die hintergangen und verlassen werden. Dabei richten sie doch alles perfekt ein. Das Haus mit Garten, die Familie, in der jeder seine Rolle spielt. Den Liebsten, der sich so willig dareinfindet, dass er alleine kaum noch lebensfähig scheint. Nur dass es so nicht funktioniert. Wer einen Menschen wirklich liebt, muss dankbar sein, wenn der ihm Wünsche abschlägt.
Wozu die Scham? Text: Bärbel Kerber Fotos: kevin hayes, flora p., fred hüning
Sexysein, das scheint uns verdammt wichtig geworden. Und wir hinterfragen das nicht. Wer es tut, kommt in den Verdacht verklemmt und spießig zu sein. Doch ist Intimität nicht auch zu etwas nütze?
086 nova NahKontakt
Wozu die Scham? Text: Bärbel Kerber Fotos: kevin hayes, flora p., fred hüning
Sexysein, das scheint uns verdammt wichtig geworden. Und wir hinterfragen das nicht. Wer es tut, kommt in den Verdacht verklemmt und spießig zu sein. Doch ist Intimität nicht auch zu etwas nütze?
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ALLES IST MÖGLICH? DOSSIER UNSER LEBEN IN DER MULTIOPTIONALITÄT
FOTOS: XXX
01|2013 DE 5,90 € / AT 6,90 € / LUX 7 € / CH 9,90 CHF
01|2013
Foto: plainpicture/Bildhuset
DAS FRAUENMAGAZIN MIT EIGENSINN
DAS FRAUENMAGAZIN MIT EIGENSINN ENTKÖRPERLICHTE LIEBE: LEIDENSCHAFT IN DIGITALEN ZEITEN | WOZU DIE SCHAM? WARUM SIE AUCH ZU ETWAS NÜTZE IST | UM EIN HAAR: EINE KLEINE KULTURGESCHICHTE | DIE UNVOLLENDETE: EVA HESSE | KLASSISCHE KLARHEIT: MODE VON GARMENT
01/2011 Nova
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01|2013 DAS FRAUENMAGAZIN MIT EIGENSINN
Liebe digital Text: aus Joachim Bessing „Untitled“ Illustration: valero doval
Wie körperlich kann und muss Liebe noch sein? Wie innig kann man sich mitteilen? Wie nah kann man sich kommen? Joachim Bessing zeigt, wie es geht und trotzdem nicht klappt. In „Untitled“ erfährt sein Held die größte Liebe seines Lebens, die aber fast ausschließlich in E-Mails, SMS und Bildnachrichten stattfindet. Intensiver geht es kaum, zersetzender mit Sicherheit aber auch nicht.
[...] Sie muss gehen, dieses Mal mit der S-Bahn. Ziemlich wahrscheinlich bin ich deswegen noch nie zuvor einem Philosophen begegnet – ich meide öffentliche Verkehrsmittel. Den Aufgang zur S-Bahn fotografiere ich. Daraus wird eine ganze Batterie von Fetischismen und Transitional Objects entstanden sein, denn was ich noch nicht weiß: so häufig, so intensiv, auf eine Weise auch: unschuldig oder unbeschwert werde ich Julia Speer, eindeutig meine große Liebe, eine Personifizierung des Glücks also, auf die so viele Menschen, Millionen wahrscheinlich, ihr Leben lang vergebens warten müssen, nie wieder sehen. Ich werde mich also, was ich nie für möglich gehalten habe, um diesen Mangel an wirklicher Nähe auszugleichen, zu einem Experten in Übertragungstechniken und Gedankenspielen entwickeln – nur um des Überlebens willen. [...] Noch bin ich sozusagen vollgetankt mit einer anständigen Zahl von E-Mails, dazu ein mehrstündiges Telefongespräch. Als besonders nahrhaft wird sich der zunehmend identitätsstiftend verehrte Austausch der bretonischen Ortsnamen bewähren. Doch schützt selbst die Überdosis nicht vor dem Comedown, der unweigerlich mit dem Einsetzen der Dämmerung des nächsten Tages, ein Freitag, beginnt. Und für mich ist es nun nicht die Eule, die im Grau in Grau ihre Schwingen breitet. Der Schmerz des Vermissens fährt seine Geräte aus. Man kann das alles wissen. Man kann sich durchaus sogar laut und zudem noch vor dem Spiegel stehend, einzureden versuchen: Ich weiß, dass mein
094 nova NahKontakt
Herz nichts als ein muskuläres Hohlorgan ist, das mit rhythmischen Kontraktionen das Blut durch meinen Körper pumpt und so die Durchblutung aller Organe sichert. Und trotzdem spüre ich an dessen Sitz, etwas links versetzt von der Mitte meiner Brust, das Zentrum des Schmerzes. Dort vermisse ich sie. Um es noch verwirrender zu beschreiben: An der Stelle, wo mein muskuläres Hohlorgan pumpenweise für die Durchblutung aller meiner Organe sorgt, dort vermisse ich ihre Worte. Dort spüre ich den Mangel, den Hunger, die ausbleibende Müdigkeit und den großen Durst. Egal, was man weiß. Es ist einfach so. [...] Warum telefoniert ihr eigentlich nicht, fragt Katja. Stimmt. Seltsam eigentlich, habe ich mich so noch gar nicht gefragt. Julia und ich haben eine selbstverständliche Kommunikationsstruktur – so erscheint es mir zumindest. Selbstverständlich vor allem, da sie sich entwickelt hat. Wir haben noch nie ein Wort darüber verlieren müssen – organisierenderweise –, alles kam wie von selbst. In den nächsten Wochen und Monaten würden wir zwar noch einige Kanäle alternativ zu SMS, E-Mail und Telefongesprächen eröffnen und betreiben. Doch der Austausch von Getipptem über unsere iPhones, später auch unsere iPads, würde weiterhin den bei Weitem überwiegenden Teil unserer unendlichen Zwiesprache ausmachen. Anfang Juni würde ich interessehalber den Schriftwechsel ausdrucken, der dann mehrere Tausend Din-A4Blätter bedecken wird. Es wird die Zeit sein, da das Erscheinen des dicken Prachtbandes der Firmengeschichte von Prada kurz bevorsteht. Und ich werde bei
allen mit unseren Themen betrauten Redakteuren die Versandboxen der Vorabexemplare einsammeln und darin die Stapel loser Blätter verpackt nach Hause schaffen. Sieben dieser Schachteln aus mattschwarzer Pappe werde ich mit ausgedruckter E-Mail befüllen. In den Kopfzeilen steht nie etwas anderes als: Untitled oder Ohne Betreff. Ich werde diese schweren Schachteln in zwei Schubladen meiner Kommode verstauen, die ich dann nämlich besitzen werde. Julias Kommentar, als ich ihr ein Foto der Briefstapel schicke: Kompletter Irrsinn. Danach drucken wir nie wieder aus.
an der stelle, wo mein muskuläres hohlorgan pumpenweise für die durchblutung aller meiner organe sorgt, dort vermisse ich ihre worte [...] Es wird Zeit für sie zu gehen. Ich kann das spüren, so wie ich alles spüren kann, was uns betrifft – eigentlich müssen wir nicht sprechen, wir wissen bereits alles, wenn wir uns sehen; wenn wir einander ansichtig werden dürfen. Und auch sonst, die Übertragung funktioniert auch ohne Bild. Das haben wir in den letzten Monaten immer wieder aufs Neue überraschend erfahren. Und dennoch reicht es nicht aus. Es genügt nicht, sich des anderen versichert zu wissen. Es reicht nicht, die von ihm
Liebe digital Text: aus Joachim Bessing „Untitled“ Illustration: valero doval
Wie körperlich kann und muss Liebe noch sein? Wie innig kann man sich mitteilen? Wie nah kann man sich kommen? Joachim Bessing zeigt, wie es geht und trotzdem nicht klappt. In „Untitled“ erfährt sein Held die größte Liebe seines Lebens, die aber fast ausschließlich in E-Mails, SMS und Bildnachrichten stattfindet. Intensiver geht es kaum, zersetzender mit Sicherheit aber auch nicht.
[...] Sie muss gehen, dieses Mal mit der S-Bahn. Ziemlich wahrscheinlich bin ich deswegen noch nie zuvor einem Philosophen begegnet – ich meide öffentliche Verkehrsmittel. Den Aufgang zur S-Bahn fotografiere ich. Daraus wird eine ganze Batterie von Fetischismen und Transitional Objects entstanden sein, denn was ich noch nicht weiß: so häufig, so intensiv, auf eine Weise auch: unschuldig oder unbeschwert werde ich Julia Speer, eindeutig meine große Liebe, eine Personifizierung des Glücks also, auf die so viele Menschen, Millionen wahrscheinlich, ihr Leben lang vergebens warten müssen, nie wieder sehen. Ich werde mich also, was ich nie für möglich gehalten habe, um diesen Mangel an wirklicher Nähe auszugleichen, zu einem Experten in Übertragungstechniken und Gedankenspielen entwickeln – nur um des Überlebens willen. [...] Noch bin ich sozusagen vollgetankt mit einer anständigen Zahl von E-Mails, dazu ein mehrstündiges Telefongespräch. Als besonders nahrhaft wird sich der zunehmend identitätsstiftend verehrte Austausch der bretonischen Ortsnamen bewähren. Doch schützt selbst die Überdosis nicht vor dem Comedown, der unweigerlich mit dem Einsetzen der Dämmerung des nächsten Tages, ein Freitag, beginnt. Und für mich ist es nun nicht die Eule, die im Grau in Grau ihre Schwingen breitet. Der Schmerz des Vermissens fährt seine Geräte aus. Man kann das alles wissen. Man kann sich durchaus sogar laut und zudem noch vor dem Spiegel stehend, einzureden versuchen: Ich weiß, dass mein
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Herz nichts als ein muskuläres Hohlorgan ist, das mit rhythmischen Kontraktionen das Blut durch meinen Körper pumpt und so die Durchblutung aller Organe sichert. Und trotzdem spüre ich an dessen Sitz, etwas links versetzt von der Mitte meiner Brust, das Zentrum des Schmerzes. Dort vermisse ich sie. Um es noch verwirrender zu beschreiben: An der Stelle, wo mein muskuläres Hohlorgan pumpenweise für die Durchblutung aller meiner Organe sorgt, dort vermisse ich ihre Worte. Dort spüre ich den Mangel, den Hunger, die ausbleibende Müdigkeit und den großen Durst. Egal, was man weiß. Es ist einfach so. [...] Warum telefoniert ihr eigentlich nicht, fragt Katja. Stimmt. Seltsam eigentlich, habe ich mich so noch gar nicht gefragt. Julia und ich haben eine selbstverständliche Kommunikationsstruktur – so erscheint es mir zumindest. Selbstverständlich vor allem, da sie sich entwickelt hat. Wir haben noch nie ein Wort darüber verlieren müssen – organisierenderweise –, alles kam wie von selbst. In den nächsten Wochen und Monaten würden wir zwar noch einige Kanäle alternativ zu SMS, E-Mail und Telefongesprächen eröffnen und betreiben. Doch der Austausch von Getipptem über unsere iPhones, später auch unsere iPads, würde weiterhin den bei Weitem überwiegenden Teil unserer unendlichen Zwiesprache ausmachen. Anfang Juni würde ich interessehalber den Schriftwechsel ausdrucken, der dann mehrere Tausend Din-A4Blätter bedecken wird. Es wird die Zeit sein, da das Erscheinen des dicken Prachtbandes der Firmengeschichte von Prada kurz bevorsteht. Und ich werde bei
allen mit unseren Themen betrauten Redakteuren die Versandboxen der Vorabexemplare einsammeln und darin die Stapel loser Blätter verpackt nach Hause schaffen. Sieben dieser Schachteln aus mattschwarzer Pappe werde ich mit ausgedruckter E-Mail befüllen. In den Kopfzeilen steht nie etwas anderes als: Untitled oder Ohne Betreff. Ich werde diese schweren Schachteln in zwei Schubladen meiner Kommode verstauen, die ich dann nämlich besitzen werde. Julias Kommentar, als ich ihr ein Foto der Briefstapel schicke: Kompletter Irrsinn. Danach drucken wir nie wieder aus.
an der stelle, wo mein muskuläres hohlorgan pumpenweise für die durchblutung aller meiner organe sorgt, dort vermisse ich ihre worte [...] Es wird Zeit für sie zu gehen. Ich kann das spüren, so wie ich alles spüren kann, was uns betrifft – eigentlich müssen wir nicht sprechen, wir wissen bereits alles, wenn wir uns sehen; wenn wir einander ansichtig werden dürfen. Und auch sonst, die Übertragung funktioniert auch ohne Bild. Das haben wir in den letzten Monaten immer wieder aufs Neue überraschend erfahren. Und dennoch reicht es nicht aus. Es genügt nicht, sich des anderen versichert zu wissen. Es reicht nicht, die von ihm
Um ein Haar Text: Inge Kurtz Fotos: Maia Flore
Ob gelockt oder glatt, kurz geschnitten oder lang über die Schultern fallend, wild drapiert oder züchtig versteckt – unsere natürliche Kopfbedeckung war schon immer mehr als nur ein Schutz gegen Sonne und Kälte. Eine kleine Kulturgeschichte über das, was wir täglich mit uns herumtragen.
„Eine Locke von deinem Haar, wäre schon wunderbar, eine Locke von dir, für mich als Souvenir,“ dies wünschte sich im Jahre 1967 der belgische Schlagersänger Salvatore Adamo in seinem sehr bekannten Chanson. Nicht erst seit damals besitzt die Haarlocke eines geliebten Menschen eine besondere Bedeutung. Bereits auf ägyptischen Grabmalereien, findet sie sich als Symbol für ewige Liebe und Treue. Auch im 19. Jahrhundert war es Mode, Nachfahren und Freunden zur Erinnerung und als Zeichen der Zuneigung Ringe zu schenken, die eine Locke des eigenen Haares beinhalteten. In den Vereinigten Staaten von Amerika hinterließen die Soldaten des Bürgerkrieges ihren Verwandten eine Haarlocke bevor sie in den Krieg zogen. Fiel ein Soldat, wurde diese in einem Schmuckstück aufbewahrt. Ob gelockt oder glatt, kurz geschnitten oder lang über die Schultern fallend, wild drapiert oder züchtig versteckt, unsere natürliche Kopfbedeckung war schon immer mehr als nur ein Schutz gegen Sonne und Kälte. Seit Jahrtausenden haben die Menschen den Haaren eine besondere Rolle und Symbolik beigemessen: Haare galten als Sitz der Seele und der Lebenskraft, sie standen für körperliche Stärke, weltliche Macht und magische Kräfte, waren Sinnbild für Erotik, Gesundheit und Jugend. „Haar! Wundervoller Mantel des Weibes in Urzeiten, als es noch bis zu den Fersen herabhing und die Arme verbarg,“ schwärmte Gustave Flaubert und Mark Twain befand: „Es ist töricht, sich
100 nova NahKontakt
im Kummer die Haare zu raufen, denn noch niemals ist Kahlköpfigkeit ein Mittel gegen Probleme gewesen.“ Dass der Verlust der Haare gleichbedeutend ist mit dem Verlust von Macht und Lebenskraft zeigt schon die biblische Geschichte von Samson und Delilah. Samsons Kraft lag in seinen Haaren. Nachdem Delilah ihm diese abschnitt, war er machtlos. Auch einige Indianerstämme glaubten, mit dem Skalp ihrer Gegner deren Kraft zu erlangen. Über Jahrhunderte hinweg raubten und rauben Menschen anderen die Haare, um sie zu demütigen und zu zerstören: Griechen und Germanen taten es mit ihren Sklaven. Und auch die Nationalsozialisten rasierten den Häftlingen in den Konzentrationslagern die Haare ab, um sie im wahrsten Sinn des Wortes bloßzustellen. Helga Luther, die wegen „Wehrkraftzersetzung“ und „Lächerlichmachung des Führers“ im Konzentrationslager Ravensbrück einsaß, erzählt in einem Tondokument: „Ich hatte so Haare bis über die Schulterblätter, und da war’n so zwei Frauen. Ich wusste ja nicht, dass es Häftlinge sind. Ich wusste ja überhaupt nicht, wie ein Häftling aussieht, und die sagten dann zu mir: “Ja, ja, die kommen auch noch ab.“ Ich sag’: „Was kommt ab?“ „Ja, du blöde Gans, deine Haare.“ Da hab ich das erste Mal geschrien: „Nicht meine Haare!“ Das haben die mit wieherndem Gelächter begleitet, haben reingefasst und haben geschoren, nicht nur die Kopfhaare auch die Achsel- und die Schamhaare. Ich kam mir vor, als ob
man mir mit den Haaren auch die Haut abgestreift hätte, als ob alles, was ich einmal war, weg ist.“ Im Laufe der Geschichte wurden Frauen viel öfter durch das Scheren ihrer Haare bestraft als Männer. Auch in der Zeit der Hexenverfolgung wurden verurteilte Frauen kahl geschoren, weil man glaubte, der Teufel habe nur zu Personen Zugang, die langes Haar besäßen. Heutzutage bestimmen in weiten Teilen der Welt Friseure und die Modeindustrie, welche Haartracht Frauen und Männer kleidet. In früheren Zeiten aber war es in erster Linie die Kirche, die darüber befand, was sich diesbezüglich schickte. „Lehrt Euch nicht die Natur selbst, dass es für den Mann eine Schmach ist, wenn er langes Haar trägt, dass es hingegen der Frau zur Ehre gereicht...? Das Haar ist ihr gewissermaßen als Schleier verliehen worden“, schrieb der Apostel Paulus im ersten Brief an die Korinther. Loreley, Lilith, Rapunzel, Lady Godeva... Sänger und Dichter huldigen seit jeher vorzugsweise Frauen mit langen üppigen Haaren. „Hör zu, Maler, mal mir eine Frau ohne Hemd, wie Gott sie schuf, blonde Haare, der Zopf gelöst, mit einem frechen Blümchen auf dem Kopf“, dichtete Giorgio Baffo, ein italienischer Senator aus dem Venedig des 18. Jahrhunderts. Über die Zeiten hinweg galt und gilt langes Haar als weibliches Geschlechtsmerkmal und sexuelles Symbol – selbst als es Mode war, dass Männer ihr Haar ebenfalls lang trugen. In polytheistischen Religionen wurde
Um ein Haar Text: Inge Kurtz Fotos: Maia Flore
Ob gelockt oder glatt, kurz geschnitten oder lang über die Schultern fallend, wild drapiert oder züchtig versteckt – unsere natürliche Kopfbedeckung war schon immer mehr als nur ein Schutz gegen Sonne und Kälte. Eine kleine Kulturgeschichte über das, was wir täglich mit uns herumtragen.
„Eine Locke von deinem Haar, wäre schon wunderbar, eine Locke von dir, für mich als Souvenir,“ dies wünschte sich im Jahre 1967 der belgische Schlagersänger Salvatore Adamo in seinem sehr bekannten Chanson. Nicht erst seit damals besitzt die Haarlocke eines geliebten Menschen eine besondere Bedeutung. Bereits auf ägyptischen Grabmalereien, findet sie sich als Symbol für ewige Liebe und Treue. Auch im 19. Jahrhundert war es Mode, Nachfahren und Freunden zur Erinnerung und als Zeichen der Zuneigung Ringe zu schenken, die eine Locke des eigenen Haares beinhalteten. In den Vereinigten Staaten von Amerika hinterließen die Soldaten des Bürgerkrieges ihren Verwandten eine Haarlocke bevor sie in den Krieg zogen. Fiel ein Soldat, wurde diese in einem Schmuckstück aufbewahrt. Ob gelockt oder glatt, kurz geschnitten oder lang über die Schultern fallend, wild drapiert oder züchtig versteckt, unsere natürliche Kopfbedeckung war schon immer mehr als nur ein Schutz gegen Sonne und Kälte. Seit Jahrtausenden haben die Menschen den Haaren eine besondere Rolle und Symbolik beigemessen: Haare galten als Sitz der Seele und der Lebenskraft, sie standen für körperliche Stärke, weltliche Macht und magische Kräfte, waren Sinnbild für Erotik, Gesundheit und Jugend. „Haar! Wundervoller Mantel des Weibes in Urzeiten, als es noch bis zu den Fersen herabhing und die Arme verbarg,“ schwärmte Gustave Flaubert und Mark Twain befand: „Es ist töricht, sich
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im Kummer die Haare zu raufen, denn noch niemals ist Kahlköpfigkeit ein Mittel gegen Probleme gewesen.“ Dass der Verlust der Haare gleichbedeutend ist mit dem Verlust von Macht und Lebenskraft zeigt schon die biblische Geschichte von Samson und Delilah. Samsons Kraft lag in seinen Haaren. Nachdem Delilah ihm diese abschnitt, war er machtlos. Auch einige Indianerstämme glaubten, mit dem Skalp ihrer Gegner deren Kraft zu erlangen. Über Jahrhunderte hinweg raubten und rauben Menschen anderen die Haare, um sie zu demütigen und zu zerstören: Griechen und Germanen taten es mit ihren Sklaven. Und auch die Nationalsozialisten rasierten den Häftlingen in den Konzentrationslagern die Haare ab, um sie im wahrsten Sinn des Wortes bloßzustellen. Helga Luther, die wegen „Wehrkraftzersetzung“ und „Lächerlichmachung des Führers“ im Konzentrationslager Ravensbrück einsaß, erzählt in einem Tondokument: „Ich hatte so Haare bis über die Schulterblätter, und da war’n so zwei Frauen. Ich wusste ja nicht, dass es Häftlinge sind. Ich wusste ja überhaupt nicht, wie ein Häftling aussieht, und die sagten dann zu mir: “Ja, ja, die kommen auch noch ab.“ Ich sag’: „Was kommt ab?“ „Ja, du blöde Gans, deine Haare.“ Da hab ich das erste Mal geschrien: „Nicht meine Haare!“ Das haben die mit wieherndem Gelächter begleitet, haben reingefasst und haben geschoren, nicht nur die Kopfhaare auch die Achsel- und die Schamhaare. Ich kam mir vor, als ob
man mir mit den Haaren auch die Haut abgestreift hätte, als ob alles, was ich einmal war, weg ist.“ Im Laufe der Geschichte wurden Frauen viel öfter durch das Scheren ihrer Haare bestraft als Männer. Auch in der Zeit der Hexenverfolgung wurden verurteilte Frauen kahl geschoren, weil man glaubte, der Teufel habe nur zu Personen Zugang, die langes Haar besäßen. Heutzutage bestimmen in weiten Teilen der Welt Friseure und die Modeindustrie, welche Haartracht Frauen und Männer kleidet. In früheren Zeiten aber war es in erster Linie die Kirche, die darüber befand, was sich diesbezüglich schickte. „Lehrt Euch nicht die Natur selbst, dass es für den Mann eine Schmach ist, wenn er langes Haar trägt, dass es hingegen der Frau zur Ehre gereicht...? Das Haar ist ihr gewissermaßen als Schleier verliehen worden“, schrieb der Apostel Paulus im ersten Brief an die Korinther. Loreley, Lilith, Rapunzel, Lady Godeva... Sänger und Dichter huldigen seit jeher vorzugsweise Frauen mit langen üppigen Haaren. „Hör zu, Maler, mal mir eine Frau ohne Hemd, wie Gott sie schuf, blonde Haare, der Zopf gelöst, mit einem frechen Blümchen auf dem Kopf“, dichtete Giorgio Baffo, ein italienischer Senator aus dem Venedig des 18. Jahrhunderts. Über die Zeiten hinweg galt und gilt langes Haar als weibliches Geschlechtsmerkmal und sexuelles Symbol – selbst als es Mode war, dass Männer ihr Haar ebenfalls lang trugen. In polytheistischen Religionen wurde
vergessene wörter
Bei einer Frau ins warme Nest schlüpfen wollte er, aber sich festlegen nicht. Bratkartoffelverhältnis nannte man diese lose Liaison, bei der – meist der Mann – keine wirkliche Bindung eingehen wollte, er sich aber gerne regelmäßig an den gedeckten Tisch setzte. Geboren wurde diese Zweckbeziehung aus der Not des Ersten Weltkrieges, als es Männern mehr um ein regelmäßiges warmes Essen ging als um Liebe. Und schon gar nicht um Heirat. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es Bratkartoffelverhältnisse zwischen heimkehrenden Soldaten und Witwen, die nach heutiger Begriffsdefinition in „wilder Ehe“ lebten, um ihre Witwenrente nicht zu verlieren. Bis in die Mitte der 1970er-Jahre hinein galt diese Form des Zusammenlebens als Verstoß gegen die guten Sitten. Verträge über die Vermietung einer Wohnung an ein unverheiratetes, nicht wenigstens verlobtes Paar wurden als Begünstigung zur Kuppelei angesehen
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und konnten daher auch rechtlich unwirksam sein. Zudem bestand in Deutschland unter diesem Aspekt bis 1969 das Strafrisiko für den Vermieter. Auch in Hotels und Pensionen mussten Paare als Nachweis ihrer rechtmäßigen Verbindung Dokumente vorlegen, bevor sie ein Doppelzimmer buchen wollten. Konnte dem Haus doch die Vermittlung von Prostitution unterstellt werden. Mit dem Wandel der Sexualmoral, vorrangig mit der 68er-Bewegung, wurden diese Lebensformen zunehmend toleriert und in Deutschland als nichteheliche Lebensgemeinschaft auch nach und nach rechtlich anerkannt. Heute wird der Ausdruck Bratkartoffelverhältnis wieder zunehmend stärker für die sogenannten „Doppel-Singles“ verwendet, also für getrennte Paare, die weiterhin freundschaftlich Wohnung und Alltag teilen. Wobei Pizza- oder Spaghettiverhältnis heutzutage sicher die passenderen Ausdrücke dafür wären.
illustr ation: l aur a lünenbürger Quelle: w w w.re tropedia.de
Das Bratkartoffelverhältnis
Text: K aterina Poladjan Fotos: Y vonne schmedemann
So war das Eine Fortsetzungsgeschichte 端ber Hannah und Hans Fichtelbach
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annah und Hans Fichtelbach sind seit dreizehn Jahren ein Paar. Gefunkt hat es im Bus. Ganz schön voll, sagte er, als er sich neben sie auf die Bank schob, und sie nickte und lächelte und sah aus dem Fenster. Hinter regennassen Scheiben wälzte sich die Stadt, Autos standen im Stau und im Inneren der Autos bewegten sich Münder. Als sie aussteigen musste, sagte Hans: wenn Du magst, dann lass uns mal treffen. Hannah nickte wieder, kicherte, sprang im letzten Moment aus dem Bus und merkte, dass sie keine Adressen getauscht hatten. Sie winkte dem Bus hinterher und ein älterer Herr auf der anderen Straßenseite winkte zurück. Es dauerte noch einige Tage und Hans und Hannah vergaßen die Begegnung. Nein, Hans vergaß die Begegnung, in Hannahs Kopf schwirrte weiter das Bild des jungen Mannes mit der roten Jacke und den lustigen Augen. Immer wieder stellte sie sich vor, wie dieser Unbekannte ganz nah bei ihr gesessen hatte, so nah, dass sie meinte, seine Wärme durch die Kleidung zu spüren und sie dachte an die Worte ihrer Großmutter: Es gibt Dinge, Hannah, die passieren nur einmal im Leben. Kein Wunder also, das Hannah, als sie Hans einige Wochen später bei einem Konzert der Rolling Ricks wiedersah, vor Glück fast davongelaufen wäre. Wir kennen uns doch, rief er ihr hinterher. Sie tanzten, küssten sich, tranken Bier und küssten sich noch mehr. Die folgenden Monate waren wie Schaum: Hingerissen, elektrisiert, betäubt wühlten sie sich von seinem Bett in das ihre, sie aßen nicht, sie schliefen kaum, und manchmal betrachtete Hannah sein jungenhaftes Gesicht und dachte: Schön wie so ein Vogel ist er. Später beendete Hans sein Betriebswirtschaftsstudium, Hannah ihr Kulturwissenschaftsstudium, Hans‘ Eltern kauften den beiden eine Wohnung, sie bekamen zuerst eine Tochter, die sie Luisa nannten und dann einen Sohn, den sie zunächst Amos nennen wollten, dann aber Friedrich nannten. Luisa war zart und hübsch und entwickelte sich prächtig und Friedrich machte von Anfang an Probleme. Im Kindergarten biss er einem Kind die Fingerkuppe ab und in der Grundschule konnte er nicht
01
108 nova NahKontakt
stillsitzen. Mit zwölf sagte er, er hasse alles außer Wochenende. Vielleicht solltest du eine Zeitlang aufhören zu arbeiten, sagte Hans. Seit Kurzem erst leitete Hannah die Pressestelle einer kulturellen Einrichtung, eine schöne Aufgabe, die sie sich lange gewünscht hatte. Nur so lange, bis Friedrich wiederhergestellt ist, fügte Hans hinzu und küsste ihr die Stirn. Hans sagte wirklich „wiederhergestellt“ und Hannah wunderte sich, aber keine Mutter will, dass ihr Kind sich wild und unzivilisiert benimmt. Ihre ständige Anwesenheit zu Hause machte jedoch alles nur noch schlimmer und auch eine Kinderpsychologin konnte Friedrich nicht wiederherstellen. Nun hasste er sogar die Wochenenenden. Die Lehrerin empfahl dringend, Friedrich vom schwer erkämpften Gymnasium zu nehmen. Gesamtschule? Hannah und Hans protestierten, sprachen beim Direktor vor, Hans erwähnte Kontakte, die er spielen lassen könne und brachte am Ende sogar einen Anwalt ins Spiel. Alles grauenhaft. Eine Heimsuchung. Vielleicht fing da alles an. Oder schon viel früher. Vielleicht fing es mit dem Stirnkuss an. Warum küsste Hans Hannah plötzlich auf die Stirn? Oder es fing damit an, dass sie länger als früher miteinander schwiegen? Immer wenn sie ohne die Kinder etwas unternahmen, schwiegen sie und wurden müde. Nichts zerreißt die Liebe so wie Kraftlosigkeit und Erschöpfung. Ich will dir ja zuhören, ich will mich ja interessieren, aber ich bin so schrecklich müde. Hannah konnte nicht schlafen, lag mit weit geöffneten Augen neben Hans im Bett, starrte in die Dunkelheit, lauschte dem rhythmischen Schnarchen ihres Mannes und fasste den Entschluss, ihr gemeinsamens Leben zu ändern. Als Hans am nächsten Morgen aus der Dusche kam, sagte sie zu ihm: Wir müssen unser Leben ändern, so geht es nicht weiter. Morgens hast Du immer die besten Ideen, antwortete Hans vergnügt. Hannah hasste die Nachlässigkeit, mit der Hans Wasserflecken auf dem Parkett hinterließ, wenn er aus der Dusche kam. Sie sagte nichts, aber es ging ihr auf die Nerven. Genauso, wie es ihr auf die Nerven ging, wenn Hans in seinem Geiz das 02
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annah und Hans Fichtelbach sind seit dreizehn Jahren ein Paar. Gefunkt hat es im Bus. Ganz schön voll, sagte er, als er sich neben sie auf die Bank schob, und sie nickte und lächelte und sah aus dem Fenster. Hinter regennassen Scheiben wälzte sich die Stadt, Autos standen im Stau und im Inneren der Autos bewegten sich Münder. Als sie aussteigen musste, sagte Hans: wenn Du magst, dann lass uns mal treffen. Hannah nickte wieder, kicherte, sprang im letzten Moment aus dem Bus und merkte, dass sie keine Adressen getauscht hatten. Sie winkte dem Bus hinterher und ein älterer Herr auf der anderen Straßenseite winkte zurück. Es dauerte noch einige Tage und Hans und Hannah vergaßen die Begegnung. Nein, Hans vergaß die Begegnung, in Hannahs Kopf schwirrte weiter das Bild des jungen Mannes mit der roten Jacke und den lustigen Augen. Immer wieder stellte sie sich vor, wie dieser Unbekannte ganz nah bei ihr gesessen hatte, so nah, dass sie meinte, seine Wärme durch die Kleidung zu spüren und sie dachte an die Worte ihrer Großmutter: Es gibt Dinge, Hannah, die passieren nur einmal im Leben. Kein Wunder also, das Hannah, als sie Hans einige Wochen später bei einem Konzert der Rolling Ricks wiedersah, vor Glück fast davongelaufen wäre. Wir kennen uns doch, rief er ihr hinterher. Sie tanzten, küssten sich, tranken Bier und küssten sich noch mehr. Die folgenden Monate waren wie Schaum: Hingerissen, elektrisiert, betäubt wühlten sie sich von seinem Bett in das ihre, sie aßen nicht, sie schliefen kaum, und manchmal betrachtete Hannah sein jungenhaftes Gesicht und dachte: Schön wie so ein Vogel ist er. Später beendete Hans sein Betriebswirtschaftsstudium, Hannah ihr Kulturwissenschaftsstudium, Hans‘ Eltern kauften den beiden eine Wohnung, sie bekamen zuerst eine Tochter, die sie Luisa nannten und dann einen Sohn, den sie zunächst Amos nennen wollten, dann aber Friedrich nannten. Luisa war zart und hübsch und entwickelte sich prächtig und Friedrich machte von Anfang an Probleme. Im Kindergarten biss er einem Kind die Fingerkuppe ab und in der Grundschule konnte er nicht
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stillsitzen. Mit zwölf sagte er, er hasse alles außer Wochenende. Vielleicht solltest du eine Zeitlang aufhören zu arbeiten, sagte Hans. Seit Kurzem erst leitete Hannah die Pressestelle einer kulturellen Einrichtung, eine schöne Aufgabe, die sie sich lange gewünscht hatte. Nur so lange, bis Friedrich wiederhergestellt ist, fügte Hans hinzu und küsste ihr die Stirn. Hans sagte wirklich „wiederhergestellt“ und Hannah wunderte sich, aber keine Mutter will, dass ihr Kind sich wild und unzivilisiert benimmt. Ihre ständige Anwesenheit zu Hause machte jedoch alles nur noch schlimmer und auch eine Kinderpsychologin konnte Friedrich nicht wiederherstellen. Nun hasste er sogar die Wochenenenden. Die Lehrerin empfahl dringend, Friedrich vom schwer erkämpften Gymnasium zu nehmen. Gesamtschule? Hannah und Hans protestierten, sprachen beim Direktor vor, Hans erwähnte Kontakte, die er spielen lassen könne und brachte am Ende sogar einen Anwalt ins Spiel. Alles grauenhaft. Eine Heimsuchung. Vielleicht fing da alles an. Oder schon viel früher. Vielleicht fing es mit dem Stirnkuss an. Warum küsste Hans Hannah plötzlich auf die Stirn? Oder es fing damit an, dass sie länger als früher miteinander schwiegen? Immer wenn sie ohne die Kinder etwas unternahmen, schwiegen sie und wurden müde. Nichts zerreißt die Liebe so wie Kraftlosigkeit und Erschöpfung. Ich will dir ja zuhören, ich will mich ja interessieren, aber ich bin so schrecklich müde. Hannah konnte nicht schlafen, lag mit weit geöffneten Augen neben Hans im Bett, starrte in die Dunkelheit, lauschte dem rhythmischen Schnarchen ihres Mannes und fasste den Entschluss, ihr gemeinsamens Leben zu ändern. Als Hans am nächsten Morgen aus der Dusche kam, sagte sie zu ihm: Wir müssen unser Leben ändern, so geht es nicht weiter. Morgens hast Du immer die besten Ideen, antwortete Hans vergnügt. Hannah hasste die Nachlässigkeit, mit der Hans Wasserflecken auf dem Parkett hinterließ, wenn er aus der Dusche kam. Sie sagte nichts, aber es ging ihr auf die Nerven. Genauso, wie es ihr auf die Nerven ging, wenn Hans in seinem Geiz das 02
fundsache
„Menschen spielen Gott, indem sie sich physisch und bildlich perfektionieren. Schönheit ist derzeit auf einem historischen Höhepunkt, wo es zu erforschen gilt, was jenseits dieser Perfektion liegt. „Erschreckend schön“ fordert aktuelle Schönheitsideale heraus, indem es ihnen einen unerwartet neuen
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Schönheitsstandard aufzwingt“, sagt Leanie van der Vyver. Der niederländische Schuhhersteller René van den Berg setzte für die südafrikanische Designerin „Erschreckend schön“ um: Ein Paar Schuhe für Frauen, die die erwartete Lage der Fersen und der Innensohle umkehrt.
Foto: Lyall Coburn
erschreckend schön
Impressum Nova Verlag GmbH, Krayenkamp 10–11, Eingang N 20459 Hamburg Herausgeber Marietta Duscher-Miehlich, Birte Püttjer Chefredaktion Marietta Duscher-Miehlich Redaktionelle mitwirkung Hiltrud Bontrup Art Direktion Hanna Tembrink, Kaja Paradiek Bildredaktion Susanne Dupont, Catarina Schmid Text Joachim Bessing, Andrea Diener, Amy Fallon, Sonja Fink, Theresa Huth, Dr. Bärbel Kerber, Nina Anika Klotz, Katja Kullmann, Gunthild Kupitz, Inge Kurtz, Nadine Lischick Bild Anne Ackermann, Brigitte Aiblinger, Markus Burke, Anne Eickenberg, Charlotte Schreiber, Maia Flore, Lee Materazzi, Kerstin Müller, Kevin Hayes, Flora P., Fred Hüning, Yvonne Schmedemann Illustration Laura Lünenbürger, Stephanie Wunderlich, Valero Doval Lithografie Yvonne Schmedemann Schlusskorrektur Gesche Seemann Vermarktung und Geschäftsführung Birte Püttjer Vertrieb DPV Deutscher Pressevertrieb Düsternstraße 1–3, D-20355 Hamburg Druck Möller Druck und Verlag GmbH Zeppelinstraße 6, 16356 Ahrensfelde OT Blumberg E-Mail redaktion@nova-magazin.de Website www.nova-magazin.de Bestellservice order@nova-magazin.de