Das verschwundene Haus: Eine Krimikomödie

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Karl Ettlinger

Das verschwundene Haus Oder: Der Maharadscha von Breckendorf


Karl Ettlinger

Das verschwundene Haus Oder: Der Maharadscha von Breckendorf Original: München, Georg Müller, 1922 Überarbeitung, Umschlaggestaltung: Null Papier Verlag Published by Null Papier Verlag, Deutschland Copyright © 2014 by Null Papier Verlag 1. Auflage, ISBN 978-3-95418-531-3

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Inhaltsverzeichnis

Über krimischaetze.de............................................................5 Über den Autor.........................................................................7 Über dieses Buch.....................................................................9 Handelnde Personen..............................................................11 I...................................................................................................13 II.................................................................................................32 III................................................................................................54 IV................................................................................................76 V.................................................................................................114 VI..............................................................................................150 VII.............................................................................................178 VIII...........................................................................................246 krimischaetze.de..................................................................279 4


Über krimischaetze.de

Kriminalromane sind heutzutage erfolgreich wie nie. Krimi-Klassiker? Da denken die meisten sofort an Agatha Christie (1890-1976) oder Edgar Wallace (18751932). Tatsächlich gehörten die britischen Autoren zu den ersten, die in den »wilden« 1920er Jahren ins Deutsche übersetzt wurden. Krimi-Fans kennen oft auch den Schweizer Friedrich Glauser (1896-1938), den Namensgeber des Glauser-Preises – eine der wichtigsten Auszeichnungen für deutschsprachige KrimiAutoren. Wie vielfältig die Krimi-Szene in der Weimarer Republik war, ist in der breiten Öffentlichkeit jedoch vollkommen in Vergessenheit geraten. Für krimischaetze.de haben sich Jürgen Schulze, Verleger des Null Papier-Verlages, und Sebastian Brück, Autor und Journalist, zusammengetan, um alte Krimi-Bestseller neu zu entdecken und als E-Book verfügbar zu machen – überarbeitet, in neuer Rechtschreibung und mit erklärenden Fußnoten versehen. 5


Das krimischaetze.de-Programm startet zunächst mit sechs Titeln – sowohl Übersetzungen aus dem Englischen (S.S. Van Dine) und Schwedischen (Julius Regis), als auch deutschsprachige Originale: In je zwei Fällen ermitteln Philo Vance, der »amerikanische Sherlock Holmes«, und Maurice Wallion, der »Detektivreporter« und »Urvater« von Stieg Larssons »Millenium«-Protagonist Mikael Blomqvist. Ebenfalls vertreten sind die vergessenen Werke zweier jüdischer Autoren: Die in Budapest, Paris und San Sebastián spielende Krimikomödie »Fräulein Bandit« des Österreichers Joseph Delmont sowie der humorvolle Kriminalroman »Das verschwundene Haus – oder: Der Maharadscha von Breckendorf« des Frankfurters Karl Ettlinger. In Zukunft werden bei www.krimischaetze.de regelmäßig weitere Titel erscheinen.

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Über den Autor

Karl Ettlinger, geboren 1881 in Frankfurt am Main, stammt aus einer jüdischen Kaufmannsfamilie. Im Alter von 23 Jahren veröffentlichte er erstmals Texte in der Münchener Wochenzeitschrift »Die Jugend«, bei der er kurz darauf vom Redaktionssekretär zum Redakteur aufsteigt. Von patriotischer Begeisterung getrieben zieht er in den Ersten Weltkrieg, wo er 1916 schwer verwundet wird. In dieser Zeit entstehen »Karlchens Kriegsberichte« – satirische Anekdoten, die eine Auflage von rund 150.000 Exemplaren erreichen. Das Pseudonym »Karlchen« behält Ettlinger auch nach dem Krieg bei: Er geht mit kabarettistischen »Karlchenabenden« auf Tour durch deutsche Großstädte und Badeorte.

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Außerdem schreibt er mehrere Gedichtbände sowie Novellen und humoristische Romane. Nach der Machtübernahme durch die Nazis erhält er ab 1933 erste Arbeitsverbote – bis ihm kurz vor seinem Tod das Schreiben komplett verboten wird. Zwischenzeitlich am Tegernsee ansässig, beschließt Ettlinger zu seinem Bruder in die USA auszureisen. Vorher – im Mai 1939 – wird er in Berlin an der Galle operiert und verstirbt dabei an Herzversagen. An seinem Grab auf dem Jüdischen Friedhof in Frankfurt erinnert eine Gedenkplatte an Karl Ettlinger. Anfang der 1990er Jahre wurden einige seiner in Frankfurter Mundart geschriebenen Gedichte bei einem Verlag neu herausgegeben. Als Autor ist er außerhalb seiner Heimatstadt in Vergessenheit geraten.

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Über dieses Buch

Erstmals seit den 1920er Jahren neu aufgelegt: In »Das verschwundene Haus –oder: Der Maharadscha von Breckendorf« erzählt der deutsch-jüdische Journalist und Schriftsteller Karl Ettlinger mit Humor und satirischem Scharfsinn eine provinzielle Kriminalgeschichte mit internationalem Flair. Eduard Bohnkraut – ein gutmütiger Polterer mit Bärenstimme und Inhaber eine Schnapskneipe in Philadelphia – kehrt nach zwanzig Jahren in den USA in seine alte Heimat zurück: Dank der guten Luft ist das verschlafene Breckendorf im Harz inzwischen zu einer Großstadt mit Kurbetrieb avanciert – mit edlen Hotels, eigenem Theater und Gästen aus aller Welt. Bohnkraut möchte in das Haus seines verstorbenen Vaters einziehen, doch anstelle der »Villa Sonnenstrahl« erwartet 9


ihn eine leere Baugrube. Und der Rechtsanwalt »Meier III«, der Bohnkraut brieflich über das Erbe informiert hat, ist in der Stadt noch nie gesehen worden. Als bei einer Theaterpremiere mit Stromausfall neben vielen anderen auch der berühmteste aller Kurgäste – der Maharadscha von Bengusi – beklaut wird, deutet sich ein Zusammenhang mit Bohnkrauts verschwundenem Haus an: Die »Villa Sonnenstrahl«-Bande versetzt die Stadt in Ausnahmezustand. Amerika-Rückkehrer Bohnkraut hält die lokale Polizei für unfähig und ermittelt auf eigene Faust. Es beginnt ein Katz-und-Maus-Spiel voller Überraschungen …

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Handelnde Personen

Eduard Bohnkraut: Amerika-Rückkehrer mit Breckendorf-Vergangenheit Polizeiassessor Funke: Ermittler im Fall von Eduard Bohnkrauts verschwundenem Haus. Ist wegen zahlreicher Frauengeschichten von der Landeshauptstadt nach Breckendorf versetzt worden. Meier III: Mysteriöser Rechtsanwalt, zuständig für das Erbe von Eduard Bohnkraut. Ajax: Foxterrier von Meier III Adele Cantelli: Berühmte Tänzerin und Sängerin. Bürgermeister / Polizeipräsident / Kurdirektor: Sind vornehmlich am guten Ruf Breckendorfs als Nervenkurort interessiert – koste es, was es wolle. 11


Schutzmann Winkel: Einer von Funkes Assistenten

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I.

V

or sechzig Jahren noch war Breckendorf ein idyllisches Nest, das nur wenige Harzwanderer aufsuchten. Heute widmen die Reisehandbücher dem Kurort Breckendorf vier ganze Seiten. Häuser, die man ehedem pietätlos alte Baracken nannte, werden heute ob ihres Baustils von den Kurgästen ehrfürchtig bewundert, und vor dem Rathaus wird den Schaulustigen von den Fremdenführern mehr Gescheites vorgeschwätzt, als je in dem Rathaus geredet wurde. Der jetzige Bürgermeister empfängt seine Schutzbefohlenen nicht mehr in Hemdärmeln, er redet seinen Schreiber nicht mehr mit »du« an und unterbricht nicht mehr die Gemeindesitzung, wenn seine Kuh kalbt – nein, heute ist der Herr Bürgermeister ein wohlfri13


sierter, juristisch gebildeter Herr, der zu seinen Amtsstunden in schwarzem Anzug erscheint, eine stattliche Anzahl Orden besitzt und, je nachdem es die Rathausmehrheit verlangt, konservative, liberale, streng kirchliche und freidenkerische Reden halten kann. Ja, Breckendorf ist Großstadt geworden. Seine herrliche Lage in einem der schönsten waldigen Harztäler wurde ihm zum Verhängnis. Zuerst siedelten sich in Breckendorf nur vereinzelt pensionierte alte Herren an, harmlose Rentenfresser, die die Ruhe liebten, und die hier vor übermäßigen Ausgaben sicher waren. Die Ureinwohner betrachteten diese Ankömmlinge mit Gleichgültigkeit, waren wohl erstaunt, dass diese Fremdlinge sich Häuser ohne Kuh- und Schweineställe bauten, kümmerten sich aber mit der Duldsamkeit der Landbewohner, die jeden nach seiner Fasson närrisch werden lassen, nicht weiter um sie. Der Bürgermeister sorgte dafür, dass die Zugezogenen pünktlich Steuerzettel bekamen, und beschränkte sich im Übrigen darauf, die Bauern zu belehren, dass es ihre vaterländische Pflicht sei, den fremden Herrschaften die Grundstücke nicht zu billig zu verkaufen. Aber in dieser Hinsicht wa14


ren die Breckendorfer schon von selbst gute Patrioten gewesen. Es entstand am Hügel östlich des Dorfes eine kleine Villenkolonie mit schönen Gärten, mit behaglichen Häuschen, auf deren Balkonen und Veranden bei gutem Wetter beschlafrockte Herren und vereinzelt auch halbfrisierte Frauen ihren zur Ruhe gesetzten Geist mit Kaffeetrinken und ungefährlicher Lektüre einbalsamierten. Ein angenehmer Hauch von Pensionsberechtigung lag über diesem Villenviertel. Namen wie »Villa Sonnenstrahl«, »Mein Ruheplätzchen«, »Landhaus Aurora« zeugten von der Friedfertigkeit der Bewohner. An einem der Gartengitter prangte allerdings ein Schild »Vor dem Hunde wird gewarnt«, aber das hatte der Besitzer nur aus Pietät angebracht, — der Hund war schon lange vor der Übersiedlung seines Herrn nach Breckendorf gestorben. So war Breckendorf eine liebliche Novelle in dem großen Buch der Natur, bis es ihr leider erging, wie so mancher anderen unschuldigen Novelle: Sie wurde plötzlich Mode. Irgendein spekulativ veranlagter

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Mensch brachte heraus, dass die Luft von Breckendorf bedeutend mehr Stickstoff enthalte als die Luft des übrigen Kontinents, dass Stickstoff das beste Heilmittel gegen alle Krankheiten sei, von der Cholera bis hinab zum Hühnerauge, und er beeilte sich, diese Entdeckung in tausenden von Broschüren und Zeitungsartikeln der Menschheit mitzuteilen. Dass dieser Menschenfreund kurz zuvor fast den ganzen Grund um Breckendorf aufgekauft hatte, war ein neckischer Zufall. Die Bauernhöfe machten dreistöckigen Häusern Platz, Hotels schossen aus dem Boden, die Kirchstraße wurde in »Hauptallee« umgetauft, und wo früher die Kühe und Ochsen gelustwandelt hatten, promenierten alsbald elegante Herren und Damen. Statt der Kuhschwänze wedelten seidene Schleppen, statt der Hörner trug die neue Straßenbevölkerung Sonnenschirme, und statt »Muh« sagte sie: »Herrliches Wetter heute, nicht wahr? Oh, dieser Stickstoff!« Die Eisenbahn, die bisher einen großen Bogen um Breckendorf gemacht hatte, gab ihre vornehme Zu-

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rückhaltung auf, legte ein großes Ei in Gestalt eines Bahnhofs und gackerte täglich dreimal herbei, um nachzusehen, ob das Ei noch da sei. Und jedes Mal legte sie dabei einige Dutzend Kurgäste. Ein Park wurde angelegt, Rasenanlagen geschaffen, damit man ihr Betreten verbieten konnte, ein paar Schwäne durften sich auf dem Teich philosophischen Studien ergeben, ein Kurhaus und ein Kurtheater wurden erbaut, eine Krieger-Eiche wurde gepflanzt. Goethe, Schiller und der Lokalpoet Aloys Katzenberger bekamen ihr Pflichtdenkmal, auf die benachbarte Augustenhöhe wurde eine Drahtseilbahn geheftet, an deren Endstation man zu allen Tageszeiten kuhwarme Milch, Ansichtspostkarten und andere Fremdennahrung haben konnte – kurz: Breckendorf machte sich. Geschäftsleute siedelten sich an, eine Andenkenindustrie erblühte, Modegeschäfte taten sich auf, ein schlauer Konditor erfand die allein-echten Breckendorfer Zuckerplätzchen, ein Gelehrter schrieb die Geschichte der Stadt, angefangen bei Kunibert dem Einäugigen, der dort die erste Sau gehütet hatte, bis auf die Jetztzeit, die Verlobung einer jungen Milliardärin 17


machte Breckendorf auch in Offizierskreisen berühmt, Frau Albertine Friederichsen, geborene Müller, errichtete ein Pensionat für die höheren Töchter besserer Kreise, in dem man den guten Ton und das schlechte Klavierspiel in allen Lebenslagen lernen konnte, eine Oberrealschule wurde hingelegt, und als gar eine Miss, die ihren letzten Atemzug im Breckendorfer Stickstoff ausgehaucht hatte, testamentarisch den Bau eines englischen Kirchleins gestiftet hatte, war das Schicksal des ehemals so idyllischen Ortes besiegelt. Breckendorf wurde Sitz der Provinzialbehörden und damit endgültig Großstadt. Nur auf dem östlichen Hügel blühte noch ein schwacher Abglanz früherer Behaglichkeit, dort, wo die kleinen Villen standen, und wo noch immer vor dem Hunde gewarnt wurde. Auf der Kurpromenade vor dem Musikpavillon schwirrten alle Sprachen des Erdballs durcheinander, Toiletten und Brillanten wurden spazieren geführt. In der Hochsaison stiegen die Hotelpreise ins ungemes-

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sene, und die Soubrette des Kurtheaters sparte in einer einzigen Spielzeit vierzigtausend Mark, obwohl ihr neues Gebiss allein achthundert Mark gekostet hatte. Die Breckendorfer waren stolz auf die feudalen Namen, die in der Kurliste prangten. Ehrfurchtsvoll bestaunten sie die reichen Amerikaner und Engländer, weit ehrfurchtsvoller, als ihre wackeren Großväter einen Preisochsen bewundert hatten, und mit scheuer Andacht flüsterten sie sich die angenommenen Namen der Fürstlichkeiten zu, die inkognito den Breckendorfer Stickstoff einatmeten. Eine dieser Fürstlichkeiten war sogar echt. Der höchste Stolz des großstädtischen Kurorts aber war der Maharadscha von Bungesi, der nun schon die zweite Saison hintereinander in Breckendorf zu stickstoffeln geruhte. Seine braune Hautfarbe und die Hautfarbe seines zahlreichen Gefolges machten ein Inkognito unmöglich. Aber darauf legte die indische Hoheit auch offenbar gar keinen Wert; er mietete ein ganzes Stockwerk im Palast-Hotel, zahlte fürstlich, ließ sich 1 Weibliche Rolle in Oper und Operette

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nur von seinen Untertanen bedienen und kümmerte sich wenig um das Aufsehen, das sein Erscheinen auf der Promenade und im Kursaal machte. Von europäischen Einrichtungen schien er nur den Kognak zu schätzen, den er, wenn er guter Laune war, aus Wassergläsern trank. Ob dies eine indische Sitte ist, wage ich nicht zu entscheiden. An den vierzigtausend Mark Ersparnissen der Soubrette war er durchaus unbeteiligt, wie er überhaupt dem als schöner verschrienen Geschlecht gegenüber eine hoheitsvolle Interesselosigkeit an den Tag legte. Man munkelte von einem unglücklichen Liebesroman, den Seine Hoheit an den heiligen Gestaden des Ganges erlitten habe und der den Maharadscha nicht nur in den Augen der höheren Töchter des Friederichsenschen Pensionats noch interessanter machte, als es ein lebendiger Ausländer ohnedies ist. 2

Wie der Lokalschriftleiter des »Breckendorfer Tageblattes«, der Seine Hoheit zwei Tage nach dem erstem Eintreffen interviewt hatte, schrieb, »umflorte 2 Leiter der Lokalredaktion

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den edlen Blick der melancholische Zug jenes Seelenschmerzes, der uns Menschenkennern von der Feder von den tausend Wundern und Leiden der tiefen Liebe so ergreifend zu künden weiß. Ja, lieber Leser, dieser edle Fürst, ein Vater seines Volkes, ach, er ist trotz seiner Jugend, trotz seiner Schönheit, trotz seines Reichtums nicht glücklich! Oh, dass mir die blumige Sprache der Dschungeln, dass mir der glühende Hauch der Lotosblume zur Verfügung stände, den erschütternden Eindruck zu schildern, den dieser gütige Herrscher in meinem Innern auslöste!« Leider stand dem Lokalschriftleiter keine Lotosblume, sondern gottlob nur anderthalb Zeitungsspalten zur Verfügung. Übrigens gelang ihm das große Wunder, ein Lächeln aus die Lippen des sonst so ernsten, verschlossenen Ausländers zu zaubern, der nach Beendigung der Audienz sich mit den Worten an seinen Haushofmeister wandte: »Sprechen die deutschen Lokalredakteure alle ein so miserables Englisch?« Ganz besonders hatte den Maharadscha der Bürgermeister in sein Herz geschlossen. Nicht nur, weil ihn die Hoheit zu einem Besuch in Indien eingeladen, 21


ihm eine Tigerjagd in Aussicht gestellt und ihm versprochen hatte, er dürfe den Tiger auf drei Meter Entfernung persönlich erschießen – eine Ehre, bei deren bloßer Erwähnung den Bürgermeister eine Gänsehaut von Stopfgansgüte überrieselte. Nein, die unbegrenzte Verehrung des Stadtoberhauptes für den braunen Fürsten hatte noch eine andere, gewichtigere Ursache. Kurz vor seiner letzten Abreise hatte nämlich der Maharadscha den Bürgermeister zu sich bitten lassen, um ihm eine höchst peinliche Eröffnung zu machen: Ihm war ein wertvoller Perlenschmuck gestohlen worden. Der Bürgermeister war außer sich. Wenn dieser Diebstahl bekannt wurde, welche Schande für Breckendorf! Wie würde der Ruf des Kurorts leiden! Mit welchem Hohn, welcher Schadenfreude würden alle Konkurrenzbäder den Fall aufgreifen und breittreten! Hatte nicht erst neulich der schäbige Kurarzt des 3 benachbarten Badeorts Kümmelstadt in einem Zeitungsartikel behauptet, der Stickstoffgehalt der 3 gemeint: Kurort mit Badebetrieb

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Breckendorfer Luft habe sich um 0,07 Prozent vermindert? Sogar diplomatische Verwicklungen mit Indien konnten entstehen. Das Hemd des Bürgermeisters glich an Feuchtigkeit 4 einem Prießnitzschen Wickel. Das war ja beinahe noch schlimmer als eine Tigerjagd. Mit gemessenem Erstaunen sah der Maharadscha die Verzweiflung des Gewaltigen. »Weshalb regt sich mein weißer Freund so auf?«, sprach er in seiner kühlen Art, die niemals eine innere Erregung erraten ließ. »Wir in Indien haben eine sehr einfache Art, Diebe zu entlarven.« »Hoheit werden mich durch jeden Wink glücklich machen …«, stotterte der Bürgermeister und dienerte, als ob er mit der Nase ein Loch in den Teppich stoßen wollte. »Hoheit können überzeugt sein, dass wir alle die Weisheit Indiens zu schätzen wissen. Alles wird geschehen, was Hoheit befehlen!« 4 Eine Anwendung bei Erkrankungen: Ein Wickeltuch wird in kaltes Wasser getaucht und dann auf die zu behandelnde Körperstelle gelegt und mit trockenen Wolltüchern belegt. So verwandelt sich die Kälte in feuchte Wärme.

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Der Maharadscha maß ihn einen Augenblick mit seinen braunen Augen. Feierlich hob er den rechten Arm und sprach: »Man lasse das gesamte Hotelpersonal so lange mit eisernen Ketten peitschen, bis sich der Dieb meldet! So mache ich es in meiner sonnigen Heimat.« Der Zylinder entrollte den zitternden Händen des Bürgermeisters. Er wünschte dem Maharadscha in dieser Minute sämtliche Brillenschlangen des Ostens an den Hals. Aber der Fall löste sich erfreulicher, als er hoffen konnte. Sei es, dass der Maharadscha Mitleid mit ihm hatte, sei es, dass bei seinen Reichtümern eine Perlenkette keine Rolle spielte – der Fürst verzichtete auf die weitere Verfolgung des Falles, und die Angelegenheit drang nicht in die Ohren der Öffentlichkeit, deren Ohren an Größe bekanntlich nur noch von ihrem Mundwerk übertroffen werden. Seit diesem Tage galt der Maharadscha dem Bürgermeister als Inbegriff aller Fürstentugenden. Er bedauerte jeden Morgen von neuem, nicht in Indien auf

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die Welt gekommen zu sein, und er befahl dem Kapellmeister des Kurorchesters, jedes Mal beim Annähern des hohen Gastes die indische Nationalhymne anzustimmen. Der Kapellmeister, der dieses Tonstück in keinem deutschen Musikverlag auftreiben konnte, komponierte alsbald eine indische Nationalhymne, und seitdem hat Breckendorf seinen eigenen Maharadscha-Marsch, in dem sehr viel große Trommel und Triangel vorkommt und dem niemand mehr anmerkt, dass er ur5 sprünglich aus dem »Rienzi« stammte. Und nun war zum dritten Mal der Besuch des Maharadscha in Breckendorf angekündigt. Das erste Stockwerk des Palast-Hotels war für ihn belegt, ein Teil seines Gefolges war bereits vor zwei Tagen eingetroffen, um die nötigen Vorbereitungen zu treffen und für den entsprechenden Vorrat an Kognak zu sorgen. Der Begrüßungsartikel im »Tageblatt« war fertiggesetzt und harrte des Augenblicks, da er in die 5 »Rienzi, der letzte der Tribunen«, eine tragische Oper von Richard Wagner

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Druckpresse wandern durfte, der Lokalschriftleiter träumte schon von dem gelben Papageiorden am grünen Strumpfband oder einer anderen indischen Auszeichnung für treu geleistete Zeilenschinderei, der weibliche Teil der Kurgäste hatte bereits Unsummen 6 fürs Ondulieren ausgegeben, und der Kapellmeister des Kurorchesters hatte schnell noch eine zweite Posaunenstimme in seine indische Nationalhymne hineingeschrieben – alles war zum Empfang bereit. Auf dem abgesperrten Bahnsteig stand der Bürger7 meister mit den Abgeordneten der Rechtsparteien, alle in so tadellosen Fräcken, wie man sie sonst nur auf dem Stiftungsfest einer Kellnervereinigung zu sehen 6 die Haare mit einer Brennschere wellen 7 Das 1922 veröffentlichte Buch spielt in der Weimarer Republik, demnach sind mit »Rechtsparteien« wohl im weitesten Sinne die folgenden gemeint: Die katholisch geprägte und »Mitte rechts« angesiedelte Zentrumspartei, die rechtsliberale DVP (Deutsche Volkspartei) sowie die nationalistische DNVP (Deutschnationale Volkspartei). Hinzu kamen noch einige kleinere Splitterparteien. Die extrem nationalistische NSDAP (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei) spielte zu diesem Zeitpunkt noch keine Rolle und war Ende 1923 bis Anfang 1925 reichsweit verboten.

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bekommt; er las schnell noch einmal seine Begrüßungsrede durch, deren Manuskript er im Zylinderboden verborgen hatte. Im Wartesaal hatte die Kurkapelle Platz genommen, und der Dirigent flüsterte zum zehnten Male: »Also zuerst ein Tusch, und dann die Hymne! Meyer, den Tril8 ler auf dem Des recht zart! Recht indisch! Denken Sie dabei an einen Harem!« Ob Seiner Hoheit dieser förmliche Empfang sonderlich behagen würde? Ach, wer in der Seele eines indischen Fürsten zu lesen vermöchte! Dass er keinen Extrazug benutzte, sondern sich nur einen Wagen erster Klasse zu reservieren pflegte, wies eigentlich auf jene vornehme Schlichtheit hin, die man bei Fürstlichkeiten häufiger antrifft als bei Kommerzi9 enräten. 8 Beim Triller werden in schnellem Wechsel der notierte Hauptton und der darüber liegende Nebenton gespielt. 9 Ein Ehrentitel, der im Deutschen Reich bis 1919 an Persönlichkeiten aus der Wirtschaft verliehen wurde, und zwar nach erheblichen »Stiftungen für das Gemeinwohl«. Die nächste Stufe war der »Geheime Kommerzienrat«, der den Titelträger sowie seine Frau

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»… Und so begrüße ich denn Eure Hoheit im Namen der ganzen Stadt Breckendorf mit tiefgefühlter Verehrung und mit dankbarem Herzen«, memorierte der Bürgermeister an seiner Rede, als plötzlich ein Lokomotivpfiff tönte und der Zug sichtbar wurde. Und ehe noch das Ehrenkomitee auf dem Bahnsteig sich militärisch ausrichten und die Dame mit dem Blumenstrauß ein eisernes Lächeln auf ihre Lippenschminke zaubern konnte, dampfte der Zug in die Halle. Ein untersetzter, gutgenährter Herr, aus dessen bärtigem Gesicht die dicke Stumpfnase hervorleuchtete wie eine Glühlampe aus einer Tannengirlande, sprang aus dem noch fahrenden Zug, fröhlich eine altmodische, gestrickte Reisetasche schwingend, und sah sich verblüfft um. »Hallo, Boys!«, brüllte er mit Bärenstimme. »Was ist denn hier los? Große Zylinderversammlung? Ehrt

und seine Töchter hoffähig machte und ihnen somit Zugang zu fürstlichen Gesellschaftskreisen ermöglichte.

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mich! Scheint ja ein verflucht fideles Nest geworden zu sein, die olle Stickstoffplantage!« Entsetzt eilte der Bürgermeister auf den geräuschvollen Fremden zu, der den ganzen Empfang zu stören drohte, und flüsterte auf ihn ein: »Treten Sie zur Seite, mein Herr, … wir erwarten Seine Hoheit, den …« »Quatsch, Hoheit!«, stieß ihn der Dicke gutmütig beiseite. »Bin in meinen Augen ebenso hoch, wie die höchste Hoheit! Komme aus dem freien Lande Amerika und habe kein Verstehstemich für eure Bauchtänze! Na, werdet mich schon noch näher kennenlernen, Kinder. Bin nämlich hier erblicher Häuserbesitzer! Eduard Bohnkraut – kannst dir den Namen merken, altes Frackhemd!« »Um Gottes willen, der Maharadscha kann jeden Augenblick aussteigen … Ich bin der Bürgermeister … Ich bin verantwortlich …« Eduard Bohnkraut begann eine Art Wonne-Twostep zu tanzen. »Maharadscha!«, wieherte er. »Dachte, die gibt’s bloß im Kino! Was man nicht alles auf seine alten Tage 29


zu begucken kriegt! – Na, dann singt mal schön ›God save the Maharadscha‹, oder was Ihr euch sonst einstudiert habt! Will nicht stören. Schönen Gruß an den Indianerhäuptling! Von Eduard Bohnkraut! – Good bye!« Und übermütig seine vorsintflutliche Reisetasche jonglierend, drängte sich der unangenehme Mensch durch das Komitee, stieß die Ehrenjungfrau beiseite und verschwand lärmend im Ausgang. Im selben Augenblick entstieg der hohe Gast dem Salonwagen, schritt feierlich durch das spalierbildende Gefolge und blieb vor dem Bürgermeister stehen, der sich nun endlich seine Begrüßungsrede von der Seele wälzen konnte. Die Kurkapelle stimmte im richtigen Augenblick den Tusch an, die Dame überreichte ihren Blumenstrauß mit einem Hofknicks, der einen Radius von etwa zwei Metern aufwies, die indische Hymne erbrauste, Meyer blies den Triller auf dem Des wie eine Nachtigall, und der Maharadscha gab durch ein leichtes Nicken des Kopfes zu erkennen, dass er an dem Empfang nichts Wesentliches auszusetzen hatte. Es war doch recht günstig, dass der Kapellmeister noch eine zweite Posaunenstimme komponiert hatte, 30


sonst hätte der Streit, den Eduard Bohnkraut inzwischen in der Gepäckausgabe begonnen hatte, das edle Musikstück übertönt. »Wünsche den Koffer in meine Villa, Höhenstraße 74!«, brüllte Eduard Bohnkraut, denn eine andere Tonstärke schien er nicht zu kennen. »Scheinen ja in meiner Heimatstadt nette Zustände eingerissen zu sein! Bitte mir denselben Prozentsatz Respekt aus, wie eure Stickstoffels von Kurgästen! Verstanden?« Damit warf er dem Beamten seinen Gepäckschein hin, schob sich vor das Portal des Bahnhofs, steckte zwei Finger in den Mund, pfiff gellend einer Droschke und befahl: »Höhenstraße 74, Villa Sonnenstrahl! Hopp, hopp, könnten schon dort sein!«

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II.

S

o einen verrückten Kerl hab’ ich in meinem ganzen Leben noch nicht gefahren!«, knurrte der Kutscher vor sich hin, während er mühsam sein Vehikel durch die wartende Menge steuerte. »Ein bisschen verrückt sind ja unsere Kurgäste all’, dafür sind’s Kurgäste. Aber da hab’ ich, scheint’s, den Oberhanswurst erwischt.« Eduard Bohnkraut lehnte hoheitsvoll in der offenen Droschke und grüßte herablassend die Kurgäste, die sich vor dem Bahnhof und in der Haupthalle drängten, um dem Maharadscha und ihrer Neugier zu huldigen. Zwischendurch brüllte Eduard ein paarmal: »Hurra! Three cheers for the Maharadscha of Breckendorf!« 32


Und dann schwenkte er seinen alten Filzhut, der dabei eine kleine Staubwolke auspustete. Wer nach dem bisherigen Auftreten Bohnkrauts den kleinen dicken Mann, der in wenigen Wochen seinen fünfzigsten Geburtstag zu feiern gedachte, für einen Flegel und streitsüchtigen Krakeeler gehalten hätte, hätte ihm bitter Unrecht getan. Eduard zählte zu den gutmütigen Polterern, die ihre Rührung hinter Lärmen zu verbergen suchen, und die einen polizeilichen Strafbefehl wegen Ruhestörung noch immer für ein kleineres Übel halten als eine öffentlich zerquetschte Träne. Und gerührt war Bohnkraut. Er fühlte es an dem seltsamen Zucken in der Magengegend und an dem Jucken rechts und links der Nasenwurzel. Er merkte es ferner daran, dass unwillkürlich seine rechte Hand in die Hosentasche untergetaucht war und dort das buntkarierte, keineswegs frischgewaschene Taschentuch nervös zerknüllte, um der Versuchung zu widerstehen, es an die Augen zu führen.

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Nach zwanzigjähriger Abwesenheit sah er seine Heimat wieder, diese Heimat, die er in der ersten Zeit seines Fernseins öfters als einmal ein »gottverfluchtes Kaffernnest« gescholten hatte, und nach der er sich später doch manches Mal so heiß gesehnt hatte, dass er ohne Besinnen eine Tausenddollarnote geopfert hätte, nur um fünf Minuten lang wieder durch die Straßen bummeln zu können. Einfach scheußlich war das damals gewesen, als er eines Morgens in Philadelphia auf dem Fußboden vor seinem Bett erwacht war, weil er im Traum wieder einmal den großen Sandhaufen im Garten seines Vaters mit hurtigem Hosenboden heruntergerodelt war. Eine geschlagene Viertelstunde hatte er damals nach dem Erwachen auf dem Bettvorleger gesessen, die dicken Tranen kugelten über seine dicken Bäckchen in den struppigen Bart (denn er hatte keine Zuschauer und brauchte sich keinen Zwang anzutun), sein pompöses Bäuchlein hob und senkte sich im Rhythmus des Schluchzens, und wer weiß, wie lange er noch so gehockt hätte, wäre nicht die Haushälterin mit dem Morgenkaffee ins Zimmer getreten. Worauf Eduard einen 34


Filzpantoffel nach ihr warf und hierdurch sein seelisches Gleichgewicht wieder herstellte. Als Eduard Bohnkraut vor zwanzig Jahren als Zwischendeckpassagier nach Amerika ausgewandert war, bestand sein ganzes Reisegepäck in einer Pappschachtel und einem derben väterlichen Fluch. Der alte Bohnkraut, ein noch drolligerer Sonderling als sein einziger Sohn, hatte geschworen, er werde keinen Pfennig mehr an die Gläubiger dieses Bengels bezahlen, ihm sei es Wurst, was aus dem Missratenen werde, der nur durch eine Hexerei des Satans in seine Familie und somit in die schöne dreistöckige Villa, Höhenstraße 74, geraten sein könnte. Freilich hatte es Eduard ein bisschen toll getrieben. Wäre das Sprichwort im Recht, demzufolge die Liebe 10 und der Suff den Menschen uffreiben – der damals noch schlanke Eduard hätte längst bis auf die Nasenspitze aufgerieben sein müssen.

10 Bezieht sich auf das Sprichwort: »Die Liebe und der Suff, die reiben den Menschen uff!«

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Aber Sprichwörter dienen bekanntlich nur dem Zweck, allgemein anerkannte Unwahrheiten in eine handliche Form zu kleiden. Eduard landete, nachdem er seine Lebenserfahrungen um sämtliche Stadien der Seekrankheit bereichert hatte, in New York, und da er in etlichen Romanen gelesen hatte, dass man es in Amerika mit Leichtigkeit vom Schuhputzer zum Millionär bringt, beschloss er, Schuhputzer zu werden. Aber sei es nun, dass er die falschen Stiefel erwischte oder die falschen Romane gelesen hatte: Das Geschäft lohnte sich nicht. Er erkannte, dass zwischen einer Wichsbürste und dem Säckel des Fortunatus ein grotesker Unterschied bestand, und als sein rechter Ellbogen aus dem Ärmel hervorzugucken begann, fasste er einen zweiten Entschluss: Er schrieb seinem Vater nach Breckendorf (Europa) einen Brief. Er setzte darin dem alten Herrn auseinander, dass es ihm peinlich sei, fremde Menschen anzupumpen, erstens aus solidem Grundsatz, zweitens weil er da 36


nichts bekäme, und dass er es daher vorzöge, sich an Papa zu wenden. Er verlange nichts umsonst, er biete ihm vielmehr seine Firma, bestehend aus einer ziemlich kahlköpfigen Schuhbürste und einer leeren Wichsdose, zum Kauf an. Für tausend Dollars sei das Unternehmen feil, und es sei eine nie wiederkehrende Gelegenheit. Und er hoffe, dass Papa sich dieses Geschäft nicht entgehen lasse, da er sonst gezwungen sei, mittels eines ausführlichen Inserats im »Breckendorfer Tageblatt« einen anderen Käufer zu suchen. Umgehend traf die verlangte Summe ein, begleitet von einer erneuten Verfluchung. Den Fluch warf Eduard in einen Kanalisationsschacht, für die tausend Dollars kaufte er sich im Süden ein Stück Land und ein paar Stück Vieh. Die Schuhbürste sägte er entzwei, legte sie in die Wichsdose und schickte sie seinem Vater. Diesmal hatte Eduard Glück. Das Rindvieh vermehrte sich, was ja eine Haupteigenschaft allen Rindviehs ist, das Land vergrößerte sich, Edis Figur fing an, sich zu runden.

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Leider hatte der Abstinentenbund dort unten keine Filiale. Der Branntwein wäre den Jahresbilanzen Eduards sicherlich auf die Dauer gefährlich geworden, wäre dieser Glückspilz nicht eines Tages zu der Erkenntnis gelangt, dass das Trinken von Branntwein zwar eine Gottesgabe war, der Verkauf solchen Getränkes aber noch weit, weit herrlicher. Wiederum verkaufte er seine Firma, wieder mit üppigem Gewinn, zog nach Philadelphia und eröffnete eine Schnapskneipe. Jetzt wichste Eduard die Kehlen seiner Gäste, und das rentierte sich trefflich. Zwölf Jahre hatte Europa nichts mehr von ihm gehört. Da packte er eines Morgens nach Geschäftsschluss – denn bei ihm schloss das Geschäft immer erst morgens – eine Tausenddollarnote in einen Briefumschlag, holte einen Bogen weißen Papiers unter dem Schanktisch hervor, spuckte so lange in das Tintenfass, bis sich der darin befindliche schwarze Knollen in Tinte auflöste, und ließ einen Brief los: 11 Bezieht sich auf den 1903 gegründeten Deutschen ArbeiterAbstinenten-Bund.

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Daraus, dass er ihm die tausend Dollars zurückschicke, könne sein Vater ersehen, dass er noch reichlichen Vorrat an solchen angenehmen Papierchen haben müsse. Den Fluch könne er ihm leider nicht mehr zurückschicken, da er ihn verlegt habe. Aber auch, wenn er ihn zurückschicken könnte, würde er es nicht tun, denn dieser Fluch habe ihm Segen gebracht. Und er danke noch nachträglich herzlich dafür. Soweit er sich erinnern könne, seien sie damals nicht in bestem Einvernehmen geschieden, einer von ihnen beiden müsse Schulden gehabt haben oder so etwas Ähnliches. Aber da er der Jüngere und daher der Gescheitere sei, schlage er vor, Steppengras über die Geschichte wachsen zu lassen und sich wieder auszusöhnen. Verheiratet sei er nicht und gedenke auch nicht, solche Dummheiten zu machen. Und die Schuhbürste gehöre jetzt, da er die tausend Dollars zurückzahle, natürlich wieder ihm. Er habe manchmal ekelhafte Sehnsucht nach dem alten Herrn, und ob die Breckendorfer noch solche Heuochsen seien, wie früher?

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Sieben Wochen später gab es in Eduard Bohnkrauts Kneipe für die Stammkundschaft Freischnaps und der Kneipenvater zog alle paar Minuten einen Brief aus der Hosentasche, um ihn zu lesen, worauf er dann jedes Mal gottlästerlich grob wurde, um seine Rührung zu verbergen. Seitdem schwammen in regelmäßigen Zwischenräumen Briefe von Philadelphia nach Breckendorf und von Breckendorf nach Philadelphia. Aber Freischnaps gab es keinen mehr. Der alte Bohnkraut berichtete getreulich, wie die Rosen, Blattläuse und Salatköpfe in seinem Garten gediehen, er überlegte schriftlich mit seinem Sohne, wie er wohl am besten seine Villa neu anstreichen ließe – Edi riet zu Spinatgrün mit knallgelben Tupfen, damit die Breckendorfer ein Unterhaltungsthema hätten. Der Vater bat seinen Jungen, ihm zu Weihnachten doch wieder eine Flasche von dem gelben Whisky zu schicken, meldete, dass neulich einen der alten Gläubiger Eduards der Schlag getroffen habe (was Eduard um zehn Jahre zu spät fand), und man merkte allen diesen

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Briefen an, wie der alte Herr bei diesem Briefwechsel wieder auflebte. Eine Einladung, über das große Wasser zu kommen und den Whisky einmal an der Quelle zu probieren – »Zum Einkaufspreis, will nichts an Dir verdienen, alter Herr!« – lehnte er freilich ab. In dieser Zeit begann Eduard Bohnkraut von seiner Heimat zu träumen. Bis dann einer der Briefe plötzlich eine ganz ungewohnte zittrige Handschrift aufwies. Denn der gute Papa hatte einen Schlaganfall erlitten. Und ein halbes Jahr später kam ein Brief von einem Rechtsanwalt Meier III, in dem zu lesen stand, der gottselige Herr Privatier Anton Bohnkraut sei vor acht Tagen sanft im Herrn entschlafen, und er, Rechtsanwalt Meier III, frage höflichst an, ob Herr Eduard Bohnkraut die anfällige Erbschaft, bestehend aus 74.214 Mark und 16 Pfennigen in bar und Effekten, sowie dem dreistöckigen Gebäude Villa Sonnenstrahl, Höhenstraße 74, antrete? Das Haus sei zur Zeit nur noch von dem alten Hausmeister Friedrich Ouickborn bewohnt, und er mache höflichst darauf aufmerksam, dass am näch-

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sten 1. April 800 Mark für Hypothekenzinsen fällig seien. Er habe das Vergnügen gehabt, dem gottseligen Herrn Papa bisher als Vermögensverwalter und Rechtsbeistand gedient zu haben, und er würde es sich zur Ehre anrechnen, auch mit dem Vertrauen des Herrn Sohnes ausgezeichnet zu werden. Und es schwebe noch ein Prozess gegen den Hausnachbarn wegen dessen bissigen Hundes. Er sähe einer geschätzten Rückantwort mit Interesse entgegen, und außerdem sei er mit vorzüglicher Hochachtung der Rechtsanwalt Meier III. Diesen Brief hatte der Anwalt in einer Sprache abgefasst, die er für Englisch hielt. Eduards erster Gedanke war, seine alkoholische Goldgrube zu verkaufen und in die Heimat überzusiedeln. Einen Käufer zu finden, wäre ihm nicht schwer gefallen. Aber bald verwarf er den Plan wieder. Nicht sein Vaterland, wohl aber sein Bankkonto musste noch größer sein. Wenn er nach Breckendorf zurückkehrte, so musste er dort in Verhältnissen leben, dass ihm die ganze Einwohnerschaft samt Kurgästen und hohen Behörden den Buckel herunterrutschen konnte. 42


Und so antwortete er, nachdem er sich viele Wochen Zeit zur Überlegung gelassen hatte, Herrn Meier III, es habe ihn außerordentlich gefreut, seine schriftliche Bekanntschaft gemacht zu haben, und die Erbschaft trete er an. Oder ob der Herr Rechtsanwalt vielleicht das Gegenteil geglaubt habe? Das Bargeld und die Effekten möchten auf der Bank liegenbleiben, die Hypothekenzinsen seien jeweils davon abzuheben, dem Hausmeister Friedrich Quickborn werde er persönlich schreiben, und der Hund des Nachbarn sei mit einem dicken Holzprügel totzuschlagen. Für die Kosten käme er auf. Im Übrigen sei er ein geborener Deutscher und beanspruche daher, dass Meier III künftig Briefe an ihn in deutscher Sprache abfasse, welche Mühe er sich aber auch sparen könne, da er persönlich in absehbarer Zeit nach Breckendorf hinüberrutschen werde, um nach dem Rechten zu sehen. Und er verbleibe mit herzlichem Prosit der ergebene Bohnkraut, Besitzer eines Salons in Philadelphia. An alle diese wechselreichen Begebenheiten dachte Eduard, während ihn der altersschwache Droschken43


gaul durch seine Vaterstadt zog. Die Gedanken hinderten ihn jedoch nicht, während der Fahrt aufmerksam das Straßenbild zu prüfen. Gar wenige Häuser kannte er noch. Erst als sie sich der Höhenstraße näherten, fielen ihm einige alte steinerne Bekanntschaften auf. Dort, das weiße Gebäude – hatte da nicht ehemals die alte närrische Oberleutnantswitwe gehaust, deren niedliches Zimmermädchen über so kirschrote, saftige Lippen verfügte, dass ein gewisser siebzehnjähriger Eduard Bohnkraut … Schwamm darüber! Und da drüben in der Eckvilla mit dem schlanken Türmchen, war dort nicht der pensionierte Sparkassenbuchhalter heimisch gewesen, dem man unbedingt ›Rotnas!‹ nachrufen musste, weil er dann einen Wutanfall bekam? Am lebhaftesten aber dachte Eduard an den alten Mann, der einst in der Höhenstraße 74 gewohnt hatte, der ihn aus reiner Liebe verflucht hatte, der so schnell auf seinen Versöhnungsvorschlag eingegangen war, weil er ihm nie böse gewesen war, und der nun da draußen auf dem Friedhof ruhte unter einem Grab-

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stein, den sein Sohn nur von einer Photographie her kannte. Der alte Friedrich Quickborn hatte ihm die Photographie geschickt, mit einem Brief, den Eduard zu beantworten stets von neuem verbummelte. Und, alle Teufel, auch dem Rechtsanwalt Meier III hatte er seit Jahren keine Antwort mehr gegeben, bis Meier III die zwecklose Schreiberei eingestellt hatte. Na, einerlei, in zehn Minuten würde er vor Friedrich Quickborn stehen und morgen Vormittag vor Meier III. Und heute Nachmittag noch vor dem Grabhügel, der das treueste Vaterherz deckte. Hallo, hatte die Eckvilla mit dem Türmchen Doppelgänger bekommen? Jetzt rumpelte er schon zum dritten Mal vorüber. Oder fuhr ihn dieser niederträchtige Kutscher zum Vergnügen straßauf, straßab? Der Droschkenklepper machte wohl auf seine Kosten eine Bewegungskur in der guten stickstoffhaltigen Luft?! »Heda, ehrwürdiger Rosselenker, wohin denn? Habe gesagt: Nummer 74! Neun mal acht plus zwei! 45


Lege keinen Wert auf Spazierfahrten! Bin heute schon genug in der Eisenbahn durcheinandergerüttelt worden.« Phlegmatisch drehte sich der Kutscher auf dem Bock um: »Nummer 74 gibt’s nich! Ich such’ die Nummer schon seit ’ner halben Stunde!« »Oh Alkohol, oh Laster des Suffes!«, deklamierte Bohnkraut. »Die ganze Stadt scheint zu Ehren des Indianerhäuptlings beduselt! Mensch, mach’ die Augen auf! Ecke Höhenstraße und Mühlenweg, gar nicht zu verfehlen! Nebenan war mal ein bissiger Hund!« Der Kutscher wurde grob. »Wenn ich sag’, Nummer 74 gibt’s nicht, dann gibt sie’s nich! 72 gibt’s und 76 gibt’s, aber 74 is nich! Und das mit der Besoffenheit nehmen Se zurück, oder Se können zu Fuß laufen!« Er hatte den Wagen angehalten und die Zügel neben sich gelegt. »Dein Stolz ehrt dich, alter Knabe«, lenkte Eduard gemütlich ein. »Nehme dich also von dem allgemeinen Delirium aus. Zufrieden? – Aber nun setze dich wieder in Trab und expediere mich zu Nummer 74!« 46


»Gibt’s nich!«, beharrte der Droschkenbaron. »Da hat wohl früher mal ’n Haus gestanden, jetzt is nur noch ’n Bauplatz da. Wenn Se sich da drauf niederlassen wollen, mir kann’s pipe sein!« Jetzt stieß Eduard Bohnkraut einen Fluch aus, wie er nur in dem überaus fruchtbaren Klima Südamerikas gedeiht. »Drei Stockwerke nennst du Nilpferd einen Bauplatz? Wenn das mein alter Freund Quickborn hört!« »Der hört schon lange nichts mehr. Der hört seit zwei Jahren nur noch die Engel Halleluja singen, da droben, verstehen Se!« »Was sagst du da? Friedrich Quickborn ist tot? Woher weißt du denn das?« »Nanu, wenn die Leute begraben werden, sin se meistenteils tot! Ich werde doch Friedrich Quickborn gekannt haben!« Eduard stutzte. Quickborn tot? Ja, zum Donnerwetter, dann wär’ es wohl am besten, schleunigst den Rechtsanwalt aufzusuchen. 47


»Zum Rechtsanwalt Meier III!«, brüllte er. Ihm war plötzlich zweierlei zumute geworden. »Ich kenn’ keine nummerierten Rechtsanwälte! Da müssen Se sich schon ’n bisschen deutlicher ausdrücken!« »Dann fahr’ zum Kuckuck!« »Bin ich nicht verpflichtet. Weiß auch nicht, wo der wohnt. Und nu kriechen Se mal gefälligst aus meinem Karren raus, der ist kein Quartier für Obdachlose! Narren fahr’ ich nich. Berappen Se Ihre zwölf Mark fuffzig un leben Se wohl! Mein Gaul kann Ihr Gebrüll nich vertragen. Paula hat Nerven.« Eduard Bohnkraut nahm seine Reisetasche, sprang aus dem Wagen, zahlte und sauste zur Höhenstraße. Der Kutscher hatte recht: Das Haus 74 gab es nicht mehr. Es war verschwunden. Spurlos verschwunden. Nur noch Reste der Kellermauern zeugten, dass hier einmal ein Haus gestanden hatte, und allerlei Gerümpel, gemischt mit verrosteten Konservendosen, 48


spottete des magistratischen Schildes: »Abladen von Schutt ist hier strengstens verboten.« Eduard stand mit offenem Munde da. Er kniff sich in die rechte Wade, er bohrte sich auf die Nase: »Aufgewacht, old fellow! Bist nicht mehr auf dem großen Wasser … Die Seekrankheit ist vorüber … Komm endlich zu dir!« Aber er misshandelte seine ehrliche dicke Nase vergeblich. Das Bild vor seinen Augen veränderte sich nicht. Eine unbändige Wut packte ihn. Wie oft hatte er sich in die Räume zurückgeträumt, in denen er seine Kindheit verlebt hatte, wie treulich hatte er die ererbten Möbel hüten wollen, das alte Besuchszimmer, das Bett, in dem sein Vater gestorben war, das große Bild seiner Mutter, den Tisch, an dem er einst seine Schulaufgaben gemacht oder auch nicht gemacht hatte, an dem er seine ersten Liebesbriefe geschrieben hatte – und nun waren diese unersetzlichen Stücke verschwunden! Und mit ihnen das ganze Haus. »Aber, Hölle und Fegefeuer, ein Haus kann doch nicht verschwinden!«, tobte er und krallte die Hände in 49


die Reisetasche, als sei diese an allem Unheil schuld. »Vielleicht, dass sie’s wegen Baufälligkeit abreißen mussten? Hier in Deutschland haben sie ja so verrückte Gesetze! … Aber das hätte mir doch der verwünschte Paragraphenpfuscher Meier III gefälligst mitteilen können! … Allerdings habe ich ihm seine Briefe nicht beantwortet … vielleicht ist ihm der einseitige Briefwechsel zu dumm geworden …« Er riss die Reisetasche auf, kramte darin herum, warf den Inhalt, alte Wäsche, Kamm, Bürste, Seife, Pantoffel auf die Straße, bis er das gesuchte Bündel Briefe gefunden hatte und die letzte, ihm bekannte Adresse Meiers feststellen konnte: Kolonnade 34, II. Dann las er hastig die zerstreuten Gegenstände wieder auf, stopfte sie nach ewigem Junggesellenrezept wahllos in die Reisetasche und rannte die Höhenstraße abwärts. Eine halbe Stunde später hatte er sich zur Kolonnadenstraße 34 durchgefragt und stieg in den zweiten Stock empor. »Agnes Bergmann, Witwe«, stand da zu lesen. 50


Er riss an der Klingel. Eine alte Dame öffnete vorsichtig. Sie sah zuerst ängstlich durch den Türspalt, zögerte einen Augenblick, entschloss sich aber dann doch, die Tür aufzumachen. »Was wünschen Sie?« »Hier wohnt doch Rechtsanwalt Meier III?« »Nein.« »Aber er hat hier gewohnt?« Frau Bergmann betrachtete den sonderbaren Fremden misstrauisch. Es war doch kein Einbrecher? Man las jetzt so viel in der Zeitung … »Die letzten zehn Jahre hat er nicht hier gewohnt, denn so lange wohne ich hier.« »Das ist doch hier Hausnummer 34?«, »Zweiter Stock?« »Ja.« »Und hier hat in den letzten zehn Jahren kein Meier III gewohnt?«, schrie Bohnkraut. »Überlegen Sie sich, 51


was Sie reden, alte Dame! Es hängt mehr davon ab, als Sie ahnen!« Die alte Frau wich erschrocken einen Schritt zurück. »Nein«, stammelte sie, »und es hat auch in der ganzen Stadt keinen Rechtsanwalt Meier III gegeben. Mein seliger Mann war Amtsrichter, da würde ich’s doch wissen. Zwei Rechtsanwälte Meier wohnen in Breckendorf, Julius Meier und Adolf Mayer, aber Meier III, nein, bestimmt nicht!« Da brach Eduard Bohnkraut in ein gellendes Lachen aus, so dass die Amtsrichterswitwe entsetzt die Türe zuschlug und die Sicherheitskette vorhakte; er hieb sich die geballten Fäuste vor die Stirne und schrie, in endlicher Erkenntnis des Sachverhalts: »Man hat mir mein Haus gestohlen! Die Hunde haben mir mein Haus gestohlen!« Und er setzte sich geknickt auf eine Treppenstufe, legte die Reisetasche auf seine Knie und begann bitterlich zu weinen. * 52


Am Abend desselben Tages saß in Zimmer 26 des Fremdenheims Sanitas ein blonder Herr in hellem Sommeranzug am Schreibtisch und kritzelte eifrig in sein Tagebuch. Auf seinem Schoß hockte ein kleiner Foxterrier, weiß mit schwarzen Tupfen, und schaute interessiert zu, was sein Herr Wichtiges zu Papier zu bringen hatte. Und wenn das Hündchen Geschriebenes hätte entziffern können, so würde es gelesen haben: »… Der Kerl aber, der solchen Krach an der Gepäckausgabe schlug, war kein anderer, als der unerwartet heimgekehrte Eduard Bohnkraut. Nun kann’s lustig werden! Aber nur immer frech und gottesfürchtig! Adele macht ihre Sache ausgezeichnet. Adele ist ein Genie!! Breckendorf wird noch Augen machen.«

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III.

D

as ist die ekelhafteste Geschichte, die mir in meiner ganzen Praxis vorgekommen ist!«, schnaubte der Polizeiassessor Funke. Funke hatte die Kriminalabteilung unter sich. Er war noch verhältnismäßig jung für dieses verantwortungsreiche Amt – erst zweiunddreißig Jahre –, aber er hatte bereits als tüchtiger Beamter von sich reden gemacht und galt als hervorragend befähigt. Seine ersten Sporen als Kriminalfachmann hatte er sich in der Landeshauptstadt verdient. Beinahe hätte dort sein lockerer Lebenswandel einen vorzeitigen Strich unter seine Laufbahn gesetzt; doch immer wieder frischten seine dienstlichen Erfolge das Wohlwol54


len seiner Vorgesetzten auf. Bis eine alberne Weibergeschichte zu seiner Versetzung in eine andere Stadt geführt hatte. Er hatte den Breckendorfer Posten mit Vergnügen angenommen. Dort konnte die Arbeit unmöglich übermäßig groß sein; hingegen bestand die rosige Aussicht, in dem großen Kurbetrieb irgendeine vermögende Schöne (Witwe mit Kind nicht ausgeschlossen) kennenzulernen und eine gute Partie zu machen. Zu seinem Schmerz fand Funke nur wenig Zeit, auf die Mitgiftsuche zu gehen. Es gab in Breckendorf eine Unmenge Arbeit – Kleinarbeit von jener undankbaren Sorte, die einem nicht die geringste Möglichkeit bietet, sich auszuzeichnen und vorwärtszukommen. Die großen Verbrecher schienen die Stadt geradezu zu boykottieren. Öffentlich sagte Funke: »Das beweist gerade die Tüchtigkeit unserer Polizei. Wie ein guter Arzt seine Hauptaufgabe weniger in der Heilung, als in der Verhütung von Krankheiten sehen muss, so muss auch die

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Polizei ihr Hauptaugenmerk mehr auf die Verhinderung, als auf die Verfolgung von Verbrechern richten.« Insgeheim aber seufzte er: »Man versauert hier! Kein Mord, kein Totschlag, kein Sittlichkeitsverbrechen – dieses Nest ist wirklich um hundert Jahre in der Kultur zurück.« Und selbst wenn sich ein »interessanter Fall« ereignet hätte, es hätte sich kaum gelohnt. In Breckendorf galt zu Funkes Bedauern als oberster Grundsatz: Nur kein Aufsehen erregen! Es darf sich einfach nichts ereignen, was den Ruf Breckendorfs als Nervenkurort gefährden könnte! Und wenn ein Erdbeben die halbe Stadt in Schutt und Trümmer gelegt hätte, der Kurdirektor und das »Breckendorfer Tageblatt« hätten kaltlächelnd behauptet: »Gestern ging endlich der von der Landwirt12 schaft so heißersehnte linde Gewitterregen über unsere Gegend nieder. Schaden wurde nicht angerichtet. Auch in der verflossenen Woche hat sich die Zahl der Kurgäste, die in dem Stickstoff unseres herrlichen 12 gemeint: ein milder Gewitterregen

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Fleckchens Erde Genesung und Erholung suchen und finden, wieder um rund 300 vermehrt.« Wie sehnte sich Funke danach, wieder einmal den ganzen Schneid des ehemals hauptstädtischen Beamten spielen lassen zu dürfen! Und jetzt hatte sich dieser blödsinnige Fall Villa Sonnenstrahl ereignet. Funke hatte bereits ausführlich mit dem Polizeipräsidenten darüber gesprochen und natürlich wieder die Weisung erhalten: »Vor allem kein Aufsehen! Entweder wir erwischen die Bande, dann darf, bis das letzte Mitglied hinter Schloss und Riegel sitzt, kein Wort in die Öffentlichkeit dringen, oder aber wir erwischen sie nicht, dann darf überhaupt nichts in die Öffentlichkeit dringen!« Wäre der Bestohlene ein beliebiger Müller oder Schulze gewesen, der Befehl des Polizeipräsidenten hätte sich mit Leichtigkeit ausführen lassen. Aber der Beraubte hieß Eduard Bohnkraut, und Eduard Bohnkraut pfiff in allen Tonarten auf Diskretion. Seit vier Tagen erschien dieses kleine dicke Ungetüm allabendlich im Arbeitszimmer Funkes, um sich 57


nach dem Stand der Angelegenheit zu erkundigen, und wurde von Tag zu Tag ungemütlicher und anmaßender. Am liebsten hätte Funke ihn hinausgeworfen. Aber das ging nicht gut. Erstens hatte dieser Bohnkraut, das ließ sich nicht bestreiten, ein berechtigtes Interesse am Verlauf der Nachforschungen, und zweitens war er amerikanischer Bürger. Diese Amerikaner aber haben die schnöde Angewohnheit, sich bei der geringsten unkorrekten Behandlung von Seiten der Behörden an ihren Konsul zu wenden. Und die amerikanischen Konsuln sind die unangenehmsten Menschen auf Gottes weitem Erdboden; sie tun, als sei jeder amerikanische Bürger ein Halbgott, und fuchteln einem sozusagen beständig mit einem Kriegsschiff unter der Nase herum. Schon wieder saß Eduard Bohnkraut im Zimmer 13 des Assessors, die Shagpfeife quer im Schnabel, und 13 Heute wird der sogenannte Shagtabak meist für selbstgedrehte Zigaretten verwendet, zu Zeiten der Handlung dieses Buches wurde Shag jedoch auch in Pfeifen mit niedrigen und runden Köpfen geraucht. Inzwischen bevorzugen die meisten Pfeifenraucher spe-

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führte sich auf, als sei er zumindest der Beherrscher aller Gläubigen und Funke der Letzte seiner Eunuchen. »Das ist die ekelhafteste Geschichte, die mir in meiner ganzen Praxis vorgekommen ist!«, wiederholte der Assessor. »Aber seien Sie sorglos, Herr Bohnkraut, wir erwischen die Halunken.« »Das versichern Sie mir schon seit vier Tagen, und wir sind noch keinen Schritt weiter!«, knurrte Bohnkraut. »In den United States hätten sie die Gauner schon längst! Aber hier in Breckendorf, wo die Behörden das Hirn voll Stickstoff haben …« Der Assessor sprang auf und durchmaß erregt das Zimmer. »Wenn Sie die Behörde beleidigen, muss ich Sie veranlassen, das Polizeigebäude zu verlassen!« »Veranlassen Sie lieber die Spitzbuben, das Polizeigebäude zu betreten! Wäre gescheiter! Wieso habe ich wen beleidigt? Habe ich etwa behauptet, der Bürgermeister sei ein Schwachkopf? Oder habe ich gesagt, der Polizeipräsident von Breckendorf sei das größte …« zielle Pfeifentabake.

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»Genug!«, donnerte der Assessor, der im geheimsten Winkel seines Herzens Bohnkrauts Urteil über den Bürgermeister gar nicht so untreffend fand. »Genug! In diesem Ton verhandle ich nicht weiter mit Ihnen!« »Brauchen Sie auch nicht! Lege gar keinen Wert darauf. Habe schon längst die Hoffnung aufgegeben, dass ihr mir was helfen könnt. Werde auf eigene Faust vorgehen. Ich, Eduard Bohnkraut, freier Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika und Hausbesitzer a. D. in Stickstoffiania!« Das wütende Gesicht des Assessors glättete sich zu einem überlegenen Lachen. »Viel Glück dazu, Mister Bohnkraut! Pfuschen Sie uns nur in unsere Maßnahmen, durchkreuzen Sie nur unsere wissenschaftlich erprobten Methoden mit Ihrem Detektivdilettantismus – aber wundern Sie sich nachher nicht, wenn kein Resultat erzielt wird. Wenn Sie glauben, dass Sie als Einzelner mehr Erfolg auf der Verbrecherjagd haben werden, als unser geschulter Beamtenstab …«

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»Denke nicht daran, als Einzelner auf die Jagd zu gehen. Die ganze Öffentlichkeit muss mitjagen. Werde einen Preis aussetzen. Habe bereits eine Broschüre in Arbeit, in der der ganze Fall …« »Sind Sie wahnsinnig?«, schrie der Assessor. »Wollen Sie die Halunken nicht lieber gleich durch ein Zeitungsinserat warnen?« »Wäre hinausgeworfenes Geld. Jeder Verbrecher weiß, dass er verfolgt wird. Wozu zahlt man seine Steuern?« »Und dass Sie Breckendorf dem Gelächter der ganzen Welt preisgeben würden, das ist Ihnen gleichgültig? Glauben Sie, die Leute gehen zur Nervenkur in einen Badeort, in dem laut öffentlicher Bekanntmachung eine uneingefangene Verbrecherbande herumläuft? Die Geschichte muss geheim bleiben! Geheim, geheim, geheim!« »Und ich vertrete die Ansicht, sie muss öffentlich werden! Öffentlich, öffentlich, öffentlich!« Es entstand eine Pause.

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Funke seufzte tief. »O Gott«, dachte er, »in einer halben Stunde muss ich im Kurtheater sein, zur Galavorstellung zu Ehren des Maharadschas, und da sitze ich nun und balge mich mit diesem Idioten herum!« Und Eduard Bohnkraut dachte: »Da haben sie nun die ganzen Wände voll Akten, in denen jedes Menschen Steckbrief mit sämtlichen Muttermalen und anderen Schönheitsfehlern verzeichnet ist, und dabei lassen sie am hellen, lichten Tag ein dreistöckiges Haus nebst fünfprozentiger Hypothek stehlen! Dear me!« Der Polizeibeamte nahm zuerst das Wort wieder auf: »Lassen Sie uns vernünftig reden!« »Warte schon die ganze Zeit darauf, dass Sie das tun!« »Sie behaupteten vorhin, wir seien in diesen vier Tagen noch keinen Schritt weitergekommen? Lassen Sie sich belehren, dass diese Ansicht durchaus irrig ist. Wir gehen Schritt für Schritt weiter.« »Bis Sie am Nordpol herauskommen, während der Verbrecher am Südpol ist!«

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»Wenn Sie mich bei jedem Satz unterbrechen, rede ich überhaupt nichts mehr. Zunächst hat die Polizei festgestellt: Einen Rechtsanwalt Meier III hat es in Breckendorf niemals gegeben.« »Und die Briefe, die ich von ihm habe? Mit vorgedrucktem Briefkopf?« »Sind eigens für den Betrug angefertigt. Und zwar, wie wir bereits wissen, in keiner hiesigen Druckerei. Übrigens sind unsere Schreibsachverständigen der Ansicht, dass die Briefe von einer Dame geschrieben sind. Besonders das große I zeigt unverkennbar …« »Hören Sie mit dem großen I auf! Lassen Sie’s bei Wasser und Brot einsperren und erzählen Sie kürzer, sonst sterben die Verbrecher inzwischen an Altersschwäche.« Assessor Funke wollte wieder aufbrausen, aber er bezwang sich. »Den Kerl schmeiße ich doch noch raus!«, dachte er. Er biss sich auf die Lippen und fuhr fort: »Es steht ferner fest, dass Ihr Hausmeister Friedrich Quickborn bereits vor zwei Jahren starb. Er hinterließ eine Witwe mit zwei unmündigen Töchtern. Zu 63


dieser Frau kam etwa vier Monate nach dem Tode ihres Mannes ein Herr mit einem Brief von Ihnen aus Philadelphia…« »Mit einem Brief von mir? Ausgeschlossen!« »Mit einem gefälschten Brief. In dem Brief beauftragten Sie den Rechtsanwalt Meier III, als der sich der Herr zu erkennen gab, für die Räumung des Hauses zu sorgen und das Gebäude niederreißen zu lassen, da auf dem Grundstück ein Sanatorium errichtet werden sollte.« »Soll mir der Teufel sämtliche Tintenfässer am Schädel zerschellen, wenn ich jemals so einen blödsinnigen Brief vom Stapel gelassen habe!« »Ich kenne Ihren Briefstil nicht«, wurde der Assessor nun seinerseits boshaft, »jedenfalls wurde der Auftrag ausgeführt; die Familie Quickborn zog aus, die Möbel Ihres seligen Vaters wurden in schönen, grünen Möbelwagen abtransportiert, und das Haus selbst bis auf die Grundmauern niedergelegt. Verkauft wurde der Grund und Boden allerdings nicht, die Verbrecher scheuten sich wohl mit Recht vor der Umschreibung 64


im Grundbuch. Weder die Transportarbeiter noch die Bauarbeiter, die die Beseitigung Ihres Eigentums bewerkstelligten, waren bisher zu ermitteln.« »Begreife ich. Die haben eben auch den Grundsatz: Geheim, geheim, geheim!« »Wir haben natürlich die Witwe Quickborn vernehmen lassen. Es ist eine etwas geistesschwache, kränkliche Frau, aus der kaum etwas herauszubringen war.« »Man scheint überhaupt in diesem Haus nicht sonderlich viel herauszubringen?« »Zum Donnerwetter, unterlassen Sie Ihre Randglossen! Meinen Sie, ich erzähle Ihnen das zu meinem Vergnügen? Mein Beruf ist etwas sehr Ernstes.« »Für den Zuschauer nicht immer. Müssen übrigens meine Anerkennungen nicht so tragisch nehmen, Verehrtester! Mein Schnabel läuft gern ’n bisschen Galopp. Hoffe aber, hier in dem guten Stickstoff noch die hohe Schule des Gesellschaftstones reiten zu lernen. Also, was erzählte die Alte?«

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»Der Überbringer des Briefes sei, soweit sie sich erinnern könne, ein etwa vierzigjähriger Herr mit blondem Schnurrbart gewesen. Er habe einen hellen Sommeranzug angehabt, daran erinnere sie sich ganz genau, weil ihr Mann einmal einen ähnlichen Anzug von Ihrem seligen Herrn Vater geschenkt bekommen habe. Und dann habe der Mann einen kleinen Hund bei sich gehabt mit einem ganz verrückten Namen, Agacks oder so ähnlich. Mehr wusste die Frau nicht.« »Agacks? Klingt eigentlich mehr nach Papagei, als nach Hund. Vielleicht hat sich die alte Frau versehen?« »Machen Sie doch keine schlechten Witze! Dazu ist der Fall wirklich zu ernst. Natürlich habe ich der Frau das Verbrecheralbum vorgelegt.« »Und?« »Sie hat zehn verschiedene Taschendiebe bestimmt als den Herrn bezeichnet, der als Rechtsanwalt Meier III bei ihr war.« »Sollten die Frau bei der Breckendorfer Kriminalpolizei anstellen, die ist reif dazu!«, schwebte es Bohn-

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kraut auf der Zunge. Aber er schluckte die Bosheit hinunter. »Sie sehen also«, schloss Funke seine Ausführungen, »wir sind inzwischen keineswegs untätig gewesen. Hoffentlich haben auch Sie inzwischen gearbeitet und die erbetene Liste angefertigt über die Möbel und Gegenstände, die sich in der Hinterlassenschaft Ihres Vaters befinden mussten?« »Ist gemacht. Will nicht garantieren, dass jeder Hosenknopf drin aufgeführt ist, aber habe mein Möglichstes getan. Hier ist die Liste.« »Danke. Ich werde in allen Pfandhäusern, bei allen Althändlern durch meine Beamten nachforschen lassen, ob dort etwas von den Sachen verpfändet oder verkauft wurde.« »Glaube kaum, dass Meier III so unvorsichtig war.« »Spucken Sie, bitte, nicht fortwährend auf den Fußboden, Herr Bohnkraut. Und vergessen Sie, bitte, nicht, dass wir Meier III auf Grund seiner Handschrift für eine Dame halten. Verbrecherinnen aber mögen noch so raffiniert sein, irgendeine große, oft unbegreifliche 67


Dummheit begehen sie doch, die sie dann der verdienten Strafe zuführt. Weiber sind mal so. Und nun lassen Sie mich ins Theater, es ist Pflichtvergnügen und folglich kein Vergnügen, und höchste Zeit.« »Well, gehe schon. Was kriegt denn Euer allerhöchster Indianerhäuptling vorgesetzt?« »Lohengrin.« »Wird ihm kaum imponieren, der vernickelte Gänseritter. Es sei denn, dass Elsa im soundsovielten Akt einen Bauchtanz einlegt.« Der Assessor schmunzelte. Gegen Bosheiten, die auf fremde Kosten gingen, hatte er durchaus nichts einzuwenden. Er griff nach Hut und Mantel — da klingelte der Fernsprecher. »Hier Kriminalpolizei, Funke, wer dort? … Wer ist dort?? … Schnell, Bohnkraut, nehmen Sie den anderen Hörer!! … Wer ist dort?« Eine volltönende, abgrundtiefe Bassstimme antwortete: »Hier Rechtsanwalt Meier III. Hängt Herr Bohnkraut schon am anderen Hörrohr?« 68


»Halunke miserabler!«, brüllte Bohnkraut. »Wenn ich dir durchs Telefon eine Kugel in den Bauch jagen könnte!« Der Assessor gab ihm einen Rippenstoß. »Beherrschen Sie sich!«, hieß dieser Knuff. »Sie müssen nicht so schreien, man versteht sonst nichts!«, fuhr Meier III fort. Jetzt aber war es unverkennbar eine Damenstimme. »Ich sah Sie vorhin ins Präsidium gehen, und da dachte ich mir: Musst doch einmal deinen alten schreibfaulen Freund Bohnkraut anrufen. Ihr Haus soll fort sein? Haben Sie ein gutes Logis gefunden?« »Ein besseres, als du in längstens acht Tagen haben wirst, Rabenaas! Denn bis dahin sitzt du in Numero Sicher! … Wetten?« »Danke, aber ich wette nie, wenn ich bestimmt weiß, dass der andere verliert«, antwortete eine helle Jünglingsstimme. »Wollen Sie sich wirklich die ganz unnütze Mühe machen, mir nachzuspüren?« »Jawohl, mein Fräulein!«, rief Funke dazwischen. »Das wollen wir!« 69


»Ah, der Herr Assessor hält mich für eine Dame?«, klang es im getragenen Bariton. »Wie galant. Man merkt doch gleich die hauptstädtische Erziehung!« »Sind Sie vielleicht kein Mädchen? He?« »Nicht so neugierig, Assessorchen! Sie werden noch heute Abend im ›Lohengrin‹ hören, dass Neugier zu nichts Gutem führt.« Nun war es, als ob ein zahnloses, altes Weib spräche. »Übrigens will ich mich dankbar erweisen, dass Sie mir so viel Zeit zu widmen gedenken und Ihnen einen guten Rat geben: Gehen Sie heute Abend nicht ins Theater!« »Meinen Sie, ich fürchte mich vor einem Attentat?« Die Bassstimme antwortete: »Sie verkennen uns; wir arbeiten nicht mit Mord und Totschlag. Wir sind eine ganz harmlose Erwerbsgesellschaft.« »Eine Räuberbande seid ihr!«, brüllte Bohnkraut in den Apparat. »Man kann es auch so nennen; aber es klingt nicht so gut!«, lachte es. »Aber ich muss mich verabschieden,

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sonst wird das Gespräch doppelt. Auf Wiedersehen im Theater, Herr Assessor!« Das Gespräch brach ab. Bohnkraut und Funke hängten gleichzeitig die Hörer ein und sahen sich einen Augenblick entgeistert an. »Da scheint die ganze Bande in corpore am Telefon gewesen zu sein!«, schimpfte Bohnkraut. »Sagen Sie lieber: eine außerordentlich geschickte Bauchrednerin! Wir haben die Bande in Artistenkreisen zu suchen. Aber davon später.« Der Assessor rief das Amt an. »Mit wem waren wir eben verbunden?« »Einen Augenblick … ich weiß nicht, ob ich das noch feststellen kann … Mit der öffentlichen Fernsprechhalle Hauptpost, Zelle sechs.« »Der Aufsicht habende Kriminaler der Fernsprechhalle soll mich sofort anrufen. Assessor Funke. Es eilt sehr. Schnell, Fräulein!« Gleich darauf klingelte es wieder an. 71


»Hier Kriminalwachtmeister Schmitz.« »Haben Sie vielleicht beobachtet, wer eben aus Zelle sechs kam?« »Aus Zelle sechs? Nein … Warten Sie mal. Ja, richtig, das wird wohl der Herr gewesen sein, der …« »War es nicht vielleicht eher eine verkleidete Dame?« »So sah er nicht aus. Das heißt … er hatte einen kleinen Hund bei sich … einen Foxterrier; ich stellte ihn deshalb zur Rede … Ajax hieß der Hund; es war ein blonder Herr, Schnurrbart …« »In hellem Sommeranzug?« »Jawohl.« »Haben Sie ihn denn nicht ausgeschrieben, wenn er einen Hund ins Postamt mitnahm?« »Doch. Natürlich. Es ist ein Rechtsanwalt namens Meier. Meier III. Höhenstraße 74. Er legitimierte sich mit einer Passkarte.« »Von wem war die Passkarte ausgestellt?« 72


»Von Ihnen.« »Zum Donnerwetter, seit wann stelle ich denn Passkarten aus?« »Aber es war das polizeiliche Formular und ganz deutlich Ihre Unterschrift unter dem Stempel!« »Der Mann ist im Wiederbetretungsfalle sofort zu verhaften. Verstanden?« »Jawohl, Herr Assessor.« Erschöpft wandte sich Funke wieder zu Bohnkraut: »Nun scheint mir beinahe selbst, es ist kein Frauenzimmer, sondern ein Mann.« »Schade!«, meinte Bohnkraut. »Hätte sie vom Fleck weg geheiratet. Das erste Weib, das mir imponiert.« »Der Kerl muss eine ganze Druckerei mit seinen Falsifikaten beschäftigen. Auch eine falsche Passkarte hat er!« »Wenn schon, denn schon. Jedenfalls der unverschämteste Bursche, den die Erde je getragen hat! Mich anzurufen!«, tobte Bohnkraut.

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»Wenn nicht das Ganze ein Manöver zu unserer Irreführung war! Die Unverfrorenheit wäre sonst zu haarsträubend! Bedenken Sie doch: Seit Jahren hätte der Gauner Zeit gehabt, zu verschwinden, aber er ist in Breckendorf geblieben! Er erfährt Ihre Ankunft; er muss sich sagen, jetzt wird der Boden heiß – und er bleibt ruhig weiter da! Er ruft uns auch noch telefonisch an, damit wir ja um seine Anwesenheit wissen! Er geht mit einem Hund ins Postamt, obwohl er sich doch sagen muss, das setzt ihn einem Zusammenstoß mit der Polizei aus! Er legitimiert sich mit seinem Verbrechernamen und gibt als Wohnung Ihr gestohlenes Haus an! Soviel Frechheit kann gar nicht echt sein! Es muss sich um eine Mystifikation handeln! Nun ist mir wahrhaftig noch der letzte Rest von Lust aufs Theater vergangen! Aber ich muss wohl. Jetzt erst recht. Sonst bildet sich der Strolch womöglich ein, ich lasse mich einschüchtern!« Als sie die Treppe hinunterstiegen, sagte Assessor Funke beiläufig: »Übrigens Ajax heißt der Hund. Nicht Agacks.«

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Da stieß Bohnkraut plötzlich einen Cowboyruf aus, als sei ihm ein überaus genialer Gedanke aufgeblitzt, und er schrie: »Richtig, der Hund! Der Hund bringt mich auf einen famosen Plan! – Donnerkiel, wenn der Kerl doch nur mit mir gewettet hätte!!«

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