Der Mann vom Meer: Maurice Wallion ermittelt. Ein Schwedenkrimi aus den 1920er Jahren

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Julius Regis

Der Mann vom Meer Maurice Wallion ermittelt. Ein Schwedenkrimi aus den 1920er Jahren


Julius Regis

Der Mann vom Meer Maurice Wallion ermittelt. Ein Schwedenkrimi aus den 1920er Jahren Original: München,Georg Müller, 1929 Übersetzung: E. von Kraatz Überarbeitung, Umschlaggestaltung: Null Papier Verlag Published by Null Papier Verlag, Deutschland Copyright © 2014 by Null Papier Verlag 1. Auflage, ISBN 978-3-95418-531-3

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Inhaltsverzeichnis

Über krimischaetze.de...........................................................6 Über den Autor.........................................................................8 Über Maurice Wallion...........................................................10 Über dieses Buch....................................................................12 Handelnde Personen.............................................................14 Die Nacht hat tausend Augen.............................................16 Ein Licht geht auf...................................................................74 Jemand flüstert.....................................................................103 Jemand schreit......................................................................135 Unterricht in Logik..............................................................156 Zorn.........................................................................................196 Er ist gekommen...................................................................215 Um einen Tisch herum.......................................................244 4


Das ist nicht mรถglich...........................................................277 Der Mann vom Meer..........................................................309 Erik segelt durchs Granittor.............................................345 Die Mine platzt.....................................................................358 krimischaetze.de.................................................................399

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Über krimischaetze.de

Kriminalromane sind heutzutage erfolgreich wie nie. Krimi-Klassiker? Da denken die meisten sofort an Agatha Christie (1890-1976) oder Edgar Wallace (18751932). Tatsächlich gehörten die britischen Autoren zu den ersten, die in den »wilden« 1920er Jahren ins Deutsche übersetzt wurden. Krimi-Fans kennen oft auch den Schweizer Friedrich Glauser (1896-1938), den Namensgeber des Glauser-Preises – eine der wichtigsten Auszeichnungen für deutschsprachige KrimiAutoren. Wie vielfältig die Krimi-Szene in der Weimarer Republik war, ist in der breiten Öffentlichkeit jedoch vollkommen in Vergessenheit geraten. Für krimischaetze.de haben sich Jürgen Schulze, Verleger des Null Papier-Verlages, und Sebastian Brück, Autor und Journalist, zusammengetan, um alte Krimi-Bestseller 6


neu zu entdecken und als E-Book verfügbar zu machen – überarbeitet, in neuer Rechtschreibung und mit erklärenden Fußnoten versehen. Das krimischaetze.de-Programm startet zunächst mit sechs Titeln – sowohl Übersetzungen aus dem Englischen (S.S. Van Dine) und Schwedischen (Julius Regis), als auch deutschsprachige Originale: In je zwei Fällen ermitteln Philo Vance, der »amerikanische Sherlock Holmes«, und Maurice Wallion, der »Detektivreporter« und »Urvater« von Stieg Larssons »Millenium«-Protagonist Mikael Blomqvist. Ebenfalls vertreten sind die vergessenen Werke zweier jüdischer Autoren: Die in Budapest, Paris und San Sebastián spielende Krimikomödie »Fräulein Bandit« des Österreichers Joseph Delmont sowie der humorvolle Kriminalroman »Das verschwundene Haus – oder: Der Maharadscha von Breckendorf« des Frankfurters Karl Ettlinger. In Zukunft werden bei www.krimischaetze.de regelmäßig weitere Titel erscheinen.

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Über den Autor

Julius Regis Pettersson schuf die erste schwedische Krimiserie, in der ein Journalist die Hauptrolle übernimmt. Seine Maurice-Wallion-Romane waren ein großer Erfolg – sowohl in seiner Heimat, als auch darüber hinaus (Übersetzungen unter anderem ins Englische und Deutsche). Regis wurde 1889 in Stockholm als Sohn einer Kaufmannsfamilie geboren und machte 1909 im Stadtteil Södermalm seinen Schulabschluss. Danach studierte er an der Stockholms Högskola Literaturgeschichte und arbeitete als Schlussredakteur in einem Verlag. Nebenbei begann er zu schreiben: Meist kurze Abenteuergeschichten – stark beeinflusst von dem in Schweden sehr populärem Jules Verne –, die in verschiedenen Literaturzeitschriften erschienen. Von den ersten Erfol8


gen angespornt, kündigte er seine Stelle und startete eine erfolgreiche Doppelkarriere als Filmkritiker und von Arthur Conan Doyle und Gaston Leroux inspirierter Kriminalschriftsteller. Außerdem war er als Übersetzer tätig und verantwortete unter anderen einige schwedische Ausgaben der Werke von Robert Louis Stevenson. Regis war nicht verheiratet und hatte keine Kinder. Er starb 1925, mit nur 35 Jahren und auf dem Höhepunkt seiner Karriere, an einer chronischen Herzmuskelentzündung.

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Über den Romanhelden Maurice Wallion

In Schweden galt Maurice Wallion in den 1910er und 1920er Jahren als einheimische Antwort auf Sherlock Holmes: Allerdings ist er robuster als sein Londoner Vorbild – und weniger exzentrisch. Heute könnte man ihn genauso gut als eine Art »Urvater« von Stieg Larssons Protagonisten Mikael Blomkvist bezeichnen: Wallion ist nämlich kein herkömmlicher Privatdetektiv, er ist Journalist. Sein Ruf eilt ihm voraus: Der »Detektivreporter« und »Problemjäger« vom Dagens Kurir. Maurice Wallion wohnt am Valhallavägen im noblen Stockholmer Bezirk Östermalm Mit seiner breiten Stirn und dem vorspringenden Kinn ist er zwar nicht besonders gutaussehend, wohl aber eine energische und 10


charismatische Persönlichkeit, die Menschen für sich einnimmt. Er hat eine tiefe Stimme, graue Augen und ein scharfgeschnittenes, stets glattrasiertes Gesicht. Wallion ist elegant gekleidet, raucht viel und glaubt nicht an Zufälle: Er sieht in jedem Ereignis das Glied einer Kette, »und wenn man diese Kette verfolgt, findet man allemal die Erklärung.« Wallion kann sehr charmant sein – wenn er jedoch in gefährliche Situationen gerät, in denen ihm seinen intellektuellen Fähigkeiten nicht mehr weiter helfen, zögert er keine Sekunde, seine Fäuste einzusetzen.

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Über dieses Buch

Ein Kriminalroman zwischen Stockholm und den Schären-Inseln: Der Ingenieur Erik Reynold hat lange im Ausland gearbeitet – und kehrt nun nach Schweden zurück, um seinem Vater in einer wichtigen Angelegenheit zu Seite zu stehen: Dieser hat finanzielle Probleme und muss die Insel Jägarö, die seit Generationen im Familienbesitz ist, früher oder später verkaufen. Es sei denn das seit langem verschollene Millionenerbe der Familie taucht wieder auf … Auf dem Weg zu seinem Vater hat Erik den Ingenieurskollegen Maximilian Colt kennen gelernt, der ebenfalls in Stockholm zu tun hat. Nach einem Restaurantbesuch unternehmen sie eine Spritztour mit Colts Wagen und übernachten spontan in einer verlassenen Villa am Stadtrand. Was zunächst wie ein spätpubertä12


rer Streich anmutet, entpuppt sich am nächsten Morgen als Tragödie: Als Erik aufwacht, sind seine Hände blutverschmiert, und auf dem Flur liegt ein Toter, erstochen mit einem Degen aus der in der Villa befindlichen Waffensammlung. Ist Eriks Neigung zum Schlafwandeln verantwortlich? Hat er den Einbrecher überrascht und getötet? Welche Interessen verfolgt Maximilian Colt? Und gibt es den »Mann vom Meer« wirklich, der angeblich schon im 18. Jahrhundert zum ersten Mal auf Jägarö erschienen und vor kurzem wieder aufgetaucht ist? Diesen und noch viel mehr Fragen muss sich Journalist und »Problemjäger« Maurice Wallion stellen, als er von Erik beauftragt wird, Licht ins Dunkel zu bringen …

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Handelnde Personen

Maurice Wallion: Journalist mit detektivischen Fähigkeiten Erik Reynold: Ingenieur, hat lange Zeit im Ausland gearbeitet, zuletzt in Algier. Hugo Reynold: Sein Vater, lebt auf der Schäreninsel Jägarö. Marta Hegelius: Seine Cousine, die 24jährige führt für Hugo Reynold den Haushalt. Tobias: Haushofmeister auf Jägarö Maximilian Colt: Ingenieurskollege von Erik Reynolds, ist auf Geschäftsreise, arbeitet normalerweise als Wegebauer in Südafrika.

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Adam Drakenborch: Kubaner mit spiritistischen Vorlieben, hat auf der Nachbarinsel von Jägarö ein Sommerhaus gemietet. Dolores Drakenborch: Seine Tochter, ein Medium. Napoleón: Deren Diener, von Adam Drakenborch oft abgekürzt Poleón genannt. Lindström: Hat auf Jägarö Ackerland von den Reynolds gepachtet. Knut: Sein Sohn. Ewald Seburg: Ingenieur und Tauch-Spezialist, soll den Meeresgrund vor Jägarö absuchen. Lang: Adlatus von Maurice Wallion. Jourdain: Belgischer Polizeibeamter aus Brüssel Aspeland: Polizeikommissar in Stockholm

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Die Nacht hat tausend Augen

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I.

D

ie beiden Herren, die am Tisch neben der Balkontür zur Nacht aßen, erregten hier und da Aufmerksamkeit. Jetzt schwiegen sie beide, aber erst nach einem heftigen Wortwechsel, den der jüngere von ihnen durch eine laute, hitzige Antwort abgebrochen hatte: »Nach Südafrika reise ich nicht!« Seine bisher knabenhaft frohen Augen hingen finster an dem Weinglas, das er zwischen den Fingern hin und her drehte. Das blonde Haar erschien wegen des sonnengebräunten Gesichts noch heller. Er zählte neunundzwanzig bis dreißig Jahre. Sein etwa um zehn Jahre älterer Begleiter hatte ein dunkles, hübsches Gesicht mit energischen Zügen, die unverwandt an dem anderen hingen. Fast alle Tische des strahlend erleuchteten Restaurants waren besetzt, und das Stimmengewirr nahm zu, als auf ein Geigensolo fröhliche Revueschlager folgten. Die milde Luft des Juli-Abends stand still und durch17


sichtig über Stockholm, und an den Kais spiegelten sich lange Reihen von Laternen im blanken Wasser. Eine junge Dame mit einer Zigarette im Munde beugte sich zu ihrem Begleiter hinüber und flüsterte, worauf dieser sich umdrehte und die beiden Herren betrachtete. »Den Jüngeren kenne ich«, hörte man ihn sagen, als die Musik gerade verstummte. »Es ist Erik Reynold, der vor einigen Jahren als guter Sportsmann bekannt war, aber dann gab es in Uppsala irgendeinen Skandal, weswegen er die Universität verließ, sein Ingenieurexamen machte und außer Landes ging. Er muss erst ganz kürzlich zurückgekehrt sein. Der andere sieht aus wie ein Ausländer.« Erik Reynolds braune Wangen röteten sich. Er blickte auf und begegnete dem festen Blick seines Tischgenossen. Beide hatten scharfe Ohren. »Lass uns gehen«, murmelte Erik und leerte sein Glas. »Ich hätte darauf gefasst sein müssen, aber ich gestehe, dass es mich reizt.«

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»Das sind so die kleinen Annehmlichkeiten des Daheimseins«, sagte Maximilian Colt lächelnd. »Deine Landsleute haben kräftige Stimmen und ein gutes Gedächtnis. Ich sage ›deine‹, weil man mich beharrlich für einen Ausländer hält. Das ist mir einerlei, aber von diesem ziemlich trinkbaren Sherry möchte ich mich noch nicht trennen.« Er füllte sein Glas von neuem und richtete den Blick dann sofort wieder auf Erik. »Hab’ ich dir schon mal erzählt, dass ich Spiritist bin? Zuweilen geben die dunklen Mächte denjenigen, die verstehen, Zeichen. Dir wird es hier nicht gut gehen. Überleg’ es dir, bevor es zu spät ist. Südafrika ist die größte Chance deines Lebens, und ich bin’s, der sie dir bietet.« »Zum letzten Mal: nein!« »Du hast deinen Entschluss gefasst?« »Hab’ ich mich nicht deutlich genug ausgesprochen?« »Du willst nach Hause zu deinem Vater?« 19


»Ist das so erstaunlich? Warum sollte ich das letzte kleine Ende der Reise aufgeben, nachdem ich von soweit hergekommen bin!« Erik strich sich über seine von vielem Wein erhitzte Stirn. »Mir ist, als ob ich plötzlich erwachte. Weshalb bin ich drei Tage in Stockholm geblieben, ohne mich entschließen zu können? Das kommt mir jetzt ganz sinnlos vor.« Colts Gesicht verzog sich zu einem Lächeln, das nicht von Heiterkeit, sondern von krampfhaftem Nachdenken zeugte. Das Orchester hatte seine Abendaufgabe erledigt, und die Musikanten gingen von dannen. »Die Reynoldschen Milliarden scheinen ihre Zauberkraft nicht eingebüßt zu haben«, sagte Colt. »Ihr Reynolds seid eine sonderbare Familie. Seit zweihundert Jahren jagt ihr dieser sagenhaften Erbschaft nach, ohne auch nur einen Bruchteil davon zu finden, ohne auch nur ein geschriebenes Testament darüber zu besitzen – ja ohne noch dazu feststellen zu können, wo und wann euer Stammvater gestorben ist. Glaubst du denn wirklich an dieses alte Märchen?«

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»Er war nicht mein Vorfahr. Es waren zwei Brüder, Erik und Bernhard Reynold. Der ältere ging ins Ausland, war erst Kaperkapitän in holländischen Diensten und später Plantagenbesitzer und Kaufmann. Dass er ein reicher Mann war, steht fest. Der jüngere blieb in Schweden, und ich bin sein letzter Nachkomme in gerader Linie. Es ist also nur natürlich, dass ich wenigstens den Glauben und die Hoffnung meiner Vorfahren geerbt habe.« »Als ich dich in Amsterdam traf, schien es nicht so.« »Du weißt ja, dass ein dringender Brief meines Vaters mich bewog, nach Amsterdam zu fahren, um dort neue Forschungen anzustellen.« »Und diese ergaben…?« »Ungefähr ebenso wenig wie frühere Erkundigungen.« »Und dennoch kommst du artig nach Hause und opferst deine eigene Zukunft, um in einer Ecke zu sitzen und die Illusionen deines Vaters zu teilen.«

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Erik Reynold bewegte unmutig den Kopf, als ob sein Kragen zu eng geworden wäre. »Ich habe ja nicht gesagt, dass ich an die Sache glaube. Aber ich lasse meinen Vater nicht im Stich, wenn er mich nötig hat.« Colt lachte wieder, und der leicht berauschte Erik glaubte verfehlte Ironie in dem dunklen, schmalen Antlitz zu gewahren. »Im Übrigen begreife ich nicht, warum du unbedingt willst, dass ich wieder abreise!«, rief er aus. »Ich hatte dich ja noch nie gesehen, als wir uns vor drei Wochen in Amsterdam kennenlernten.« »Well my boy, erstens sind wir doch nicht umsonst Kollegen. Allerdings warst du Grubeningenieur in Algier und ich Wegebauer in Südafrika, aber immerhin … Außerdem seh’ ich nicht gern, dass ein junger Mann so unpraktisch ist wie du. Ich wollte dir einen freundschaftlichen Anstoß in die richtige Richtung versetzen – das ist alles.« »Ich lass mich nicht gern anstoßen«, murmelte Erik und winkte dem Kellner. Sie bezahlten und verließen schweigend das Lokal.

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Colt war kühl und gelassen wie immer, während die Bewegung nach dem langen Stillsitzen auf Reynold einwirkte, so dass er lachende Mädchengesichter und strahlend erleuchtete Tramwagen wie durch einen Schleier sah. Colt ging auf sein eigenes kleines graues Sportauto zu. »Und die nächste Station?«, fragte er. »Es kommt mir vor, als ob wir heute Abend schon genug erlebt haben«, erwiderte Erik. »Ich stimme fürs Hotel.« »Mir soll’s recht sein.« Colt fuhr langsam und sah aus, als ob er tief nachdachte. Erst nach einer Weile fragte er plötzlich: »Was war das für ein Vorfall in Uppsala?« Die Frage kam so unerwartet, dass Erik ihn betroffen ansah. »Oh, du brauchst natürlich nicht zu antworten, wenn du es nicht willst«, fuhr Colt lächelnd fort. »Aber du hast schon mehrfach auf die Sache angespielt, und ich bin bekanntlich ein neugieriger Mensch. Außerdem mach’ ich selbst so oft dumme Streiche, dass es mich freut, wenn andere es auch tun.« 23


»Ich weiß nicht recht, ob Skandal oder dummer Streich das richtige Wort dafür ist«, erwiderte Erik zögernd. »Aber es war ein sehr unangenehmer Vorfall. Ich war damals dreiundzwanzig Jahre alt und studierte in Uppsala Mineralogie. Mag sein, dass ich ein bisschen wild war. Meine Clique gehörte nicht zu den zahmsten. Aber was sich schließlich ereignete, war gänzlich unvorhergesehen. Nach einem großen Universitätsfest war ich nach Hause gegangen und fest eingeschlafen. Eine Stunde darauf kam ein Student in mein Zimmer herein, um irgendeinen Unfug zu machen. Da sprang ich auf, hob einen Stuhl empor, jagte ihn die Treppe hinab und versetzte ihm zum Schluss einen so furchtbaren Schlag über den Kopf, dass er besinnungslos liegen blieb. Er musste ins Krankenhaus gebracht werden – aber nun kommt das Merkwürdige: Ich war wieder zu Bett gegangen, sobald ich ihn niedergeschlagen hatte, und als ich frühmorgens geweckt wurde, hatte ich keine Erinnerung mehr an den Vorfall.« Colt warf ihm einen scharfen Blick zu. »Wirklich nicht?«

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»Nein, ich hatte es im Schlaf getan. Es wundert mich nicht, dass du es bezweifelst. Das tat man in Uppsala auch. Ich war mit offenen Augen aufgestanden und hatte sogar mit ihm gesprochen, aber dass ich mich in somnambulem Zustand befand, ist Tatsache. Als Kind, bis zu meinem fünfzehnten Jahr, habe ich oft geschlafwandelt, einmal fand man mich oben auf einem hohen Schrank, ohne dass ich wusste, wie ich dahinaufgekommen war. Später glaubte ich meinen Somnambulismus überwunden zu haben, aber jenes Ereignis in Uppsala war ein heftiger Rückfall. Meine Erklärungen fanden keinen Glauben. Man betrachtete mich als einen Unhold, der im Rausch einen Kameraden überfallen hatte. Meine Stellung wurde unerträglich. Deshalb brach ich mein Studium in Uppsala ab, machte meinen Dr. ing. in Stockholm und begab mich ins Ausland. In den algerischen Kupferminen fand ich dann Arbeit, die mir zusagte, und dort bin ich drei Jahre lang geblieben.« Er sprach leise und hastig, als ob es ihn drängte, endlich einmal auszusprechen, worüber er so oft und bitterlich gegrübelt hatte. Colts Augen hingen unver-

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wandt an einem Radfahrer, der in Schlangenwindungen vor dem Auto hin und her fuhr. »Hast du noch mehr solche Rückfälle gehabt?«, fragte er schließlich. Die Antwort ließ auf sich warten. 1

»Ja, als ich in Constantine war«, sagte Erik mit sichtlichem Widerstreben, denn er bereute seine Beichte bereits. »Ein Einbrecher kletterte nachts, während ich schlief, zum Fenster herein. Da soll ich mich wie ein Tiger auf ihn gestürzt haben. Glücklicherweise kamen infolge des Lärms sofort Leute angelaufen und rissen uns auseinander, sonst hätte ich ihn vielleicht erwürgt. Er war halb tot, als ich erwachte und ihn von Menschen umringt am Boden liegen sah.« Bei der Erinnerung an dieses Erwachen schauderte er, und sein Ton rief bei Colt ein halb zynisches, halb mitleidiges Lächeln hervor. »Nimm es nicht so ernst«, sagte er. »Solche Fälle erregen in Algier sicherlich weit weniger Aufsehen als in Uppsala.« 1 Drittgrößte Stadt Algeriens

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»Oh, man beglückwünschte mich wegen meines Muts, denn der Kerl hatte ein Messer bei sich. Aber es ist eine schreckliche Sache, sich selbst nicht zu kennen, Colt. Die Macht des Unterbewusstseins lockt und beunruhigt mich. Bin ich ein anderer Mensch, wenn ich schlafe? Ein primitiveres Geschöpf, wenn mein wacher Wille abgekoppelt ist? Welch ein demütigender Gedanke!« Colt drehte den Kopf und betrachtete den jüngeren Mann mit spöttischer Miene. »Man tut fortwährend, was man nicht will«, sagte er. »Für mich selbst habe ich eine sehr praktische Formel gefunden – nämlich stets zu wollen was ich tue. Das beugt inneren Konflikten vor.« 2

Das Auto näherte sich der Vasagatan und machte dann plötzlich an ihrer Ecke halt. Colt saß mit beiden Händen am Lenkrad und starrte zu dem Hotel hinüber. »Was nun?«, fragte Erik. »Weshalb hältst du denn hier und nicht vor unserem Hotel?« 2 Zentrale Straße in Stockholm, benannt nach dem alten schwedischen Königshaus Wasa.

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Colt lenkte das Auto rückwärts in eine Nebenstraße. Dann lachte er und erwiderte: »Ich hatte eine Vision von heißen, staubigen Hotelzimmern. Freiwillig gehe ich in einer Nacht wie dieser nicht in den Stall hinein. – Lass uns wie freie Männer übernachten, und nicht wie das Vieh!« Er drehte um und fuhr denselben Weg zurück, den sie gekommen waren. Reynold atmete die milde Nachtluft in tiefen Zügen ein. »Wohl gesprochen«, sagte er. »Deine Eingebungen sind ebenso glücklich wie plötzlich. Aber wohin?« »Along the road to anywhere, the wide world at our feet«, zitierte der andere, und seine Augen blitzten. Erik Reynold lehnte sich befriedigt zurück. Der starke Luftzug erfrischte ihn, denn Colt, der nun die Richtung nach Norden eingeschlagen hatte, fuhr schnell und immer schneller. »Hoffentlich sind hier jetzt keine Polizisten!«, bemerkte Erik, als eine ferne Turmuhr auftauchte. Es war schon nach Mitternacht. Bald wurde die Gegend ländlicher. Ein leiser Wind wehte aus Osten. Der kommt von den Inseln, dachte Erik, von Jägarö, dem einzigen Be28


sitz der Familie Reynold, nachdem im Lauf der beiden letzten Jahrhunderte alles andere im Zeichen jenes verhängnisvollen Erbschatzes draufgegangen war. Erik hatte seinen Vater seit vier Jahren nicht gesehen und wäre noch in Algier geblieben, wenn ein Brief seines Vaters ihn nicht beunruhigt hätte. Zwar war seine Cousine Marta Hegelius seit einiger Zeit ganz nach Jägarö übergesiedelt und eine Stütze für den alten Herrn, aber jener Brief erzählte von schweren Sorgen und der drohenden Gefahr, Jägarö verkaufen zu müssen. Unter diesen Umständen war es wohl kein Wunder, dass Hugo Reynold sich in die uralten Aussichten auf die Riesenerbschaft geflüchtet hatte. Er schrieb, dass er glaube, einen neuen Leitfaden gefunden zu haben, und bat, Erik möge nach Hause kommen und unterwegs gewisse, genau angegebene Nachforschungen anstellen. Das mochte der Sohn ihm nicht abschlagen, obgleich er sich keinerlei Hoffnungen machte und dem alten aussichtslosen Problem so ablehnend gegenüberstand, dass er dem Wiedersehen mit seinem Vater mit starkem Unbehagen entgegensah.

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Das Auto raste weiter gen Norden. Jetzt führte der Weg bereits zwischen dichten Laubmassen hindurch, und Colt begann allmählich langsamer zu fahren, um sich zu orientieren. An einer Kurve hielt er an und spähte stumm vor sich hin. Der Motor summte leise. In der Ferne lärmte ein Motorrad, schien aber einen anderen Weg einzuschlagen, denn bald erstarb das Geräusch. Zu Eriks Verwunderung hatte Colts Gesicht einen gespannten, wachsamen Ausdruck angenommen. »Siehst du irgendetwas?«, lachte Erik. »Fürchtest du dich im Dunkeln?« Mit einem Ruck setzte Colt den Wagen wieder in Gang. »Im Gegenteil!«, sagte er. »Mit Dunkelheit und dem Meer hab’ ich gern zu tun. Aber das, was sich im Dunkeln und im Meer befindet, ist zuweilen gefährlich.« »Meinst du damit in diesem Fall Spuk oder Haifische?« Colt hockte gebückt hinterm Rad, und seine Stimme klang matt, als er entgegnete: »Die Nacht hat tausend Augen – und einige von ihnen sind feindselig.« 30


Erik konnte sein Gesicht nicht sehen und begriff ihn nicht recht. Es schoss ihm mit einem Mal durch den Kopf, dass er Colts Äußerungen und Benehmen oft völlig verständnislos gegenüberstand. Er wusste auch immer noch nicht recht, ob er ihm Sympathie oder Antipathie einflößte. Ihre erste Begegnung in Amsterdam war freundlicher Natur gewesen, denn als Fachgenossen hatten sie einander manches Interessante zu sagen, und Colt hatte sich von seiner besten Seite gezeigt: fröhlich, nett, gewandt und kameradschaftlich hilfsbereit. Als er von Eriks Vorhaben und Plänen hörte, wurde er geradezu erregt: »Unsinn und Wahnsinn! In Ihrem Alter denkt man an seine Zukunft und nicht an veralteten Aberglauben!« Er versicherte, dass er dank seinen Verbindungen imstande sei, Reynold sofort eine glänzende Anstellung bei einer Minengesellschaft in 3 Transvaal zu verschaffen, wenn er sich gleich nach London begeben und in dem dortigen Kontor vorstellen wollte. Darauf wäre Reynold beinah eingegangen, lehnte dann aber doch aus Rücksicht auf seinen Vater ab. »Es ist besser, in Wirklichkeit Gold zu graben, als in 3 Von 1910 bis 1994 eine der vier Provinzen Südafrikas

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der Phantasie!«, sagte Colt, der immer wieder auf seinen Vorschlag zurückkam. Aber Erik hatte nun einmal beschlossen, heimzukehren, und da Colt auch nach Stockholm reiste, entspannen sich unterwegs endlose Gespräche über Pflichten sich selbst oder anderen gegenüber. Colts Beharrlichkeit setzte Erik in Erstaunen und begann nach drei Tagen in Stockholm geradezu lästig zu werden, als ihm die Augen über die minder anziehenden Seiten von Colts Natur aufgingen – über seinen rücksichtslosen Egoismus und die brutale Verachtung gegenüber den Rechten und Ansichten anderer Leute. Das Auto sauste einen langen Hügel hinab. Erik richtete sich auf und gähnte. »Sind wir nun bald in Russland?«, murmelte er. »Selbst schwüle Hotelzimmer haben ihre Vorzüge. Sie stehen still und enthalten Betten.« »Die Fahrt ist zu Ende«, erwiderte Colt und stoppte. »Dein Bett erwartet dich in zwanzig Meter Entfernung.«

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Erik merkte erst jetzt, dass sie vor einem Staket hielten, hinter dem zwischen Bäumen hindurch eine Villa zu sehen war. »Hier? Aber es ist ja dunkel und zu!«

»Natürlich, da niemand zu Hause ist. Mach’ die Pforte auf, damit ich hineinfahren kann.« Nachdem er zaudernd gehorcht und die Pforte wieder geschlossen hatte, ging Erik den Kiesweg hinauf. Colt hatte die Autolampen abgestellt. Jetzt stand er mit den Händen in den Taschen und betrachtete das hübsche, zweistöckige Haus. Dann holte er einen Schlüsselbund hervor und begab sich zur Rückseite. »Küchentüren lassen sich leichter überreden«, sagte er. »Aber – bist du hier schon mal gewesen?« »Merkst du denn nicht, dass ich mich hier ganz zu Hause fühle?« »Wem gehört denn die Villa?« »Einem guten Freund von mir.« Colt probierte einen Schlüssel nach dem anderen aus. »Einem Künst4 Lattenzaun

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ler – Fingal Renberg. Du kennst ihn vielleicht. Er ist jetzt in Italien.« »Aber …« »Oh, ihm wird es recht sein, wenn wir hier ungeladen zu Gaste kommen. Er hat mich sogar dazu aufgefordert. Du brauchst dir also keine Gewissensbisse zu machen, old man!« Erik lachte. Er hatte nichts gegen dieses Abenteuer einzuwenden, das ihn an ausgelassene Studententage erinnerte. Sie betraten einen dunklen Gang, der zur Vorhalle führte, in der Colt den Lichtkreis seiner Taschenlampe tanzen ließ. »Die Treppe hinauf!«, kommandierte er. »Die Schlafzimmer sind oben.« Sie stiegen die breite, teppichbelegte Treppe hinauf und befanden sich nun in einem Flur, der am äußersten Ende ein Fenster aufwies. An den Wänden prangte eine reichhaltige Sammlung von Stoßwaffen verschiedener Zeitalter: Pallasche, Speere, malaiische Krise, arabische Chandschare, türkische Krummsäbel, Duellwaffen, Assagais und japanische Schwerter.

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»Das ist ja ein kriegerischer Künstler!«, bemerkte Erik, als sie das nächste Zimmer betraten. »Und reich muss er auch sein«, fügte er hinzu, als er den Lichtschalter gefunden hatte und sich in dem eleganten Rauchzimmer mit seinen schweren Klubsesseln umsah, während Colt auf das Fenster zuging, hinausblickte und dann die Gardinen vorzog. »Wenigstens dürfte er guten Whisky haben«, entgegnete er und fand denn auch bald in einem Wandschrank eine Flasche, zwei Gläser und einen Siphon, die er auf den Tisch stellte. Sie ließen sich nieder und tranken, aber das Gespräch wollte nicht recht in Gang kommen. Colt war zerstreut, begann eine abenteuerliche Geschichte aus 5 Betschuanaland zu erzählen und verstummte, bevor sie zu Ende war. »Du fährst also morgen mit dem Zwölfuhr-Dampfer nach Jägarö?«, fragte er dann ganz unvermittelt und stand auf, als Erik bejahte. »Ich glaube, wir sind reif 5 War vor der Unabhängigkeit Botswanas (1966) ein britisches Protektorat.

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zum Schlafengehen«, sagte er und blickte mit dem Glas in der Hand auf Erik hinab. »Ein Hoch auf die Reynoldschen Milliarden! Möchten sie bald in die rechten Hände gelangen!«

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II.

E

s war sieben Uhr morgens, als Erik erwachte. Sein Bewusstsein wogte in panischem Schreck vor irgendeinem fürchterlichen bösen Traum empor, und er warf sich unruhig im Bett hin und her. Die Traumbilder erbleichten allmählich, aber eine Szene hielt hartnäckig stand: Er hatte barfuß auf dem kühlen Fußboden gestanden … er war furchtbar erregt gewesen … vor ihm lag eine regungslose menschliche Gestalt mit dem Gesicht nach unten am Boden … ein unbekannter Mann in braunem Anzug … tot! Schaudernd streckte Erik die Arme von sich. Der alte Angsttraum, getötet zu haben, hatte ihn wieder befallen – natürlich weil von seinem Somnambulismus die Rede gewesen war! Das Herz pochte noch heftig, und sein Mund war heiß und trocken – sie hatten gestern wohl auch reichlich viel getrunken. Unwillkürlich öffnete er die Augen und sah sich nach Wasser um.

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Keine Karaffe zu sehen! Auch die Möbel waren ihm fremd, und das Fenster befand sich nicht da, wo er es erwartet hatte. Ach ja, er lag ja in einem fremden Hause, dessen Besitzer er weder kannte noch je gesehen hatte. Alles war still. Im Nebenzimmer lag Colt und schlief. Die ganze Situation, die ihm gestern spaßig vorgekommen war, erschien ihm jetzt unbehaglich. Er beschloss, sofort aufzustehen und die Villa zu verlassen, sobald er Colt dazu bewegen konnte. Nun saß er auf dem Bettrand und hob die rechte Hand, um sein wirres Haar zurückzustreichen, aber mit einem mal stockte diese Geste, und er sperrte die Finger auseinander. Zwischen Daumen und Zeigefinger war die Haut rau und gerötet, wie von einer dünnen, dunkeln Kruste. Er untersuchte die Hand, ohne irgendeine Wunde entdecken zu können. Dass sie am Abend zuvor nicht dagewesen war, wusste er bestimmt. Mit steigendem Unbehagen warf er einen Blick auf seine nachlässig beiseite geworfenen Kleider und stand rasch auf. Da trat er auf einen Metallgegenstand, der halb unterm Bett lag, und hob ihn auf, um ihn verwundert zu 38


betrachten. Es war ein spanischer Degen mit Toledoklinge und schalenförmigem, mit Gold und Perlmutter eingelegtem, durchbrochenem Griff. Aber die Klinge war nicht blank. Sie war … wie von einer unsichtbaren Macht geschleudert stand Erik plötzlich mitten im Zimmer. Sein Herz benahm sich wie ein schlechter Motor, setzte ein paar Schläge aus, um dann wieder heftig und ungleichmäßig zu klopfen. Ein kalter, unbarmherziger Lichtstrahl durchschoss sein noch halb benebeltes Gehirn. Dies war kein Traum. Er war wach! Er hatte geträumt, aber jetzt war er wach. Geträumt? Hatte er wirklich geträumt? Ein Stöhnen entrang sich seiner Brust: was er im Traum gesehen zu haben glaubte – es war der Flur jenseits der Tür! Blindlings tastete er sich zur Tür hin. Er wollte sie nicht öffnen, tat es aber doch, hastig und unsicher. Er wollte nicht in die Richtung sehen, aber er tat es: Mitten im Gang lag etwas Regungsloses auf dem staubigen Linoleum. Ein Mensch lag da – unnatürlich zusammengekrochen, mit dem Gesicht nach unten. Ein kleiner

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Mann in braunem Anzug. Nach einem vollkommen unermesslichen Zeitraum bemerkte Erik noch etwas anderes. In der Staubschicht auf dem bläulichen Linoleum waren deutliche Spuren seiner eigenen nackten Füße zu sehen in einer doppelten Reihenfolge, hin und wieder zurück. Ein erstickendes Gefühl unsagbarer Hilflosigkeit übermannte ihn. Er musste sich am Türpfosten stützen. Der Unbekannte hatte kurzgeschnittenes braunes Haar. Der linke Arm war lang ausgestreckt. Daneben lag eine Taschenlampe. Und er regte sich nicht. Er lag ganz still. Erik rannte quer über den Flur und klopfte an Colts Tür. Er wollte sie nicht öffnen, aber sie ging gleich auf, und Colt stand auf der Schwelle. Er war noch in Hemdsärmeln und band eben seinen Schlips um. »Colt«, stammelte Erik, »als ich – soeben aufwachte – ich träumte, der Degen lag unter meinem Bett.« Er fuhr fort, zusammenhanglose Worte zu stottern. Colts Augen weiteten sich langsam. Sie wanderten zwischen dem Degen in Eriks Hand und der am Boden 40


liegenden Gestalt hin und her. Plötzlich ging Colt rasch auf sie zu und beugte darüber. Erik, der ihm folgte, sah, dass der Unbekannte einen kurzen, dunkeln Schnurrbart hatte. Die rechte Hand war zur Hälfte vom Körper bedeckt und umfasste einen Revolver. Colt blickte zu seinem Kameraden auf. »Tot?«, wisperte dieser. »Ja. Von hinten erstochen, zwischen den Schulterblättern.« Colt deutete auf die Fußspuren im Staub. »Du siehst – es nutzt nichts, die Wahrheit zu verleugnen. Du hast einmal zu oft geschlafwandelt.« Erik ließ den Degen fallen und drehte sich um. Im Schlafzimmer sank er auf einen Stuhl nieder und suchte ein Ohnmachtsgefühl zu bekämpfen. Es war also geschehen. Was er insgeheim befürchtet hatte, war zur stahlharten Gewissheit geworden. Er hatte einen Menschen getötet … Jetzt erschien Colt in der Tür. Er hatte sich fertig angezogen und seine Fahrhandschuhe geholt. Er sprach knapp und energisch. »Reiß dich zusammen,

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wir müssen so rasch wie möglich von hier fort, ich werde dir beistehen!« »Aber sage mir … wer … Wer ist … Vielleicht der …« »Nein, der Besitzer der Villa ist es nicht. Ich kenne den Mann nicht. Er scheint sich durch die Küchentür eingeschlichen zu haben.« »Meinst du, dass es … ein Einbrecher …« »Er sieht so aus. Hast du gesehen, dass er einen geladenen Revolver hatte? Es war keine ungefährliche Begegnung für dich, als du diese Nacht im Schlaf herum gewandert bist. Es ist sogar geradezu die Frage, ob du nicht gehandelt hast, um dich zu verteidigen.« »Hast du irgendetwas gehört?« »Nein, ich schlief wie ein Stein.« Ein Dieb … ein Einbrecher? Der Gedanke wirkte wie ein beschwichtigendes Betäubungsmittel auf Erik ein. Seine aufrührerischen Nerven begannen sich allmählich zu beruhigen. Der Mann war also vielleicht einer von den nächtlichen Marodeuren, die leerstehende Villen heimsuchen? Im Schlaf hatte Erik ihn im Hause 42


herumschleichen hören … Schlafend war er aufgestanden, hatte den Mann auf dem Flur überrascht, eine Waffe von der Wand herabgerissen und ihn angegriffen? Das war mehr als wahrscheinlich, war die einzige denkbare Erklärung. Aber nichts konnte die entsetzliche Wahrheit vermindern oder bemänteln, dass er einen Menschen getötet hatte! »Zieh dich an!«, sagte Colt. »Sorge dafür, dass du keine Fingerabdrücke hinterlässt, wasch dir gründlich die Hände, lass das Wasser rinnen, trockne dich mit deinem Taschentuch ab und rühre dann nichts mehr an!« Dabei zog er selbst seine Handschuhe an, holte ein Handtuch, das er anfeuchtete, und rieb alles damit ab, was sie angefasst hatten: Gläser, Flaschen, Tischplatte, Türgriffe und Degengriff. Er ging langsam herum und musterte alles, riss sogar das Bettzeug auseinander. Dann lief er nach unten und kehrte mit einem triefenden Scheuerbesen zurück, mit dem er die verräterischen Fußspuren rasch und gründlich beseitigte. Nachdem er sich noch einmal genau umgesehen hatte,

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gab er sich zufrieden und fragte: »Bist du fertig? Dann komm!« Erik gehorchte willenlos, mit einer dumpfen Empfindung demütiger Dankbarkeit gegenüber Colt, der ohne Zögern den Befehl übernommen hatte. Er warf noch einen scheuen Blick auf den Toten. »Müssten wir nicht… irgendwie…« »Den müssen wir liegen lassen, so wie er liegt. Seine Taschen sind leer. Der Degen muss auch bleiben, wo er hingefallen ist.« Er deutete auf die leere Stelle an der Wand. »Zwei namenlose Eindringlinge, die in Streit gerieten, verstehst du? Der eine bleibt, der andere flieht. Dass wir diese Nacht hier waren, braucht niemand zu wissen. Verlass dich auf mich! Ich habe alles genau überlegt.« Sie verließen eilends das Haus. Während Colt die Hintertür abschloss und sich mit dem Auto beschäftigte, schlenkerte Erik zur Pforte hinab. Kein Mensch war zu sehen. Die Sonne war bereits vor vier Stunden aufgegangen, das Himmelsgewölbe hoch und blau, aber Erik fröstelte trotz der warmen Luft. Nichts hätte ihn 44


dazu gebracht, sich umzudrehen und zu den Fenstern der Villa emporzublicken, obwohl seine Gedanken beharrlich dorthin zurückwanderten – die Treppe hinauf – in den Gang hinein … Würde er jemals wieder schlafen können? Plötzlich wurde es ihm klar, dass er bisher kaum begonnen hatte, über das Geschehene nachzudenken. Wie sollte er die Sturzflut an Gedanken aushalten? Colt fuhr auf die Landstraße hinaus. Erik schloss die Pforte und wollte einsteigen, als er Colt suchend außen am Gitter entlanggehen sah, wo sehr hohes Gras stand. Vor ein paar Büschen blieb er stehen und deutete stumm mit der Hand auf ein leichtes Motorrad, das zwischen den dichten Zweigen stand. »Seins?«, rief Erik aus. »Natürlich! Wem sollte es sonst gehören? Ein allzu gefährlicher Fingerzeig, um ihn hier zu lassen.« »Aber… ein Einbrecher mit Motorrad …?« »Darin sehe ich nichts Befremdendes.« Colt runzelte nachdenklich die Stirn. »Wir müssen es mitnehmen.« 45


»Wohin denn?« »Ich habe eine Idee. Hilf mir, das Ding ins Auto hineinzuheben!« Mit vereinten Kräften gelang es, aber Erik fand, dass es bedenklich auffallend aussähe, und wollte sich nicht daneben setzen. »Nein! Das tu’ ich nicht. Es ist zu dummdreist.« »Ach was, bis jetzt hat uns doch niemand beachtet. Halt es fest! Du wirst es bald loswerden, aber hier darf es nicht bleiben. Dummdreist?«, höhnte Colt. »Wenn schon! Jetzt muss alles rasch und dummdreist gemacht werden.« Fast lautlos entfernte sich das Auto. Sie ließen Stockholm immer weiter hinter sich. Dann und wann waren Häuser zu sehen, aber nirgends Menschen. Nach einer Stunde erreichten sie einen kleinen See. Da hielt Colt still, hob das Motorrad allein heraus, führte es mit fester Hand den steilen Strand hinab und ließ es ins Wasser hineinfahren. Ein Aufrauschen, und es war verschwunden. Als das Wasser sich wieder glättete, war nichts mehr davon zu sehen. Colt lachte mit 46


schmalen Lippen, als er das Auto rasch wieder in Gang setzte. »Meiner Ansicht nach wird die Polizei Sherlock Holmes zu Hilfe rufen müssen, wenn sie das Rad haben will.« »Sprich nicht so!«, rief Erik sehr erregt. »Das klingt ja, als ob wir Verbrecher wären … Ich habe es doch nicht mit Bewusstsein getan. Du weißt ja, dass es … ein Unglück war! Ich will mich nicht drücken! Ich werde mich selbst melden!« »Und willst du das Ganze aussagen?« Colts Stimme klang kalt und leise. »Dass wir beide uns in der Villa befanden, lässt sich wohl leicht erklären, was? Du spazierst im Schlaf in einem fremden Haus herum und stichst zufällig einen ganz unbekannten Menschen nieder – ein ganz alltägliches und logisches Ereignis, nicht wahr? Und du erwartest, dass man dir glauben wird?« Der junge Mensch wollte antworten, aber die Zunge klebte ihm am Gaumen. Ihm war, als ob Colt ihn in ein Netz eingeschnürt hätte. »Ich bin nicht schuldig«, stieß er schließlich hervor.

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»Und ich? Bedenke gefälligst, dass ich in derselben Lage bin wie du. Man wird uns natürlich alle beide verhaften. – Eine schöne Geschichte! Nein, danke!« »Sie müssen mir glauben …« Colt sog die Luft zischend zwischen zusammengebissenen Zähnen ein. »Sage mir eins: Bist du jemals von einem Arzt auf Somnambulismus untersucht worden?« »Nein.« Erik senkte den Kopf. »Das widerstrebte mir.« »Und da bildest du dir ein, dass man dir glauben wird? Begreifst du denn nicht, dass eine wahrhafte Erklärung tausendmal zweideutiger als eine unwahre wirken kann? Das kommt oft vor – und ist auch diesmal so!« Colt heftete die Augen auf seinen Begleiter, aber Erik blickte nicht auf. – »Dein Bericht wird wie eine verzweifelte, nach der Tat ersonnene Notlüge wirken. Meines Erachtens wird man dich entweder zu Gefängnis oder zu Zwangsarbeit verurteilen …« »Nein, nein! Das ist unmöglich!« »Glaubst du selbst an eine andere Alternative?« 48


Erik krampfte die Hände zusammen, so dass die Knöchel weiß hervortraten. Selbst in den ersten entsetzlichen Minuten war seine Lage ihm nicht so hoffnungslos erschienen. Colt hatte Recht. Wie konnten sie beweisen, dass Erik in somnambulem Zustand gehandelt hatte? Man hatte ja nichts weiter als sein Wort, dass es so zugegangen war. Alle Einzelheiten des Vorfalls zeugten gegen ihn. Eine unsichtbare, mächtige und übelwollende Intelligenz schien ihn mit teuflischer List zu der Tat verleitet und mit ihr verstrickt zu haben … »Denk’ auch an deinen Vater«, fuhr Colt in milderem Ton fort. »Was würde es nutzen, wenn du deine Freiheit und seine Gemütsruhe opfertest – von mir ganz abgesehen? Sei nun verständig, alter Junge, und lass dir von mir helfen!« Erik machte eine matte Bewegung. Seine aufflammende Entschlossenheit verging, und er war zu keinen einzigen klaren und befreienden Gedanken fähig. Colt lenkte das Auto mit fester Hand, immer noch nordwärts.

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»Willst du nicht nach Stockholm fahren?«, fragte Erik. »Doch! Aber auf anderem Wege.« Sie waren in den letzten Minuten mehreren Autos begegnet. Sofort schwenkte Colt in den nächsten Nebenweg ein. Er warf einen forschenden Blick auf Erik. »Na? Hast du dich entschlossen? Sehnst du dich immer noch nach der Fürsorge der Polizei?« Er erhielt keine Antwort, sah aber dennoch erleichtert aus, denn Eriks ganze Haltung sagte ihm genug. Eine Zeitlang saßen sie stumm nebeneinander. Der Weg schlängelte sich allmählich nach Stockholm zurück. »In Schweden kannst du jetzt nicht bleiben«, sagte Colt plötzlich. »Du musst über alle Berge sein, bevor die Leiche gefunden und die Untersuchung begonnen wird.« »Nicht hierbleiben?«, fuhr Erik auf. »Außer Landes gehen, meinst du?« »Ja, natürlich. Du reist umgehend nach London, stellst dich im Kontor der Grubengesellschaft vor, und 50


dann – ab nach Kapstadt mit dem ersten Schiff. Südafrika war und bleibt bis zuletzt deine beste Chance.« Colts Stimme nahm einen fast triumphierenden Ton an, der Erik unangenehm berührte. Er versuchte Einwendungen zu machen, aber der ältere Mann unterbrach ihn: »Dass du die Anstellung erhältst, garantiere ich. Zwangsarbeit oder Freiheit – fällt dir die Wahl so schwer?« »Aber mein Vater…« »Ja – gerade seinetwegen. Lass ihn gar nicht erfahren, dass du hier gewesen bist. Nach einigen Jahren, wenn dies nächtliche Vorkommnis vergessen ist, kommst du dann wieder.« Eriks Gedanken kehrten zu der einsamen Villa und deren einsamen, stillen Gast zurück, und es durchschauerte ihn. Er verbarg das Gesicht in den Händen und saß eine ganze Weile stumm und gebeugt. Dann hob er langsam den Kopf. »Du hast recht«, murmelte er. »Ich muss … ich muss …«

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III.

I

n Stockholm angekommen, hielt Colt vor einem Restaurant auf der Drottninggatan, nahm Erik mit hinein und bestellte Frühstück. Erik vermochte keinen Bissen hinunterzuschlucken, aber Colt aß mit gutem Appetit. Sein dunkles Gesicht verriet keine Spur von Gemütsbewegung. Er hatte ein Kursbuch hervorgezogen und studierte es eifrig. »12.38 Uhr geht ein Zug nach Göteborg ab«, sagte er. »Mit dem fährst du. Sobald du an Bord des Londoner Dampfers bist, kannst du dich dann als gerettet betrachten. Ein Glück, dass ich dich wenigstens dazu gebracht habe, dir einen Pass zu besorgen!« Er trank seinen Kaffee aus, ohne den Blick von Erik abzuwenden. »Du bleibst noch ein Weilchen hier, begibst dich dann zum Bahnhofspark und erwartest mich da. Im Hotel darfst du dich nicht mehr zeigen. Ich fahre jetzt hin, packe alles für dich ein – du hast doch nur die große Handtasche dabei, nicht wahr? Da sieht man 52


mal wieder, wie praktisch es ist, mit leichtem Gepäck zu reisen.« Er lachte zynisch. »Ich werde sagen, ich müsste heute Abend einer wichtigen Angelegenheit wegen mit dir nach Gävle fahren. Das erklärt dann unsere Abwesenheit.« Er ging, und nach einer Viertelstunde bezahlte Erik und begab sich auch auf den Weg. Wie im Traum befolgte er Colts Vorschriften. Er kam sich wie ein Gefangener vor und war doch nicht imstande, sich aus seiner Willenlosigkeit aufzurütteln. Schlaff und gedankenlos saß er auf einer Bank – der Straßenlärm brauste, Kinder spielten um ihn herum – er sah und hörte nicht. Die Uhr schlug elf – dann zwölf. Endlich kam Colt eilig auf seine Bank zu. »Hier ist deine Tasche, und eine Fahrkarte habe ich dir auch besorgt, du brauchst also nur in den Zug zu steigen.« Sie gingen zusammen zum Bahnhof, ohne ein Wort zu sprechen, und erst auf dem Bahnsteig fragte Erik plötzlich: »Und du selbst? Was gedenkst du zu tun?«

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Die Lokomotive entsandte eine zischende Dampfsäule. Colt betrachtete sie nachdenklich. »Ich habe eine Arbeit, die bereits auf mich wartet. Unsere Wege trennen sich hier, und wir werden uns vermutlich nie wiedersehen. Du hast jedenfalls nichts zu bereuen – leb’ wohl!« Erik drückte ihm die Hand und stieg ein. Vom Fenster aus gewahrte er noch einmal den Mann, der ihm zur Flucht verhelfen hatte. Colt stand mit beiden Händen in den Taschen und begegnete seinem Blick, ohne zu lächeln. Dann setzte sich der Zug in Bewegung und glitt zur Halle hinaus. Colt verschwand – und Erik blieb sich selbst überlassen … Als er dem Freund zum Abschied die Hand drückte, war sein Herz voll aufrichtiger Dankbarkeit gewesen. Colt hatte viel gewagt, um ihn zu retten, und die kaltblütige Entschlossenheit des älteren Mannes flößte ihm Bewunderung ein. 6

Aber als er im Coupé aufatmete und über seine Lage nachzudenken begann, merkte er zu seiner Ver6 Bahnabteil

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wunderung, dass diese Stimmung sich zu verwandeln begann. Eine sonderbare, ihm selbst unerklärliche innere Regung durchwogte ihn. Der Kontakt mit einem stärkeren Willen war unterbrochen, und sein eigener Wille hatte wieder freie Bahn. Er versuchte, aufrichtig gegen sich selbst zu sein – und sah ein, dass er sich durch die Trennung von Colt erleichtert fühlte. Ein seelischer Druck war gewichen, und seine eigene Persönlichkeit kam wieder unbehindert zur Geltung. Und sofort erwachte ein Zweifel in ihm. Hatte er recht gehandelt? Zum zweiten Mal wandte er seiner Heimat den Rücken unter dem Druck einer Schuld, die er sich nicht bewusst zugezogen hatte. Die Hast, mit der Colt seine Abreise betrieben hatte, kam ihm bereits übertrieben vor – schien ihm sogar ein Selbstsucht geprägt zu sein. Ja, er hatte getötet, aber nicht mit Absicht – nicht mit Vorbedacht. Hatte er überhaupt wirklich getötet? Gab es keine andere Möglichkeit? Nur ungern und scheu befassten sich seine Gedanken mit den Vorkommnissen der vergangenen Nacht – nein, es gab kein Schlupfloch für sein angstvolles Forschen. Der Traum (für den er sie anfangs gehalten hatte), die Fuß55


spuren (die einzigen vorhandenen), der Degen unter seinem Bett, der Blutfleck an seiner Hand … Nein, die entsetzliche Kette hielt stand. Er war schuldig, obwohl unschuldig. Aber barg die Lage nicht noch gefährlichere Tiefen in sich? War jener unselige Unbekannte wirklich ein Einbrecher? Waren Colt und er selbst dort nicht auch wie zwei nächtliche Einbrecher aufgetreten – hatte der Unbekannte vielleicht gültigere Gründe, sich im Hause zu befinden? Das würde Eriks Lage unerhört verschlimmern! Und wenn er unter solchen Verhältnissen die Flucht ergriff, würde nichts ihn reinwaschen können – seine Flucht musste als gleichbedeutend mit einem Bekenntnis betrachtet werden! Ein grauhaariger Herr, der ihm gegenübersaß, beugte sich vor und rückte seine Brille zurecht: »Was ist Ihnen? Sind Sie krank?« »Nein, nein«, Erik erhob sich, ihm wurde bald heiß, bald kalt. »Mir fiel nur eben ein … dass ich etwas vergessen habe!«

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Er trat auf den Gang hinaus: Der Zug hatte die Brücke passiert und stürmte in den Södertunnel hinein. Auf diese Weise zu fliehen, wie ein Verbrecher? Nein, das war ja Wahnsinn! Dadurch verscherzte er die einzige Möglichkeit zu einer freiwilligen, mannhaften Erklärung. Spezialisten würden selbst verständlich bezeugen können, dass somnambule Fälle, wie die seinen, bekannt und vollkommen glaubhaft waren. Er presste die Hände an die Schläfen. Wie die rußigen Tunnelwände sich erhellten, als der Zug sich dem Ausgang näherte, so ging in seinen düsteren Grübeleien allmählich ein Licht aus. Er hatte sich feige benommen. Seine Männlichkeit lehnte sich gegen eine schmachvolle Flucht auf. Nein, er wollte hierbleiben und dem Kommenden die Stirn bieten! Der Zug begann langsamer zu fahren und rumpelte über die kreischenden Weichen der Station Liljeholm. Erik griff nach seiner Handtasche, rannte durch den Gang und sprang ab. Mit einem heißen Hauch von Dampf und Öl glitten die Wagen vorüber. Irgendjemand rief ihm aus dem Fenster nach. 57


Als er über die Schienen schritt, kam ihm ein aufgeregter Bahnbeamter entgegengestürzt. »Sie sind vom Schnellzug abgesprungen? Der fährt ja nach Göteborg!« »Das weiß ich«, erwiderte Erik. »Aber ich habe meine Absicht geändert. Ich fahre nicht mit.«

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IV.

E

rik stand in einem Zigarrenladen und blätterte im Telefonbuch. Die Rubrik Polizei nahm zwei dichtgedruckte Spalten ein. Seine Augen machten bei der Kriminalabteilung (Agnegatan, ganztägig geöffnet) halt. Dort würde sich sein Schicksal früher oder später entscheiden, ob er es wollte oder nicht. Er versuchte sich einzureden, dass er Colts wegen davor zurückscheute. Wo mochte der jetzt sein? Sonderbarerweise hatte er gar keine Lust, wieder mit ihm zusammenzutreffen – ja er war sogar fest entschlossen, es zu vermeiden. Bei ruhiger Überlegung kam Colts angemaßte Bevormundung ihm aufdringlich, ja geradezu brutal vor. Er hätte sie energischer zurückweisen müssen – er war nicht gewohnt, sich fremdem Willen zu fügen! Zerstreut saß er dann lange im Berzelii-Park und rauchte eine Zigarette nach der anderen. In einiger Entfernung schimmerten die weißen Schärendampfer.

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Plötzlich fiel ihm ein, dass eben jetzt eins von diesen Booten nach Jägarö abfuhr. Wie ein Pfeil schoss ihm dieser Gedanke durchs Gehirn und traf ins Schwarze. Das war es ja, wonach er sich die ganze Zeit über unbewusst gesehnt hatte – heimfahren! Den Vater wiedersehen und eine Zuflucht in wohlbekannten, sicheren Mauern finden. Rasch ging er an Bord, nachdem er einem Zeitungsjungen eine Zeitung abgekauft hatte. Er durchflog sie atemlos – nein, nichts! Noch stand die Villa leer und verschlossen und barg das Geheimnis, von dem nur Erik und Colt wussten. Das Glockenzeichen ertönte, und der Dampfer glitt rückwärts ins Meer hinaus. Es war ein heißer Tag, aber bald wehte es rein und frisch vom Meer her und brachte Kühlung. Jetzt überkam es Erik wie eine übermütige Stimmung aus seiner Schulzeit, wenn er bei Ferienbeginn für drei sonnige Monate nach Jägarö hinausfuhr. Was machte ein ungenügendes Zeugnis aus, wenn man nur nach Hause durfte! Aber jetzt handelte es sich um Schlimmeres als eine schlechte Note in Geschichte oder Deutsch … 60


Dennoch – heim! Das machte das Herz leichter. Schon atmete er die wohlbekannte, belebende Salzluft in vollen Zügen ein. Wenn er nur alles in Ruhe überlegen konnte, würde sich schon ein Ausweg finden. Vielleicht vertraute er sich seinem Vater an, der um jenen Vorfall in Uppsala wusste. Hugo Reynold war ein ernster, schweigsamer und vielleicht etwas altmodischer Mann, aber dem Sohn gegenüber hatte er sich stets verständlich und zugänglich wie ein älterer Kamerad gegeben. Oh ja, er würde schon Rat wissen. Ganz unerwartet spürte Erik plötzlich Hunger, ging in die Kajüte hinunter und nahm ein kräftiges Mittagessen zu sich. Die Natur machte ihr Recht geltend. Seit gestern Abend hatte er ja nichts gegessen. Als er fertig war, legte der Dampfer schon in Warholm an. Dort durchfuhr ihn ein heißer Schreck, denn auf der Landungsbrücke standen zwei Polizisten, die jemand oder etwas zu suchen schienen. Aber sie schenkten ihm keine Beachtung, und es war ja auch undenkbar, dass ihr Anliegen etwas mit ihm zu tun haben konnte – vollkommen undenkbar! Selbst wenn der Tote gefunden worden

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war, konnte Eriks Aufenthalt und Identität unmöglich schon bekannt sein! Es sei denn, dass Colt … ihm wurde plötzlich ganz kalt. Ob Colt gesprochen hatte? Dass man das Auto wiedererkannt und Colt verhaftet hatte, war möglich. Ob er die eigene Haut vielleicht durch eine mehr oder minder erzwungene Aussage gerettet hatte? Nein, auch das war undenkbar … Und wenn er selbst es unterließ, sich zu stellen, war es da wahrscheinlich, dass man ihm auf die Spur kommen würde? Kaum. Es waren ja keine Zeugen, keinerlei Indizien irgendwelcher Art vorhanden. Hatte Colt nicht gesagt, nur ein Sherlock Holmes wäre imstande gewesen, sie zu fassen, nachdem er alle Spuren beseitigt hatte? Der Dampfer fuhr an Ostanö vorüber. Die vielen Inseln schienen feierlich vorüber zu segeln, Fjorde taten sich auf – wie genau war das alles Erik Reynold be-

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kannt! Der Wind legte sich, bevor Furusund in Sicht kam. Es wurde bereits Abend, und das Wasser war still und blank. Erik hielt schon eifrig nach den Aggholmen Ausschau. Da waren sie mit ihrem bunten Gestein. Nun stieg Blaskö empor und zur Linken die lange, gekrümmte Küstenlinie. Und als sie um Blaskö herum waren, trat allmählich eine belaubtere Insel mit Feldern und Wiesen hinter den Stranderlen hervor: Jägarö – das Eigentum der Familie Reynold – breitete sich vor Eriks Augen aus. An der Westseite leuchtete wie ein roter Farbklecks das Pächterhaus. Der Dampfer glitt zwischen Inseln und Festland hindurch in den Sund hinein. Jetzt sah Erik das alte verfallene Badehaus, die Landungsbrücke und die Strandschonung mit ihren vor hundert Jahren gepflanzten Birkenreihen – und hinter den weißen Stämmen gewahrte er schließlich das weiße, einstöckige Gebäude mit dem dunkel gewordenen Ziegeldach – das Herrenhaus von Jägarö. 7 Eine Insel in den nördlichen Schären vor Stockholm, die als Sommerresidenz vieler Künstler und Schriftsteller – etwa Astrid Lindgren und August Strindberg –bekannt geworden ist.

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Erik winkte dem Kapitän einen Abschiedsgruß zu und eilte an Land. Auf der Brücke war niemand zu sehen, aber eine weißgekleidete junge Dame kam ihm zwischen den Birken hindurch entgegen. Aha! Das war natürlich Marta Hegelius, seine Cousine. Er schämte sich fast, gar nicht dran gedacht zu haben, dass sie hier jetzt wohnte. Vor acht Jahren hatte er sie zum letzten Mal gesehen, als ihr Vater starb. Die Mutter hatte sie schon früher verloren. Jetzt hatte sie auf Jägarö eine Heimat gefunden und führte dort den Hausstand. Vor einigen Monaten war sie vierundzwanzig Jahre alt geworden – das hatte der Vater ihm geschrieben – und das junge Mädchen hatte keine Ähnlichkeit mit dem langbeinigen Backfisch mit den hängenden Zöpfen, dessen er sich erinnerte. Aber diesen ruhigen, klaren und aufmerksamen Blick hatte nur Marta Hegelius. Sie trug keinen Hut, und ihr Haar glänzte wie ein Bronzehelm in der Abendsonne. »Erik!«, sagte sie mit warmer, froher Stimme. »Willkommen! Endlich kommst du nach Hause!«

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»Guten Tag, Marta.« Es kostete ihm Mühe, ihr in demselben Ton zu antworten. »Ich glaubte kaum, dass du mich wiedererkennen würdest.« »Oh, ich wusste, dass du es warst, bevor du an Land kamst. Wir haben dich ja immerfort erwartet – obwohl du seit dem kurzen Brief aus Paris keine Silbe von dir hören ließest.« »Mea culpa!« Er lächelte matt. »Ich hoffte, schon eher heimkehren zu können, wurde aber – aufgehalten. Wo ist Vater? Doch nicht etwa krank?« »Nein, aber er schläft schon. Er geht jetzt immer früh zu Bett und ist morgens schon oft um vier wieder auf. Er ist sehr gealtert, Erik, und ich fürchte, dass er sich zu sehr mit seinen Schwierigkeiten und Enttäuschungen quält. Er spricht alle Tage von dir – ja du bist für uns zum wichtigsten Gesprächsstoff geworden«, sie lachte, wurde jedoch gleich wieder ernst. »Geh zu ihm hinein. Er schläft nicht fest, und es wird eine große Freude für ihn sein.« Sie näherten sich dem Hause, und Erik setzte sich auf die Bank unter der großen Linde nieder. 65


»Nein«, sagte er, »lass Papa nur schlafen. Ich werde ihn morgen früh begrüßen und ihm dadurch eine vielleicht schlaflose Nacht ersparen. Wie du wohl weißt, komme ich aus Amsterdam, und ich bringe keine wichtigen Aufklärungen mit – gar nichts, was ihn ermutigen könnte. Will er wirklich wieder mit seinen Erbforschungen beginnen?« Das junge Mädchen stand schlank und elastisch vor ihm und betrachtete ihn. »Ja, Erik, und bedenke, dass wir Geduld mit ihm haben müssen. Es ist der eine große Traum seines Lebens. Ich weiß nichts über die neue Idee, auf die er verfallen ist, aber er studiert alte Tagebücher und Familienpapiere, sitzt stundenlang bei seinen Berechnungen und antwortet oft kaum, wenn man ihn anredet.« »Die verdammte alte Sage!«, murmelte Erik. »Und unterdessen geht Jägarö verloren …« »Das weiß ich nicht«, erwiderte sie ruhig. »Es ist eine schwere Aufgabe, aber glaubst du nicht, dass du und ich etwas ausrichten könnten?«

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Er sah auf, und ihr schöner, fester Blick drang tief in sein Bewusstsein ein. »Du verstehst dich daraus, das rechte Wort zu sagen, Marta!« Sein Lächeln war auf einmal wieder ungezwungen, und er empfand den Unterschied, ohne es recht zu merken. Aber auf ihre reine Stirn trat eine nachdenkliche kleine Falte, und sie fuhr fort, ihn zu betrachten. »Du warst immer praktisch«, sagte er. »Ich erinnere mich, dass ich deine Gelassenheit in allen Lagen – selbst wenn ich dich an den Zöpfen riss – immer bewundert habe. Fühlst du dich hier wohl?« »Ja«, erwiderte sie, »sehr!« »Was wäre ohne dich aus Papa geworden! Du und ich müssen unsere klugen Köpfe nun zusammenstecken«, sagte er lebhaft, aber ohne Überzeugung. »Das wird eine unwiderstehliche Kombination ergeben … Falls nichts Unvorhergesehenes geschieht«, entfuhr es ihm wider Willen. »Hast du nicht die Absicht, hierzubleiben?«, fragte sie. »Oh doch! Wenigstens eine Zeitlang.« 67


»Was verstehst du denn unter etwas Unvorhergesehenem?« »Nichts Besonderes.« Ihm war, als ob sie durch ihn hindurch sähe. »Der Mensch denkt und so weiter …« Darauf antwortete sie nicht direkt. »Du siehst müde aus«, sagte sie. »Hast du zu Mittag gegessen?« »Ja, auf dem Dampfer. Der verlorene Sohn verlangt nicht nach Kalbsbraten, sondern sehnt sich nach einem Bett.« »Dein Zimmer ist bereit. Bleib hier sitzen! Ich bringe dir Tee.« Sie ging. Erik lehnte sich gegen den Baum zurück. Es war doch schön, heimzukommen – wie wohltuend war diese liebliche Stille! Die Bäume spiegelten sich im Wasser. Dünne goldene Wolkenstreifen schwebten am westlichen Abendhimmel. Da knirschte der Kies, und eine milde alte Stimme sagte: »Willkommen daheim, junger Herr!« Ein alter Mann in gestrickter Weste und abgenutzter schwarzer Hose stand vor ihm. 68


»Tobias!«, rief Erik erfreut und reichte ihm die Hand. »Ja, nun bin ich wieder da, und alles ist gut, hoffe ich!« Tobias stand schon seit Eriks Kindheit im Dienst des alten Herrn Reynold, und Erik erinnerte sich seiner noch aus den guten alten Zeiten als imposanten Haushofmeister im Frack und weißen Handschuhen. Jetzt zählte er siebzig Jahre, und alles war anders geworden, aber der einfache Anzug war sauber gebürstet, das graue Haar glatt und gepflegt, das Kinn sorgfältig rasiert, und das runzlige Gesicht blickte immer noch so unbeweglich drein, wie es sich für einen korrekten Haushofmeister gehört – aber aus den klaren blauen Augen leuchtete herzliche Freude. »Es ist nur gut, dass Herr Erik wieder hier sind!«, sagte er. »Hier gibt es manches … was sich geändert hat, aber … aber nun wird schon alles gut werden … Ist das hier das ganze Gepäck? Nur eine Handtasche?« »Ja, aber lass nur! Die kann ich selbst hineintragen.« »Das tu’ ich«, beharrte der Alte. »Sonst noch irgendetwas, junger Herr?« 69


»Danke, heute Abend nicht. Und pack’ die Tasche nicht aus. Hier, nimm dir eine Zigarre, Tobias.« »Vielen Dank!« Der Alte steckte die Zigarre in die Brusttasche. Dann zauderte er, mit der Reisetasche in der Hand. »Wollen Herr Erik vielleicht vor dem Schlafengehen noch ein bisschen spazieren gehen?« »Nein, dazu bin ich zu müde. Ich werde mich gleich schlafen legen.« Jetzt kam Marta mit dem Teebrett, und als Tobias sich abwandte, um ins Haus zurückzukehren, kam es Erik vor, als ob er ganz erleichtert ausgesehen hätte. Als er dem Alten nachblickte, hatte er ein Gefühl, als ob Tobias noch mehr Verschwiegenheit als früher an den Tag legte. Während Marta ihm Tee einschenkte, war er fast geneigt sie zu fragen, ob Tobias aus irgendeinem Grund erleichtert sein könnte, dass er keinen Abendspaziergang unternehmen wollte. Aber die Frage kam ihm lächerlich vor, und er schwieg. »Ob Onkel Hugo es uns verzeihen wird, dass er dich nicht schon heute Abend zu sehen bekommt?«, sagte das junge Mädchen. »Er hat dich so eifrig erwartet.« 70


»Ihm entgeht ja nichts durch die Verzögerung. Morgen früh kann ich sein Lieblingsthema dann mit frischen Kräften besprechen, wozu ich jetzt kaum noch imstande wäre.« »War die Reise langweilig?«, fragte Marta. »Die Heimreise ist nie langweilig«, erwiderte er ausweichend. Dann erzählte er ihr von den Olympi8 schen Spielen in Paris und seinen Bemühungen in Amsterdam, aber von Colt sagte er kein Wort und vermied es nach Möglichkeit, an ihn zu denken. Marta blickte auf ihre Tasse nieder. »Hast du Algier nur deshalb verlassen, weil Onkel Hugo dich bat, nach Hause zu kommen?« »Nein, ich würde meine dortige Stellung ohnehin gekündigt haben. Sie bot mir nicht genug Aussichten für meine Zukunft, und ich muss noch anderweitige Erfahrungen für mein Fach sammeln. Hab’ ich davon nichts geschrieben?«

8 Die Olympischen Sommerspiele fanden 1924 von Mai bis Juli in Paris statt.

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»Doch! Aber weißt du denn nicht, wie unersättlich weibliche Neugier ist?«, lachte sie, während sie aufstand. »Aber ich will dich jetzt verschonen, bis du dich ausgeruht hast.« Sie umfasste seine Hand einen Augenblick mit ihren beiden. »Versprich mir, recht lange hierzubleiben!« »Ich hoffe … es zu können«, erwiderte er leise. Oben in seinem Zimmer setzte er sich ans Fenster, ohne die Lampe anzuzünden. Dunkel und regungslos ragten die Bäume empor, und der Himmel wurde zu einem blankpolierten Stahlgewölbe. Sein Kopf sank auf die verschränkten Arme nieder. Wie war er heimgekehrt! Würde er Unglück über sein Vaterhaus bringen? Vielleicht suchte man ihn schon in Stockholm! Heiße Angst befiel ihn. Wie sollte er die Schande überleben, vor den Augen der zwei Menschen, die sich so fest auf ihn verließen, als Übeltäter verhaftet zu werden! »Die Nacht hat tausend Augen …« War es nicht Colt, der das gesagt hatte? … »Und einige von ihnen sind feindselig …« 72


Er begann die Worte zu verstehen.

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Ein Licht geht auf

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I.

D

ie Sonne weckte Erik schon am frühen Morgen. Er hatte gut geschlafen und stand sofort auf. Das Fenster war noch offen, die Luft wirkte wie ein erfrischender Trunk, und nun, da die körperliche Ermüdung verflogen war, fühlte er sich weit besser. Während er sich ankleidete, hörte er unten langsame, wohlbekannte Schritte: Sein Vater. Sein Zimmer lag nach dem Garten zu, der mit seinen Blumen und Gemüsen eine bunte, duftende Welt für sich war. Dort erblickte er Marta. Sie riefen einander fröhlich guten Morgen zu, und dann beeilte er sich, den Vater aufzusuchen. Als er ihn unten im Saal nicht fand, begab Erik sich zu dem großen, dem Meer zugewandten Kiesplatz, wo er jedoch nur Tobias sah, der mit einer Harke arbeitete. »Der gnädige Herr ist im Büro«, sagte der Alte, als er aufblickte. Erik kehrte in die dämmrige Halle zurück, die das Haus in zwei Hälften zerteilte, und öffnete die 75


zum Hof führende Glastür. Dieser Hof war von den zwei Seitenflügeln des Herrenhauses umfasst. Zur Linken lagen die Dienstbotenzimmer und die Küche, im rechten Flügel unter anderem das Büro – früher der Mittelpunkt des täglichen Lebens auf Jägarö –, das nun aber keine Rolle mehr spielte, seit das Gut verpachtet war. Es enthielt ein hohes, altertümliches Pult, viele staubige Borde mit alten Geschäftsbüchern, Pferdegeschirre, ein altes Sofa mit zerrissenem Lederbezug, eine eisenbeschlagene Kiste, eine Lithographie Karls XV. und einen Wandkalender, der den 3. Oktober 1909 aufwies – ein versteinertes, für den ganzen Raum symbolisches Datum. Hier drinnen stand die Zeit still. Als Erik eintrat, stieg sein Vater von seinem hohen Schreibsessel herab und kam ihm mit ausgestreckten Händen entgegen. »Tausendmal willkommen, mein Junge! Du Schlingel, warum bist du nicht gestern Abend gleich zu mir hereingekommen?« Hugo Reynold war kein emotionaler Mensch, aber diesmal klang seine Stimme doch bewegt. Er zählte fünfundfünfzig Jahre und sah älter aus, als er war. Es kam Erik vor, als ob sein Vater kleiner geworden sei, 76


und auch sein Haar war grauer – ja beinah weiß geworden. »Ich wollte dich nicht wecken, Papa. Geht es dir gut?« »Damit hat’s keine Gefahr! Und du selbst? Stämmig wie ein Bär! Das war eine freudige Überraschung, als Marta mir sagte, du lägst sorgsam verwahrt in deinem Zimmer. Ich fing schon an, mir drüber Gedanken zu machen, ob du überhaupt kommen würdest.« »Es trieb mich heim«, sagte Erik. »In deinen Briefen stand allerlei, was mich beunruhigte. Wie steht es nun mit unserem Jägarö, Papa?« Sie hatten sich auf dem Sofa niedergelassen. Hugo Reynold lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen. »Es war richtig, jetzt zu kommen. Bald wird es nicht mehr unser Jägarö sein.« »Es handelt sich um Hypotheken?«, fragte Erik. »Ja. Sie sind zum 1. Oktober gekündigt, und ich habe das Geld nicht beschaffen können.« »Wie hoch ist die Summe?« 77


»Achtzigtausend.« »Das habe ich nicht gewusst!«, murmelte Erik bestürzt. »Hast du denn gar keine Einnahmen – ich meine, bare?« »Nicht der Rede wert. Wie sollte ich dazu kommen? Grundbesitz rentiert sich schlecht. Abgeholzt haben wir ein wenig, aber jetzt ist da nichts mehr zu holen.« »Ich begreife nicht recht. Die Hypotheken sind doch schon solange vorhanden?« »Freilich! Aber die Lage hat sich vollkommen geändert. Die Hypotheken sind dreißig beziehungsweise zwanzig, fünfzehn und zehn Jahre alt. Du erinnerst dich wohl des Kapitäns Eichberg aus Hamra, jenseits des Sunds? Nun, der besaß die Hypotheken – und machte vor einem Jahr Konkurs. Er behielt nur das Herrenhaus mit einigen Morgen Park und Gemüseland übrig. Die Maklerfirma Behrmann & Co. in Stockholm war sein Hauptgläubiger und übernahm auch die Hypotheken. Ich durchschaute den Fuchs noch nicht und ging darauf ein – und am 1. April kündigte er die Hypotheken. Ich habe vergeblich versucht, mir das Geld zu 78


verschaffen. Unter den jetzigen Verhältnissen bedeuten achtzigtausend eine recht unbehagliche Belastung für Jägarö. Grundbesitz ist heutzutage schwer verkäuflich und bringt so gut wie gar nichts. Mit einem Wort, Behrmann hat mich in den Klauen, und in zwei Monaten kommt Jägarö unter den Hammer, es sei denn …« Hugo Reynold stand auf und wandte seinem Sohn den Rücken zu – »… es sei denn, dass ein Wunder geschähe.« »Das klingt ja, als ob du eine gewisse Hoffnung hast?« »Ja, das tu’ ich! Du wirst sie nicht gelten lassen, aber ich weiß, dass sie vorhanden ist.« Diese Worte erweckten bei Erik nur heißen Zorn, nicht gegen seinen Vater, sondern gegen den Geist, der das uralte und verhängnisvolle Erbtrauma der Familie großgezogen hatte. »Lieber Vater, ich weiß, was du meinst, und du weißt, wie ich über die Sache denke. Das sagenhafte Reynoldsche Erbe ist unserer Familie teuer zu stehen gekommen. Eine Generation nach der anderen hat ihre 79


Energie und ihre Einnahmen verschwendet, um es zu erobern, und was haben wir dadurch gewonnen? Enttäuschungen und Demütigungen. Wurden nicht auch die Hypotheken neu aufgenommen, um den letzten, von dir und deiner Schwester unternommenen Versuch zu ermöglichen?« Erik unterbrach sich. Er wollte nicht wiederholen, was man vor zwölf Jahren allgemein gesagt hatte: nämlich, dass es jene Enttäuschung gewesen sei, die Martas Mutter, Ulla Hegelius, getötet habe. Deshalb setzte er nur hinzu: »Du musst mir verzeihen, dass ich nicht ebenso wundergläubig bin wie du.« Er fürchtete, sein Vater könnte sich gekränkt fühlen, aber der alte Herr antwortete nur in fast gutmütig nachsichtigem Ton: »Du hast noch nicht gehört, was ich zu sagen habe. Aber wie ging es denn in Amsterdam? Sag’ mir vor allem: Bestätigt es sich, dass Vriesman geschäftlich mit Schweden zu tun hatte?« »In den Überresten von Mills Büchern stand an einer Stelle geschrieben, dass Kapitän Arwedson Frachtgüter von Vriesman & Mill an B. Reynold, Stockholm,

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verfrachtet habe. Das Datum hab’ ich vergessen, aber ich kann meine Notizen ja holen.« »Warte!«, rief sein Vater eifrig. »Das steht also geschrieben. Hast du denn auch irgendwelche Belege dafür gefunden, dass Vriesman in seinen letzten Lebensjahren in Stockholm gewesen ist?« »Nur, dass er im Jahre 1727 eine Geschäftsreise nach Göteborg …« »Siehst du wohl! Nun lass mich dir erst erklären, worauf meine Fragen hinzielen. Dann wirst du selbst zugeben, dass es sich dabei nicht nur um Altweibergeschwätz handelt, mein skeptischer Herr Sohn, du weißt, dass unser Stammvater, Philip Reynold, 1650 als französischer Hugenotte nach Schweden auswanderte und sich in Sundsvall, wo er sich niederließ, mit einer Kaufmannstochter namens Cristine Frisman vermählte. Aus dieser Ehe gingen zwei Söhne – Erik und Bernhard – und zwei Töchter – Lea und Sara – hervor. Lea verheiratete sich mit Gustav Hegelius, und Sara mit Didrik Sandel – und diese beiden Linien sind noch nicht ausgestorben. Bernhard siedelte nach Stockholm über,

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heiratete Margarete Trenberg und ist dein direkter Vorfahre, von dem du in gerader Linie abstammst. Aber die wichtigste Person der Familie wurde mit der Zeit sein älterer Bruder Erik, ein begabter abenteuerlicher junger Mensch, der als Seemann ins Ausland ging und nie wieder von sich hören ließ. Es gab aber später einen Schweden namens Erik Vriesman in niederländischem Kaperdienst, der es zu einem großen Vermögen gebracht hatte und überdies von der niederländischen Regierung zum Dank für jene Dienste ein größeres Landgebiet in Guyana geschenkt erhielt. Dort hat er lange Jahre gelebt und seine Plantagen bewirtschaftet. Bei seinem Tode muss er ein schwer reicher Mann gewesen sein, und – er starb unverheiratet.« »Aber in zweihundert Jahren hat niemand juristisch zu beweisen vermocht, dass jener Vriesman und Erik Vriesman Reynold aus Sundsvall ein und derselbe Mann gewesen sind«, warf Erik ein. »Das liegt daran, dass Zeit und Ort seines Ablebens sich nicht feststellen ließen. Erst nach langen Jahren kam die Nachricht, dass ein Seemann namens Vriesman ein reiches Erbe hinterlassen habe. Natürlich wur82


den nun von hier aus Nachforschungen angestellt, die nach langer Zeit zu der Gewissheit führten, dass es sich wirklich um Erik Frisman Reynolds sehr ansehnliche Hinterlassenschaft handelte. Dass er dort drüben seinen Mutternamen angenommen und ihn nach niederländischer Manier umgeformt hatte, war den damaligen Verhältnissen nach durchaus erklärlich. Überdies soll er sich zwischendurch auch öfters noch schlichtweg Reynold genannt haben. Auch seine amerikanischen Besitzungen waren unter dem Namen ›Reynoldsche Plantagen‹ bekannt. Nun, jedenfalls schickten die nächsten Generationen im Hinblick auf diese große Hinterlassenschaft mehrmals Bevollmächtigte nach Holland und Guyana. Die niederländischen Behörden erklärten: ›Wenn ihr durch unwiderlegliche Papiere beweist, dass es sich um ein und dieselbe Person handelt, gehört die Hinterlassenschaft euch!‹ Aber diese Papiere ließen sich nicht beschaffen, und da überdies Uneinigkeit, Unlust und Todesfälle eintraten, dauerte es lange, bis neue Versuche unternommen wurden. Schließlich erbot sich ein gewisser Herr Magnus, die Sache in die Hand zu nehmen. Er reiste mit umfassen-

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den Vollmachten ab und – ließ nie wieder von sich hören. Als er jedoch um das Jahr 1800 herum starb, stellte es sich heraus, dass er Besitzer der Reynoldschen Plantagen war!« In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und Marta stand im Sonnenschein auf der Schwelle. »Hier sitzt ihr!«, lachte sie. »Ausgerechnet in dem einzigen Zimmer, das noch nicht reingemacht ist? Nun kommt aber mit. Das Frühstück steht bereit.«

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II.

S

ie begaben sich in den Speisesaal, der mit dem Ausblick auf die See und seinen kostbaren alten Möbeln ebenso wie der danebengelegene Salon zu den hübschesten Räumen des Hauses gehörte. Tobias wartete auf: Er betrachtete das nicht als Pflicht, sondern als einen Vorzug, den er sich nicht nehmen ließ. Aber Eriks Vater ließ sich kaum Zeit zum Essen, sondern erzählte weiter, dass die Vriesmansche Hinterlassenschaft nun in zwei Teile zerfallen sei, von denen der eine – nämlich die Plantagen – von jener Zeit ab aufgegeben wurde. Da Vriesman jedoch bei seinem Tode in Holland als schwer reicher Mann bekannt gewesen war, ergab sich die Frage, wo sich sein bares Vermögen befand, das nun schon durch Zinsen und Zinseszinsen zu einer ungeheuren Summe angewachsen sein musste. »Es handelt sich nun vor allem darum, festzustellen, wann und wo Erik Frisman Reynold gestorben ist«, fuhr der alte Herr fort. »In einer alten Zei85


tungsnachricht behauptet ein gewisser Kapitän Pajlin, ihn im Frühling des Jahres 1756 in Holland gesehen zu haben, aber erst kürzlich ist es mir gelungen, diese Angabe mit einer Kombination zu verbinden, die das Rätsel löst. Aber lasst uns zur Bibliothek hinübergehen, Kinder, und hol’ du deine Amsterdamer Notizen herunter, Erik!« Gleich darauf waren alle drei in der zur Landseite gelegenen reichhaltigen, wenn auch altmodischen Bibliothek versammelt, und Erik berichtete: »Wie du richtig vermutet hast, ist die Firma Steubinger & Mill eine direkte Fortsetzung des alten Millschen Geschäfts. Die Herren waren äußerst entgegenkommend, und es fanden sich dann auch einige Kassenbücher und Privat-Tagebücher von Jonathan Mill vom Anfang des achtzehnten Jahrhunderts. Leider waren aber die Bücher aus den Jahren 1728 bis 1730 verschwunden.« »Wie sonderbar!«, bemerkte sein Vater, der eifrig die Notizen studierte. »Sehr interessant scheint es mir aber, dass Vriesman 1727 in Schweden gewesen ist. Und

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dass ein Frachtschiff der Firma Mills im August 1731 Kolonialwaren von Vriesman für seinen Bruder Bernhard nach Stockholm brachte, ist sogar höchst bedeutungsvoll.« »Nun wird Onkel Hugo sicherlich von dem Schiffbrüchigen in der Kajüte anfangen«, warf Marta lächelnd ein. »Allerdings, mein Kind«, entgegnete Reynold ernst. »Ihr wisst ja auch von der Sache. Der Schiffbruch fand im Jahre 1732 statt, während Bernhard Reynold auf Reisen war. Ein Schiff, das zur Nachtzeit bei heftigem Südoststurm nach Jägarö wollte, scheiterte am Granittor und versank dort im Sund mit der ganzen Mannschaft – bis auf einen. Dieser schwamm ans Land und wurde morgens sterbend in der alten Kajüte am Strand aufgefunden. Man begrub ihn wie alle angeschwemmten Leichen als Namenlosen, entweder hier auf der Insel oder auf Radmansö. Drei Monate später kehrte Bernhard Reynold heim, und die Nachricht von jenem Schiffbruch erschütterte ihn aufs tiefste. Ob es ihm gelungen ist festzustellen, wer jener Schiffbrüchige war, steht nicht fest. Man weiß nur, dass er es eifrig ver87


suchte und bald darauf starb. ›Er grämte sich zu Tode‹, schreibt sein Sohn. Nun frage ich euch: Gibt es dafür eine annehmbare Erklärung?« »Ich verstehe, worauf du hinauswillst«, sagte Erik, »aber …« »Bedenke die Tatsache, dass Vriesman mit Bernhard Reynold in Verbindung stand und im Jahre 1732 noch am Leben war«, fiel sein Vater ihm ins Wort. »Im Herbst eben dieses Jahres stirbt hier auf Jägarö ein vornehmer Schiffbrüchiger, der Schwedisch spricht. Seitdem hat niemand mehr irgendetwas von Vriesman gehört. Ich halte meine Vermutung für unwiderleglich.« »Die Hypothese ist verlockend«, meine Erik. »Dennoch ist es noch kein vollgültiger Beweis. Oder hast du in der Sache schon irgendetwas unternommen?« »Nein, aber du weißt noch nicht alles«, erwiderte sein Vater. »Komm, lass uns einen Spaziergang machen!« »Was meinst du dazu?«, sagte Erik leise zu Marta, als sie in die Halle hinausgingen. 88


»Dass es schrecklich wäre, wenn er sich irrte. Meine arme Mutter war ihrer Sache damals ja auch ganz sicher. Aber widersprich ihm nicht zu energisch, Erik! Was er dir jetzt mitteilen wird, wirst du noch seltsamer finden als alles andere.« Inzwischen hatte Reynold Hut und Stock geholt, und nun gingen die beiden Männer über den Hof von dannen. »Wie hübsch alles ist, Erik!«, murmelte sein Vater und deutete auf die Felder. »Gott weiß, ob ich es überleben würde, Jägarö zu verlassen. Aber jetzt gehört es noch uns, und unsere Vorfahren wissen es … Glaube mir, es regen sich schon Kräfte, und die Hilfe naht. Sag’ mal, erinnerst du dich an die Geschichte von dem Mann vom Meer?« »Meinst du die alten Geschichten, die Tobias mir in meiner Kindheit erzählte? Von einem Meermann, der nachts bei der Kajüte aus der See herausstieg?« »Ja, die meine ich.« Reynold lächelte ingrimmig. »Einem Ingenieur kommt so etwas wohl albern vor? Und doch hat Rittmeister Hegelius ihn im Jahre 1812 89


mit eigenen Augen gesehen, und es liegt ein Bericht darüber vor.« »Oh, mir ist es immer ganz natürlich vorgekommen, dass Jägarö ebenso wie andere alte Güter seinen eigenen Spuk hat«, erwiderte Erik. »Dieser Meermann ist ja wohl am häufigsten im achtzehnten Jahrhundert aufgetreten und soll in irgendeinem mystischen Zusammenhang mit jenem Schiffbrüchigen stehen, nicht wahr?« Reynold legte einen Arm um die Schultern seines Sohnes. »Ja, ja, wenn man zwischen zwanzig und dreißig Jahren alt ist, glaubt man nicht an so etwas«, sagte er. »Aber schließlich fängt man an, seine eigenen Zweifel zu bezweifeln, und ich kann nur sagen, dass ich nicht mehr weiß, was ich glauben soll.« »Nun, in unseren Zeiten hat der Meermann sich wenigstens nicht gezeigt«, versetzte Erik mit leisem Unbehagen. »Er hat sich in diesem Jahr gezeigt!«, sagte Hugo Reynold.

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III.

D

er alte Herr blickte den Sohn von der Seite an und fuhr dann ruhiger fort: »Es wundert mich nicht, dass du bestürzt aussiehst. Ich selbst habe ihn nicht gesehen, aber zwei Personen hier auf Jägarö schwören darauf, dass der Mann vom Meere umgegangen ist. Einer ist der Sohn des Pächters, der eines 9 Abends bei stillem, klarem Wetter von Kapellskär zurückgesegelt kam und den Meermann zusammengekauert neben der Kajüte sitzen sah – genauso, wie er immer beschrieben wurde. Der Junge hatte sich zu Tode erschrocken und war kaum imstande, sein Erlebnis zu erzählen, als er nach Hause kam. Lindström kam gleich herüber und weckte mich, und Tobias und ich gingen sofort mit Laternen zu der Kajüte hinunter, entdeckten aber nichts. Ich hatte das ja auch kaum er-

9 Ein Hafen an der schwedischen Ostseeküste, etwa hundert Kilometer nordöstlich von Stockholm.

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wartet, aber Tobias ging herum und grübelte darüber nach.« »Natürlich!«, lachte Erik. »Er steckt ja bis an den Hals voll Aberglauben.« »Mag sein, aber eins steht fest: Er ist ein mutiger Mensch. Die Tage darauf rauchte er seine Pfeife mit Vorliebe in der Nähe der Kajüte, und am fünften Abend hörte er, dass irgendetwas da war …« »Wie hörte er das?« »Seiner Behauptung nach klang es, als ob ein schweres, klotziges Wesen auf der Meeresfläche entlang ginge. Er schlich näher heran und gewahrte zwischen den Bäumen hindurch etwas, das in aufrechter Stellung in die See hineinging und darin verschwand.« »Aber bester Vater!«, rief Erik aus. »Du erzählst das, als ob…« »Lass es dir selbst von Tobias beschreiben. Noch am nächsten Morgen war er aschfahl im Gesicht, als er mir darüber berichtete. Und seitdem raucht er seine Abendpfeife anderswo.« 92


Erik schwieg eine Weile, während sie weitergingen. »Das war also Anfang Juni«, sagte er schließlich. »Und seitdem…?« »Nichts. Ich bin oft selbst abends hingegangen, ohne jemals etwas Ungewöhnliches zu sehen. Ich weiß ja selbst nicht, was ich glauben soll, mein Junge. Aber dass der Mann vom Meere gerade zu der Zeit wieder in die Erscheinung tritt, in der ich herausfand, dass jener Schiffbrüchiger Vriesman gewesen sein kann – siehst du, das regt doch zum Nachdenken an.« Sie hatten jetzt das Pächterhaus erreicht, wo ein großer junger Mensch emsig Holz hackte. »Da bist du ja, Knut«, sagte Reynold. »Mein Sohn möchte gern hören, wie du damals den Meermann gesehen hast.« Der Junge erzählte bereitwillig: Die Erscheinung habe sich neben die Kajüte gekauert, als ob sie nicht gesehen werden wollte. Sie habe sich nicht geregt, sondern nur zu ihm herübergestarrt und den Kopf gewendet, während das Boot vorübersegelte. »Um welche Zeit war das?«, fragte Erik. 93


»Kurz nach elf. Es war schon ein bisschen dunkel, aber ich war ja kaum fünfzig bis sechzig Meter vom Strand entfernt.« »Irgendein Strolch!«, bemerkte Erik achselzuckend. »Nein, nein!«, versicherte der Junge. »So wahr ich lebe, es war kein Mensch. Es war groß und unförmig und hatte zwar Arme und Beine, aber keinen Hals – auch keine Menschenaugen, und der Mund war ein großes rundes Loch. Es muss irgendein Geschöpf vom Meeresgrund gewesen sein, und Tobias hat ja auch gesehen, dass es wieder ins Meer hineinging.« »Nun, du und ich werden demnächst mal zusammen segeln, Knut«, beschwichtigte Erik den aufgeregten Jungen, begrüßte dann noch Frau Lindström und ging mit seinem Vater weiter. »Irgendetwas hat der Bengel gesehen, das lässt sich nicht leugnen«, murmelte Reynold. »Ich leugne es nicht. Wenn alle natürlichen Erklärungen erschöpft sind, werde ich zugeben, dass er irgendeinen Spuk gesehen hat«, erwiderte Erik.

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Sie wanderten nun in östlicher Richtung quer über die Insel. »Da drüben steht dies Jahr Roggen«, bemerkte Reynold seufzend. »Zuweilen tut es mir doch leid, dass ich verpachtet habe.« »Aber Lindström ist doch ein prächtiger Mensch, nicht wahr?« »Ja, das ist er.« Jetzt näherten sie sich einer Hügelreihe und umgingen sie in nördlicher Richtung, bis der Sund wieder sichtbar wurde. Rechts klaffte die enge Durchfahrt des Granittors, das seine Entstehung wohl einem Felseneinsturz der Eiszeit verdankte. Seitdem trennte ein schmaler Wasserarm, der an der engsten Stelle kaum fünfzehn Meter betrug, die Insel von dem auf diese Weise entstandenen Portholm. Vom Granittor bis zur Landungsbrücke und dem Gutshof bildete die Küste an der Nordseite der Insel eine ganze Reihe kleiner Buchten mit sandigem Strand. Die beiden Spaziergänger kamen, wohl nicht unbeabsichtigt, dicht neben der Kajüte heraus, die von einem im siebzehnten Jahrhundert gestrandeten sogenannten 95


»Reichsschiff« stammte. Das wunderliche kleine Häuschen war mit der Zeit tief in den Sand eingesunken. Es war wahrscheinlich ausgebessert worden, aber die neueren Tannenbretter befanden sich in weit schlimmerem Zustand als die ursprünglichen Eichenplanken. Die Tür war neu, während die kleinen grünlichen Fensterscheiben noch immer wie vor zweihundertfünfzig Jahren fest in ihrer Bleifassung saßen. Wind und Wetter hatten verheerend gewirkt, und nur in den Schnitzereien der Eichenplanken war hier und da noch etwas von den bunten Farben übriggeblieben. Erik öffnete die Tür und trat hinein. Dumpfe Luft drang ihm aus dem niedrigen, dämmerigen Raum entgegen, dessen einzige Ausstattung in einem Tisch und einigen hochlehnigen Stühlen bestand. Fetzen von uraltem Goldleder hingen hier und da an den Wänden. Hier hatte er als Kind Pirat und Gustav Adolfs Admiral gespielt. Und hier war der ehemalige Kaperkapitän Vriesman also sterbend gefunden worden?

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Eriks Blick schweifte übers Meer. »Da draußen in der Bucht soll Vriesmans Schiff also gesunken sein?«, murmelte er gedankenversunken. »Ja«, sagte sein Vater. »Nachdem es am Granittor angeprallt war, muss es noch etwa bis hier gekommen sein, bevor es unterging.« »Und mit der Zeit ist es natürlich immer tiefer in den Meeressand eingesunken.« »Wahrscheinlich – oder auch zerfallen. Aber neuerdings hat man solche Wracks verschiedentlich untersucht und Kanonen und dergleichen mehr heraufgeschafft. Hier in der Bucht ist der Boden ganz eben, und nirgends mehr als fünfundzwanzig Meter tief.« Eine ganze Weile saßen sie ganz still, jeder auf seinem Stein, und rauchten. »Hast du irgendeinen Plan, Papa?« »Nein, ich habe deine Rückkehr abgewartet. Für große Ausgaben reicht es bei uns ja nicht, weißt du.« »Die Sache ist natürlich sehr unsicher, aber doch wohl einen Versuch wert. Aber was steht zu hoffen? 97


Eine Schiffskasse mit einigen Tausenden? Oder eine Fracht?« »Vermutlich längst zerstörte Kolonialwaren. Aber wenn Vriesman nun hergekommen wäre, um sich hier oder in Stockholm niederzulassen? Dann hätte er sein Barvermögen doch mitgebracht, und das könnte eine recht erhebliche Summe sein.« »Gold- und Silbermünzen jener Zeit?« Erik schüttelte den Kopf. »Solche Vermutungen sind verlockend, aber sehr unsicher.« »Oh, ich wäre schon zufrieden, wenn wir einen Beweis dafür fänden, dass jener Schiffbrüchige wirklich Vriesman war! Es wäre doch denkbar, dass er seine Papiere in einer wasserdichten Kassette verwahrte. Finden wir die, so haben wir die Lösung des schwersten Erbfrageproblems in Händen. Aber die Frist ist kurz.« Sie traten stumm den Heimweg an, und der sichtlich ermüdete Reynold zog sich zurück, um sich auszuruhen. Währenddessen suchte Erik den alten Tobias auf, der aber nicht viel über sein Erlebnis bei der Kajüte zu berichten wusste. 98


»Es dauerte ja nur einen Augenblick«, sagte er, »aber gegen das blanke Wasser sah ich ganz deutlich, wie irgendetwas Großes, Dunkles auf zwei Beinen ins Meer hinabging, und ich sah auch die Ringe, die auf der Oberfläche entstanden.« Er blickte Erik ernst an und fügte hinzu: »Genau so soll der Mann vom Meer sich schon in alten Zeiten gezeigt haben.« »Deshalb hast du mich wohl gestern gefragt, ob ich noch einen Abendspaziergang machen wollte?«, lachte Erik. »Hältst du’s für gefährlich, dem Mann vom Meer zu begegnen?« »Man kann nie wissen«, murmelte der Alte.

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IV.

E

rik ging in sein Zimmer hinauf und versuchte, seine Gedanken auf alles soeben gehörte zu konzentrieren. Aber es war ihm nicht möglich. Immer wieder traten ihm andere Bilder vor die Seele – ein Degen – ein toter Mann, Colts zynische Augen! Mit der Zeit wurde er immer nervöser. Bei Tisch war er kaum imstande, seine äußere Ruhe zu bewahren. Auf die Zeitung warten zu müssen, bis das Dampfschiff eintraf, war eine Qual! Endlich wurde das weiße Boot draußen im Fjord sichtbar und legte bald darauf an der Brücke an. Der Pächter kam an Land. Mit dem Dagens Kurir in der Hand musste Erik fünf endlose Minuten mit ihm plaudern und lachen, bis er heim »zu seiner Alten« ging. Erik ließ sich keine Zeit, die Brücke zu verlassen. Er setzte sich sofort auf die Bank und überflog die Über-

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schriften der Artikel. Nein – nichts! Gottlob, kein Wort über den Toten in der leeren Villa! »Was liest du denn so eifrig?«, fragte Marta plötzlich und gesellte sich zu ihm. »Nichts Besonderes!« Die Erleichterung war so unerhört groß, dass er behaglich sitzen blieb – wie betäubt. Es begann schon zu dunkeln, und jenseits der Bucht leuchtete ein erhelltes Fenster auf. »Wohnt denn jemand auf Hamra?«, fragte Erik. »Ich dachte, das Haus stände leer.« »Nein, Behrmann hat es im Mai für den Sommer an einen Herrn Drakenborch und seine Tochter vermietet. Es sind etwas sonderbare Menschen – aus Ostindi10 en.« »Verkehrt Papa mit ihnen?« »Ja, und sie wissen schon, dass du nach Hause gekommen bist. Wir sollen morgen bei ihnen früh10 Eine heute wenig gebräuchliche Bezeichnung für Vorderindien, Hinterindien und die zwischen Australien und der Malaiischen Halbinsel gelegenen ostindischen Inseln.

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stücken. Ihr Gast vom Frühling ist auch wieder da: Ein Kollege von dir – er ist Ingenieur.« »So? Wie heißt er denn?« »Er heißt Maximilian Colt.«

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