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Teil I –Stabil geglaubte Ordnungen im Fluss
1 Brave New Europe: die neue Sicherheits(un)ordnung in Europa
Benno Zogg1
Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 herrscht ein offener Krieg in Europa. Die UNO-Generalversammlung verurteilte das Vorgehen der Vetomacht Russland mit 141 zu fünf Stimmen. Die Friedensnobelpreisträgerin EU finanziert Waffenlieferung an eine Kriegspartei. Deutschland rüstet auf und will zwei Prozent des BIP für Verteidigung ausgeben – auf Drängen von Ländern wie Polen. 76 Prozent der Schweizer:innen betrachten die weltpolitische Lage in den nächsten fünf Jahren pessimistisch – ein neuer Höchstwert.2 Moskau bezeichnet die Schweiz als unfreundlich gesinntes und nicht mehr neutrales Land. Diese Tatsachen verdeutlichen, wie fundamental sich europäische Sicherheitspolitik verändert.
Unsichere Ordnung – sichere Unordnung
Es ist seit dem Zerfall der Sowjetunion nicht gelungen, Russland in einer inklusiven, robusten europäischen Sicherheits- und Friedensarchitektur einzubinden und einzuhegen. Statt Regeln setzt sich oft Stärke durch. Verschiedene Grossmächte – nicht nur Russland – haben sich wiederholt das Recht ausgenommen, wider Recht zu handeln, und sich aus Rüstungskontrollabkommen verabschiedet.3 Es scheint vermessen, überhaupt noch von europäischer Sicherheitsarchitektur zu sprechen. Der Eindruck von Unsicherheit, Unordnung und Normenbrüchen dominiert.
Der Krieg in der Ukraine ist eingebettet in eine globale Polarisierung und Blockbildung, die internationale Institutionen wie den UNO-Sicherheitsrat prägen (siehe Kapitel 3 «L’avenir des multilatéralismes universels – anciennes structures et défis futurs»). Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) umfasst Abkommen zu Vertrauensbildung und Rüstungskontrolle in Europa und wäre eigentlich ein ideales Forum, um ein Mindestmass an Stabilität herzustellen.
Jedoch stockt die Modernisierung dieser Abkommen, und die Entfremdung zwischen Russland und den meisten anderen Teilnehmerstaaten lähmt die konsensbasierte Organisation.
Im Schatten dessen, dass sich der sicherheitspolitische Fokus in Europa nach Osten verschoben hat, können Akteure wie die Türkei oder die Golfstaaten, die ihren regionalen Einfluss stärken oder gar Grenzen neu zu ziehen suchen, immer selbstbewusster auftreten und in ihrer Nachbarschaft intervenieren. Europa hofiert autoritäre Länder wie Katar oder Aserbaidschan wegen deren Energievorkommen. Das wirtschaftliche Gewicht Chinas und sein möglicher Einfluss wachsen weiter. Damit wird es für die EU noch schwieriger, ihre prononciert werteorientierte Aussenpolitik mit kurzfristigen Interessen, neuen Abhängigkeiten und ihrer Ambition, explizit «geopolitisch» aufzutreten, in Einklang zu bringen.
Obschon Russlands Krieg in der Ukraine das transatlantische Fundament europäischer Sicherheit gefestigt hat, ist diese Einigkeit nicht garantiert. Die USA unter Joe Biden unterstützen die Ukraine auch mit Blick auf China, um westliche Entschlossenheit zu demonstrieren. Sie fordern von Europa, aufzurüsten und mehr Verantwortung für letztlich innereuropäische Probleme zu übernehmen. Die EU hat dies erkannt und legt ambitionierte Pläne vor, um stärker industriepolitisch zusammenzuarbeiten und bei Lieferketten und Technologieentwicklung unabhängiger zu werden (siehe Kapitel 9 «Strategische Autonomie: wie die EU unbemerkt geopolitisch wird»).4 Dies ist Europas eigentliche «Zeitenwende». Entsprechende Projekte, wie sie der Strategische Kompass vom März 2022 vorsieht,5 stecken aber erst in den Kinderschuhen.
Die Sanktionen gegen Russland machen auch deutlich, dass Energie, Lieferketten und Finanzinstrumente Teil der sicherheitspolitischen «Architektur» geworden sind – und damit eine Vielzahl von Akteuren wie multinationale Unternehmen und Banken. Europäische Aussen- und Sicherheitspolitik wird dadurch breiter und komplexer.
Auch wenn Russland geschwächt aus dem Krieg in der Ukraine hervorgeht: Die sich ausprägende neue Ordnung in Europa wird konfrontativer und instabiler. Territoriale Konflikte – beispielsweise um die Krim oder Kosovo – dürften andauern. Abschreckungslogik und Aufrüstung zeichnen sich auf westlicher wie russischer Seite ab. Damit bleibt das Risiko gewollter und ungewollter Eskalation erhöht. Gleichzeitig verschärfen sich Spannungen zwischen den Grossmächten, insbesondere den USA und China, gegenüber denen sich Europa positionieren muss.
Die Schweiz: Ohnmacht statt Macht?
Die regelbasierte Ordnung in Europa ist erodiert und es scheint sich global und in Europa Macht über Recht hinwegzusetzen. Die Schweiz steht dem etwas machtlos und ratlos gegenüber. Sie verpflichtet sich der Neutralität, bleibt Bündnissen wie der NATO oder der EU fern und ist nur Drittstaat bei europäischen Kooperationsbemühungen. Im Krisenfall und in puncto Versorgungs- und Energiesicherheit hängt die Schweiz vom guten Willen ihrer Partner ab. Damit ist sie mehr denn je äusseren Einflüssen ausgesetzt. Sich diesen gegenüber zu positionieren fällt der Schweiz notorisch schwer.
Mit der Polarisierung in multilateralen Institutionen steigt der Druck auf Länder wie die Schweiz, Stellung zu beziehen. Der «Geist der OSZE» im Sinne kooperativer Sicherheit weicht einem Fokus auf kollektive Verteidigung und Abschreckung. Gremien wie der UNO-Sicherheitsrat, in dem die Schweiz 2023/24 Einsitz hat, sind bei der Lösung zwischenstaatlicher Konflikte weitgehend blockiert. Die entscheidenden Kräfte zur Vermittlung scheinen nicht Neutrale, sondern Grossmächte oder Länder wie die Türkei zu sein.
Zwar ist eine terrestrische Bedrohung der Schweiz in absehbarer Zeit höchst unwahrscheinlich; erst recht durch russische Panzer. Gegen gewisse Distanzwaffen, beispielsweise ballistische Raketen, hat die Schweiz aber keinerlei eigene Abwehrmöglichkeiten. Ihre geografische Lage und Neutralität schützen kaum gegen Cyberangriffe und Desinformationskampagnen. Als Wirtschafts- und Forschungsstandort ist sie direkt von der Ausweitung des Sicherheitsbegriffs betroffen, wenn Lieferketten und Technologieentwicklung Gegenstände von Sanktionen und Blockbildung werden.
All diese Entwicklungen mindern zwei erklärte Ziele der Schweizer Sicherheitspolitik: Handlungsfähigkeit und Selbstbestimmung. Militärische Abschreckung verdrängt Diplomatie à la Suisse. Wirtschaft oder Wissenschaft werden «versicherheitlicht». Blockbildung und SchwarzWeiss-Logik widerstreben dem Schweizer Verständnis von internationaler Ordnung.
Pendenzen für die Schweiz
Wie geht die Schweiz mit dieser neuen konfrontativen Ordnung und zunehmendem Druck, Position zu beziehen, um? Wie kann die Schweiz dazu beitragen, wieder Recht, multilaterale Foren und Rüstungskontrolle zu stärken? Engagiert sich die Schweiz im Ukraine-Kontext forciert und entschlossen genug, dass sie als wertvoller Partner wahrgenommen wird und substanziell zur Stabilität in Europa beiträgt? Gibt es angesichts zunehmender Polarisierung überhaupt noch einen unique selling point traditioneller Schweizer Sicherheitspolitik und Diplomatie oder erfordert «Brave New Europe» auch die Neuausrichtung eines «Brave New Switzerland»?
Die zentrale Stossrichtung des Zusatzberichts zum Sicherheitspolitischen Bericht ist: «Zusammenarbeit».6 Dies beginnt im Innern. Besonders eine Abstimmung zwischen dem Aussen- und Verteidigungsdepartement scheint wichtig. Wie kann die Schweiz in ihren bestehenden Strukturen Sicherheit breit denken und relevante Akteure einbeziehen, wenn Krisenmanagement, Seuchenschutz, Versorgungssicherheit und der Schutz kritischer Infrastruktur und gesellschaftlicher Resilienz längst auch als Teil von Sicherheitspolitik gelten?
Ambitioniert scheint auch das Ziel, mehr international zusammenzuarbeiten. Wie kann die Schweiz innerhalb neutralitätsrechtlicher Grenzen konkret im Sicherheits- und Verteidigungsbereich «mehr kooperieren», sei dies minilateral, im NATO-Rahmen über die Partnerschaft für den Frieden hinaus oder in EU-Formaten wie PESCO, der Europäischen Verteidigungsagentur oder EU-Auslandsmissionen? Kann und will die Schweiz nur im Kleinen und Vertrauten Zusammenarbeit ausbauen oder sind game-changer nötig, um tatsächlich unsere Sicherheit und Stabilität in Europa zu mehren?
1 Dieses Kapitel erarbeitete der Autor noch vor seiner Tätigkeit beim VBS und es ist somit nicht als Position des VBS zu verstehen. Der Autor dankt Anna-Lina Müller, Ueli Staeger, Taisia Vedunova und Timothée Spörli für ihre Kommentare bei der Überarbeitung dieses Kapitels.
2 Tibor Szvircsev et al. (2022). Nachbefragung der Studie «Sicherheit 2022» aufgrund des Krieges in der Ukraine. Zürich: ETH Zürich, 9.
3 Beispielsweise der US-amerikanische Rückzug aus dem INF-Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme, den Russland verletzt haben könnte, oder der USund anschliessend russische Ausstieg aus dem Open-Skies-Vertrag zu Beobachtungsflügen über anderen Staaten.
4 Beispielsweise der EU Chips Act vom Februar 2022 oder der 2021 gegründete Europäische Verteidigungsfonds (EDF).
5 Europäische Union. (2022). A Strategic Compass for Security and Defence, 12–13.
6 Bundesrat. (2022). Zusatzbericht zum Sicherheitspolitischen Bericht 2021 über die Folgen des Krieges in der Ukraine, BBI 2022 2357, 19.
2 (Re)définir l’universalité des droits de l’homme?
Christelle Genoud
L’universalité est un pilier central de la Déclaration universelle des droits de l’homme (DUDH) de 1948, selon lequel ces droits s’appliquent à tous et toutes. Cependant, ce principe n’a cessé d’être remis en question à travers l’histoire. Selon Freedom House, la démocratie libérale en tant que forme de gouvernement où les droits de l’homme sont reconnus a subi en 2022 sa 16ème année consécutive de déclin. Seulement 20 pour cent de la population mondiale vit désormais dans des pays libres.1 Les multiples crises auxquelles les droits de l’homme font face à travers le monde ont amené le nouveau Haut-Commissaire, Volker Türk, à réitérer la pertinence de l’universalité et le besoin de la défendre dès le début de son mandat. Parmi les différentes remises en cause – tant par des régimes démocratiques qu’autoritaires – l’ampleur du défi que constitue l’interprétation des droits de l’homme véhiculée par la Chine est aujourd’hui sans égale. Face à la perception de la menace que la Chine pose à l’ordre mondial libéral, la défense de l’universalité risque d’être assimilée de manière réductrice à un affrontement entre pays occidentaux démocratiques et pays en voie de développement aux régimes autoritaires.
Limites d’une vision binaire de l’universalité : au-delà de la Chine
Bien que la Chine ne rejette pas officiellement l’universalité, elle limite dans les faits fortement son application en se basant sur le relativisme culturel, la priorité du développement économique et la souveraineté de l’État. Cette vision trouve un écho auprès de nombreux pays en voie de développement. Ce soutien est illustré notamment au Conseil des droits de l’homme, où les déclarations conjointes de pays principalement occidentaux qui critiquent la situation en Chine sont contrées par des déclarations réunissant un plus grand nombre de signataires avec une plus large représentation géographique. Cet état de fait a contribué à une interprétation dichotomique et bipolaire des défis auxquels l’universalité fait face selon laquelle les pays démocratiques s’en font les défenseurs et les régimes autoritaires les opposants.
Néanmoins, cette vision dichotomique ne suffit pas à expliquer l’ampleur de la remise en cause de l’universalité des droits de l’homme, qui s’étend au-delà du défi chinois. Premièrement, les pays occidentaux souffrent d’un manque de crédibilité et de volonté dans la défense de l’universalité. Leurs dirigeants sacrifient régulièrement leurs obligations en matière de droits de l’homme en échange de victoires politiques à court terme. Par exemple, malgré sa promesse de faire de l’Arabie saoudite un « État pariah » lors de sa campagne présidentielle, Biden s’est résolu à rencontrer Mohammed Ben Salman suite à l’augmentation des prix du pétrole. De plus, le retrait des États-Unis du Conseil des droits de l’homme sous la présidence de Donald Trump avait déjà entaché la confiance de ses alliés occidentaux, et ce malgré le rétropédalage de l’administration Biden. De manière similaire, les dissensions internes au sein de l’Union européenne et l’opposition de la Grèce et de la Hongrie ont empêché l’adoption de déclarations critiquant les violations des droits de l’homme en Chine. Même la Suisse n’est pas systématique lorsqu’il s’agit de signer les déclarations conjointes au Conseil des droits de l’homme. En outre, en essayant de séparer la question de la promotion de ces droits et de ses intérêts économiques, Berne continue de fait à privilégier ces derniers.2
Deuxièmement, les accusations de doubles standards proférées à l’encontre des pays occidentaux, bien que souvent instrumentalisées afin de détourner l’attention des violations ou les justifier, ne sont pas toujours dénuées de tout fondement. Une déclaration émise par Cuba lors de la 51ème session du Conseil des droits de l’homme et signée par 66 pays principalement en voie de développement dénonce ce problème.
Bien que cette déclaration ait été orchestrée par la Chine en réponse à des critiques visant son bilan en matière de droits de l’homme, certains thèmes récurrents tels que la guerre en Irak et le racisme aux États-Unis n’en demeurent pas moins la source de sérieuses violations qui restent insuffisamment abordées à ce jour. La rhétorique du double standard a également été utilisée lors de la Coupe du Monde au Qatar, en particulier lorsque le président de la FIFA a accusé certains pays occidentaux d’hypocrisie. Sa tirade (« For what we Europeans have been doing around the world in the last 3000 years, we should be apologizing for the next 3000 years before starting to give moral lessons to people ») n’a pourtant