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Kapitel I Die Schweiz am Vorabend des Überfalls
«Von freien Vätern erzeugt, sollen wir freie Söhne sein.»7
Stäfner Memorial, 1794
Die Schweiz des Ancien Régime
Die Heimat der beim Tuileriensturm in Paris niedergemetzelten Schweizer Garden war ein loser Staatenbund aus 13 Kantonen.8 Im Ausland wurde das Geburtsland von Wilhelm Tell oft als romantisch verklärter Hort der Freiheit wahrgenommen. In Wirklichkeit wurden die insgesamt 1,6 Millionen Schweizer von kleinen Oberschichten regiert und war Freiheit die Teilhabe weniger an der Herrschaft über viele Unfreie. Geistige Grundlage dieses Gesellschaftssystems bildete, wie im übrigen Europa, die von Menschen geschaffene Idee einer «gottgewollten Ordnung». An oberster Stelle stand die Geistlichkeit. Was die Bischöfe, Priester und Pfarrer von den Kanzeln predigten, das bestimmte weitgehend, was die Menschen dachten und taten. Neben der geistlichen Macht waren die beiden grossen Kirchen aber auch Inhaber erheblichen weltlichen Besitzes.
Beim zweiten Stand der weltlichen Macht gab es in einzelnen Kantonen starke Unterschiede. Während in den Städten Bern, Luzern, Solothurn und Freiburg ein elitärer Kreis von Patrizierfamilien das politische Zepter fest in den Händen hielt,9 regierten in Basel, Schaffhausen und Zürich die Zünfte. Auch in den Landkantonen Appenzell, Glarus, Schwyz, Unterwalden und Uri war das politische Geschehen von wenigen Familien beherrscht. Auf der untersten Stufe der sozialen Leiter standen die Bewohner der Untertanengebiete.10
Da die «gottgewollte Ordnung» den ersten beiden Ständen ein Leben mit erheblichen Privilegien ermöglichte, hatten sie an der Aufrechterhaltung des Systems das grösste Interesse. Als es in den Jahrzehnten vor der Französischen Revolution in fast jedem Kanton zu Aufständen kam, wurden diese allesamt brutal niedergeschlagen und endeten zumeist mit Hinrichtungen.11 In Zürich beispielsweise wurde 1780 der Pfarrer Johann Heinrich Waser öffentlich enthauptet, nur weil er Unterlagen, die Vetternwirtschaft belegten, weitergegeben hatte. Im restlichen Europa wurde die Hinrichtung des 38-jährigen Pfarrers zu Recht als Justizskandal wahrgenommen. Auch wenn es den Obrigkeiten mit Gewalt noch lange gelang, die Machtverhältnisse aufrechtzuerhalten, so zeigten die Ereignisse klar, dass zahlreiche Schweizer mit den herrschenden Zuständen unzufrieden waren.
Die Struktur der Eidgenossenschaft im 18. Jahrhundert
Im 18. Jahrhundert liess vor allem die Geistesbewegung der Aufklärung die Zustimmung zu dieser «gottgewollten Ordnung» zusehends bröckeln. Einer ihrer wichtigsten Vertreter war der Genfer Philosoph Jean-Jacques Rousseau. In seinem 1762 erschienenen Werk Der Gesellschaftsvertrag schrieb er: «Da[ss] kein Mensch von Natur aus Herrschaft über seinesgleichen ausübt und Stärke keinerlei Recht erzeugt (…).»12
Der Genfer entwarf die grossartige Vision, dass alle Menschen von Natur aus frei seien und daher zwischen ihnen eine natürliche politische und rechtliche Gleichheit bestehe. Einzig und allein dem Gemeinwillen stehe es zu, Gesetze zu erlassen; alle politische Macht müsse mit dem Ziel des Wohles aller vom Volk ausgehen. Da diese revolutionäre These die «gottgewollte Ordnung» und somit die herrschenden Eliten infrage stellte, wurde Rousseaus Werk in Frankreich, den Niederlanden, in Genf und Bern augenblicklich verboten. In Genf erschien es den Machthabern gar so gefährlich, dass es durch den Henker öffentlich verbrannt wurde (!).13 Rousseau musste, um der Verhaftung zu entgehen, über das Waadtland nach Neuenburg fliehen, von wo aus er in seinen Briefen aus den Bergen das Vorgehen der Bücherverbrennung kritisierte.
Als Napoleon im August 1800 in Ermenonville das leere Grab Rousseaus besuchte, dessen Leichnam 1794 triumphal in den Pariser Invalidendom überführt worden war, sagte er zum Eigentümer des Anwesens, Graf Cécile Stanislas Xavier de Girardin: «Es wäre für den Frieden Frankreichs besser gewesen, wenn dieser Mensch nie existiert hätte.» De Girardin erwiderte: «Warum sagen Sie das, Bürger Konsul? Er hat der Französischen Revolution den Weg geebnet.» Als der Graf weiter ausführte, dass diese ihm doch nur zum Vorteil gereicht habe, sagte Napoleon: «Die Geschichte wird entscheiden, ob es für den Frieden der Welt nicht besser gewesen wäre, wenn weder Rousseau noch ich je geboren worden wären.»
Der Nachbar des Vesuv
Als der französische König Ludwig XVI. für das Jahr 1789 die Ge neralstände einberief, um einen Ausweg aus der katastrophalen Fi nanzlage zu finden, ahnte er nicht, dass dies eine Jahrtausendzäsur auslösen sollte. Als sich der dritte Stand zur alleinigen Nationalversammlung erklärte und die Feudalrechte und die Leibeigenschaft abschaffte, wurde in einem der mächtigsten Länder Europas die «gottgewollte Ordnung» zur Geschichte. Am 26. August 1789 rief die Nationalversammlung die Menschenrechte aus, womit sich manifestierte, was Rousseau gefordert hatte: die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz, mit Ausnahme der Frauen. Wie eine nicht aufzuhaltende Sturzflut brandeten die Ideen der Französischen Revolution über die Grenzen; ein Umstand, der einen österreichischen Diplomaten 1797 gegenüber einem eidgenössischen Gesandten zu der Äusserung veranlasste, die Schweiz sei der «Nachbar des Vesuv».14 In der Eidgenossenschaft verstärkte der Einfluss der Französischen Revolution die ohnehin bereits vorhandenen Spannungen, auch in den Eliten.15
Die bahnbrechenden Ereignisse im Nachbarland wurden in allen Gesellschaftsschichten der Eidgenossenschaft kontrovers diskutiert und fanden lebhafte Resonanz in Salon- und Freimaurergesprächen, in Zeitungen und Pamphleten. Grundlegend war, dass es diesmal Mitglieder in den einzelnen Kantonsregierungen gab, die die Reformen durchaus befürworteten.16
Als liberal gesinnte Bürger in der Waadt und in Genf am 14. Juli 1791 den Jahrestag des Sturms auf die Bastille feierten,17 schickte die Berner Patrizierregierung 2400 Soldaten in die Rhonestadt. In Stäfa forderten 1794 Reformwillige unter Berufung auf urkundlich verbriefte Rechte eine Verfassung, die rechtliche Gleichstellung von Stadt- und Landbewohnern sowie die Aufhebung der Feudallasten. In einem Memorandum verkündeten die Verfasser:
«Von freien Vätern erzeugt, sollen wir freie Söhne sein. Dafür redet die Geschichte, dafür zeugen die Urkunden, (…) als solche respektiert uns jene Nation, die gegenwärtig auf dem politischen Schauplatz die Rolle im Grossen spielt, die (…) unsere Väter im Kleinen spielten.»18
Auch Zürich schickte Soldaten nach Stäfa, liess die Wortführer festnehmen und unter Folter verhören. Nur der Einspruch berühmter Männer wie des Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi verhinderte die Vollstreckung der Todesurteile und bewirkte deren Umwandlung in lebenslange Haftstrafen.19 Als Machtdemonstration wurde die Hinrichtung allerdings durch Heben und Senken des Henkerschwerts über dem Haupt des Textilfabrikanten Johann Jakob Bodmer symbolisch vollzogen.20 Als zusätzliche Strafe liess der Zürcher Rat in Stäfa den Brotverkauf und die Armenunterstützung verbieten.
Unter den Reformwilligen führten die bitteren Erfahrungen, die in der zeitgenössischen Publizistik grossen Niederschlag fanden, zu einer geistigen Radikalisierung und zur Überzeugung, dass Veränderungen mit friedlichen Mitteln nicht zu erreichen waren.21 Paul Usteri, der spätere Leiter der Neuen Zürcher Zeitung, konstatierte, dass es «mo ralisch unmöglich [sei], dass von unseren bestehenden Regierungen aus vernünftige und nötige Reformationen ausgehen».22
Krieg
Frankreich erklärte Österreich am 20. April 1792 den Krieg. Das Habsburgerreich, das dem revolutionären Land zuvor gedroht hatte, verbündete sich daraufhin mit halb Europa, insbesondere mit Preussen, zur I. Koalition; 1793 wurde vom Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation zusätzlich der Reichskrieg ausgerufen. Nach Ausbruch der Feindseligkeiten besetzten französische Truppen die nördlichen, zu Österreich gehörenden Gebiete des Fürstbistums Basel. Als eine eilig einberufene Tagsatzung in Frauenfeld (14.–30. Mai 1792) feierlich die Neutralität der Schweiz erklärte, wurde diese zunächst von beiden Konfliktparteien respektiert.23 Die Armeen der I. Koalition sammelten sich im Rheinland zum Angriff auf Frankreich. In Koblenz erliess der Herzog von Braunschweig als Oberbefehlshaber der Alliierten am 25. Juli 1792 einen Aufruf an die Pariser Bevölkerung und drohte «eine beispiellose und für alle Zeiten denkwürdige Rache» an, falls der französischen Königsfamilie Gewalt angetan werde.24 Der in
einer Pariser Zeitung veröffentlichte Aufruf war Öl in das Feuer eines archaischen Hexenkessels. Den Revolutionären galt die ausländische Einmischung als Beweis, dass Ludwig XVI. mit den feindlichen Mächten gemeinsame Sache machte. Eine unheilvolle Kettenreaktion löste das Massaker an den Schweizer Garden beim Tuileriensturm aus (vgl. S. 9 ff.) und führte am 22. September 1792 zur Abschaffung des Königtums. Ludwig XVI. und seine Familie wurden im Temple eingekerkert und Frankreich wurde zur Republik erklärt. Ein Revolutionstribunal verurteilte die 246 beim Tuileriensturm gefangenen Schweizer Gardisten zum Tod und die Erste Französische Republik beging ihre Taufe mit dem Blut von Unschuldigen: In einem kollektiven Gewaltausbruch wurden die Gardisten zusammen mit anderen Gefangenen in den Gefängnissen brutal umgebracht. Die willkürliche Ermordung der Landsleute löste in der Schweiz blankes Entsetzen und Fassungslosigkeit aus. «Ich weiss kein Beispiel in der Geschichte», sagte der Zürcher Pfarrer und Philosoph Johann Caspar Lavater bei einer Predigt in der St. Peterskirche im Oktober 1792, «wo mit so satanischer Kaltblütigkeit leidenschaftlicher und regelloser gegräuelt worden sei, als in diesen Tagen in Paris gegräuelt wird.»25 Dessen ungeachtet erklärte eine ausserordentlich einberufene Tagsatzung in Aarau neuerlich die Neutralität. Die vielfach zu findende Angabe, ein Antrag zum Eintritt der Schweiz in den Krieg sei vonseiten Berns gestellt worden, gehört in das Reich der französischen Propaganda.26
In Paris nahmen indessen unerbittlich die Ereignisse ihren Lauf, die die Schweizer Garden nicht hatten verhindern können.
König und Schweizer in einem Grab
Langsam rollte am Morgen des 21. Januar 1793 die Kutsche mit Ludwig XVI. über das Kopfsteinpflaster der von 20 000 Menschen gesäumten Place de la Révolution. Der König bestieg von Henkersknechten begleitet die Treppen der tiefrot gestrichenen Guillotine.27 An das Volk gewandt sagte er: «Volk! Ich sterbe unschuldig! Ich vergebe denen, die meinen Tod herbeigeführt haben …»28
Trommelwirbel der Nationalgarde setzte ein und übertönte die weiteren Worte. Der todgeweihte Monarch wurde auf dem Rücken gefesselt, auf der horizontal kippbaren Vorrichtung festgezurrt und sein Nacken zwischen den beiden halbkreisförmigen Holzbrettern eingekeilt. Mit ruhiger Hand löste der Henker Charles-Henri Sanson den Hebel der Guillotine, die mit tödlicher Präzision senkrecht herabsauste und in Bruchteilen von Sekunden den Kopf vom Rumpf trennte.29 Als ein Henkersgehilfe das bluttriefende Haupt aus dem Korb zog und es dem Volk entgegenhielt, erscholl über den weiträumigen Platz der zehntausendfache Ruf: «Vive la Nation! (…) Vive la République!»30
Ein Bürger tauchte seine Hand in das Blut des Königs und sprenkelte es wie Weihwasser über die Köpfe der Menge.31 Im Blutrausch patriotischer Gefühle begann ein euphorisches Volksfest mit Gesang und Tanz, wobei die rote Lache unter der Guillotine zum Gegenstand kultähnlicher Handlungen wurde. Männer tauchten ihre Säbel in das Blut oder rieben es sich in die Schnurrbärte. Frauen «wollten Königsblut auf ihren Fingern (…), einige füllten die Scheiden damit (…). Die Kleider des Delinquenten wurden in die ersinnlich kleinsten Fetzen geteilt, die Haare des Catogans32 büschelweise und sehr teuer verkauft».33
Anschliessend wurde der Leichnam des Geköpften zum nahe gelegenen Friedhof Madeleine gebracht und in das 12 Fuss tiefe Massengrab seiner massakrierten Schweizer Garde geworfen.
Napoleon und Rousseau
Der junge Artillerieoffizier Napoleon studierte die erschütternden Ereignisse seiner Zeit gründlich. Am Tag der Hinrichtung von König Ludwig XVI. hielt er sich in Korsika auf34 und notierte in seinen später erscheinenden Memoiren, in denen er über sich selbst stets in der 3. Person schrieb: «Eingehend beschäftige er sich mit der Geschichte der französischen Monarchie, um die Ursachen kennenzulernen, die den Sturz des Königtums herbeigeführt hatten. Die damals erschienenen Sammlungen geheimer Memoiren über die Regierung Ludwigs
XIV. und Ludwigs XV. (…), wurden von dem Oberleutnant ebenso gründlich studiert und exzerpiert wie die Reise des Engländers Cox durch die Schweiz.»35
Tatsächlich war Napoleon Bonaparte bereits als Schüler an der Militärschule hochbelesen,36 wobei sein besonderes Interesse antiken Tragödien, klassischen Dramen und der Geschichte galt. Schwärmerische Bewunderung hegte der Offiziersanwärter für Alexander den Grossen, Julius Cäsar und Jean-Jacques Rousseau. Diese Verehrung reichte so weit, dass er 1791 eine Dissertation über Rousseau verfasste, die dann unbeachtet im Archiv der Lyoner Akademie verstaubte. Nachdem Napoleon Augenzeuge des Massakers an den Schweizer Gardisten beim Tuileriensturm geworden war (vgl. S. 9 ff.) und 16 500 Menschen während der Schreckensherrschaft teilweise willkürlich guillotiniert worden waren, verwandelte sich seine «unbedingte Vergötterung Rousseaus in kritisches Studium». In seinen Memoiren liest dies sich wie folgt: «Im allgemeinen huldigte er auch jetzt noch den Idealen des Genfer Philosophen, doch suchte er die allzu extremen Theorien des Naturapostels auf eine realere, praktisch leichter zu verwirklichende Formel zu bringen.»37
Jahre später, als Napoleon zum mächtigsten Mann Europas aufstiegen war, legte ihm der französische Aussenminister Charles-Maurice de Talleyrand eines Tages überraschend das vergilbte Heft mit seiner Dissertation auf den Tisch. Der Kaiser nahm das Manuskript und warf es, ohne dass der intrigante Minister es hätte verhindern können, in den offenen Kamin mit den Worten: «Ah, das ist nur eine Schülerarbeit.» Der entsetzte Talleyrand versuchte das Werk dem Feuer zu entreissen, «ausser sich, dass er nicht vorher eine Abschrift hatte anfertigen lassen». Später erzählte Napoleon auf St. Helena seinem englischen Arzt Barry O’Meara über den Vorfall: «Ich aber war recht froh, weil die Abhandlung voll republikanischer Ideen war und einen überspannten Drang nach Freiheit verriet, der durch die lebhafte Philosophie noch verstärkt wurde. Die Stimmung der Zeit hatte mich allzu sehr begeistert; was in dem Aufsatz gesagt war, passte aber nicht für die Praxis.»38
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Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) von Allan Ramsay, Öl auf Leinwand, 1766. Rousseau übte mit seiner Philosophie grossen Einfluss auf Napoleon aus.
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Napoleon in seinem Arbeitszimmer von Paul Delaroche, Öl auf Leinwand, 1838. Napoleon war als junger Offizier ein grosser Bewunderer Rousseaus.
Der Sonderfrieden von Basel
Die französischen Revolutionsarmeen drängten 1794/95 die Alliierten an allen Fronten zurück. Die Neutralität der Schweiz bot hierbei der mit halb Europa Krieg führenden Republik entlang der 300 Kilometer langen Juragrenze einen wirkungsvollen Flankenschutz, an der sie keine Truppen aufzubieten brauchte. Die strategische Lage Frankreichs verbesserte sich noch weiter, als der Basler Oberzunftmeister Peter Ochs in seinem barocken Stadtpalais Holsteiner Hof im Frühjahr 1795 eigenmächtig einen Sonderfrieden mit Preussen vermittelte.39 Dieser versprach beiden Parteien erhebliche Vorteile. Preussen erhielt im Osten freie Hand, sich gemeinsam mit Russland den Rest Polens einzuverleiben, das anschliessend für über 120 Jahre von der europäischen Landkarte verschwunden sein sollte. Frankreich seinerseits hatte durch den Frieden einen mächtigen Kriegsgegner weniger und konnte sich nun mit all seiner militärischen Kraft auf Österreich werfen. Im Zuge dessen sah eine weiträumige Strategie der französischen Truppen einen Zangenangriff auf Wien beidseits der Alpen im Norden über Süddeutschland und im Süden über Oberitalien vor.40 In Nizza41 betrat im Frühjahr 1796 ein junger Mann die Bühne der Geschichte, der die Welt in atemloses Staunen versetzen sollte – Napoleon.
Napoleon in Italien und der Schweiz
Der mittlerweile zum General beförderte 27-Jährige jagte als Oberbefehlshaber der französischen Italienarmee die Österreicher in einem Blitzkrieg durch Oberitalien. Im oftmals täglich wechselnden Hauptquartier des Feldherrn diente als Schatzmeister Rudolf Emanuel von Haller aus Bern. Der skrupellose Kaufmann war nicht nur zuständig für die Besoldung der Truppen, die Lebensmittel- und Holzbeschaffung, sondern auch für den Verkauf von säkularisiertem Kloster- und Kirchengut, wobei er erklärte, dass er «zu sehr Kaufmann sei, um sich eine bleibende politische Überzeugung zu leisten».42
Napoleon, der aus seinem Italienfeldzug sowohl politisch als auch finanziell das grösstmögliche Kapital zu schlagen gedachte, schickte im
Januar 1797 Truppen in den Kirchenstaat, um ihn zu besetzen und auszuplündern. Beim Raubzug am Tiber federführend mit dabei war Schatzmeister Haller, der die Plünderung des Vatikans bis hin in die Privatgemächer des 80-jährigen Pontifex leitete und dem Papst zwei kostbare Ringe persönlich vom Finger riss.43 Im Mai 1797 liess Napoleon Truppen in das neutrale Venedig einmarschieren und die Serenissima ihres Staatsschatzes, ihrer Kriegsschiffe und zahlreicher Kunstreichtümer, einschliesslich der antiken kupfernen Pferde vom Markusdom, berauben. Die anschliessende politische Auslöschung der mehr als 1000 Jahre alten Seerepublik galt vielen Eidgenossen als Fanal, machte dies doch deutlich, was Napoleon die Neutralität eines Landes galt.44
Verstärkt wurde dieser Eindruck noch, als der siegreiche General am 18. Juni 1797 in einem kühnen Erkundungsritt von Como an den Luganersee kam und damit zum ersten Mal Schweizer Boden betrat.45 In diesem Gebiet hatten die eidgenössischen Untertanengebiete Veltlin, Chiavenna und Bormio, durch französische Agenten unterstützt, gefordert, ein gleichberechtigtes Mitglied des Freistaats der Drei Bünde zu werden. Deren Rat lehnte dieses Bestreben ab, woraufhin Napoleon die nach Gleichberechtigung strebenden Provinzen kurzerhand dem französischen Satellitenstaat der Cisalpinischen Republik zuschlug.46
Das Schicksal der alten Eidgenossenschaft
Das Laub fiel welk von den alten Bäumen des Parks der Villa Manin47 und schien fast ein Symbol zu sein für das, was der Schweiz bevorstand. Als Napoleon und der österreichische Staatskanzler Johann Amadeus Franz de Paula Freiherr von Thugut in der Sommervilla des letzten Dogen von Venedig am 17. Oktober 1797 den Friedensvertrag von Campo Formio48 unterzeichneten, war damit auch das Schicksal der alten Eidgenossenschaft besiegelt. In einem geheimen Zusatzartikel wurde das Land indirekt der französischen Einflusssphäre zugesprochen, und es war bereits, obwohl noch kein Schweizer etwas da von wusste, von einer «Helvetischen Republik» die Rede.49 Kaiser Franz II., den letzten Herrscher des Heiligen Römischen Reichs
Deutscher Nation, der den Vertrag einige Wochen später ratifizierte, skizzierte ein Biograf wie folgt:
«Er war ein zaudernder Bewahrer, ein Feind alles Neuen und aller Neuerungen, den kaum etwas aus der Fassung brachte und der nichts bewegte (…). In seiner Regierungszeit wurde Österreich zu einem Hort der Reaktion, zum Inbegriff staatlicher und gesellschaftlicher Unbeweglichkeit.»50
Franz’ Wunsch, das Alte zu bewahren, ging im Privaten so weit, dass er für seine umfangreiche Sammlung ausgestopfter Tiere auch einen Schwarzafrikaner nach dessen natürlichem Ableben ausstopfen liess.51 Das politische Hauptaugenmerk des von seinem Gottesgnadentum tief überzeugten Franz fiel auf die Stärkung seiner österreichischen Hausmacht. Der Umstand, dass ihm das Heilige Römische Reich, dessen Kaiser er seit 1792 war, nicht sonderlich viel galt, sollte wesentlich zu dessen Ende im Jahr 1806 beitragen. Ein roter Faden, der sich durch die gesamte Regierungszeit des Habsburgers zog, war dessen Eidbrüchigkeit. Hierzu zählte u. a., dass er im Frieden von Campo Formio im Nachhinein der Abtretung des Veltlin an die Cisalpinische Republik zustimmte, obwohl er als Freiherr von Rhäzuns und Glied des Grauen Bunds diesem zur Loyalität verpflichtet gewesen wäre.52 Als territoriale Gegenleistung wurde Graubünden dem Einflussbereich der Habsburger zugesprochen und das länderhungrige Österreich er hielt aus Napoleons Händen als neue Provinz das überfallene Venedig einschliesslich des Grossteils von Venetien.53
Der Friedensvertrag von Campo Formio hatte zwar die seit 1792 andauernde Auseinandersetzung zwischen Österreich und Frankreich beendet, nicht aber den 1793 ausgerufenen Reichskrieg mit dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Über diesen Frieden sollte ein eigener Kongress befinden. Als Tagungsort schlug Kaiser Franz II. das neutrale Bern vor,54 was von Napoleon entschieden abgelehnt wurde. Sucht man nach den Gründen dieser Ablehnung, so kommt der Schweizer Historiker Theo Tschuy der Wahrheit vermutlich recht nahe, wenn er schreibt: «Er [Napoleon] wusste, dass es nicht anging, in den Mauern einer Stadt über Frieden zu verhandeln, den Gastgebern für
Vertrag von Campo Formio [sic] zwischen der Französischen Republik, vertreten durch Napoleon Bonaparte, und Österreich, vertreten durch Martius Mastrilli, Ludwig von Cobenzl, Maximilian von Merveldt und Ignaz von Degelmann, 17. Oktober 1797. Die Abbildung zeigt die letzte Seite des Vertrags mit den Unterschriften und Siegeln der Unterzeichner. Der Friedensvertrag von Campo Formio veränderte die aussenpolitische Situation der Schweiz grundlegend. Die Eidgenossenschaft hatte Frankreich durch ihre Neutralität im Verlauf des I. Koalitionskriegs an dessen 300 Kilometer langen Ostgrenze einen wirkungsvollen Flankenschutz geboten. Nach Campo Formio war dieser strategische Vorteil nicht mehr notwendig, was für die Schweiz verhängnisvolle Folgen hatte.
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ihre freundliche Aufmerksamkeit zu danken, um sie kurz darauf zu überfallen. Auch in Frankreich hätten sich die Menschen über eine solche Ruchlosigkeit empört.»55
Als Austragungsort des Kongresses wurde daher das badische Rastatt bestimmt, wohin Napoleon als Generalbevollmächtigter am 17. November 1797 aufbrach.56 Die rasante Kutschfahrt von Mailand durch die Schweiz verlief in der ihm eigenen atemberaubenden Geschwindigkeit. Die Art und Weise, wie Napoleon reiste, beschrieb der Schriftsteller Emil Ludwig wie folgt: «Er ist der erste, der die Reibung in der Bewegung überwindet, und reist er auch nicht so rasch wie wir, so reist er doch rascher als je ein Mensch vor ihm (…). Auf dem Bock sitzt der Mamelucke [den es 1797 noch nicht gab], zwei Reiter vor ihm lenken die sechs [acht] Pferde. Stets ist der Wagen von einer Legion von Stallmeistern, Pagen, Jägern umgeben, und wenn sich der Zug fortwälzt, der Weg wird eng, alles wirbelt durcheinander in Hitze und Staub, in Nacht und Nebel, so stehen die Bauern staunend am Wege (…).»57
In Genf wurde Napoleon mit Kanonendonner, roten Teppichen und Glockengeläut empfangen.58 Der hagere General sagte bei einem offiziellen Festakt der Stadt seinen Schutz zu – was bedeutete, dass sie einige Monate später annektiert würde. In Lausanne betonte Napoleon, dass «kein Volk dem anderen Untertan sein dürfe», was mit Jubel von den Bewohnern quittiert wurde – die von den Eroberungsplänen nichts ahnten.59 Während eines Radbruchs seiner Kutsche beim Beinhaus von Murten westlich von Bern wurde Napoleon einige Zeit aufgehalten.60 Es war dasselbe Beinhaus, über das der spätere NapoleonVerehrer Goethe 1826 folgendes Gedicht schrieb:
Bei Betrachtung von Schillers Schädel
«Im ernsten Beinhaus war’s, wo ich beschaute Wie Schädel Schädeln angeordnet passten Die alte Zeit gedacht’ ich, die ergraute. Sie stehn in Reih’ geklemmt’ die sonst sich hassten, Und derbe Knochen, die sich tödlich schlugen
Sie liegen kreuzweis, zahm allhier zu rasten. Entrenkte Schulterblätter! was sie trugen, Fragt niemand mehr, und zierlich tät’ge Glieder, Die Hand, der Fuss, zerstreut aus Lebensfugen. Ihr Müden also lagt vergebens nieder, Nicht Ruh im Grabe liess man euch, vertrieben Seid ihr herauf zum lichten Tage wieder, Und niemand kann die dürre Schale lieben, Welch herrlich edlen Kern sie auch bewahrte. Doch mir Adepten war die Schrift geschrieben, Die heil’gen Sinn nicht jedem offenbarte, Als ich inmitten solcher starren Menge Unschätzbar herrlich ein Gebild gewahrte, Dass in des Raumes Moderkält und Enge Ich frei und wärmefühlend mich erquickte, Als ob ein Lebensquell dem Tod entspränge. Wie mich geheimnisvoll die Form entzückte! Die gottgedachte Spur, die sich erhalten! Ein Blick, der mich an jenes Meer entrückte, Das flutend strömt gesteigerte Gestalten. Geheim Gefäss! Orakelsprüche spendend, Wie bin ich wert, dich in der Hand zu halten? Dich höchsten Schatz aus Moder fromm entwendend Und in die freie Luft, zu freiem Sinnen, Zum Sonnenlicht andächtig hin mich wendend. Was kann der Mensch im Leben mehr gewinnen, Als dass sich Gott-Natur ihm offenbare? Wie sie das Feste lässt zu Geist verrinnen, Wie sie das Geisterzeugte fest bewahre.»61
Einige Wochen später sollte das von edlem Geist bedichtete Beinhaus von französischen Truppen niedergebrannt werden.
Als der ehrgeizige Feldherr an jenem trüben Novembertag vor dem verwitterten Gebäude stand, sagte er zu seinen Begleitern, dass
«man die ganze Gegend mit 2000 Mann besetzen könne».62 Die Aussage darf als Beleg gelten, dass Napoleon die Reise durch die Schweiz auch zur militärischen Erkundigung des längst beschlossenen Angriffskriegs nutzte.63 In den Abendstunden bestieg er erneut die Kutsche, die durch die Dunkelheit in Richtung Aare rollte.