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1. Alte Idee findet neuen Zulauf

Utopie realisieren – jetzt!

Nun bin ich nicht mehr jung. Mein Berufsleben neigt sich seinem Ende zu. Was mich jedoch vom ersten Arbeitstag an all die vielen verflossenen Jahre immer treu begleitet hat, steht derweil erst am Anfang eines langen Wegs: das bedingungslose Grundeinkommen. Seine Zeit ist ge kommen. Jetzt.

Nach den dystopischen Erfahrungen der Pandemie(bekämpfung) ist die Realisierung einer Utopie dringlicher als jemals zuvor.243 Die Gesellschaft braucht jetzt eine positive Blaupause einer gelingenden, glücklichen Zukunft – gerade als Gegenwelt zur Dystopie der Coronazeit. Das Grundeinkommen erfüllt genau diese Forderung. Es ist das Herz eines New Deal für das 21. Jahrhundert – eines wahrhaftigen Generationenvertrags der Gesellschaft von heute mit ihren Kindeskindern. Es liefert ein Gerüst, das einem wirklich nachhaltigen Anspruch unserer Zeit gerecht wird: kommenden Generationen eine bessere Welt zu übergeben.

Utopien wie Dystopien tragen beide den Keim einer sich selbst erfüllenden Voraussage in sich. Wer davon ausgeht, dass die besten Tage der Menschheit nicht vor, sondern hinter uns liegen, neigt dazu, zu lange an aus der Zeit gefallenen Gesetzmäßigkeiten festzuhalten. Genau das führt dann in der Tat in den Abgrund. Denn wer zu spät kommt, wird bekanntlich von der Geschichte bestraft. Der interdisziplinär forschende Wirtschaftswissenschaftler Mancur Olson beschreibt in seinem Buch Aufstieg und Niedergang von Nationen, wie mikroökonomische Profitmaximierung Einzelner zu makroökonomischem Scheitern ganzer Volkswirtschaften führen kann.244 Wenn Personen zunächst die Freiheit brauchen, um an die Macht zu kommen und dann die Macht missbrauchen, um die Freiheit anderer einzuschränken, ver-

liert Marktwirtschaft für die Masse jegliche Attraktivität. Ihr Untergang ist dann vorprogrammiert.

»Im Anfang war das Wort« Genauso eigendynamisch, nun aber optimistisch nach vorne gerichtet, kann aus Utopien Realität werden. Ein Beginn gelingt mit der »Macht positiver Ideen«. Das war schon zu Beginn der Menschheit nicht anders: »Im Anfang war das Wort.« Es bot der Genesis Orientierung. Genauso bedarf es jetzt nach dem Schrecken der Pandemie(bekämpfung) einer positiven Zukunftsvision. Das Grundeinkommen entspricht exakt dieser Erwartung. Es wird vom Optimismus getrieben, dass die Kindeskinder an sich weit bessere Chancen auf ein erfülltes, längeres und gesünderes Leben als ihre Vorfahren haben. Das mag utopisch klingen. Ist es aber überhaupt nicht. Neue Technologien der digitalen Datenwirtschaft haben das Potenzial, das Dasein aller zu erleichtern und zu verbessern. Voraussetzung dafür allerdings bleibt, dass wir die Weichen jetzt richtig stellen. Nicht nur eigene Interessen, sondern auch jene nachfolgender Generationen müssen beachtet werden. Das sind Kern, Wesen und Forderung der heutzutage richtigerweise so hochgepriesenen Nachhaltigkeit.

Grundeinkommensmodelle ermöglichen es, Utopien Wirklichkeit werden zu lassen. Sie sind in jeder Dimension des Alltagslebens konsequent auf Umstände des 21. Jahrhunderts ausgerichtet. Damit erweisen sie sich als die eigentlichen Realisten. Denn sie stehen der Realität wesentlich näher als alle sozialstaatlichen Alternativen, die auf veralteten Ideologien aus längst verblichenen Zeiten der Agrar und Industriegesellschaften aufbauen.

Hohe Kunst einer gemeinsam getragenen Politik ist es, dafür zu sorgen, dass das individuelle Streben nach Glück mehr oder weniger parallel mit verbesserten Lebensbedingungen aller einhergeht. Wenn Hand in Hand individueller Profit zu gesamtwirtschaftlichem Benefit wird, hat Politik das maximal Mögliche geschafft. Aber die Parallelität individueller und gesellschaftlicher Ziele ergibt sich nicht von allein.

»Freiheit«, »Sicherheit« und »Solidarität« stehen in einem Spannungsfeld. Genau deshalb genügt es gerade auch für Liberale nicht, nur einseitig für marktwirtschaftliche Freiheiten zu werben. Vielmehr müssen die Dimensionen »Sicherheit« und »Gerechtigkeit« mitverfolgt werden. Gelingt es, alle Sphären in einem ausgewogenen Gleichgewicht auszutarieren, ist das auch für »mehr Freiheit« von Vorteil.

Das Grundeinkommen ist nichts für träumende Romantiker. Es ist die Antwort nüchterner Pragmatikerinnen und rationaler Marktwirtschaftler. Es ist ein konkretes Angebot an alle. Es bietet jene (Grund-) Absicherung, die Menschen erst ermächtigt, jederzeit eigenverantwortlich und frei zu handeln. Es ist ein New Deal: »Freiheit« auf den Märkten wird mit einer jederzeit und immer bedingungslos garantierten (Ver-)Sicherung aller gegenüber existenziellen persönlichen Risiken erkauft. Und »Gerechtigkeit« wird Genüge getan, weil die Gesellschaft allen ein Leben lang die Chance auf Teilhabe finanziert – bedingungslos und ohne Gegenleistung. Zur »Gerechtigkeit« trägt auch bei, dass »brutto« zwar alle gleich viel erhalten, aber »netto« nicht alle gleich stark zur Finanzierung beitragen müssen. Wer ein höheres Einkommen hat, muss »netto« (also alles in allem) einen größeren Beitrag für alle leisten als Personen mit einem geringeren Einkommen. Diese Ungleichbehandlung gilt in absoluter Höhe genauso wie auch in relativem Bezug zum Bruttoeinkommen. Nur wer wenig oder nichts verdient, lebt auf Kosten der Allgemeinheit. Das ist aber heute nicht anders.

Was spricht gegen ein positives Menschenbild? Wieso eigentlich soll ein rundum positives Menschenbild utopisch sein? Ja, es trifft zu: Grundeinkommen gehen davon aus, dass Menschen soziale Wesen sind, die nach einem besseren Leben für sich und ihre Angehörigen streben. Es wird – empirisch gut belegt – unterstellt, dass mündige, eigenverantwortlich entscheidende Personen am besten wissen, was zu tun und zu lassen ist, um glücklich zu sein oder zu werden. Dieser Überzeugung gilt es nicht nur mit marktwirtschaftlichen Spielregeln in der Sphäre der Ökonomie gerecht zu werden. Ihr ist

grundsätzlich und überall Rechnung zu tragen. Was sich im Ökonomischen bewährt, muss doch auch für das Soziale gelten!

Deshalb verzichten Grundeinkommensmodelle darauf, paternalistisch von oben irgendwelche Bedingungen einzufordern, um für soziale Unterstützung berechtigt zu sein (oder zu werden). Sie schreiben Menschen nicht vor, wie sie sich zu verhalten halten. Das Grundeinkommen wird unbesehen persönlicher Eigenschaften und Vorlieben, Lebens- oder Familienformen gewährt. Es setzt auf Eigenverantwortung und verschafft allen gleichermaßen eine finanzielle Grundausstattung. Es versorgt Menschen mit Geld. So werden sie ermächtigt, selbst zu entscheiden, wofür sie es ausgeben. Und es wird darauf verzichtet, sie zu bevormunden oder gar zu zwingen, etwas zu tun, was sie nicht wollen. Liberaler geht eigentlich gar nicht!

Das Grundeinkommen unterstützt Leute, die motiviert sind, etwas zu leisten. Denn die Zukunft Deutschlands, Österreichs und der Schweiz hängt von den Leistungswilligen ab. Das ist genauso betriebswie volkswirtschaftlich zutreffend. Menschen, die nicht wollen, dazu zu zwingen, etwas zu tun, was sie nicht können, kann keine Erfolgsstrategie sein. Arbeitszwang dient primär als Symbol der Abschreckung. Wohlstand wird jedoch nicht durch Gängelung erreicht. Er wird durch die Kreativen, die Innovativen und die Leistungsträger geschaffen. Sie müssen genauso gefördert werden, wie die Schwächeren gegen Not und Elend abzusichern sind.

Das bedingungslose Grundeinkommen ist beides: Es ist radikal gerecht, aber gleichzeitig eben auch liberal und effektiv. Es bietet einer durch die Pandemie(bekämpfung) verunsicherten, durch absehbare Veränderungen herausgeforderten Bevölkerung ökonomische (Ab) Sicherung. Es verhindert (absolute) ökonomische Armut und vermindert Gefahren sozialer Ausgrenzung. Es gewährt immer wieder eine weitere Chance für einen Neuanfang – ohne Vorbedingung und unabhängig von vergangenen (Miss)Erfolgen. Jedoch setzt es auf Eigenverantwortlichkeit, Selbstständigkeit und Leistungswille. Wer viel leistet, wird wirtschaftlich besser dastehen, als wer wenig arbeitet. Wer mehr arbeiten und mehr als das Minimum haben möchte, wird dazu ermäch-

Über den Autor

Thomas Straubhaar (*1957) ist Professor für Volkswirtschaftslehre mit dem Schwerpunkt internationale Wirtschaftsbeziehungen an der Universität Hamburg. Von 1999 bis 2014 hat er das Hamburgische WeltWirtschaftsInstitut HWWI und dessen Vorgängerinstitut HWWA geleitet. Er war Gastprofessor an der UNAM und ITAM in Mexico City (2015 und 2016) und Research Fellow der Transatlantic Academy in Washington DC (2010–2017). Thomas Straubhaar gehört dem Kuratorium der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit an. Seit vielen Jahren schreibt er regelmäßig für die Tageszeitung Die Welt.

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