Kurzfassung: Auf der Suche nach Halt

Page 1

OBS-Arbeitspapier 62

Simon Storks, Rainer Faus, Jana Faus

Auf der Suche nach Halt Die Nachwendegeneration in Krisenzeiten Kurzfassung der Studie

Frankfurt am Main, im November 2023

Allgemeiner Kontext zur Studie

Auf einen Blick

Das Arbeitspapier schließt an die OBS-Studie zur

Die Nachwendegeneration zeigt sich kri­

ersten Nachwendegeneration in Ost- und West­

senmüde und überfordert von den Anpas­

deutschland aus dem Jahr 2019 an (AH 96). Im

sungen der letzten Jahre. Es fehlt an einer

Mittelpunkt steht die Frage, wie die multiplen

positiven Zukunftserzählung.

Krisen der vergangenen Jahre wahrgenommen

Die Sichtweisen auf Politik sind in Ost- und

wurden und wie sich die Krisenerfahrungen auf

Westdeutschland ähnlich negativ: Ihr wird in

Einschätzungen zu persönlicher Zukunft, politi­

Bezug auf die aktuellen Herausforderungen

scher Handlungsfähigkeit und gesellschaftlichen

wenig Lösungskompetenz zugesprochen.

Zusammenhalt auswirken.

Nach 1989 geborenen jungen Menschen fehlt es an positiven Erfahrungen wirksamer

Die Ergebnisse der Vorgängerstudie zeigten eine

politischer Teilhabe. Politik wird vor allem

verbreitete Unzufriedenheit in der Nachwende­

als Fremdbestimmung wahrgenommen.

generation über das Funktionieren des demo­

Die gesellschaftliche Stimmung wird als

kratischen Systems in Deutschland. Gleichzeitig

gespalten und verhärtet empfunden. Viele

konnte eine ausgeprägte Unterstützung für die

meiden politische Diskussionen und zie­

Demokratie als bestes Regierungssystem beob­

hen sich ins Private zurück.

achtet werden. Darüber hinaus war der Blick in

In Westdeutschland ist das Wissen über die

die Zukunft unter den jungen Befragten in Ost- wie

Umbrüche der Nachwendezeit und deren

Westdeutschland gleichermaßen zuversichtlich.

bis heute wirkenden Folgen noch immer gering.

Seitdem haben die Corona-Pandemie und Russ­ lands Angriffskrieg auf die Ukraine die Gesell­

OBS-ARBEITSPAPIER 62 | KURZFASSUNG

1


Auf der Suche nach Halt

schaft erschüttert und Unsicherheiten verstärkt.

fragen. Hierfür wurde ein zweistufiger, qualitativer

Junge Menschen treffen diese Unsicherheiten in

und explorativer Forschungsansatz angewendet.

einer Lebensphase, in der sie das Fundament für

Teilgenommen haben volljährige Ost- und West­

ihren eigenen weiteren Lebensweg legen. Dabei

deutsche, die nach 1989 geboren wurden. In der

ist schon jetzt klar, dass ihnen die Zukunft weitere

ersten Forschungsstufe wurden vier Fokusgrup­

Transformationsleistungen abverlangen wird.

pen mit homogener Zusammensetzung durchge­ führt: jeweils eine Gruppe mit 18- bis 24-jährigen

Viele gegenwärtige Studien weisen darauf hin,

Westdeutschen, mit 25- bis 34-jährigen West­

dass die Krisenerfahrungen der vergangenen

deutschen, mit 18- bis 24-jährigen Ostdeutschen

Jahre einen negativen Einfluss auf die Demokra­

sowie mit 25- bis 34-jährigen Ostdeutschen. Die

tiezufriedenheit und das Vertrauen in politische

Fokusgruppen bestanden aus jeweils sieben

Parteien, Parlament und Regierung haben. Auch

Teilnehmenden. In der zweiten Forschungsstufe

zeigt sich, dass junge Generationen durch die

wurden Teilnehmende aus jeweils beiden Alters­

Krisen in besonderer Form belastet sind, sich in

gruppen und Ost- wie Westdeutschland in zwei

dieser Belastung jedoch von der Politik vernach­

Workshops zusammengebracht. Hierdurch konn­

lässigt fühlen.

ten die zunächst homogenen Gruppen in hetero­ gener Konstellation gemeinsam über Unterschie­

Vor diesem Hintergrund nimmt das Arbeitspapier

de bzw. Gemeinsamkeiten diskutieren.

die Krisenresilienz der Nachwendegenera­tion in den Blick. Aus der Psychologie stammend hat der Begriff der Resilienz in den letzten Jahren auch

Ergebnisse

für die Sozialforschung an Bedeutung gewonnen.

Fehlende Zuversicht und Zukunftspessimismus

Resilienz bezeichnet dabei die Widerstandsfä­

In den Fokusgruppen und Workshops zeigen sich

higkeit von Gesellschaften, Krisen, Schocks und

die Teilnehmenden krisenmüde und überfordert

Katastrophen unbeschadet zu überstehen. Als

von den Anpassungen, die ihnen die vergangenen

Bedingungen für diese gesellschaftliche Wider­

Jahre abverlangt haben. Es wird deutlich, dass eine

standsfähigkeit gelten Zuversicht und Zukunfts­

positive Zukunftserzählung fehlt. Die Zukunft wird

optimismus, Vertrauen in Politik und Demokra­

vielmehr mit Un­sicherheit verbunden. Auf der Su­

tie sowie gesellschaftlicher Zusammenhalt und

che nach Stabilität und Zuversicht romantisieren

sozia­le Gerechtigkeit.

die Befragten mitunter die Vergangenheit oder nut­ zen die Idee vom Auswandern als gedanklichen

Vorgehen Die Studie beleuchtet politische Einstellungen

Fluchtpunkt, um das Versprechen, das eigene kleine Glück noch finden zu können, weiter auf­ rechtzuerhalten.

und gesellschaftspolitische Stimmungen in der Nachwendegeneration, um nach den Bedingun­

Da Zuversicht und Zukunftsoptimismus zu den

gen von Krisenresilienz in dieser Generation zu

Bedingungen einer resilienten Gesellschaft ge­

2

OBS-ARBEITSPAPIER 62 | KURZFASSUNG


Simon Storks, Rainer Faus, Jana Faus

hören, sind diese Ergebnisse besorgniserregend.

beitet werden. So wird hervorgehoben, dass man

Besonders da längst nicht alle Krisen ausgestan­

für seine soziale Situation und seinen Wohlstand

den sind: Einige, wie die Klimakrise, werden uns

selbst verantwortlich sei. Vor diesem Hintergrund

noch jahrzehntelang begleiten, neue Herausfor­

werden Armut, Arbeitslosigkeit oder Obdachlo­

derungen werden dazukommen.

sigkeit von einigen Teilnehmer:innen als indivi­ duelles Selbstverschulden gewertet.

Politische Ohnmacht und Unzufriedenheit Auch um die zweite Bedingung für Resilienz, das

Der Umgang mit gegenwärtigen und drohenden

Vertrauen in Politik und Demokratie, steht es in der

Krisen, vor allem aber das Gelingen anstehender

Nachwendegeneration derzeit nicht gut. Gefühle

Transformationen und die Gestaltung von Zukunft

von politischer Ohnmacht sind keine Seltenheit,

sind jedoch von einem funktionierenden Mitei­

da es offensichtlich an Erfahrungen politischer

nander abhängig. Von einem Gefühl, dass es alles

Selbstwirksamkeit fehlt. Es wird kritisiert, dass

in allem gerecht zugeht. Zudem braucht es ei­

die Politik planlos auf Entwicklungen reagiere,

nen offenen, funktionierenden gesellschaftlichen

statt Herausforderungen aktiv zu gestalten. Dies

Dia­log, um in einer demokratischen Gesellschaft

wird auch mit Blick auf Themen und Herausforde­

Aushandlungsprozesse und Kompromissfindung

rungen junger Bürger:innen hervorgehoben – um

zu ermöglichen. Doch viele Teilnehmer:innen äu­

die Bundes- und Landesregierungen zwar wüss­

ßern, dass sie sich in politischen Auseinanderset­

ten, an denen aus Sicht der Teilnehmenden je­

zungen eher konfliktvermeidend verhalten, da es

doch nicht aktiv gearbeitet wird.

zu viele verhärtete Fronten gebe.

Trotz des geringen Vertrauens in die Politik zeigt

Annäherung zwischen Ost und West

sich jedoch eine breite Unterstützung für die

In den Diskussionen der Fokusgruppen über die

Demokratie als Regierungsform. Allerdings wird

innerdeutschen Beziehungen bestätigen sich

Demokratie als etwas Selbstverständliches ange­

zentrale Ergebnisse der Vorgängerstudie: Die Per­

nommen und nicht als etwas, um das man sich

spektive auf die Umbrüche in den 1990er Jahren

fortlaufend bemühen muss.

ist maßgeblich durch persönliche Nähe und Be­ rührungspunkte mit ostdeutscher Geschichte ge­

Verteilungskämpfe und fehlender Dialog

prägt. In den westdeutschen Fokusgruppen zeigt

Bei den Einschätzungen der Nachwendegenera­

sich wenig Wissen über diese Transformationen

tion darüber, wie gerecht die deutsche Gesell­

und deren bis heute wirkenden Folgen.

schaft ist, zeigen sich mit Blick auf ältere Ergeb­ nisse keine Verbesserungen. Viele Teilnehmer:in­

Mit Blick auf Vorurteile gegenüber Ost und West

nen haben den Eindruck, aktuell selbst zu kurz zu

sind sich die Teilnehmenden einig, dass über Ost­

kommen. Das mündet in sich verschärfenden Ver­

deutschland noch immer in Form von Defiziterzäh­

teilungskonflikten, die in den Diskussionen teil­

lungen gesprochen wird. Gleichzeitig beobachten

weise durch eine Abgrenzung nach unten verar­

sie, dass Unterschiede in der Sozialisation mehr

OBS-ARBEITSPAPIER 62 | KURZFASSUNG

3


Auf der Suche nach Halt

und mehr abnehmen. Fortbestehende Unterschie­ de und daraus resultierende Vorurteile seien vor allem noch in den älteren Generationen verbreitet. Während auf der Ebene des Miteinanders weitere Annäherungen erwartet werden, wird insbeson­ dere von den ostdeutschen Teilnehmer:innen die weiterbestehende Ungleichheit in den Arbeitsund Lebensverhältnissen zwischen Ost und West kritisiert. Solange keine Lohngleichheit bestehe, sei die Deutsche Einheit noch nicht erreicht.

Ausblick In der Nachwendegeneration, die faktisch mehr Lebenszeit vor sich hat als alle älteren Genera­ tionen, ist das Gefühl verbreitet, weniger Zukunft als vorherige Generationen zu haben – ein kollek­ tiver Pessimismus, der zu einem nicht zu unter­

Über die Autor:innen Simon Storks ist Seniorberater bei der pollytix strategic research gmbh. Er ist spezialisiert auf poli­ tische Partizipationsforschung sowie Methoden der empirischen Sozialforschung. Rainer Faus ist Geschäftsführer von pollytix. Gemeinsam mit Si­ mon Storks hat er die OBS-Stu­ die „Im vereinten Deutschland geboren – in den Einstellungen gespalten“ (AH 96) verfasst. Jana Faus leitet ebenfalls die Ge­ schäfte von pollytix. Sie forscht seit mehr als 15 Jahren zu poli­ tischen und gesellschaftlichen Themen in Asien, Australien und Deutschland.

© Philipp Jester

© Philipp Jester

© Urban Ruths

schätzenden Problem für die Demokratie werden

Impressum

kann. Denn Zuversicht und Zukunftsoptimismus

Herausgeber: Otto Brenner Stiftung, Jupp Legrand, Wilhelm-­ Leuschner-Straße 79, 60329 Frankfurt am Main, Tel.: 069-6693-2810, E-Mail: info@otto-­brennerstiftung.de, www.otto-brenner-­stiftung.de

gehören zu den Bedingungen einer resilienten Gesellschaft. Es bleibt daher eine Aufgabe für Ak­ teur:innen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gleichermaßen, ein echtes Zukunftsversprechen zu erarbeiten und in der Realität wirksam werden

Veröffentlicht unter CC BY-NC-SA 4.0-Lizenz.

zu lassen. Zu einem solchen Zukunftsversprechen gehört für die Nachwendegeneration auch die Herstellung

OBS-Arbeitspapier 62

von Lohngleichheit zwischen Ost und West. Dazu braucht es Möglichkeiten der politischen Mitbe­ stimmung, um das Gefühl der Selbstwirksamkeit zu stärken: Demokratie lebt vom Versprechen, die OBS-Arbeitspapier 62

Zukunft mitgestalten zu können. verbreitete Auf derDas Suche nach Halt Die Nachwendegeneration in Krisenzeiten

Gefühl von Ohnmacht wirkt diesem Versprechen entgegen.

4

Simon Storks, Rainer Faus, Jana Faus

Auf der Suche nach Halt Die Nachwendegeneration in Krisenzeiten IG METALL

www.otto-brenner-stiftung.de

EIN PROJEKT DER OTTO BRENNER STIFTUNG Gliederungsname FRANKFURT AM MAIN 2023

Mehr Infos sowie die Lang­fassung der Studie finden Sie auf unserer Website: www.ottobrenner-­stiftung.de

OBS-ARBEITSPAPIER 62 | KURZFASSUNG


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.