-ZEITSCHRIFT FÜR DIE ARBEITSWELT
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Pensionen: Sozialpartner machen der Regierung Vorschläge für gesünderes Arbeiten Seite 3
Reportage: Wie recht und Meinung: Politikwissenschafter schlecht sich „ganz normale“ Emmerich Tálos zehn Jahre nach der ÖGBMenschen durchwursteln Seite 5 Urabstimmung Seite 12
ENTLASTEN Die wahren LeistungsträgerInnen brauchen spürbare Erleichterungen.
© ÖGB/Paul Sturm
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DIE
Stress und Stressprävention im Betrieb Welche Arbeitsbedingungen lösen Arbeitsstress aus? Welche Auswirkungen hat das auf die Gesundheit, und wie kann Arbeitsstress ermittelt werden? Dienstag, 29. November 2011, 18.00 Uhr Anmeldung unter servicecenter@oegb.at oder 01/534 44-39100 erforderlich. Johann-Böhm-Platz 1, 1020 Wien
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Solidarität
editorial
NANI KAUER
Eine echte Größe Vor zehn Jahren starb Anton Benya, der vielen jungen Menschen heute gar nicht mehr bekannt ist. Ich erlebte zwei starke Auftritte von Benya, als er bereits in Pension war. 1997 verweigerten die Arbeitgeber im metallgewerbe den Abschluss eines Kollektivvertrages. Vor der Wirtschaftskammer in Wien wurde demonstriert, und auch Anton Benya stand auf der Bühne. Es sei erschütternd, sagte er damals, dass man heutzutage für einen Kollektivvertrag noch auf die Straße gehen muss. Das zweite Mal war zur Zeit der ÖVP/FPÖ-Koalition, als es um die Zerschlagung des Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger mit dem Ziel der Entfernung von GewerkschafterInnen ging. Auch damals war Anton Benya in den Reihen der DemonstrantInnen mit dabei, und auch damals war seine Empörung von der Bühne aus bis in die hintersten Reihen der 50.000 Demonstrierenden deutlich spürbar. „Empört euch!“ und „Engagiert euch“ fordert der französische ehemalige Widerstandskämpfer Stéphane Hessel. Anton Benya hat Empörung und Engagement während seines gesamten Wirkens vorgelebt.
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AKTUELL
Der ÖGB hat sich schon beim Budgetbeschluss im Vorjahr dazu bekannt, dass das Defizit gesenkt werden muss. „Nur wenn der Staat genug Geld zur Verfügung hat, kann er seinen Aufgaben nachkommen“, sagt ÖGB-Präsident Erich Foglar. Schon im Vorjahr ist mit neuen vermögensbezogenen Einnahmen ein wichtiger Grundstein gelegt worden, um Handlungsspielräume für die Zukunft zu schaffen. Der ÖGB-Präsident begrüßt auch, dass in wichtigen Bereichen investiert wird, vor allem in Bildung, Forschung und Entwicklung.
kompensiert, ist daher hoch an der Zeit.“ Nach dem Beschluss des Budgets müssen endlich Reformen angegangen werden, die die Einnahmen langfristig absichern und die Sozialsysteme dauerhaft stabilisieren.
Armutsbremse Zur Eindämmung der Staatsschulden wurde auch eine Schuldenbremse, die in der Verfassung verankert sein soll, diskutiert. Das hält der ÖGB nicht für das geeignete Mittel. „Wir brauchen eine Armutsbremse, keine Schuldenbremse“, verlangt Erich Foglar. „Wenn die Menschen Arbeit mit existenzsichernden Einkommen haben, wenn die Sozialsysteme stabil sind und Menschen in Notlagen auffangen, wenn Vermögende mehr zu den Staatseinnahmen beitragen als bisher – und zwar dauerhaft – dann fließt Geld ins Budget, dann reduzieren sich die Schulden, und dann steigt der Wohlstand für alle Menschen.
Mehr Netto vom Brutto will der ÖGB, daher: rasch Steuerstrtukturreform.
Weisheit Der Weg, die Schulden zu senken, Ausgaben zu überprüfen und neue Einnahmen zu lukrieren, ist für den ÖGB der richtige – „das kann aber noch nicht das Ende unserer Weisheit sein“, sagt Foglar. Der ÖGB vermisste in der Budgetrede der Finanzministerin weiter gehende Vorschläge, wie künftig für stabile Staatseinnahmen gesorgt werden soll. „Die Aussage der Finanzministerin, Österreich wäre ohnehin schon ein Hochsteuerland, der Mittelstand würde die höchste Steuerlast tragen und eine Entlastung sei höchst an der Zeit, nehmen wir als Zeichen, dass sie diese Entlastung sehr bald angehen wird“, so Foglar.
LeistungsträgerInnen Budget 2012: Jetzt rasch Reformen angehen
Entlasten Der Nationalrat hat das Budget beschlossen.
Mehr Netto „Wir treten dafür ein, dass den Menschen mehr Netto vom Brutto im Börsel bleibt, auch wir sind für die steuer-
liche Entlastung der arbeitenden Menschen, die Tag für Tag große Leistungen erbringen. Eine Steuerstrukturreform, die
© ÖGB/Paul Sturm
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die steuerlich hoch belastete Arbeit entlastet, und die das mit mehr Beiträgen von Vermögenden zum Staatsbudget
Die Finanzministerin meinte in ihrer Budgetrede, Leistung muss sich lohnen und mit ihr wird es sicher keine Vermögenssteuern geben. „Ich sehe hier einen Widerspruch“, sagt Foglar. „Die Menschen, die täglich hart arbeiten und den Großteil der Steuern zahlen, die leisten was, Vermögen leisten gar nichts. Daher: runter mit den Steuern auf Arbeit, und gerechte Besteuerung von Vermögen.“
Sozialpartner: Umfrage
Gutes Klima in Österreich Sozialpartnerschaft wird von einer großen Anzahl der ÖsterreicherInnen als Vorteil gesehen. Die Sozialwissenschaftliche Studiengesellschaft (SWS) hat im Sommer 1.260 Österreicher und Österreicherinnen über ihre Einstellung zur Sozialpartnerschaft befragt. Grundsätzlich wird die Wirtschafts- und Sozialpartnerschaft als positiv bewertet. 54 Prozent der Befragten geben an, dass die Sozialpartnerschaft für Österreich vorteilhaft ist, nur neun Prozent meinen, sie sei vom Nachteil. Bei ÖGB-Mitgliedern ist die Zustimmung bei dieser Frage deutlich höher (68 Prozent) als bei den Nicht-Mitgliedern (46 Prozent).
verantwortungsvolle Lohnund Gehaltspolitik sorgt, nämlich 39 Prozent, einen positiven Einfluss auf das soziale Klima in Betrieben ausübt (44 Prozent) und Streiks verhindert (41 Prozent).
wird wichtiger sein als jetzt. 17 Prozent sagen jedoch, dass sie weniger wichtig sein wird. Die größte Zustimmung (42
Prozent) hat die Feststellung, dass sich in Zukunft nichts an der Stellung der Sozialpartnerschaft ändern wird.
Sicherheit am Arbeitsplatz Weniger Zustimmung gibt es hingegen zur Aussage, dass sie für Sicherheit am Arbeitsplatz sorgt (21 Prozent). Auch diesen Aussagen stimmen ÖGB-Mitglieder häufiger zu als NichtMitglieder, besonders was die Lohn- und Gehaltspolitik, den Einfluss auf das soziale Klima in Unternehmen und die Frage der Streiks betrifft.
Ja zum Teil
44 %
39 %
47 %
41 %
32 %
33 %
21 %
30 %
hat positiven Einfluss auf Klima im Betrieb
sorgt für verantwortungsvolle Lohn- und Gehaltspolitik
sorgt für Sicherheit am Arbeitsplatz
verhindert Streiks
Viel Positives bewirkt In der Umfrage wurde auch danach gefragt, auf welchen Gebieten sich die Sozialpartnerschaft heute bewährt. Am häufigsten stimmen die befragten Personen zu, dass die Sozialpartnerschaft für eine
Zukunftswünsche Auf die Frage, ob die Sozialpartnerschaft künftig wichtiger, gleich wichtig oder weniger wichtig sein wird, meinen 37 Prozent der Österreicher und Österreicherinnen: Sie
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AKTUELL
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Bildungskarenz neu:
Dauerrecht
© ÖGB
Die Regierung hat ein Paket bestellt, die Sozialpartner haben geliefert: Die Menschen brauchen einen Arbeitsplatz, auf dem sie auch bis zum Regelpensionsalter bleiben können.
Pensionen: Menschen müssen gesund bleiben
Gesund in die Arbeit Sozialpartner: Das gesetzliche Pensionsantrittsalter soll auf keinen Fall angehoben werden. Arbeitswelt. Die Anzahl der Invaliditätspensionen ist in Österreich deutlich höher als in anderen EU-Ländern. Das liegt nicht daran, dass sich die Menschen den Zugang erschwindeln – das ist ohnehin schwer möglich. Es liegt daran, dass die Arbeitswelt immer öfter krank macht – und immer öfter auch psychisch krank. Die Sozialpartner reagieren darauf mit umfassenden Maßnahmen zur Anhebung des faktischen Pensionsantrittsalters. Das gesetzliche Pensionsalter anzuheben, kommt für den ÖGB aber nicht infrage. Auch Eingriffe in bestehende Pensionen oder
neue Abschläge sind kein Thema. In bestehende Pensionen einzugreifen ändert nichts daran, dass die Menschen durch ihre Arbeit krank werden.
Viele Maßnahmen notwendig „Man kann nur bei der Gesundheit ansetzen, bei der Arbeitsfähigkeit und beim Arbeitsplatz. Ziel der Gewerkschaft war immer: Gesund in die Arbeit, gesund von der Arbeit. Die Menschen brauchen einen Arbeitsplatz, auf dem sie auch bis zum Regelpensionsalter bleiben können“, sagt ÖGB-Präsident Erich Foglar. Die Sozialpartner wollen „ein ganzes Bündel
von Maßnahmen, die wie ein Getriebe ineinander greifen“, darunter Rehabilitationsmaßnahmen, Senkung der Invalidisierungsraten, alternsgerechte Gestaltung der Arbeitswelt, Transparenz und Vereinfachung. Die Regierung lässt die Umsetzung der SozialpartnerPläne derzeit von Expertinnen und Experten prüfen.
dung schon ab 35. Verdient jemand nach dem Jobwechsel weniger als zuvor, soll sie/ er eine Förderung bekommen. Darüber hinaus empfehlen die Sozialpartner auch Anreize für ArbeitnehmerInnen, die länger arbeiten als bis zum erstmöglichen Pensionsantrittsalter. Auch eine „Teilpension“ soll es geben: halbe Arbeitszeit, halbe Pension. Kurzfristig wird das Pensionspaket der Sozialpartner Investitionen erfordern. Foglar: „Die sind aber zu rechtfertigen, weil sie in den kommenden Jahren eine deutliche Erhöhung des faktischen Pensionsantrittsalters mit sich bringen werden.“
Schwerarbeit: Anreize schaffen Damit auch SchwerarbeiterInnen, die besonders belastende Berufe haben, länger arbeiten können, soll der Umstieg unterstützt werden, und zwar durch frühzeitige Weiterbil-
Gedenken: Großer Gewerkschafter und Staatsmann
Der Vertrauensmann Vor zehn Jahren verstarb Anton Benya. Gedenken. Am 5. Dezember 2011 jährt sich zum zehnten Mal der Todestag von Anton Benya, langjähriger ÖGBPräsident. In den vergangenen Wochen war im Zuge der Lohnverhandlungen viel von der „Benya-Formel“ die Rede. Sie wird seit Benyas Zeit als Metallervorsitzender bei Lohnverhandlungen angewendet und bedeutet im Wesentlichen, dass sich Lohnerhöhungen nach der Inflation und der Produktivitätssteigerung richten sollen.
WKÖ-Präsident Rudolf Sallinger; für die Innenpolitik als Präsident des Nationalrates (von 1971 bis 1986) und Weggefährte Bruno Kreiskys; und auch für
auf 43 Stunden (1970) bzw. 42 Stunden (1972), das Arbeitsverfassungsgesetz und das Jugendvertrauensrätegesetz (1973), Arbeiter-Abfertigungsgesetz mit Gleichstellung von Arbeitern mit Angestellten bei der Abfertigung (1979), Verlängerung des Mindesturlaubs von vier auf fünf Wochen (in Etappen, ab 1984).
den Fußball als Präsident des SK Rapid. In Benyas Zeit als ÖGBPräsident fallen viele sozialpolitische Errungenschaften, unter anderem Arbeitszeitverkürzung
100. Geburtstag
Anton Benya hatte in vielen Bereichen eine herausragende Rolle: für die österreichischen ArbeitnehmerInnen als Präsident des ÖGB (von 1963 bis 1987) und Vorsitzender der Metallergewerkschaft; für die Sozialpartnerschaft als Gegenüber von
© ÖGB/Josef Ulrich
Herausragend
Anton Benya blieb immer engagiert, im Bild bei einer Demo 2001.
ÖGB und Republik Österreich gedenken des zehnten Todestages mit einer feierlichen Kranzniederlegung am 5. Dezember am Wiener Zentralfriedhof. Zu Ehren von Benyas Geburtstag, der sich am 8. Oktober 2012 zum hundertsten Mal jährt, wird es verschiedene Würdigungen geben, von ÖGB und Gewerkschaften bis zum Nationalrat und „seiner“ Rapid.
Die „Bildungskarenz neu“ wird zum Dauerrecht. Das derzeitige Modell, das Ende 2011 ausgelaufen wäre, wurde aufgrund des Erfolgs als dauerhafte Regelung beschlossen. 2009 wurde der Zugang zur Bildungskarenz mit dem zweiten Arbeitsmarktpaket erleichtert. Von der Maßnahme haben die Betriebe und die Beschäftigten profitiert: Firmen konnten in der Krise ihren Personalstand halten, den ArbeitnehmerInnen wurden neue beruflichen Chancen gegeben. Wer kann die Bildungskarenz beanspruchen? Alle Beschäftigten, die mindestens sechs Monate beim selben Arbeitgeber beschäftigt sind. Die Karenz kann für die Dauer von mindestens zwei Monaten bis maximal einem Jahr vereinbart werden. Voraussetzung ist die Teilnahme an einer Weiterbildungsmaßnahme von mindestens 20 Wochenstunden. In der Zeit der Bildungskarenz wird ein Weiterbildungsgeld in Höhe des Arbeitslosengeldes ausbezahlt. Alle Infos: www.ams.at
Streik:
Unser Recht Die Auseinandersetzung um Lohn- und Gehaltserhöhungen in der Metallindustrie Mitte Oktober löste bei einigen Arbeitgebervertretern heftige Reaktionen aus. Der Generalsekretär der IV, Christoph Neumayer, bezeichnete den Streik als „wirklichen Kulturbruch und hoffentlich einmaligen Sündenfall“. Auch die Bezeichnung „Kampforganisation“ ist für ihn unpassend. Bernhard Achitz, Leitender Sekretär des ÖGB, hält die Aussagen Neumayers hingegen für abstrus: „Der ÖGB ist eine Kampforganisation, das sagen wir nicht nur jetzt im Zuge der Lohnauseinandersetzung, das kann man seit 1945 auch in den Statuten nachlesen.“ Auch dass Streiks ein „Sündenfall“ wären, sei demokratiepolitisch bedenklich. Gewerkschaftsrechte sind in der Europäischen und in der UNOMenschenrechtskonvention verankert.
Adressänderungen:
Tel. 01/534 44-39100 Montag–Donnerstag 8–16.30 Uhr, Freitag 8–13 Uhr. Oder unter www.oegb.at
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ARBEITSWELT
Working Poor:
Migration: Rot-Weiß-Rot-Card erfüllt Zweck
Immer mehr
Ansturm blieb aus
Erwerbstätige, die trotz eines regelmäßigen Einkommens in Armut leben, werden als „Working Poor“ bezeichnet. Auf europäischer Ebene sind rund acht Prozent der Erwerbstätigen davon betroffen. Tendenz steigend. Je nach Ländern schwankt der Anteil zwischen drei Prozent in Tschechien und 18 Prozent in Rumänien. In Österreich liegt der Anteil bei rund fünf Prozent und damit im unteren Drittel in Europa. Ermittelt wurden diese Zahlen von Henning Lohmann, Sozialforscher an der Universität Bielefeld. Als Ursache für die steigende Zahl der „Working Poor“ sehen ExpertInnen unter anderem Niedriglöhne, aber auch den wachsenden Anteil an Teilzeitbeschäftigungen. Gegensteuern könnte man etwa mit besseren Kollektivverträgen im Niedriglohnbereich oder der Einführung eines Mindestlohns.
Am österreichischen Arbeitsmarkt hat sich im Vergleich zu früher nicht viel verändert. Seit drei Monaten können Schlüsselkräfte, Hochqualifizierte, StudienabsolventInnen und BesitzerInnen der europäischen Blue-Card eine Rot-Weiß-RotCard beantragen. Im Sommer 2012 soll sie auch für Fachkräfte in Mangelberufen gelten. Seit Juli 2011 regelt die Rot-WeißRot-Card den Zugang zum österreichischen Arbeitsmarkt für Nicht-EU-Bürger. Bernhard Achitz, Leitender Sekretär im ÖGB, zieht sein Fazit: „Der Ansturm blieb aus. Was die Schlüsselkraftzuwanderung betrifft, hat sich im Vergleich zu vorher nicht viel verändert. Auch bei Hochqualifizierten gibt es keinen überwältigenden Andrang.“
Noch nicht in Kraft Das RWR-Card-Konzept ist noch nicht vollständig in Kraft. Der Arbeitsmarktzugang für Fachkräfte in Mangelberufen wird frühestens ab 1. Juli 2012 ermöglicht. Die Kriterien für Mangelberufe werden in den nächsten Wochen im Ausländerausschuss des Arbeitsmarktservices diskutiert werden. Besondere Bedeutung wird dabei die Stellenandrangziffer haben.
Rot-Weiß-Rot-Card: wichtiges Instrument gegen Lohn-und Sozialdumping.
„Wenn es mehr offene Stellen gibt, als Leute mit entsprechendem Qualifikationsprofil arbeitslos gemeldet sind, dann wird man diskutieren, ob dieser Beruf in die Mangelberufsliste aufgenommen wird“, erklärt Achitz.
Ausbildung wichtig Er geht davon aus, dass dies bei wenigen Berufen der Fall sein wird: „Erstens ist die Arbeitslosigkeit gestiegen und zweitens werden wir darauf achten, dass die Wirtschaft dort, wo sie Mangelberufe vermutet, Lehrlinge ausbildet.“ Diese könnten ge-
nauso den Bedarf decken. Überprüft werden soll das anhand der Lehrverträge, die gemeldet und erfasst werden. Achitz hebt auch die Wichtigkeit von Kontrollen hervor: „Wir haben gemeinsam mit der Rot-Weiß-Rot-Card die Maßnahmen gegen Lohn- und Sozialdumping beschlossen. Das hat sich als ein nützliches Werkzeug und Mittel zur Abschreckung erwiesen. Die RotWeiß-Rot-Card erfüllt ihren Zweck“, ist der Leitende Sekretär im ÖGB überzeugt, auch für die Menschen im Ausland, denn: „Wer zuwandern möchte, kann sich auf einer Website des So-
zialministeriums informieren, unter welchen Bedingungen eine Zuwanderung möglich und sinnvoll ist.“ Milena Borovska
INFO Mangelberuf: Berufe, in denen es in Österreich nicht genug qualifiziertes Personal gibt Stellenandrangziffer: Wie viele vorgemerkte Arbeitslose gibt es pro gemeldeter offener Stelle
Umfrage: Euro
Löhne hier verhandeln © Waldhäusl
Die Unsicherheit der ÖsterreicherInnen über die Zukunft des Euros wird immer ersichtlicher.
H&M:
Fragwürdig Mit einer – laut GPA-djp an Sittenwidrigkeit grenzenden – Weisung versucht die Textilkette H&M, ihre MitarbeiterInnen um Geld zu bringen. Die Geschäftsführung wies alle Filialen an, künftig darauf zu achten, dass Angestellte nicht mehr als die Hälfte ihrer Arbeitszeit an der Kasse verbringen dürfen. H&M versucht damit, ein OGHUrteil vom August zu umgehen. Dem Urteil nach wird bei überwiegender Kassenarbeit die Einstufung in eine höhere Gehaltsstufe fällig. Während die Geschäftsführung das mit einem „abwechslungsreichen Arbeitsalltag für die MitarbeiterInnen“ rechtfertigt, ist man bei der GPA-djp entsetzt über das „rechtlich fragwürdige“ Vorgehen.
Die aktuelle Eurokrise lässt das Vertrauen der ÖsterreicherInnen in die gemeinsame Währung und die Kompetenzen der EU-Institutionen sinken. Laut einer Umfrage der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) wünscht sich die Mehrheit (45 Prozent) der BürgerInnen, dass weitere finanzielle Hilfsleistungen durch die nationalen Parlamente genehmigt werden. Im Gegensatz dazu bevorzugen 37 Prozent die Bewilligung durch das Europäische Parlament; WählerInnen der EU-kritischen Parteien wünschen sich diese durch die nationalen Parlamente.
Keine Einmischung erwünscht Auch weitere Eingriffe der EUInstitutionen in nationale Angelegenheiten wie die Budgetpolitik, Lohn- und Kollektivvertragsverhandlungen, Pensionsregelungen und die Steuerpolitik werden von zwei Drittel der Befragten abgelehnt. Der Generalsekretär der ÖGfE, Paul Schmidt, erklärt: „Die Mehrheit der ÖsterreicherInnen erwartet sich gemeinsame europäische Ant-
ÖsterreicherInnen gegen Einmischung in nationale Angelegeheiten.
worten auf globale Fragen, wie Wirtschaftskrisen, Klimaschutz, internationale Kriminalität und Migration. Die weitere Abgabe von Befugnissen nach Brüssel wird aber kritisch gesehen.“ Die Unsicherheit über die Zu-
kunft der Gemeinschaftswährung ist in der Umfrage auch deutlich ersichtlich. 48 Prozent sind der Meinung, dass Österreich von der Währungsunion „eher nicht profitiert“ hat. Nur 37 Prozent glauben noch, dass
unser Land „eher profitiert“ hat. Zehn Prozent erkennen keinen Unterschied zum Schilling. Bemerkenswert ist in dieser Frage der Bildungsgrad der Befragten. 59 Prozent der ÖsterreicherInnen mit Hochschulabschluss stehen dem Euro positiv gegenüber, während der Anteil bei jenen mit Pflichtschulabschluss nur bei 24 Prozent liegt. Interessant sind hier auch die Zahlen von FacharbeiterInnen und Arbeitslosen, die zu 68 Prozent beziehungsweise zu 70 Prozent der Meinung sind, dass Österreich vom Euro „eher nicht profitiert“. Schmidt erklärt das mit einem Informationsmangel: „Gerade als kleines Land profitieren wir von der Währungsunion. Etwa 55 Prozent der österreichischen Exporte gehen in den Euroraum und sichern rund eine halbe Million unserer Arbeitsplätze.“ Mit einem Modell der „Vereinigten Staaten von Europa“ können sich nur 30 Prozent der Befragten anfreunden. 50 Prozent lehnen es ab, der Rest ist unentschlossen. Clemens Nechansky
© www.bmask.gv.at
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ARBEITSWELT
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Zeitarbeit:
Im Mittelfeld
Mama ist wütend Frauen arbeiten, sorgen für Kinder und werden nur allzu oft im Stich gelassen. Fair ist das nicht. Viel Arbeit, kaum Unterstützung. Alexander, 7, Iva, 10, und die 11-jährige Lea leben bei ihrer Mama Maria Stern. Die Lehrerin in einer Privatschule ist geschieden, verdient 1.400 Euro netto pro Monat und erhält 600 Euro Unterhaltsvorschuss. Noch. Denn diese Zahlung endet mit Februar, weil Sterns Ex-Mann langzeitarbeitslos ist. Die Vorgeschichte: Erst weigerte sich der Vater, für seine Kinder aufzukommen, ein halbes Jahr verging bis gerichtlich eine Summe festgesetzt wurde. Prompt folgte der Einspruch. Bis zur Klärung hat Maria Stern insgesamt 30 Euro im Monat für die Kinder bekommen. Ein Jahr verging, es war ein hartes Jahr für die vierköpfige Familie. „Meine Kinder sagen, dass ich immer das Gleiche koche und andere Kids mehr Spielsachen haben“, erzählt die Lehrerin. Doch schmerzlicher war ein Satz ihrer ältesten Tochter: „Mama, ich will keine Kinder kriegen, weil ich dann auch arm bin.“
Wenn der Unterhaltsvorschuss endet – ihr Ex-Mann hat kein Einkommen und durch eine Krankheit auch wenig Perspektive, Geld zu verdienen –, wird Maria Stern wieder von der Hand in den Mund leben müssen.
Für neue Spielsachen reicht das Geld oft nicht aus.
ÖGB Online:
In Facebook
Auf Hilfe angewiesen Wenn neue Kleidung anzuschaffen ist, werden die Großeltern um Hilfe gebeten. Bisher hat Maria Stern die Nachzahlung der Energiekosten immer noch durch den Steuerausgleich bewältigt – Miete und Energiekosten machen derzeit fast 1.000 Euro pro Monat aus. Doch gerade im Sektor Wohnen schnellen die Preise weiter in die Höhe: Von 2005 bis 2010 sind die Kosten für Miete, Energie und Wasser um 17,1 (!) Prozent gestiegen. „Wenn man arm ist, steigt der Stresspegel“, weiß Maria Stern. Sie kümmert sich liebevoll um die Töchter und den Sohn, chauffiert sie auch gern in die Musikschule und sorgt für eine schöne Kindheit.
© ÖGB/Walter Schreiner
Armut: AlleinerzieherInnen
Laut Ergebnissen des Analyse-, Prognose- und Forschungsteams des Arbeitsministeriums erlebte die Kurzarbeit in Österreich im Jahr 2011 einen Aufschwung. Es ist ein Plus von 13,2 Prozent im Vergleich zu 2010 auszumachen. Zum Stichtag 31.7.2011 waren 74.783 ZeitarbeiterInnen bei heimischen Firmen beschäftigt. Das sind um 8.729 mehr als im Vorjahr. Besonders in den Sparten Industrie (+26,1 Prozent) und Transport, Verkehr und Telekommunikation (+33,4 Prozent) ist ein hoher Anstieg festzustellen. Einen deutlichen Rückgang verzeichneten die Sektoren Tourismus und Freizeitwirtschaft (–36,8 Prozent) sowie Land- und Forstwirtschaft (–38,5 Prozent). Trotz des Anstiegs der Zeitarbeitskräfte (2,3 Prozent) liegt Österreich damit erst im guten Mittelfeld. Beim Spitzenreiter Großbritannien sind es bereits 3,6 Prozent.
„Solange ich mich als Mittelstandsfrau fühle, ist der Alltag ein anderer.“
An der Armutsgrenze Wie Maria Stern und ihre Leidensgenossinnen leben, fasste die Studie „Alleinerziehende in Österreich. Lebensbedingungen und Armutsrisiken“ (www. ams-forschungsnetzwerk.at) in harte Fakten: 148.000 Kinder unter 15 Jahren leben in Mutter-Kind-Familien. Mit knapp 30 Prozent sind Alleinerziehe-
rinnen und ihre Kinder einem doppelt so hohen Armutsgefährdungsrisiko ausgesetzt. Die Armut, Maria Stern hat lange genug so gelebt, wird sie wütend machen und verzweifelt – das spüren auch die Kinder. „Es muss Untergrenzen für den Unterhalt geben. Wenn der Vater nicht zahlen kann, so sollte der Staat das gewährleisten“, fordert die Dreifachmutter und will dafür kämpfen.
Der ÖGB ist jetzt auch auf Facebook vertreten. Auf dem offiziellen Profil des Gewerkschaftsbundes sind aktuelle Informationen, Veranstaltungshinweise, Buchtipps und vieles mehr verfügbar. Es werden Reaktionen auf tagesaktuelle, gewerkschaftsbezogene Themen und Fragen gepostet. Dadurch wird die direkte Kommunikation mit den UserInnen vereinfacht und beschleunigt. Wenn man auf www.facebook. at/oegb.at den „Gefällt mir“Button anklickt, erscheinen alle ÖGB-Updates automatisch im eigenen FacebookNewsfeed.
Christian Resei
Kaufkraft:
ÖGB-EUROPADIALOG: REDEN WIR DARÜBER
HÄRTERE SPARPOLITIK? Wettbewerb. Das neue EU-Gesetzespaket zur wirtschaftspolitischen Steuerung in der EU, das sogenannte „Six-Pack“, zielt auf eine Verschärfung der Sparpolitik mit strenger Überwachung der Haushalts- und Wirtschaftspolitik ab. Das „Six-Pack“ enthält neue Mechanismen zur Bekämpfung makroökonomischer Ungleichgewichte der Mitgliedsstaaten und stellt auf Wettbewerbsfähigkeit, Preis- und Kostenentwicklungen ab. Staaten kommen unter Druck, über Kostensenkungen (niedrigere Löhne und Deregulierung)„wettbewerbsfähiger“ zu werden. Auf welchen Weg begibt sich die Europäische Union? Der ÖGB und die Österreichische Gesellschaft für EuropaPolitik veranstalten dazu einen Europadialog.
Es diskutieren: • Erich Foglar, ÖGB-Präsident • Bernadette Ségol, Generalsekretärin des EGB (Europäischer Gewerkschaftsbund) • Gertrude Tumpel-Gugerell, ehem. Direktorin der EZB (Europäische Zentralbank) • Georg Busch, EU-Kommission, Generaldirektion ECFIN • Udo Bullmann, Abgeordneter zum Europäischen Parlament Wann: 23. November 2011, 18.00 Uhr Wo: ÖGB, Johann-Böhm-Platz 1, 1020 Wien (U2, Donaumarina) Moderation: Detlef Fechtner, Brüsselkorrespondent der deutschen Börsenzeitung
Um Anmeldung wird gebeten: Jennifer Hodosi, Tel.: 01/534 44-39322, E-Mail: jennifer.hodosi@oegb.at
Im Steigen Trotz Unsicherheiten um die Griechenland-Rettung und die Euro-Krise wird die reale Kaufkraft der ÖsterreicherInnen 2012 wieder steigen. Laut einer Studie des Marktforschungsunternehmens RegioData Research sind die relativ hohen Lohnabschlüsse, die deutlich niedrigere Inflationserwartung sowie die nur leicht steigende Arbeitslosigkeit für die positive Prognose verantwortlich. Die Studie geht für 2012 von einem Kaufkraftplus von 0,8 Prozent aus.
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Solidarität
RECHT
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Rechtsfall: Betriebsrat unerwünscht
Neue Firma, alte Arbeit Bevor es zur BR-Wahl kommen konnte, wurden die Verträge der MitarbeiterInnen gekündigt. in Salzburg. Auch Richard Michels, Geschäftsführer der Hausmeister-Firma, bestätigt, dass sich die Aufgaben im neuen Unternehmen nicht verändert haben.
Betriebsrat angestrebt Sieben MitarbeiterInnen der M+M Hausmeisterservice GmbH wollten im Frühjahr 2011 in dem 50 MitarbeiterInnen zählenden Unterneh-
Michels zufolge hätte sich die Mehrheit der Belegschaft gegen einen Betriebsrat entschieden.
men zum ersten Mal eine Betriebsratswahl abhalten. „Der Chef ist zu jedem/r DienstnehmerIn mit Ausnahme dieser sieben gefahren und hat mit einer einvernehmlichen Auflösung des Dienstverhältnisses einen neuen Dienstvertrag bei der neuen Firma unterschreiben lassen“, erzählt der Landesgeschäftsführer der vida in Salzburg. „Damit grenzte Michels den WählerInnenkreis für eine Betriebsratswahl auf diese sieben ein.“ Michels selbst meint, dass die meisten seiner MitarbeiterInnen erst von den Medien über die geplante Betriebsratswahl informiert worden seien.
Alle gegen Betriebsrat? Nicht nur die Aufgaben der MitarbeiterInnen, auch der Name der Firma blieb beinahe gleich. 43 Personen arbeiteten zunächst in der neu gegründeten M+M Hausmeisterservice GmbH & Co KG. Heute soll laut Michels nur noch einer der sieben WahlbetreiberInnen in der alten Firma arbeiten. Die anderen hätten freiwillig gewechselt. Ob es in Zukunft eine Betriebsratswahl geben könnte? Michels zufolge hätten sich in einer Versammlung 96 Prozent der Belegschaft der neuen Firma „eigenständig“ gegen eine Wahl ausgesprochen. Als Grund für die Änderung der Unternehmensform gibt Michels die Absicht an, den Firmensitz zu verlegen. Seit Jänner sei man auf Standortsuche.
Beispielloses Vorgehen Thomas Berger hat noch keinen vergleichbaren Fall erlebt. „Dass man die Wählerliste auf die BetreiberInnen der Betriebsratswahl beschränkt, ist beispiellos. So etwas hat es noch nie gegeben.“ Ist der Zusammenfall von Wahl und Umstrukturierung ein sehr unglücklicher Zufall? „Der Zeitpunkt war schlecht gewählt“, sagt Michels. Martin Riedl
© ÖGB/Christoph Schulz
In Salzburg verhinderte die Geschäftsführung der M+M Hausmeisterservice GmbH eine Betriebsratswahl. Die MitarbeiterInnen wurden gekündigt und in einer neuen Firma angemeldet. In der neu gegründeten Firma würden sie genau den gleichen Tätigkeiten nachgehen, sagt Thomas Berger. Berger ist Landesgeschäftsführer der Verkehrs- und Dienstleistungsgesellschaft vida
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Solidarität
REPORTAGE
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Ratingagenturen 1:
Neue Berufschancen durch Jugendstiftung JUST.
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Verrechnet
Traumjob: Rauchfangkehrerin
Alexandra bringt Glück Arbeiten in einer Männerdomäne: Alexandra ist trotzdem mit ihrer Berufswahl sehr zufrieden. Eigentlich wollte Alexandra Winkler Automechanikerin werden. Aber vor zehn Jahren war das für Mädchen am Land noch schwierig. Nach einer begonnenen Banklehre und einigen Jahren im Verkauf hat sie nun den Neustart in einer Männerdomäne gewagt: Über die Implacement-Stiftung JUST lernt die 24-Jährige seit Oktober den Beruf Rauchfangkehrerin. Kamine kehren, Kessel reinigen, Feuerungsanlagen überprüfen: Was sie bisher gesehen und gelernt hat, gefällt ihr. Und der Schmutz? „Mit der richtigen Technik lässt sich der ganz einfach abwaschen“, lacht die angehende Expertin für vorbeugenden Brandschutz. Dank des individuellen Ausbildungsplans, den ihr JUST-Betreuer erstellt hat, wird sie schon in zwei Jahren den Gesellenbrief in der Tasche haben. Dreimal zehn Wochen Berufsschule stehen auf dem Programm. Dort sind die Männer in der Überzahl. Das weiß Winklers Chefin aus eigener Erfahrung. Birgit Nina Leithenmayr hat
vor zwei Jahren den Schwertberger Betrieb übernommen. Seit 14 Jahren arbeitet sie im Unternehmen, das ihr Großvater 1964 gegründet hat. Die Kunden/-innen haben kein Problem mit einer Frau Rauchfangkehrerin.
Für Frauen schwieriger „Unser Beruf wird oft unterschätzt. Es geht nicht nur darum, Kamine zu kehren. Man muss über Brandschutzmaßnahmen Bescheid wissen, sich mit baulichen Vorschriften auskennen und trägt viel Verantwortung beim Abnehmen und der Kontrolle von Feuerungsanlagen“, berichtet Leithenmayr. Ob sie bewusst nach einem weiblichen Lehrling gesucht hat? „Das war mir egal. Es kommt auf das Auftreten an und ob die Chemie stimmt. Alexandra hat beim Schnuppern sofort zugepackt. Mädchen haben in unserem Beruf vielleicht körperlich Nachteile, dafür kämpfen sie sich mit Wissen nach vorne.“ Der Beruf sei außerdem weit weniger anstrengend
als zu Großvaters Zeiten. „Damals sind Rauchfangkehrer im Sommer wie imWinter nur in Lederschlapfen gegangen, weil sie in engen Kaminen barfuß nach oben klettern mussten“, berichtet Leithenmayr. Heute gibt es dafür spezielle Kehrbesen. Auch die schwarzen Jacken mit goldenen Knöpfen und das weiße Halstuch, das als Mundschutz dient, werden kaum noch getragen. Die beiden Frauen setzen auf sportliche Sweater und ärmellose Jacken – selbstverständlich in Schwarz.
„Neun von zehn Kunden freuen sich, wenn wir kommen“, sagt Leithenmayr.
Glücklich mit Jobauswahl Im Winter haben die GlücksbringerInnen Hochsaison. Dafür gibt’s im Sommer die Vier-Tage-Woche. Im Familienbetrieb legt man Wert darauf, dass die gut ausgebildeten Fachkräfte der Firma erhalten bleiben. Alexandra Winkler hat mit JUST ihren Traumjob gefunden. Carmen Janko
JUST IMPLACEMENT Der ÖGB unterstützt die Stiftung für junge Erwachsene zwischen 19 und 24 Jahren, die weder eine Arbeitsstelle noch eine abgeschlossene Berufsausbildung haben. Sie bekommen die Chance, eine Ausbildung mit Lehrabschluss in verkürzter Zeit nachzuholen. Die TeilnehmerInnen bekommen Stiftungsarbeitslosengeld vom AMS, das Unternehmen unterstützt die zukünftigen MitarbeiterInnen mit 50/100/200 Euro pro Monat und zahlt einen Verwaltungskostenbeitrag von 350 Euro pro Monat. Gefördert wird das Projekt von AMS, Bundesländern und dem Insolvenzentgeltfonds. www.aufleb.at
Standard & Poor’s ist eine der drei großen US-Ratingagenturen, die Länder bewerten und viele Regierungen in den Sparwahn treiben. Die Rolle der Ratingagenturen bei der Bewältigung der Schuldenkrise sehen immer mehr Menschen kritisch, die Politik würde sich viel zu sehr nach deren Bewertungen ausrichten. Wie fatal das sein kann, hat sich in Frankreich gezeigt: Wegen eines Computerfehlers wurde die Kreditwürdigkeit kurzfristig herabgestuft. Das System, so die Erklärung der Ratingagentur, hat die Daten falsch interpretiert, und ein Computer hat dann eigenständig E-Mails versendet, in denen die Herabstufung gemeldet wurde. Die EU reagierte prompt: Ratingagenturen sollen für fehlerhafte Bewertungen in Zukunft haftbar gemacht werden.
Ratingagenturen 2:
Einschränken Die Macht der großen Ratingagenturen soll auf EU-Ebene reguliert werden. Der französische EUKommissar Michel Barnier kündigte an, im November neue Regelungen vorzulegen. Die Verschärfungen sind eine sinnvolle Initiative, die Stellung der Agenturen und mögliche Interessenkonflikte einzudämmen. In den vergangenen Jahren haben die Auswirkungen von Ratings oft mehrere Staaten in Schwierigkeiten gebracht. Wird ein Staat von den Agenturen abgewertet, bedeutet das erhöhte Zinsaufschläge, die oftmals Budgetkonsolidierungen zunichte machen, noch bevor sie greifen können. Die jahrelange Deregulierung der internationalen Finanzmärkte trägt einen großen Anteil an der aktuellen Wirtschaftskrise. Es ist höchste Zeit, die unkontrollierten Tätigkeiten der privaten Ratingagenturen einzuschränken.
Gewinnen Sie! Die Solidarität verlost drei handsignierte Exemplare des Buches „Mirna – Unter Wasser, über Leben“ von Mirna Jukic und Martin Sörös. Das Buch erzählt die Geschichte eines Stars: Alles über die Flucht aus Kroatien bis hin zur Olympiamedaille. Welche Rolle spielt ihre Familie? Was ist dran am Jukic-Erfolgsgen, und wie denkt Mirna über Migration, über Österreich, über Kroatien und über das Jugoslawien von einst? Frage: Seit wann gibt es die „Allianz für den freien Sonntag“?
Gewinnen Sie mit der Solidarität zwei Karten für Roland Düringers Kabarettprogramm „ICH EINLEBEN“ in Wiens neuem Kabaretthaus „Stadtsaal“. „ICH EINLEBEN“. Ein Vortrag von und mit Roland Düringer. Termin: 15. Dezember 2011 Frage: Wann wurde Anton Benya geboren?
Einfach Gewinnfrage beantworten, Antwort bis 28. November einsenden an soli@oegb.at oder Solidarität, Johann-Böhm-Platz 1, 1020 Wien.
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Solidarität
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RECHT
Arbeitsfrei: Allianz für den freien Sonntag
Nicht für alle ein Familientag Im Dienst der Gesellschaft: Pflege und Sicherheit müssen täglich gewährleistet werden – auch an einem Sonntag. Verständnis für Sonntagsarbeit muss von Nicht-Arbeitenden aufgebracht bzw. erst erlernt werden. Pascal hat Verständnis, weil er es als notwendig ansieht, dass gewisse Dinge wie Sicherheit ständig gewährleistet sind. „Das Verbrechen macht auch kein Wochenende. Ich verlasse mich darauf, dass es mir gut geht und daher erbringe auch ich am Sonntag einen Dienst für die Gesamtheit. Das ist Solidarität innerhalb der Gesellschaft.“
Freizeit. Vor mittlerweile zehn Jahren wurde in Österreich die „Allianz für den arbeitsfreien Sonntag“ gegründet. Über 50 Institutionen, darunter Kirchen, Gewerkschaften, Verbände aus Wirtschaft und NGOs, sind Teil der Sonntagsallianz geworden. Das primäre Ziel dieser Allianz ist, den Sonntag arbeitsfrei zu halten, wobei aber gesellschaftlich notwendige Bereiche wie z. B. Sicherheit und Gesundheitsversorgung gewährleistet sein müssen. Sonn- und Feiertage dienen der Erholung und Abwechslung vom Arbeitsalltag und bieten Raum für gesellschaftliche, kulturelle, religiöse, sportliche und soziale Aktivitäten abseits des Erwerbslebens.
Pflege ist täglich notwendig
Österreich gilt als beispielgebender Vorreiter für die Aufrechterhaltung des arbeitsfreien Sonntags. Heuer im Juni wurde die europäische Sonntagsallianz (www.europeansundayalliance.eu) gegründet. Pascal, 29, Polizist und Personalvertreter, findet, dass „Sonntagsarbeit schwierig mit Familie vereinbar ist, vor allem wenn diese am Wochenende frei hat.“
© ÖGB/Christina Häusler, Thomas Reimer
Im Dienste der Sicherheit
Karin, 45, diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegerin, hat es im Lauf der Zeit gelernt, Familie und Beruf auch am Sonntag zu koordinieren. Sonn- und Feiertagsarbeit ist sie von ihrem früheren Job als Kellnerin gewohnt. Für sie ist „der Dienst an den Menschen rund um die Uhr wichtig“, weil auch sie darauf vertrauen möchte, am Sonntag bedient und gepflegt zu werden. „Das funktioniert aber nur, wenn man selbst auch dazu bereit ist, am Wochenende für andere zu arbeiten.“ www.freiersonntag.at
Sonntagsarbeit: Gewisse Dinge wie zum Beispiel Sicherheit und Pflege müssen rund um die Uhr gewährleistet werden. Sonntagsarbeit ist aber nicht immer einfach mit der Familie zu vereinbaren.
Luzia Janoch
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Solidarität
ARBEITSWELT
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AK-Studie:
Gut verdient
ORF III: Zuwachs im ORF
Der neue öffentlich-rechtliche Sender will sich klar abheben. Wie soll das gelingen? Zeichen setzen in Rot-Weiß-Rot. ORF III ging just am Nationalfeiertag erstmals auf Sendung. Dokus am Montag, Kunst/ Kultur am Dienstag, tags darauf Religion/Wissenschaft gefolgt von Europa und Internationalem, dafür Österreich am Freitag. Das Wochenende startet mit Zeitgeschichte, schließt mit Oper/Theater/Konzert. Da klingt die Bezeichnung „Spartenkanal“ fast dürftig. „Wir wollen eine erkennbare Marke werden, auch Menschen abseits der klassischen Zielgruppen für unsere Themen interessieren“, erklärt Geschäftsführer Peter Schöber. Betriebsratsvorsitzen-
de Linda Beranek, früher bei TW1, ist in der Sendeabwicklung und Programmplanung eingesetzt und weiß: „Die Menschen, die hier arbeiten, haben keinen ,9-to-5-Job‘.“
Viel Arbeit zu Beginn Ganze 18 Angestellte (u. a. Programmverantwortliche) und drei PraktikantInnen stemmen ein tägliches 24-Stunden-Programm, das restliche Personal setzt sich aus freien MitarbeiterInnen zusammen – ein Drittel der Belegschaft hat migrantische Wurzeln. Die Technik ist ausgelagert, den Schnitt verantwortet eine externe Firma, die Buch-
haltung der ORF. Das Team ist bereits „gut eingespielt“, doch der Sendestart brachte auch enorme Mengen an Überstunden mit sich. „Krank werden darf derzeit niemand“, resümiert Beranek. Längst sind die Überstunden nicht mehr allein durch Zeitausgleich abzubauen, über eine Lösung wird derzeit verhandelt. Eine Konsequenz aus der Startphase: ORF III wird noch die Stellen InforedakteurIn und KulturredakteurIn besetzen. Ressourcen nutzen: Mit Ö1 findet eine Kooperation statt, die Radiosendungen „Im ZeitRaum“ und „Im Klartext“
© ORF
Jeden Tag etwas Neues bekommen ein TV-Gesicht, Barbara Rett wird u. a. mit dem „KulturWerk“ (Kulisse ist die Linzer voestalpine) zum Kultur-Aushängeschild des Senders, mit zwei Formaten ist auch Karl Hohenlohe vertreten. Geschäftsführer Schöber: „Wir schielen nicht auf die Quote, sondern wollen quer durch die Alters- und Bildungsschichten gesehen werden.“ Schwerpunkte sollen Diskussionen anregen: u. a. thematisiert der 12.12. Flucht und Migration, der 5. Mai steht ganz im Zeichen des KZ Mauthausen. Christian Resei
Nachhaltig: ÖGB-Bilanz 2010
Seit vier Jahren im Plus
Volksbegehren:
Handeln
ÖGB und Gewerkschaften gehen sorgsam mit Mitgliedsbeiträgen um.
Schwieriges Umfeld Trotz des schwierigen wirtschaftlichen Umfelds durch die Finanz- und Wirtschaftskrise, konnte durch sorgfältigen Umgang mit den Finanzen im Jahr 2010 wieder ein Jahresüberschuss von rund fünf Millionen Euro erzielt werden. Durch den Abbau von Schulden und Verbindlichkeiten erhöhte sich die Eigenkapi-
talquote von 68,2 Prozent auf beachtliche 71,3 Prozent. Das Eigenkapital stieg um fünf Millionen Euro auf 267 Millionen Euro an. „Generell eine Entwicklung, um die uns viele andere in diesen schwierigen Zeiten beneiden“, meint Clemens Schneider dazu.
Mehr Leistungen an Mitglieder Die Einnahmen aus den Mitgliedsbeiträgen weisen eine positive Entwicklung auf, der Personalaufwand konnte wie budgetiert gesenkt werden. Nur geringfügig angestiegen sind die sonstigen betrieblichen Aufwendungen. Darunter fallen unter anderem Leistungen an Mitglieder. Während jedoch bei den sonstigen Ausgaben massiv eingespart wurde, stiegen die Ausgaben für die Leistungen an Mitglieder an: „Wir haben viel für unsere Mitglieder getan. Der ÖGB spart nicht bei den Leis-
tungen für seine Mitglieder“, so Schneider. Der Finanzerfolg reduzierte sich erwartungsgemäß wegen des anhaltenden niedrigen Zinsniveaus.
Einnahmenplus erwartet Die bisherige Hochrechnung für das Jahr 2011 liegt innerhalb der budgetierten Werte. Schneider erwartet sich wieder ein kleines Plus bei den Mitgliedseinnahmen und ist optimistisch, auch im Jahr 2011 mit den Mitgliedsbeiträgen zum fünften Mal in Folge wieder das Auslangen zu finden. „Mit unserer neuen Finanzierungsstrategie haben wir in den letzten vier Jahren erfolgreich bewiesen, dass der eingeschlagene Weg nicht nur der richtige ist, sondern wie erwartet auch nachhaltig auf unsere Finanzen wirkt“, zeigt sich ÖGBFinanzchef Clemens Schneider zufrieden.
© ÖGB/Thomas Reimer
Einstimmig. Anfang November wurde die ÖGB-Bilanz 2010 vom ÖGB-Bundesvorstand einstimmig angenommen. ÖGB-Finanzchef Clemens Schneider konnte wieder eine erfreuliche Bilanz präsentieren: „Zum vierten Mal in Folge konnten ÖGB und Gewerkschaften mit ihren Mitgliedseinnahmen das Auslangen finden und sogar einen kleinen Überschuss erzielen“, erklärt Schneider.
»ÖGB spart nicht bei Leistungen für seine Mitglieder.« ÖGB-Finanzchef Clemens Schneider
Im Jahr 2010 verdienten die österreichischen Unternehmen mehr an jeder Mitarbeiterin/jedem Mitarbeiter als je zuvor. Der AKWertschöpfungsbarometer 2010 zeigt, dass sich die Verteilungsschieflage weiter deutlich verfestigt hat. Während ArbeitnehmerInnen Überstunden machen, steigendem Arbeitsdruck ausgesetzt sind, sich anhören müssen, sie würden sich Frühpensionen erschwindeln – klingeln die Kassen der Unternehmen munter vor sich hin. Die Arbeiterkammer Oberösterreich berechnet anhand der veröffentlichten Jahresabschlüsse mittlerer und großer Unternehmen seit Jahren, wie viel sie nach Abzug der Personalkosten durchschnittlich an jeder/m Beschäftigten verdienen. Aktuelles Ergebnis: Pro ArbeitnehmerIn blieben den Unternehmen im Jahr 2010 durchschnittlich 40.335 Euro – das ist der höchste je von der AK errechnete Wert, der sogar das Spitzenjahr 2007 deutlich übertrifft (37.133 Euro). Im Gegenzug hat sich der Personalaufwand in den Unternehmen pro ArbeitnehmerIn im gleichen Zeitraum um nur knapp 13 Prozent erhöht. Wieder ein guter Grund, im Sinne eines gerechten Steuersystems auch die Wertschöpfung der Unternehmen zu besteuern, wie der ÖGB das fordert.
Der ÖGB zeigte sich erfreut über den hohen Zuspruch zum Bildungsvolksbegehren – fast 400.000 Menschen unterschrieben es: „Bildung ist das Schlüsselthema für die Zukunft der jungen Menschen“, sagte ÖGBPräsident Erich Foglar. „Die Regierung muss das Ergebnis des Volksbegehrens als dringenden Auftrag verstehen, rasch die nötigen Veränderungen und Verbesserungen im Bildungssystem anzugehen. Es ist nicht fünf vor zwölf, sondern bereits zehn nach zwölf. Das Recht auf Bildung muss Grundbildung, berufliche Erstausbildung, weiterführende Bildung und lebensbegleitende Weiterbildung gleichermaßen umfassen, und zwar ohne soziale und finanzielle Schranken“, so Foglar. „Bildung ist kein Bereich, in dem man sparen soll.“ www.bildunggehtweiter.at
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Solidarität
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SERVICE
Arbeitsklima-Index:
Mahlzeit: Estland
Zufriedenheit
Fisch in Milch
Der Österreichische Arbeitsklima Index wurde im November erstmals nach einzelnen Berufen ausgewertet. Trotz der permanenten medialen Kritik an ihrer Branche sind Bankangestellte mit einem Wert von 119 Punkten die zufriedensten ArbeitnehmerInnen Österreichs. Sehr zufrieden sind auch Büroangestellte, FinanzberaterInnen und Menschen in Führungspositionen. Am unteren Ende der Zufriedenheitsskala befinden sich Reinigungskräfte (98 Punkte), Berufs- und FernfahrerInnen, KassiererInnen und Beschäftigte im Gast- und Baugewerbe. Errechnet wird der Index mit Faktoren wie der Zufriedenheit mit dem Einkommen, der Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben, den Arbeitsbedingungen und dem gesellschaftlichen Ansehen des Jobs.
Nachbars Küche, Teil 7: Im nördlichsten baltischen Staat wird Essen sprichwörtlich hoch geschätzt. Ritteressen. Kartoffeln, Schweinernes, Roggenbrot, Milchprodukte, Sauerkraut und rote Rüben: Einiges davon, über das hier schon bei Litauen und Lettland geschrieben wurde, findet man auch auf den Speiseplänen von Estland. Dazu kommt der skandinavische Einfluss, ist doch die Hauptstadt Tallinn nur zwei Fährstunden über den finnischen Meerbusen von seinen Nachbarn entfernt. Viele Finnen kommen für einen Tagesausflug in die mittelalterliche Altstadt, gehen auf ein Ritteressen und treten wieder die Heimreise an, beladen mit Vodka und palettenweise Bier. Die Esten geben ihnen ein Sprichwort zur Warnung mit: „Anfangs nimmt der Mann einen Schnaps, später nimmt der Schnaps den Mann.“
das Brot reichen.) Auch zum Bier gibt es Fisch, und zwar als getrockneten, salzigen Snack. Wer den Fisch lieber warm genießt, könnte Kabeljau in Milch dünsten. Dafür Butter zerlassen, Scheiben von gekochten Erdäpfeln und Lauch in den Topf schichten, mit Milch bedecken und eine Viertelstunde köcheln lassen. Mit frischer Petersilie servieren. Als Nachspeise gibt es Marzipan.
© Florian Kräftnerr
Kein Essen übrig lassen
Heringssaison
© ÖGB/Schreiner
Aus der Ostsee kommt der baltische Hering. Er hat im Frühling und im Herbst Saison und wird zum Beispiel als Rossolye gegessen, Matjessalat mit roten Rüben und Rindfleisch. Ein halbes Kilo der in Salzlake gereiften Heringe wird mit ebensoviel gekochtem Rindfleisch, drei großen gekochten
Unfreiwillig:
Teilzeitarbeit Ein Viertel aller Erwerbstätigen in Österreich sind Teilzeitbeschäftigte. 12,1 Prozent oder 123.000 dieser Teilzeitbeschäftigten wollen und könnten mehr arbeiten. Das geht aus der aktuellen Arbeitskräfteerhebung 2010 von eurostat hervor. EU-weit waren 21 Prozent der Teilzeitkräfte unterbeschäftigt, wobei Männer (27 Prozent) sich stärker als Frauen (19 Prozent) unterbeschäftigt fühlen. Spitzenreiter ist hier Lettland mit einem Anteil von 65 Prozent an arbeitswilligen Unterbeschäftigten, gefolgt von Griechenland (49 Prozent) und Spanien (46 Prozent). Das sind allerdings Länder, in denen der Prozentsatz teilzeitbeschäftigter Personen relativ gering ist. Am geringsten ist die Quote in den Niederlanden (3 Prozent), wo Teilzeitarbeit mit einem Anteil von fast 49 Prozent am weitesten verbreitet ist.
Ein Sprichwort in Estland: Anfangs nimmt der Mann einen Schnaps, später nimmt der Schnaps den Mann. Na dann, Prost!
roten Rüben und drei Erdäpfeln, zwei rohen sauren Äpfeln und ein paar Essiggurkerln sowie drei harten Eiern vermischt und vorsichtig mit Sau-
errahm, Schlagobers, Senf sowie Salz, Pfeffer und einer Prise Zucker vorsichtig verrührt. Guten Appetit oder, wie es hier heißt: Jätku leiba! (Möge
Seit 1806 wird die Mischung aus blanchierten Mandeln und Zucker in Tallinn, dem damaligen Reval, hergestellt – so lang wie sonst nur in Lübeck. Andere Desserts enthalten KamaMehl, eine Zutat, die außerhalb Estlands nicht ganz leicht zu bekommen ist, bestehend aus geröstetem Gersten-, Roggen-, Hafer-, Erbsen- und Bohnenmehl. Aufgelöst in Buttermilch oder Kefir, ist Kama vor allem als Frühstück verbreitet. Übrig lassen sollte man in Estland nichts, denn es heißt: „Besser den Wanst zerreißen als gutes Essen übrig lassen.“ Florian Kräftner
Buchtipps: Arbeitswelt
Arbeiten einst und jetzt Im Laufe der Jahre verändert sich viel: Vom Arbeitsplatz über die Mittagspause bis hin zum Kaffee. Bei der nächsten Millionenshow können Sie dann beantworten, womit sich Posamentierer und Goldschläger, L Lichtputzer und Haftelmaccher einst ihr Leben verdient h haben – und das Arbeitsleben fü für immer verlassen.
Mittagspause M
Geschichte Das Geschichte. Buch zur aktuellen Ausstellung des Technischen Museums „in arbeit“ (Brandstätter Verlag, 24,90 Eu-ro) zeigt Verän-rderungen der Arer beitswelt seit der Industrialisierung anhand von historischen Arbeitsgeräten. Sitzen wurde als meistverbreitete Arbeitshaltung vom Stehen
h an Maschinen ab abgelöst, was sic durch die sich A Ausbreitung v von Bürou und Dienstl leistungsber rufen mittlerweile wieder gehat Staublunge Staub ändert hat. und Phosphornekrose wurden durch Burn-out abgelöst. Außerdem stellt der Bildband zehn ausgestorbene Berufe vor.
D Pausen sind zu kurz, um Die no noch wie Opa zum Mittagessen na nach Hause zu fahren. Renate W Wagner-Wittula müssen viele Kl Klagen über Leberkäsesemmelfa fadesse und Kantinenhorror zu Ohren gekommen sein – ihre Antwort: „Schnelle Küche für Berufstätige“ (Pichler, 16,95 Euro) mit schnellen Speisen, die sich vorbereiten und verpacken, oder mit wenig Aufwand und kaum Küchenausstattung direkt am Arbeitsplatz zaubern lassen. Ob Herdplatte oder Mikrowelle nötig sind, steht dabei, außerdem Tipps zur Mehrfachverwendung von Grundrezepten: Specklinsen werden zur Suppe oder zum Aufstrich. Ein nützliches Mit-
tel gegen kulinarische Langeweile und vielleicht sogar gegen manchen Krankenstand.
Kaffee In den Pausenräumen werden die Thermoskannen mit abgestandenem Filterkaffee durch Espressoautomaten ersetzt. Dass das an der Qualität noch gar nichts ändert, wird klar, wenn man sich von Johanna Wechselbergers und Tobias Hierls „Das Kaffeebuch für Anfänger, Profis und Freaks“ (Lesethek, 24,90 Euro) ein wenig weiterbilden lässt. Die hängt von vielen genau beschriebenen Faktoren von der Ernte bis zur Röstung ab – aber auch vom frischen Mahlen und von der Zubereitung: Der Weg zum perfekten Espresso. Damit das neue Qualitätsbewusstsein auch zu besseren Arbeitsbedingungen führt, werden einige Zertifikate für fair gehandelten Kaffee beschrieben. Bücher bestellen unter: www. oegbverlag.at/fachbuchhandlung
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Solidarität
INTERNATIONAL
Finanztransaktionssteuer: Soll 2014 in Kraft treten
Steuergerechtigkeit:
Für mehr Gerechtigkeit
Vorangehen Im Zuge des G20-Gipfels Anfang November in Cannes trafen auch die SpitzenvertreterInnen der Gewerkschaften aus den G20-Ländern zu Gesprächen zusammen. Diskutiert wurden die Krise, die Wirtschaftslage und Angriffe auf die ArbeitnehmerInnenrechte. Die Generalsekretärin des Internationalen Gewerkschaftsbundes, Sharan Burrow, kritisierte vor allem die Untätigkeit vieler Regierungen in Bezug auf die Arbeitslosigkeit in Rekordhöhe und der Konzentration auf die Unterstützung des Finanzsektors. „Der öffentliche Druck auf die Regierungen, im Interesse der Menschen und nicht der Banker zu handeln, wird immer größer werden“, so Burrow. Ebenfalls Thema waren die Regulierung der Finanzmärkte und die Finanztransaktionssteuer: „Wenn auf internationaler Ebene eine Finanztransaktionssteuer noch nicht möglich ist, dann darf das keine Ausrede sein, dann muss Europa vorangehen und zeigen, dass wir es ernst meinen mit der Eindämmung von Spekulationen“, sagt ÖGBPräsident Erich Foglar.
Großer Erfolg mit Schönheitsfehlern, für Gewerkschaften heißt es „weiter dranbleiben“.
Verteilungsgerechtigkeit Der Ertrag der Steuer soll in die Haushaltskonsolidierung und das Budget fließen. Regner berichtet: „Die Kommission spricht von 57 Milliarden. Ich glaube, dass 200 Milliarden machbar wären. Das Geld
über den Vorschlag, nicht mit Kritik. Ziel der FTS ist die abschreckende Wirkung auf Spekulationen mit Derivaten.
An Kritikpunkte erinnern
Evelyn Regner, Gewerkschafterin im Europäischen Parlament, macht sich für gerechte Steuern EU-weit stark.
würde den einfachen Menschen durch Investitionen in Innovation, Bildung und Jugend zugute kommen.“ Auch für Verteilungsgerechtigkeit soll gesorgt werden. „Das Vermögen bündelt sich in der Hand einiger weniger, und die restlichen 90 Prozent besitzen einen geringen Anteil. Alle müssen Mehrwertsteuer, Umsatzsteuer und Lohnsteuer zahlen. Jemand, der mit Finanzprodukten handelt, zahlt nichts. Der Finanzsektor soll seinen Teil zur Krisenbewältigung beitragen“, fordert Regner.
Ein weiteres Ziel ist die Eindämmung der Spekulationen. Das langfristige Überschießen von Aktienkursen, Wechselkursen und Rohstoffpreisen ist großteils Folge kurzfristiger Spekulationen. Eine Besteuerung würde diese kurzfristig-spekulativen Transaktionen verteuern und stabilisierend wirken. „Wenn Anleger merken, dass das Hinund-her-Spekulieren im Mördertempo jedes Mal etwas kostet, werden sie weniger spekulieren“, ist Regner überzeugt. Regner spart, trotz aller Freude
© ÖGB
Neue Steuer. Die EU-Kommission hat einen Vorschlag zur Finanztransaktionssteuer (FTS) vorgelegt. Die Richtlinien sollen bis 2014 in Kraft treten. Doch nicht jede Forderung wurde erfüllt und für die Gewerkschaften heißt es „weiter dranbleiben“. „Wir haben lange darauf hingearbeitet. Der ÖGB, die europäische Gewerkschaftsbewegung und die Zivilgesellschaft können stolz auf uns sein“, erklärt Evelyn Regner, Abgeordnete zum Europäischen Parlament. Die FTS ist eine Steuer, die auf fast alle Finanztransaktionen zwischen Finanzinstituten eingehoben werden soll (Wertpapiere, Anleihen und Derivate). Die Transaktionen von Privatkundenbanken für ihre Kunden/-innen sind ausgenommen.
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Diese sollen aber laut Kommissionsvorschlag mit nur 0,01 Prozent besteuert werden (zehnmal niedriger als der Handel mit Aktien). „Ein einheitlicher Satz wäre gerechter und besser abzuwickeln“, ist Regner überzeugt. Sie bemängelt auch, dass der Wechselmarktkurs, also mögliche Spekulationen mit Währungen, ganz von der Steuer ausgenommen ist. Ein weiterer Punkt ist die Rechtsgrundlage. „Das Abstimmungsverfahren im Europäischen Rat sieht Einstimmigkeit vor. Einzelne Länder können Regelungen blockieren.“ So lange diese Kritikpunkte bestehen, gilt es weiter dranzubleiben. Regner ist überzeugt: „Der ÖGB kann viel beitragen, indem er immer wieder auf eine Verbesserung besteht und an die Kritikpunkte erinnert.“ Milena Borovska
Italien: Sozialpartnerschaft aufgekündigt
Fiat probt den Aufstand
Größter privater Arbeitgeber Fiat, zu dem Marken wie u. a. Alfa Romeo, Lancia, Maserati, Ferrari und – seit 2009 – Chrysler gehören, ist Italiens größter privater Arbeitgeber und seit der Nachkriegszeit ein Symbol des produzierenden Gewerbes.
An 181 Standorten in 30 Ländern (60 in Italien) arbeiten fast 130.000 Beschäftigte. Sie sollen flexiblere Arbeitsbedingungen erhalten, was zu einem monatelangen Streit zwischen dem Unternehmenschef und den Gewerkschaften führte.
Frankreich: © GUIDO MONTANI / EPA / picturedesk.com
Unruhen bei Fiat. Ab Anfang August übervolle Strände an der nördlichen Adria – ItalienurlauberInnen haben dieses Bild bis Anfang der 1980er-Jahre vor sich. Wenn die Fabrikshallen der großen Autobauer, allen voran Fiat („Fabbrica Italiana Automobili Torino“), in der Nähe von Turin einen Monat lang zusperrten, wussten alle: Es ist Sommerpause. Die großen Fabriken gaben den Rhythmus des Wirtschaftslebens im ganzen Land vor. Insbesondere Fiat zählte lange Zeit zum Mythos Italiens, der jetzt immer mehr zerbricht. Per 1. Jänner 2012 scheidet der große Autohersteller aus dem Arbeitgeberverband Confindustria aus. Damit hat der kanadischitalienische Fiat-Boss Sergio Marchionne freie Hand bei den Gehaltsverhandlungen.
© Waldhäusl
Gewerkschaften lehnen Erleichterung von Kündigungen ab.
Nur 33 Prozent der Beschäftigten sind gewerkschaftlich organisiert.
Neue Pläne Zwar gilt Marchionne als FiatRetter, seit er vor sieben Jahren die Konzernführung übernahm und das Autohaus bisher vor dem Zusammenbruch bewahrte. Doch Fiats Austritt aus dem Unternehmerverband Confindustria ist für BeobachterInnen ein Schlag gegen die Gewerkschaften. Von diesen wollte sich der Fiat-Chef nicht „versklaven“ lassen. „Fiat kann es sich nicht leisten, in Italien in einem unsicheren Umfeld tätig zu sein, das in ganz großem Gegensatz zu den Bedingungen anderswo steht“, argumentierte Sergio Marchionne. Befürchtet werden jetzt weitere
Kürzungen in den italienischen Standorten und eine Produktionsverlagerung nach Brasilien und Polen. Jüngst haben europäische Autohersteller von Großbritannien über Belgien und Frankreich bis Spanien Einschnitte angekündigt. Die Verkaufszahlen am europäischen Automarkt dürften 2012 neuerlich zurückgehen.
Gewerkschaft fast machtlos Gegen Sparmaßnahmen und Reformen im Arbeitsrecht, wonach Unternehmen etwa Kündigungen erleichtert werden sollen, hatten Italiens Gewerkschaften im September
zu einem Generalstreik aufgerufen.
Das Problem Die ArbeitnehmerInnenvertretung ist machtlos, zersplittert und überaltert. Unter den mehr als 700 Gewerkschaften gibt es drei große ArbeitnehmerInnenverbände, wobei die CGIL die bedeutendste ist. Rund die Hälfte der Gewerkschaftsmitglieder sind PensionistInnen. Tatsächlich sind nur 33 Prozent der Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert. Heike Hausensteiner
Mindestlohn In Frankreich wird der Mindestlohn erhöht. Entsprechend der Inflationsrate steigt der Mindestlohn ab 1. Dezember um 2,1 Prozent auf 9,19 Euro brutto. Pro Monat ergibt das nun 1.393,82 Euro statt zuvor 1.365 Euro. Etwa jeder/ jede zehnte französische ArbeitnehmerIn wird nach dem Mindestlohn bezahlt. In Österreich gibt es keinen gesetzlichen, flächendeckenden Mindestlohn. Gewerkschaften, Hilfsorganisationen und Teile der Politik sprechen sich jedoch dafür aus. Ein Großteil der ArbeitnehmerInnen wird allerdings schon durch die in Kollektivverträgen festgelegten Mindestlöhne abgedeckt. Ausgenommen davon sind freie DienstnehmerInnen, WerkvertragsnehmerInnen sowie PraktikantInnen und Lehrlinge.
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Solidarität
MAGA ZIN/MEINUNG
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Gut verhandelt Danke, liebe Gewerkschaften: Jedes Jahr verhandelt ihr für eure Mitglieder – aber netterweise auch für alle anderen ArbeitnehmerInnen im Land – die Kollektivverträge. Ihr macht höhere Löhne und Gehälter aus, regelt Arbeitszeiten, Zulagen, Lehrlingsentschädigungen und Arbeitsbedingungen. Und Weihnachtsgeld. Denn das bringt kein Christkind, keine Regierung, kein Chef und kein Bundespräsident.
Übers Ziel
Illustration: Markus Szyszkowitz
Für Terror ist ja wohl niemand, aber beim Anti-Terror sollten die USA kein Vorbild sein. Im AntiTerror-Paket der Regierung wären auch Aktivitäten von Gewerkschaften und Betriebsräten, z. B. Streiks oder Betriebsbesetzungen, erschwert oder bestraft worden. Der ÖGB ist laut Statut und Leitbild eine Kampforganisation – und wird das auch bleiben. Kampfmittel der Beschäftigten sind kein Terror, sondern legitimes Instrument der Beschäftigten.
Meinung: Emmerich Tálos, Politikwissenschafter
Verhandeln und kämpfen Der ÖGB zehn Jahre nach der Urabstimmung und nach den Metallerstreiks. Seit dem großen Streik 1950 gab es in Österreich keine Situation, in der der ÖGB so zur Disposition gestellt wurde, wie ab dem Jahr 2000, als es mit der ÖVP/ FPÖ-Bundesregierung eine völlig neue Konstellation gab. Die Spielregeln der bisherigen Zusammenarbeit wurden gebrochen: Mit Initiativanträgen im Nationalrat wurde der Weg der Gesetzesbegutachtung ausgeschaltet. Ein Effekt der ÖGBUrabstimmung war, dass die Bundesregierung danach die Interessenverbände durch die Begutachtungsverfahren wieder verstärkt eingebunden hat.
Sozialpartner beteiligt Vor dem Jahr 2000 waren die Sozialpartner nicht Nebenregierung, wie sie gerne tituliert werden, sondern mitbeteiligt an der Regierungsarbeit und mitgestaltende Kraft. Ab 2000 ist dann durch den Bruch mit den bisherigen Spielregeln der ÖGB auch zu einem Kritikfaktor für die Regierung geworden. Der Druck für die Arbeitnehmerinteressenorganisationen war damals so groß, wie wir das in
Jahrzehnten nicht erlebt haben. Die schwarzblaue Politik war eine gezielte Politik der Schieflage. Dieser politische Stil hat die Beschäftigten auf die Pal-
»Der Druck auf Arbeitnehmerorganisationen war so groß, wie wir das in Jahrzehnten nicht erlebt haben.« Emmerich Tálos
me gebracht, der Widerstand dagegen ist beträchtlich gestiegen. Das war einer der Hauptgründe dafür, dass die ÖGB-Urabstimmung gelungen ist, was in Österreich nicht so einfach ist. Kampfmaßnahmen haben bei uns immer eine geringe Rolle gespielt, weil wir einen anderen Modus der Interessenvertretung und Sozialpartnerschaft haben, Streiks stehen dabei nicht an erster Stelle. Ohne den großen Unmut unter den Beschäftigten hätte es das Ergebnis der Urabstimmung nie geben können. Der ÖGB war immer ein wichtiger Faktor in der Zweiten Re-
publik, hat sich aber nicht durch große Mobilisierungsaktionen der Mitglieder ausgezeichnet. Der ÖGB hat selbst immer wesentlich zur Befriedung, zum Interessenausgleich beigetragen. Mit diesem Muster zu brechen ist schwierig, das ist aber mit der Urabstimmung gelungen. Mit den Streiks bei den Metallern bei der heurigen Lohnrunde hat die Gewerkschaft ähnlich auf den Druck durch die Belegschaft reagiert.
Die Menschen mitnehmen Wichtig dabei ist es, die Menschen mitzunehmen, das hätte der ÖGB im Zuge der Urabstimmung mehr und besser nutzen können. Aus meiner Sicht gibt es für den ÖGB Notwendigkeiten auf drei Ebenen. Er steht vor großen Herausforderungen, weil sich die Arbeitswelt verändert, vielfältiger wird, der ÖGB muss daher auch in seinem Angebot vielfältiger werden. Der ÖGB muss bei Verhandlungen zeigen, dass er verhandlungsbereit, aber auch kampfbereit ist. Und auch interne Mitbestimmung und Beteiligung,
Prof. Emmerich Tálos (Universität Wien) über Notwendigkeiten, damit der ÖGB stärker mobilisiert.
zum Beispiel zum Thema soziale Gerechtigkeit, wenn man Mitglieder nach ihren ganz konkreten Wünschen fragt, führt zu mehr Mobilisierung.
(Die Aussagen von Emmerich Tálos stammen aus einer Podiumsdiskussion Mitte Oktober in Wien zum Thema 10 Jahre ÖGB-Urabstimmung für soziale Gerechtigkeit.)