OPER KÖLN | »FAUST« Programmheft 2020.21

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FAUST Charles Gounod



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SAMUEL YOUN

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STATISTERIE DER OPER KÖLN


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MILJENKO TURK

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ANNE-CATHERINE GILLET


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YOUNG WOO KIM, ALEXANDER FEDIN

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SAMUEL YOUN, MILJENKO TURK, STATISTERIE DER OPER KÖLN


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ANNE-CATHERINE GILLET

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LUCAS SINGER


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ALEXANDER FEDIN, REGINA RICHTER, STATISTERIE DER OPER KÖLN

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YOUNG WOO KIM


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STATISTERIE DER OPER KÖLN, ANNE-CATHERINE GILLET

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FAUST Deutsche Erstaufführung der weitgehend rekonstruierten Originalfassung von Gounods »Faust« von 1859 mit gesprochenen Dialogen nach der Neuausgabe von Paul Prévost (Bärenreiter Verlag Kassel) Libretto von Jules Barbier und Michel Carré nach Johann Wolfgang von Goethes »Faust I« Musik von Charles Gounod (1818 – 1893) in französischer Sprache mit deutschen Übertiteln


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MUSIKALISCHE LEITUNG François-Xavier Roth INSZENIERUNG Johannes Erath BÜHNE & KOSTÜME Herbert Murauer LICHT Nicol Hungsberg VIDEO Bibi Abel CHOR Rustam Samedov DRAMATURGIE Birgit Meyer

Uraufführung: 19. März 1859, Théâtre-Lyrique, Paris Premiere: Samstag, 05. Juni 2021, Oper Köln im StaatenHaus

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SYNOP SIS


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Faust, ein alter Wissenschaftler, sucht die letzten Antworten auf sein Leben. »Ich sehe nichts, ich weiß nichts!« ist das enttäuschte Resümee. Faust verflucht seinen Werdegang und ruft den Teufel herbei. Von ihm wünscht er sich: »... einen Schatz, der alles vereint. ... Jugend!« Méphistophélès erfüllt den Wunsch, im Gegenzug verlangt er Fausts Seele. Als diesem das Bildnis einer unbekannten jungen Frau erscheint, ist seine Liebe sogleich entfacht. Der Teufel versichert Faust, dass er ihr noch am selben Tage leibhaftig begegnen werde.

Ein Volksfest. Der junge Valentin zieht als Soldat in den Krieg und bittet seine Freunde Wagner und Siébel, beide Schüler Fausts, während seiner Abwesenheit auf Marguerite, seine Schwester, zu achten. Méphistophélès mischt sich unter die jungen Leute und sagt Wagner und Valentin den baldigen Tod vorher. Dem in Marguerite verliebten Siébel prophezeit er, dass zukünftig jede Blume in seiner Hand verwelken werde. Als Faust hinzukommt, erkennt er in der Menge Marguerite, die ihm zuvor als Bildnis erschienen war. Er spricht sie an, wird aber von ihr zurückgewiesen. Méphistophélès redet ihm zu, sich nicht abbringen zu lassen. Der teuflische Zauber wirkt: In der Hand Siébels verdorren alle Blumen. In Weihwasser getaucht, blühen sie wieder auf. So bringt

Siébel sie der Geliebten dar. Unterdessen sucht auch Faust in Begleitung des Méphistophélès das Haus Marguerites auf, wo dieser Schmuck vor die Tür legt. Als Marguerite diesen findet, denkt sie sofort an den jungen Mann, der sie ansprach. Kaum traut sie sich, das edle Geschmeide anzulegen, da treten Faust und Méphistophélès ein; während letzterer die Nachbarin Marthe Schwerdtlein umgarnt, gesteht Faust Marguerite seine Gefühle, die sie zu seiner großen Freude erwidert. Von ihrer Reinheit und

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Bescheidenheit übermannt, zieht Faust sich zunächst zurück, doch Méphistophélès überzeugt ihn, unter ihrem Fenster zu lauschen. Als er dort ihr sehnsüchtiges Liebesgeständnis vernimmt, kennt seine Leidenschaft keine Grenzen mehr.

Faust hat Marguerite verlassen. Die verletzte junge Frau sucht Beistand in der Kirche. Dort betet sie für ihren Geliebten und das Kind, das sie von Faust erwartet. Als sie die Stimme des Méphistophélès, gepaart mit dem Dies irae eines Chores, vernimmt, bricht sie zusammen. – Valentin kehrt siegreich aus dem Krieg zurück. Während Faust und Méphistophélès erneut Marguerites Haus aufsuchen, werden sie von Valentin überrascht. Empört über das, was Faust seiner Schwester angetan hat, fordert er diesen zu einem Duell. Valentin unterliegt und verflucht sterbend seine Schwester.

Méphistophélès führt seinen Protegé zur Feier der Walpurgisnacht. Während dieses Bacchanals reicht er Faust einen Trank des Vergessens. Sein Wunsch wurde erfüllt, das Spiel ist aus. Da erscheint Faust in einer Vision die hingerichtete Marguerite. Erneut fühlt er sich zu der jungen Frau hingezogen, weist den Trank des Teufels zurück und macht sich umgehend auf den Weg zu ihr. Marguerite hat im Wahnsinn ihr Kind umgebracht und liegt gefangen in einem Kerker. Voller Verlangen sucht Marguerite die Nähe Fausts und erinnert ihn an das erste Treffen. Dieser drängt zur gemeinsamen Flucht. Als Marguerite Méphistophélès erblickt, löst sie sich von Faust und weist ihn zurück mit den Worten: »Du jagst mir Furcht ein!«


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Alter Faust

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EIN DIALOG


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» … OHNE EIN ENDE KEIN ANFANG« –

Johannes Erath, Birgit Meyer – ein Gespräch

BIRGIT MEYER   … zu Beginn des Abends sehen wir ein EKG. Zuerst ist es eine ganz normale Sinuskurve, am Ende ist es ein Nulllinien-EKG. Was passiert dazwischen? Was ist das für ein Rahmen? JOHANNES ERATH   Mir geht es um den Moment des Sterbens, nicht um den Tod. Menschen mit Nahtoderfahrung berichten, dass das ganze Leben in diesem Moment noch einmal an ihnen vorbeigezogen ist. Besonders schwer wiegt wohl die Erkenntnis, etwas verpasst zu haben. Diese Frage fand ich auch am spannendsten in Bezug auf Faust: Durch Siébel und Wagner kapiert er gleich am Anfang, dass er das Leben als Wissenschaftler immer nur analysiert, aber nie gelebt hat. Eine erschreckende Erkenntnis, alles nur »second hand« miterlebt zu haben und mit der Frage zurückzubleiben: Was macht das Leben aus? In unserer Fassung des »Faust« fehlt die Arie des Valentin. Die Melodie ist aber in der Ouverture – und nur hier – aufgegriffen. Die Nulllinie läuft ein zu dieser ersten Melodie, die wir am Abend hören. Der Text dazu heißt: »Avant de quitter ces lieux.« Das ist bei der Valentin-Arie an ihrer ursprünglichen Stelle anders gemeint: Valentin verabschiedet sich, um in den Krieg zu ziehen. Wenn diese Musik jetzt erklingt, bevor Faust die Welt verlässt, bekommt sie eine andere Wertigkeit. Das ist genau das, wo es in diesem Stück für mich spannend wird: Die Musik berührt ein Sentiment, dem man sich hingeben möchte. Wenn aber diesen einnehmenden musikalischen


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Momenten deutliche Zeichen von Tod und Endlichkeit entgegenstellt werden, bekommt die Szene etwas Bittersüßes und plötzlich auch die Musik eine andere Kraft. Eine ähnliche Dynamik entsteht dadurch, dass der Chor nicht auf der Bühne, sondern nur von der Seite singen darf: Ich höre diesen vollen Klang – und sehe die Sänger*innen nicht – was den gesungenen Text anders wirken lässt. Der Gesang ist schwebend, losgelöst vom Bühnengeschehen. Natürlich fehlten mir die Momente, wo der Chor tatsächlich da ist. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass eine besondere Kraft entstehen kann, wenn der Musik Bilder unterlegt sind, die den Empfindungen, die die Musik suggeriert, nicht entsprechen.

BM   Wie bist du mit der Herausforderung um­­ge­gangen, mit Abständen Nähe zu erzeugen?

JE  Ab dem Moment, wo eine Verbindung zwischen zwei Menschen besteht, kann das direkt nebeneinander oder zehn Meter auseinander sein, die Energie bleibt!

BM   Im besten Sinn werden durch die notwendigen Abstände auch Sehgewohnheiten gebrochen, Erwartbares nicht erfüllt – weil es nicht erfüllt werden kann. Erstaunlich zu erleben, wie groß der Wunsch nach Nähe zwischen den Menschen ist.

JE  Jetzt, wo die Maske da ist, sind die Leute gezwungen, sich in die Augen zu schauen, weil sie nur über den Blickkontakt ermessen können, ob und wie das Gegenüber ihnen gewogen ist. Ich fand es am Anfang der MaskenZeit ganz spannend zu erleben, welche Irritationen dadurch ausgelöst wurden. Man muss sich jetzt über andere Dinge näherkommen, weil es diese überlebensnotwendige Distanz gibt. Auch die Darsteller*innen auf der Bühne mussten lernen, Nähe neu zu spüren. Sie machen das wahnsinnig schön und haben ein ausgeprägtes Sensorium entwickelt, wer gerade was mit wem macht.

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BM   Der Gesang bekommt natürlich auch eine andere Kraft, weil auch er an jemanden gerichtet ist und Nähe herstellt.

JE  Absolut! Ich bin froh, dass dieser Abend so umgesetzt ist, weil sich im Stück ohnehin niemand wirklich berührt. Alle Figuren sind jeweils von der Utopie der anderen umgeben, jeder ist Projektionsfläche für jeden.

BM  Ich möchte nochmal zum Anfang kommen, zum Sterben. Das Leben ist kurz. Wenn man jung ist, ahnt man nicht, wie kurz. Man hört es von den »Alten«, es erschreckt einen … Aber als junger Mensch kann man sich damit trösten, dass dieses Leben ja vor einem liegt und hofft auf Erkenntnisse, die einen die Endlichkeit annehmen lassen. Der alte Faust resümiert: »Ich sehe nichts, ich weiß nichts … Was habe ich denn aus meinem Leben gemacht?«. Die Frage ist, ob wir uns das nicht alle am Ende fragen. Was sollte in Fausts Leben passiert sein, dass er am Ende nicht so dasteht?

JE  Ich glaube, er wäre nie an diesen Punkt gekommen … Ihm fehlt die Demut vor dem Leben. Erst, wenn man eine Grenzerfahrung im Leben hatte, bekommt auf einmal jede Sekunde, jede Kleinigkeit eine völlig andere Wertigkeit. Man nimmt das Leben anders wahr, weil man eine zweite Chance erhalten hat. Ich würde das als Demut bezeichnen, ein altmodisches Wort, aber, ich lebe es, denn »Mut« ist da auch noch drin; Demut ist eine Form von Respekt. Ich habe auch gelernt, dass per se nichts einen Wert hat. Ich kann einer Sache oder einer Person einen Wert zusprechen. Ich kann diesen Wert aber auch wieder wegnehmen. Es ist eine Verabredung. Das ist genau das, was auch im Theater passiert: Ein Objekt, z. B. ein Requisit auf der Bühne, erhält erst durch den Sänger, der diesem einen Wert entgegenbringt, seine Bedeutung. Der Zuschauer spürt das sehr genau. In dem Moment, da man die Endlichkeit spürt, passiert eben genau das …


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BM  … die Verletzbarkeit wird deutlich. Und im Grunde genommen der kleine Rahmen, in dem wir nur existieren können. Für uns scheint alles so selbstverständlich. Aber ein kleines Virus, das wir gar nicht sehen können, stellt gerade alles auf den Kopf und lässt uns im Leben innehalten …

JE  … dadurch entsteht ein anderes Verhältnis zu den Dingen. Hoffentlich verstehen wir, dass im Leben eigentlich nichts selbstverständlich ist … BM  … man ist in der Pandemie auf sich selbst geworfen, muss sich selbst aushalten. Man resümiert – gewollt oder ungewollt. Ich habe das größte Mitgefühl für alte Menschen, denen Lebens-Möglichkeiten genommen wurden … JE  … wie unmenschlich ist das, alleine gehen zu müssen … BM  … etwas Traurigeres kann ich mir eigentlich gar nicht vorstellen … – Was erwartet sich Faust von Méphistophélès, wenn er sagt: »Ich will einen Schatz, der alles vereint.«?

JE  Das ist der Unterschied zu Goethe: dass der Schatz die Jugend wäre. Mit der Jugend verbindet der alte Faust Allmacht und Unverletzbarkeit. Das ist natürlich verrückt. Tatsächlich, da wir einen alten und einen jungen Faust haben, ist der junge so naiv, anzunehmen, die Welt stehe ihm offen. Er ist unbedarft, frei von den Lebenserfahrungen des alten Faust, weil er quasi ein eigener, abgespaltener Teil ist. Zwischen diesen »Teilen« entsteht eine besondere Spannung.

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BM  Faust fragt sich in der berühmten Cavatine »Salut! Demeure chaste et pure« (»Sei gegrüßt, reine, keusche Stätte«), welch törichte Leidenschaft seine Schritte eigentlich zu Marguerite lenken. Er äußert seine Faszination über das kleine, überschaubare Reich Marguerites, die er als Frau ohne eigene Wünsche und Verlangen, ganz mit sich im Reinen, sieht.

JE  Er will sich das so vorstellen. Die französische Sprache ist nicht so eindeutig wie das Deutsche: »Salut! Demeure chaste et pure« kann man auch so übersetzen: Das war die längste Zeit »chaste et pure«. Weil Salut heißt auch Tschüss und nicht nur Bonjour. BM  Er spürt, dass er etwas kaputt machen wird. Er wird Marguerite brechen. Ist das ein Kick, fortzufahren?

JE  Faust hat keinen Respekt vor irgendwas. Er erinnert mich an den Jedermann. Beide machen keine Entwicklung durch, bleiben stets in ihrem Koordinatensystem. Faust wohnt eine destruktive Grundenergie inne, mit einer latenten narzisstischen Persönlichkeitsstörung, ähnlich dem Don Giovanni oder Eugen Onegin. Die Umgebung verletzt sich an diesen Figuren. Faust braucht ständig Publikum. Seine Schüler sollen ihm applaudieren.

BM  Er spricht von Liebe, aber was ist das für eine Liebe? JE  Ich glaube, er ist verliebt in das Gefühl, verliebt zu sein, aber von Liebe weiß er nichts.


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BM   Die Musik von Gounod ist sehr opulent, sehr gefühlig an einigen Stellen. Gerade auch die von Orgelmusik begleiteten Stellen bringen die Kirche, ein sakrales Moment in das Geschehen. Welche Bilder ruft das in dir hervor?

JE  Die Orgel, dieses »choralhafte«, kommt ja nicht nur in der Kirche vor. Es gibt mehrere Choräle, auch wenn sie manchmal nur ein paar Takte kurz sind. Nach der Todesverkündigung Mephistos für Valentin und Wagner ertönt ein Choral, nach der Arie von Mephisto und ebenso beim tatsächlichen Tod von Valentin. Deswegen sind die Bilder auf der Bühne jeweils auch genau dieselben. Das ist von Gounod sehr clever gemacht. Natürlich setzt dieses »Anrührige« der Choralmusik sofort etwas frei. Ich sollte es doch noch mal zählen, wie viele »Adieus« genannt werden. Wir sagen das manchmal so ein bisschen salopp: Adieu! Im Französischen ist Adieu endgültig. Das sagt man nicht, wenn man sich wiedersieht. Valentin und Marguerite werfen sich gefühlt hundertmal »Adieu« an den Kopf, deswegen stehen auch diese Lettern da – etwas brutal.

BM   Willst du kurz die drei Figuren Wagner, Siébel und Valentin skizzieren?

JE  Dem »Faust« wohnen zahlreiche Dualitäten inne. Das finde ich extrem wichtig und so schön aufgebaut bei Gounod. Siébel studiert Theologie, Wagner fühlt sich der Wissenschaft verpflichtet. Das eine muss man glauben, das andere will man wissen. In dem Moment, wo du an Mephisto glaubst, glaubst du auch an Gott. Das Eine geht nicht ohne das Andere. Weil in dieser Welt alles durch sein Gegenteil erklärt wird. Mir ist bisher noch nichts aufgefallen, was nicht

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sein Gegenteil hat. Es gibt keine absolute Größe. Die Dinge sind nicht schwarz oder weiß im Leben. Das hätten wir gerne so, aber die Dinge sind schwarz und weiß – gleichzeitig. Das ist auch eine Frage der Perspektive.

BM   Das ist genau die Möglichkeit der Kunst, dass diese Nicht-Eindeutigkeit reflektiert werden kann. Gerade die Oper kann das. Die Vielstimmigkeit in Text und Musik kann ambivalente Haltungen gleichzeitig fassen … Kommen wir zur Fassung. Die vom Bärenreiter-Verlag weitgehend rekonstruierte und neu herausgegebene Originalfassung von 1859 verfügt über eine sehr große Menge an gesprochenen Dialogen und Texten. Wo hast du Kürzungen angesetzt?

JE  Ich habe versucht, Dinge zu konzentrieren, Nebenschauplätze wegzulassen. Mir war wichtig, dass die Oper schnell an Fahrt aufnimmt, und es schnell zu einer Begegnung von Faust und Marguerite kommt. Die Atemlosigkeit, die Dynamik, die das Geschehen aufnimmt, ist eine Flucht vor dem Tod. Faust kann nicht in sich sein, er würde sich selber nicht aushalten.

BM  Ich finde die gesprochenen Dialoge sehr gut, weil es so dezidierte Einschnitte sind. Weil damit die Musik immer wieder zum Stehen kommt. Es wird eine andere Bewusstheit geschaffen, für das, was man sieht. Der Herzschlag im Hintergrund erinnert immer wieder daran, dass ein Prozess in Gang ist, der nicht mehr aufzuhalten ist. Das hat etwas Brutales.

JE  Es ist brutal. Wir dürfen keine Augenwischerei betreiben!


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BM   Aber es geht ja durchaus auch um einen Erlösungsgedanken, der irgendwie im Raum steht …

JE  Genau. Wir wissen ja nicht, ob wir dann … BM   … in dieser Phase, wo das Leben entweicht … JE  … vielleicht ist es ja dann so! Ich glaube ja eher – das werden wir uns nachher leider nicht erzählen können – dass, wenn man tatsächlich an den Punkt gelangt, loslassen zu können, dass das dann vielleicht ein schöner Moment ist; und ich bin ja hundertprozentig davon überzeugt, dass zum Großteil die Menschen tatsächlich so gehen, wie sie gehen wollen.

BM   Wir sollten uns doch nochmal verabreden für danach …

JE  Das wäre schön… BM   Über wen wir noch nicht gesprochen haben, ist Méphistophélès.

JE  Für mich ist er kein Mensch. Sein Prinzip lautet: »Ich bin der Geist, der stets verneint, der Böses tut und Gutes schafft«. Das steckt auch in Faust. Hier sehe ich die Nähe zu Hoffmann: Hoffmann versucht auch, alles Verwerfliche auf den Bösewicht Lindorf zu projizieren, um nicht selbst verantwortlich zu sein für das, was er anderen antut. Das Böse wird exteriorisiert. Im Endeffekt ist das die destruktive Kraft von Faust selber. Die haben wir aber alle.

BM   Die Frage ist, wie sehr man dem nachgibt.

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JE  Ganz genau. Ich möchte das gar nicht werten. Die Dinge gehören zusammen. Es kann nichts Neues entstehen, ohne dass etwas kaputt geht auf dieser Welt. Wie der Zyklus des Sterbens und des Wiedergeborenwerdens ... ohne ein Ende kein Anfang.

BM   Marguerite ist sehr eindimensional gut gezeichnet.

JE  Da sind wir leider schon wieder bei der Diskussion, dass aus einer Männersicht eine Frau entweder eine Heilige oder eine Hure ist. Für mich ist sie die Gegen­spielerin von Méphistophélès. Ohne, dass sie es weiß. Aber sie schafft es, eine Entwicklung durchzumachen. Diese wird im Stück initiiert durch eine Vision von Mephisto. In genau diese Version verliebt sich Faust. In der Walpurgisnacht erscheint sie dann aber ohne das Zutun von Mephisto. Einfach, weil sie glaubt, dass Faust zu ihr zurückkommt. In dem Moment verliert Mephisto Macht. Auch wenn er es abtut, sie löst etwas in ihm aus. Zuvor schickt sie ihren Bruder Valentin weg: »Adieu, mon bon frère«, damit sie endlich wachsen und sich freistrampeln kann. Am Ende weist sie Faust zurück: »Va! Tu ne faises horreur« (Geh! Du machst mir Angst!). Sie leistet Widerstand. Das macht sie zu einer starken Frau.

BM   Das goldene Kalb, von dem Méphistophélès singt, was bedeutet das?

JE  Für mich hat das etwas mit Budenzauber zu tun. Deswegen kommen diese ganzen Pappmaché-Figuren, diese Schabracken auf die Bühne. Ich finde, das Schöne ist ja, dass Mephisto an manchen Stellen auch ein bisschen abgehalftert ist. (lacht) Das Stück ist von der Anlage her ein zweidimensionales Kasperltheater. Das kommt immer wieder durch.


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BM   Eine ernste, berührende Note erhält der Abend durch den alten Faust, der weiß, wie es sich anfühlt, am Ende des Lebens, mit schwindender Kraft …

JE  … ich glaube, ja, das ist schwer, das Ende anzunehmen… Besonders in Zeiten der Pandemie ist auch das Ende einer Produktion am Theater ernüchternd. Beim Streamen fällt die letzte Klappe – und dann ist es vorbei. Aber ich könnte wetten, dass jetzt eine völlig andere Energie entsteht, weil wieder vor Publikum gespielt werden kann.

BM   Das belebt grad alle und alles hier, nach dieser langen Zeit ohne Publikum.

JE  Es gibt so viele Menschen an diesem Theater, die eine Liebe zu dem, was sie tun, haben, und das mit einer Innigkeit machen! – Das ist ganz toll. Egal welche Abteilung.

BM   Der Bühnenmeister sagte mir nach der Generalprobe, als ich mich bei ihm bedankte: »Immer wieder gerne!« – Das höre ich oft. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wissen, dass ihre Arbeit gesehen wird. Dabei geht es nicht um Perfektion, sondern um den Ausdruck, den sie mit ihrem Können und ihrer Liebe zur Sache erzielen.

JE  Die Liebe führt zu etwas, das größer ist.

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Paul Prévost

GOUNODS »FAUST« – EIN LEBENSTRAUM

Charles Gounods unbestrittenes Meisterwerk, »Faust«, hat in seiner vollständig gesungenen Fassung internationalen Ruhm erlangt. Dabei wird jedoch vergessen, dass das Werk, dessen Sujet den Direktor der Pariser Oper nicht interessiert hatte, ursprünglich mit gesprochenen Dialogen für das Théâtre-Lyrique komponiert worden war, die dritte Opernbühne der französischen Hauptstadt ­ neben der Académie impériale de musique und der Opéra-Comique. Die gewählte Mischform, die sich sowohl von der Grand opéra als auch von der komischen Oper unterscheidet, hat selbst zwei Hauptversionen, die neuartige Nummern und Melodramen beinhalten.    Der erste Kontakt des Komponisten mit Goethes Werk datiert auf das Jahr 1840, während seines Aufenthalts in der Villa Medici, nachdem er den ersten Grand Prix de Rome gewonnen hatte. Tatsächlich übte dieser Text eine große Faszination auf die französischen Künstler und das französische Publikum aus und war bereits für verschiedene Genres adaptiert worden. Von dieser Zeit an hielt Gounod in seinen Notizbüchern die verschiedenen Ideen fest, die er hoffte, »an dem Tag, an dem [er] versuchen würde, sich diesem Thema als Oper zu nähern« (»Mémoires d’un artiste«), verwerten zu können. Italien begünstigte seine Neigung zur Romantik, und wahrscheinlich komponierte er vor diesem Hintergrund ein kurzes Adagio für Klavier mit dem Titel »À la lune«, erster Entwurf eines wesentlichen Themas des Duetts im Garten der zukünftigen Oper, »Oh Liebesnacht, strahlender Himmel!«.    Die Entstehungsgeschichte des Librettos für »Faust« ist nach wie vor nicht leicht zu bestimmen. Sie ist die Frucht des gemeinsamen Wunsches von Jules Barbier, Gounod und Léon Carvalho, Direktor des Théâtre-Lyrique. Barbier übernahm die Handlung von Michel Carrés prosaischem Drama (»Faust et Marguerite«, 1850), die er


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ergänzte und in Versform brachte. Carré mischte sich erst später für einige Nummern ein, von denen die berühmteste das Rondo vom goldenen Kalb ist, und wahrscheinlich für den gesprochenen Dialog. Das Libretto wurde mehrfach gekürzt und im November 1858 an den Zensor geschickt.    Dem Beispiel der deutschen Kritiker folgend, die ab Ende des 19. Jahrhunderts in der Adaption von Barbier und Carré eine zu blasse Nachahmung Goethes sahen, hat die französische Musik­ wissenschaft das von Gounod vertonte Libretto oft verunglimpft. Das Ziel der Opernautoren war weniger die Treue zu einer Vorlage als vielmehr eine frei gestaltete Adaption für das lyrische Theater, da der Mythos bereits im Nachgang zu Goethe zahlreiche Werke in französischer Sprache hervorgebracht hatte.    Das ursprüngliche Libretto, das dramaturgisch gekonnt konzipiert und sorgfältig in Versform gesetzt wurde, basiert auf drei gleichrangigen Elementen. Das erste ist natürlich die Liebesbeziehung zwischen Faust und Marguerite. Das fromme junge Mädchen erliegt dem Charme des hintersinnigen Fausts, der sich zunächst gewissenlos dem Genuss hingibt und schließlich an seinem teuflischen Begleiter zweifelt. Die unmögliche Liebe der klassischen Tragödie weicht einer ungesunden Beziehung, die zum Mord an einem in Unmoral geborenen Kind führt. Das zweite Element ist der Bereich das Fantastischen, der spektakuläre Inszenierungs­ effekte ermöglicht, von Fausts Verjüngung über die idealisierte Erscheinung der Marguerite im hinteren Teil des Arbeitszimmers des Gelehrten bis hin zur Walpurgisnacht, in der Dämonen und Hexen ihr Unwesen treiben. Am stärksten zutage tritt schließlich das religiöse Element, und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Gounod weitgehend zu seiner Entwicklung beigetragen hat, indem er ihm eine Bedeutung verlieh, die es weder bei Goethe noch in Carrés Drama besaß. Das Libretto ist im Prinzip eine christliche Katechese der Sünde. Einem Liebhaber hingegeben, der sie begehrt, ohne sie wirklich zu lieben, hat die unschuldige Marguerite ein Kind zur Welt gebracht, das sie tötet, um ihre Schuld zu verbergen. Ihre aufrichtige Reue ermöglicht es ihr, den

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Dämon zu entlarven, über den sie siegen wird. Wie eine neue Eva erlangt sie Erlösung in einer Apotheose, die an die Himmelfahrt der Jungfrau Maria erinnert. In seinen Verwünschungen verflucht Faust »Liebe, Hoffnung und Glaube«, die theologischen Tugenden, die in drei Akte des traditionellen christlichen Gebets übersetzt werden. Im Gegensatz zu Marguerite ignoriert seine im Weltlichen verwurzelte Wissenschaft die von der Predigt der Seligpreisungen gepriesene Armut des Herzens, macht ihn anfällig für die Sünde und lässt ihn von der Weisheit, der wahren Erkenntnis Gottes abrücken. Sicherlich erfolgreicher als im Bericht des Evangeliums (Mt 4,1-11, Lk 4,1-13) verführt Méphistophélès sein Opfer, indem er ihm Reichtum und Macht anbietet, bevor er ihm die Jugend zum Preis eines tödlichen Paktes gewährt, damit es für eine kurze Zeit materielle Freuden genießen kann. Die Oper endet mit einer frohen Botschaft der Auferstehung Christi – dem Herzstück des katholischen Glaubens, das die Zensoren äußerst störte – ein endgültiger Aufruf zum Leben und eine Antwort auf das verhängnisvolle »Nichts«, mit dem der Prolog begann.    Die Notizbücher mit musikalischen Skizzen, die oft keinen Text enthalten, sind nicht datiert. Zu der Zeit, als er an dem Libretto arbeitete, notierte Gounod Fragmente mehrerer Nummern an ihrer Stelle im Text. Diese Arbeit ist mit der Erstellung der handschriftlichen Orchesterpartitur verbunden, deren letzte Seite ein einziges Datum enthält: »Samstag, 17. [Juli 1858]«.    Laut Carvalho war die Oper Ende Februar 1857 fast vollendet, aber zu diesem Zeitpunkt war die Orchestrierung noch sehr fragmentarisch und die Nummern noch lange nicht fertiggestellt. Im Laufe des Sommers 1858 arbeitete Gounod ohne Unterlass an der Orchestrierung. Die ersten Studien begannen Anfang September. Am 8. Oktober entschuldigte sich der Komponist in einem Brief an seinen Freund Desgoffe für sein Schweigen: »Ich bin seit Ihrer Abreise derart von den Theateranforderungen beansprucht worden, dass es mir unmöglich war, meine Arbeit an der Orchestrierung auch nur einen Moment liegen zu lassen. [...] Ich befinde mich mitten in den Proben für »Faust«, was nahezu täglich Arbeit


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an der Abschrift erfordert. Es ist das bedeutendste Werk seit Beginn meiner Tätigkeit. Möge Gott mir helfen, es erfolgreich zu verwirklichen: Sie wissen, dass dieser »Faust« mein Lebenstraum ist.« Die Größe der Aufgabe veranlasste Carvalho, die erste Aufführung auf den Beginn des folgenden Jahres zu verschieben, was nicht gerade dazu beitrug, den Komponisten hinsichtlich des Wertes seines Werks zu beruhigen. »Was mich betrifft«, schrieb er an Georges Bizet (11. Januar 1859), »so kann ich Ihnen nicht viel über den Wert meiner Partitur sagen: Ich bin so in sie vertieft, dass ich ein sehr schlechter Richter bin. Heutzutage hat nichts mehr eine Wirkung auf mich: Meine Musik sättigt mich.«    Die Kölner Oper bietet dem Publikum die Version des Fausts, die den ursprünglichen Vorstellungen der Autoren am nächsten kommt. Während sich einige Nummern dieser Produktion von den bekannten Stücken nur durch Details der Orchestrierung unterscheiden (Duett von Faust und Méphistophélès, »Hier bin ich ...«; Duell-Trio, »Was wollt ihr, meine Herren?«; Valentins Tod, »Hierher, meine Freunde!«), transformieren andere die übliche Wahrnehmung, die der versierte Musikliebhaber von Gounods »Faust« hat: Terzett von Faust, Wagner und Siébel (»Vom Studium, mein Herr«), Duett von Marguerite und Valentin (»Lebe wohl, lieber Bruder!«), Méphistophélès’ Arie (»Meister Skarabäus«), Siébels Romanze (»Ergießt euren Kummer in meine Seele!«), Valentins Arie mit Chor (»Jeden Tag eine neue Sache«), Hexenchor (»Eins, zwei und drei«). Der zweite Teil von Fausts Cavatine (»Sei gegrüßt! Keusche, reine Stätte«), der vor Kurzem zufällig entdeckt wurde, konnte vollständig wiederhergestellt werden. Er war während der Proben von 1858 – 59 um 117 Takte gekürzt worden, um die Aufgabe des Tenors Guardi zu erleichtern, ein Anfänger, der die Rolle schließlich nicht ausführte. Darüber hinaus gibt es sieben Melodramen, deren fehlende oder unvollständige Orchestrierung für die vorliegende Aufführung komponiert wurde.    Das ist sicher nicht die Form, in der das Publikum »Faust« 1859 entdeckt hatte. Léon Carvalho, Intendant und Regisseur mit einer sehr starken Persönlichkeit, zwang Gounod zu zahl­ reichen und unaufhörlichen Änderungen. Außerdem verkündeten

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die Zeitungen regelmäßig die Verschiebung des Stücks wegen mangelnder Vorbereitung, was die Neugier der Öffentlichkeit nur noch vergrößern konnte. »M. Gounod ist, wie man sagt, sehr anspruchsvoll; aber diese Ansprüche sind nur legitim, da sie vom edlen Gefühl eines Künstlers diktiert werden; und außerdem schreckt M. Carvalho vor keinem Opfer zurück, um sich einen weiteren Erfolg mit dem neuen Werk des französischen Meisters zu sichern.« (»La France musicale«, 21. November 1858).    Mit Sicherheit hatten die Autoren, allen voran Gounod, Grund zur Sorge über die endgültige Umsetzung ihres »Faust«. Das Werk enthielt viel zu viel Musik und musste radikal gekürzt werden, damit die Aufführung die Dauer eines Abends nicht überschritt. Jules Massenet, damals Paukenschläger am Théâtre-Lyrique, erzählt: »Wir probten wie im Rausch, unter der Leitung des guten Léo Delibes, der damals Korrepetitor war ... Wir wussten von der organisierten Kabale ... man bedenke nur, dass diese neue Musik so anders war als die damals dominierende! ... Im Theater war man nervös, besorgt, man fand das zu lang ... und Gounod weinte ... ja, weinte ... wegen der Kürzungen, die man ihm in seiner Partitur aufzwang.« (Georges Cain, »Promenades dans Paris«). Zu den Zwängen aller Art kommen noch die divenhaften Ansprüche von Frau Carvalho, erste Darstellerin der weiblichen Hauptfigur und Ehefrau des Theaterdirektors.    Das Werk wurde schließlich am 19. März 1859 uraufgeführt, mit Marie-Caroline Miolan-Carvalho (Marguerite), Jules Barbot (Faust) und Mathieu-Émile Balanqué (Méphistophélès) in den Hauptrollen. Das bereits erwähnte Terzett und Duett wurden herausgeschnitten. Das »Rondo vom goldenen Kalb« ersetzte die vollständige Fassung des »Skarabäus«, nachdem Carvalho vier Arienversuche für Méphistophélès abgelehnt hatte. Der Chor der Soldaten wurde durch Valentins Arie ersetzt. Man weiß nicht, wie viel von der Arie gesprochen wurde, was aber auch keine große Rolle spielt, wenn man der Presse glauben möchte, die in »Faust« »aufgrund der stilistischen Entwicklung und der fast völligen


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Abwesenheit von Dialogen eine wahrhaftige Grand opéra« erkannte (»Revue musicale«, 1. April 1859). Saint-Saëns, der zugab, dass er die Opernfassung bevorzugt, merkte jedoch an, dass »an manchen Stellen die Mischung aus Sprache und Orchester sehr pittoresk war« (»Portraits et souvenirs«). Im Laufe der anschließenden Aufführungen und Wiederaufnahmen in den Spielplan – denn das Werk wurde in jeder Saison aufgeführt – wurde das Stück unaufhörlich verändert.    Die Musikwissenschaftler des beginnenden 20. Jahrhunderts hielten im Wesentlichen die Erinnerung an die für Gounod negativen Presseartikel zur Zeit der Entstehung im Jahr 1859 aufrecht. Das basiert mit Sicherheit auf den Aussagen von Carvalho, der wohl seinen Mut und seine Hartnäckigkeit angesichts einer Feindseligkeit, die er gern übertrieben darstellte, bekräftigen wollte. In Wirklichkeit behandelten die Rezensenten die Oper wie jede andere Neuheit, und die gefällten Urteile, die fast immer nuanciert waren, ergaben schließlich ein eher vorteilhaftes Bild des Werkes, trotz der Nichtbeachtung des Goethe,schen Modells, der Hauptkritikpunkt, der den Autoren vorgeworfen wurde. Am Ende interessierten sich diese Zeitungen wenig für die Musik und lobten nur die Nummern, die am populärsten werden sollten. Auf der anderen Seite sind die musikalischsten unter den Kommentatoren offensichtlich die enthusiastischsten. »M. Gounod schreibt wie ein Mann, der gleichermaßen die Sprache der Intelligenz und die Sprache des Ohrs, die Sprache der Worte und die Sprache der Töne besitzt«, schrieb Joseph d,Ortigue. »Er phrasiert seine Rezitative perfekt, er weiß, wie man einen Dialog unterteilt, er kennt die Macht der Betonung und die treibenden Kräfte der Versbildung. Die poetische Phrase ist von selbst in die musikalische Phrase eingebettet, was bedeutet, dass M. Gounod zu all der Wissenschaft, zu all der Inspiration, die den großen Musiker ausmachen, die Eigenschaften hinzufügt, die den kultivierten Menschen ausmachen, und man versteht, dass er neben der Schönheit seiner Musik im höchsten Maße das Gefühl für die Schönheit aller anderen Künste besitzt.« (»Le Ménestrel«, 27. März 1859).

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Die Dialoge wurden reduziert und zwei Melodramen sind verschwunden. Aber die Walpurgisnacht blieb, vielfach kritisiert von der Presse, der es wenig gefiel, dass die Hexen auf Besen reiten oder mit eisernen Löffeln das Feuer eines Kessels schüren. Als das Stück im Herbst 1859 wiederaufgenommen wurde, schrieb die Presse, die Walpurgisnacht sei »von vielen ihrer Schrecken gereinigt« worden. Der letzte Akt wurde dadurch erheblich gekürzt und das Werk verlor den größten Teil seiner fantastischen Dimension. Es ist wahrscheinlich, dass Gounod, der sich in den Duetten der schmachtenden Liebenden sehr wohl fühlte, nicht wusste, wie er dem Hexensabbat, den man sich wilder und zügelloser gewünscht hätte, den nötigen Glanz verleihen konnte. Die sicherlich mangelhafte Inszenierung war ihm dabei nicht gerade eine Hilfe. Das Publikum war allerdings begeistert von der Kirchenszene, die ursprünglich der Rückkehr der Soldaten vorausging. Die benachbarte Kirche wurde geöffnet, um die gesamte Bühne einzunehmen, die dann das Innere des Gebäudes darstellte. Mit diesem Effekt war es 1862 vorbei, als das Théâtre-Lyrique an den Place du Châtelet umzog, wo die kleinere Bühne nicht die gleichen szenischen Möglichkeiten bot. Der gesprochene Dialog verschwand 1866, aber es gibt allen Grund zur Annahme, dass mehrere Melodramen erhalten blieben, bis das Werk 1869 an die Pariser Oper übertragen wurde.    Obwohl er einer traditionellen Konzeption des lyrischen Theaters treu blieb, initiierte Gounod eine tiefgreifende Erneuerung der französischen Oper. Indem er auf vokale Virtuosität um ihrer selbst willen verzichtete, belebte er die einfache Melodie mit frischem Erfindungsreichtum wieder, geschickt angepasst an den Rhythmus des Textes, unterstützt von einer ausdrucksvollen Orchesterbegleitung voll des Unerwarteten. Das Drama verliert hier seine Intensität, um intimer zu werden: Der Musiker zeichnet Charaktere, übersetzt mit Charme, Eleganz oder pittoreske Gefühle, an denen er sein Publikum teilhaben lässt. Das Nebeneinander von kurz gefassten Ideen bildet eine kontinuierliche Verkettung, die ein Gleichgewicht zwischen Melodie, Deklamation und Symphonie sucht und den Weg für das lyrische Drama ebnet, wie es die französischen Komponisten in den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts konzipieren würden.


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Arne Willimczik

DIE KÖLNER AUFFÜHRUNG Die extrem verworrene Quellenlage – Gounod korrigierte, kürzte, ersetze und modifizierte in über zehn Jahren große Teile der Oper – führt dazu, dass man nicht von einer klaren, abgeschlossenen Originalfassung sprechen kann. Die Kölner Aufführung nimmt als Grundlage die erste Version der Oper aus der weitgehend rekonstruierten Originalfassung von Gounods »Faust« von 1859 mit gesprochenen Dialogen nach der Neuausgabe von Paul Prévost (Bärenreiter Verlag), in der beispielsweise die später komponierte berühmte Cavatine des Valentin »Avant de quitter ces lieux« das Duett zwischen Marguerite und ihrem Bruder noch nicht verdrängt hat und dieses inhaltlich schlüssiger mit der Übergabe des geweih­ ten Medaillons den Bogen zu Valentins Duellszene schlägt. Die Schüler Fausts, Siébel und Wagner, werden mit ihm in einem Trio vorgestellt, in der die musikalische Nähe zur Spieloper die Normalität vor Mephistos Erscheinen verstärkt. An den Stellen, an denen entweder nur eine spätere Version überliefert, oder man diese musikdramatisch nicht missen mochte, so wie das brilliante »Le veau d’or« Mephistos, haben wir auf diese zurückgegriffen. Das allererste Mal überhaupt gespielt wird der zweite Teil von Fausts Cavatine »Salut! demeure chaste et pure«, der erst gestrichen, dann Jahrhunderte verschollen war und vor kurzem auf einem Flohmarkt entdeckt wurde und den bekannten lyrischen ersten Teil mit atemloser Dramatik und Furor steigert. So wie auch Bizets »Carmen« ist die Originalfassung von »Faust« mit Dialogen konzipiert, die für die Kölner Premiere sorgfältig auf das Wesentliche, die spannende Fortschreitung der Handlung im Blick, gekürzt wurden.

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SAMUEL YOUN


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STATISTERIE DER OPER KÖLN

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Fabian Oliver Bell

DIE ALLGEGENWART DES SYMBOLS ZUR MUSIKALISCHEN SEMANTIK VON GOUNODS »FAUST« SYMBOL, das; [griech.] (Wahrzeichen; Sinnbild; Zeichen) SYMBOLIK, die; - (sinnbildl. Bedeutung od. Darstellung; Bildersprache; Verwendung von Symbolen)

Sehen wir mit den Ohren besser? Eine eher gewagte These – aber vielleicht findet sie bei mancher Gelegenheit in der Oper Bestätigung. Man höre nur einmal die Introduktion von Gounods »Faust«; klingt der düstere Bund des Gelehrten mit dem Teufel nicht schon in dieser Musik an? Symbole begleiten unseren Alltag: Bisweilen werden sie in ihrer Bedeutung als selbstverständlich begriffen und haben Auswirkungen auf unser Verhalten. Man denke hierbei nur an so gängige Darstellungen wie das Andreaskreuz im Straßenverkehr oder die Warnhinweise auf Verpackungen bestimmter Haushaltsmittel. Doch besondere Bedeutung kommt dem Symbol in der Kulturgeschichte zu; mit Bestimmtheit lässt sich sagen, dass der Begriff des Symbols zu den schillerndsten Termini der Kunstwissenschaft rechnet. Nicht zuletzt bildet die Ikonographie eine der wesentlichen Disziplinen in der Erforschung und Exegese von Bildern und Skulpturen; sie eröffnet Zugänge zu dem inneren Wesen von Kunstwerken, die bei bloßer Betrachtung zunächst verschlossen bleiben. Beispielhaft sei nur auf Heiligendarstellungen verwiesen, die oftmals durch ihre Attribute kenntlich werden – beigegebene Insignien, die auf ihre Herkunft oder ihr Schicksal verweisen. In der Malerei ermöglicht die Entschlüsselung spezifischer Symbole hingegen die Erfahrung


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von Bildthemen. Denken Sie an dieser Stelle an ein Porträt wie die »Geißblattlaube« von Rubens, oder aber auch an Stillleben des 17. Jahrhunderts, in denen das Thema der Vergänglichkeit durch die Verwendung lebloser Gegenstände visualisiert wird. Den genannten Beispielen – von den alltäglichen bis hin zu den ästhetisch-künstlerisch anspruchsvollen – ist sämtlich gemein, dass sie visuell erfahrbar sind. Die Wahrnehmung von Symbolen beschränkt sich jedoch nicht allein auf das Sehen; Sinnbilder klanglicher Herkunft begegnen in der gesamten Musikgeschichte und gestatten Einblick in die Gedankenwelt von Kompositionen. Insbesondere die Musik des 19. Jahrhunderts zeichnet sich durch die Verwendung von Klangmitteln aus, die mit einer spezifischen Absicht eingesetzt werden. Gerade die Komponisten des Genres der Programmmusik haben sich solcher Idiophone bedient, um ihre Absichten und Intentionen durch die Komposition zu vermitteln; diese entlehnten sie vor allem der handlungsbasierten Musik der Oper und in dieser Tradition steht auch Gounods »Faust«, dessen klangsymbolische Allusionen dem Geschehen der Szene oftmals eine tiefere Bedeutungsebene verleihen. Einige Beispiele sollen hier kurz vorgestellt werden. Zunächst einmal zurück zu der Introduktion, deren düsterer Charakter durch die Verwendung einer Klangfigur noch augmentiert wird: Der sogenannte passus duriusculus, ein chromatischer Gang, der seit dem barocken Zeitalter als Schmerzenslaut verwandt wurde. Dazu addiert der vorherrschende Klang tiefer Bläser und Streicher und das Grollen von Pauken und großer Trommel. Worauf aber bezieht sich diese Weheklage? Ist es der des Lebens müde gewordene Faust, der hier musikalische Charakterisierung erfährt, oder nimmt die Musik das spätere Geschehen vorweg? Interessant in dieser Hinsicht ist gleichsam die berühmte Arie »Salut! Demeure chaste et pure«, die nicht zuletzt ob ihrer Begleitung durch eine Solo-Violine Aufmerksamkeit erregt hat. Für Hector Berlioz war dies eine seltsame Entscheidung, wie er einmal bemerkte: [Es schade vielmehr] …»als dass es dem Ganzen dienlich sei, und ich glaube, der Sänger Duprez hatte recht, der eines Tages, als ein

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Instrumentensolo im Orchester ihn bei einer Romanze begleitete, sagte: Dies Teufelsinstrument mit seinen Läufen und Variationen irritiert mich wie eine Fliege, die mir um den Kopf surrt und sich auf meine Nase setzen will …« Dies ist hinsichtlich der Arie Fausts vielleicht etwas zu schnell geurteilt, denn der Violine mag hier auch eine symbolische Bedeutung zukommen. Es handelt sich bei »Salut! Demeure chaste et pure« um eine huldigende Arie an Marguerite und oftmals galt in der Kulturgeschichte dieses Instrument als Sinnbild von Liebe und Harmonie. Andererseits jedoch wird auch der Tod nicht selten als ein Fiedler dargestellt und in der Musik hat dieses Bild in der IV. Sinfonie Gustav Mahlers (»Freund Hein spielt auf«) klangliche Gestalt erfahren. Zu denken wäre aber auch an ein Gemälde wie das »Selbstbildnis mit fiedelndem Tod« von Arnold Böcklin. Spiegelt dieses Instrument also womöglich auch die verderbliche Liebe Faustens zu Marguerite? Ein weiteres Beispiel offenbart die Szene der Rückkehr Valentins, die dem Chor der Soldaten vorausgeht; man hat es hier mit einem Fall charakteristischer Musik zu tun, denn die Heimkehrenden werden durch Klänge begleitet, die leicht mit den Märschen und Fanfaren der Militärmusik assoziiert werden können. Es ist wohl kaum zufällig, dass Gounods Komposition späterhin das Material für einen Militärmarsch bildete und bis heute in diesem Kontext zur Aufführung gelangt. Die Musik wird durch die Bläser getragen und durch typische Klangsymbole der soldatischen Sphäre angereichert, darunter die kleine Trommel, die mit besonders markanten Vorschlägen erscheint. Neben der Oper hat sich Gounod vor allem der geistlichen Musik gewidmet. Die Beschäftigung mit Kompositionen für den Sakralraum hat jedoch auch in Faust einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen; wenn Marguerite in der Kirche zu einem Gebet einkehrt, dann hört man nicht allein die Orgel als das gängige Instrument religiöser Musik, sondern auch einen bestimmten Hymnus, der einst einen Teil der lateinischen Totenmesse bildete und eine Darstellung des Jüngsten Gerichts enthält. Diese Sequenz – das Dies Irae (Tag des Zorns) – hat in der Musikgeschichte so oft Referenz


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erfahren, dass sie symbolischen Charakter besitzt. Hier korrespondiert sie ganz unmittelbar mit dem Bühnengeschehen, denn während Marguerite um Vergebung bittet, ertönt die Stimme des Méphistophélès, die berichtet, dass sie verdammt sei, woraufhin der Chor den Hymnus anstimmt. Zuletzt sei auf den Schluss hingewiesen, der die Züge der Apotheose trägt. Die Worte »Christ est ressuscité« sollen hier zu vernehmen sein, als würden sie aus größerer Höhe vorgetragen und das Orchester nimmt diese Weisung in seiner Instrumentation auf. Das gemeinsame Erklingen von Orgel, Harfen und Glocken verweist auf ein bestimmtes musikalisches Abbild, nämlich auf die sogenannte musica coelestis, die Musik des Himmels. Der Glocke kommt hierbei besondere Aufmerksamkeit zu, gilt diese doch als das Klangbild der Ewigkeit. Die wenigen Beispiele dieses Texts mögen aufzeigen, dass die Beschäftigung mit der musikalischen Symbolwelt auf größere Zusammenhänge hindeuten kann, die außerhalb eines rein künstlerischen Diskurses liegen. Ähnlich wie auch in der Malerei eröffnen Klangsymbole oder charakteristische Klänge Zugänge zu den Tiefenschichten von Musik. Die Fragezeichen zum Schluss zweier Absätze dieses Artikels scheinen darauf hinzudeuten, dass darin Fragen gestellt werden, deren Beantwortung ausbleiben muss. Dies entspricht der Lehre der Semiotik: Eine Botschaft – und damit auch ein Symbol – kann ein- oder mehrdeutig sein. Die Kunst kann um ihrer selbst willen keine eindeutigen Antworten geben. Ihre Spannung muss ausgehalten werden, denn Begradigung würde ihrem Reiz nicht gerecht werden.

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Fabian Oliver Bell

DIE MERKWÜRDIGE SEHNSUCHT NACH EINDEUTIGKEIT ZUM BEISPIEL »FAUST « DER GESCHEITERTE IST DER GESCHEITERE. – Carl Schmitt, »Glossarium«, Tagebücher 1947 – 1958

»Das verlorene Ich einer glaubenslosen, tief skeptischen Neuzeit« Goethes »Faust« eröffnet mit der Schilderung einer wahren Lebenskrise: Der alternde Titelprotagonist ist seines akademischen Daseins müde und enttäuscht von seinen Studien, die ihm zuletzt nicht jene Antworten geben konnten, die er ersehnte. Was er zu erfahren hoffte, dass deutet sich in einem der bekanntesten Zitate des Dramas an; »dass ich erkenne was die Welt / Im innersten zusammenhält«, so heißt es in dem großen Monolog des Gelehrten in dessen Studierzimmer. In dieser Suche ist das Unglück bereits angelegt, denn er sucht nach eindeutigen Antworten in einer Welt, die diese aufgrund ihrer Verfasstheit nicht gewähren kann; während der Lebenszeit des historischen Faust so wenig wie zu der Entstehungszeit der Oper Gounods oder in der unmittelbaren Gegenwart. Noch dazu sucht er in Disziplinen, die zutiefst ambig sind und verschiedene Lesarten gewähren, insbesondere in der Philosophie und der Theologie. Die Gründe für sein Scheitern liegen also nicht in der Wissenschaft, sondern in seinem eigenen Anspruch; die späte Einsicht, dass er »weiß, dass er nichts weiß«, ist ihm eine persönliche Qual und sein Leben erscheint ihm nachmalig verschwendet.


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»Heiße Doktor und Professor gar / Und ziehe schon die zehen Jahr / Herauf und herab und quer und krum / Meine Schüler an der Nas herum / Und seh das wir nichts wissen können / Das will mir schier das Herz verbrennen.« Er verflucht sein bisheriges Wirken in der akademischen Welt und sehnt sich nach einer anderen Existenz, vielleicht gar nach einem Neuanfang; hieraus folgt der Pakt mit Méphistophélès, der ihm die Aussicht auf ein anderes Leben bietet. Das Eingeständnis, sich der Magie ergeben zu haben, ist sinngleich mit der Absage an die gesamte Lehre. »Bild mir nicht ein was rechts zu wissen / Bild mir nicht ein ich könnt was lehren / Die Menschen zu bessern und zu bekehren, / Auch hab ich weder Gut noch Geld / Noch Ehr und Herrlichkeit der Welt. / Es mögt kein Hund so länger leben / Drum hab ich mich der Magie ergeben.« Es ist mithin spannend zu beobachten, dass die Geschichte um den Teufelspakt eines Gelehrten zu sehr verschiedenen Zeiten Anklang und Rezeption gefunden hat. Bereits vor Goethe hatte sich Lessing mit einer Deutung im Geiste der Aufklärung beschäftigt; während des romantischen Zeitalters fand eine umfassende musikalische Rezeption des Dramas statt, deren Zeugnisse beispielhaft bei Hector Berlioz (»La damnation de Faust«) und Franz Liszt (»Eine Faust Sinfonie«) aufzufinden sind. Mit Alfred Schnittkes »Oper Historia von D. Johann Fausten« und dem »Doktor Faustus« von Thomas Mann erfuhr der Stoff schließlich auch im 20. Jahrhundert künstlerische Aufmerksamkeit. Das Interesse war freilich höchst individuell und zu jeweiligen Zeiten unterschiedlich gelagert. Wenn aber eine jüngst erschienene Monographie die Goethesche Tragödie als »Drama der Moderne« ausweist, dann stellt sich die Frage, wie dieser Stoff – und damit freilich auch seine Umsetzungen – unsere Gegenwart berührt.

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Seligmachende Eindeutigkeit? Viele Wege führen zu Faust; und gleichsam viele Anknüpfungspunkte offenbaren sich in der Rezeption dieses Stoffes über die Zeiten hinweg. Einer eindeutigen Interpretation versperrt sich diese Tragödie, worauf nicht zuletzt auch einige Umsetzungen des 20. Jahrhunderts Bezug genommen haben: In Ferruccio Busonis Musiktheater »Doktor Faustus« ­tritt mit dem Abschluss der Handlung ein Dichter auf und legt dem Publikum nahe, aus dem Bühnengeschehen seine eigenen Schlüsse zu ziehen. Der belgische Komponist Henri Pousseur hingegen hat diese Vielfalt der Deutungswege zu einem Prinzip seiner Oper »Votre Faust« erklärt. In dem 1969 uraufgeführten Bühnenwerk wird dem Publikum die Entscheidung über den Fortgang des Stückes zugebilligt. Diese Vielfalt der Möglichkeiten ist dem Protagonisten selbst nicht eigen. Seine Suche nach endgültigen Antworten ist ihm selbst zu einer Qual geworden, und an deren Ende steht die resignierte Einsicht, dass er nicht wird finden können, wonach er Zeit seines Lebens gesucht hat. In dieser Hinsicht ist Faust das Gegenbild zu der Figur des Don Juan, auf dessen hedonistische Ausschweifungen aber gleichsam die Höllenfahrt folgt – die Extreme berühren sich. Aber ist die von Faust gesuchte Eindeutigkeit wirklich erstrebenswert? In dieser Frage liegt ein Anknüpfungspunkt für eine gegenwärtige Rezeption. Denn die Vereindeutigung und die Verdrängung von Vielfalt sind Tendenzen, die sich unmittelbar in unserer Zeit entdecken lassen. Man denke hierbei einmal an die Auftritte von Politikern in Gesprächsrunden, an die immergleichen Werbekörper in vermeintlich sozialen Medien – die eben »genau« wissen, wie Mann oder Frau auszusehen haben und welche Artikel ihnen dabei helfen – oder auch an religiöse und sonstige Fundamentalisten, die mit Zwischentönen erkennbar wenig anfangen können und stattdessen auf »klare« Botschaften setzen. Ihnen allen liegt – den inhaltlichen Verschiedenheiten zum Trotz – sämtlich dasselbe Motiv zu Grunde, das auch Faust umtreibt: Die Suche nach definitiven Gewissheiten und damit die Vermeidung von Mehrdeutigkeit. Der Religionswissenschaftler Thomas Bauer hat sich diesem Thema in seinem Essay »Die Vereindeutigung der Welt« angenommen und


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in verschiedenen Bereichen des öffentlichen Lebens die Folgen einer zunehmenden Ambiguitätsintoleranz aufgezeigt. Dabei hat er sich nicht nur allgemeinen Phänomenen gewidmet, sondern im besonderen Maß auch der Kunst, die gemeinhin als ein Hort der Vielfalt gilt. Sie benötigt diesen spekulativen Raum, in den sich subjektive Interpretation begeben kann, denn ansonsten gäbe es, so Bauer, allein zwei Möglichkeiten: Eindeutigkeit und Bedeutungslosigkeit. Er bemerkt: »Endlos viel Bedeutung führt zu Bedeutungslosigkeit. Bedeutungslosigkeit ist ebenso wenig vieldeutig wie nur eine einzige Bedeutung. Ambiguität, die bereichert, findet nur zwischen den Polen Eindeutigkeit und unendlich vielen Bedeutungen statt. Es kommt auf das rechte Maß an.« Um seine Ausführungen zu erläutern, greift er auf das Beispiel einer Kunstinstallation zurück, über die es heißt: »So bedeutet etwa ein Trampelpfad durch Felder erst einmal gar nichts (oder alles). Der Künstler erklärt aber, er habe damit sagen wollen, dass sich die Menschen nicht immer in eingefahrenen Bahnen bewegen, sondern manchmal etwas Außergewöhnliches wagen sollen. So wird also mit einem Satz aus einem Werk, das nichts bedeutet, ein eindeutiges (und ziemlich triviales). Bedeutungslosigkeit und Eindeutigkeit liegen nahe beieinander. Sie lassen sich leicht ineinander überführen, eröffnen aber keinen Weg zu einer Vielfalt an Bedeutungen, ergeben keinen sinnvoll strukturierbaren Interpretationsspielraum.« Es ist leicht abzusehen, dass die hier beschriebene Kunst nur allzu rasch ihren Reiz verliert. Dem Betrachtenden wird die eigene Reflexion über das Werk durch die Erklärung des Urhebers entrissen. Im Fall des Theaters verhält es sich oftmals ähnlich: Inszenierungen sollen erklärt werden, damit alles verstanden werden kann. Doch ist dies für den Reiz einer Opern- oder Schauspielproduktion tatsächlich vorteilhaft? Vielleicht gilt es eher, die Spannung auszuhalten, eigene Wege der Interpretation zu suchen, zu finden – damit die Theaterhäuser ein Ort der Vielfalt bleiben. Faust kann auch als Mahnung gegen diese Tendenz einer immer eindeutigeren Welt verstanden werden – die zugleich immer leerer zu werden droht.

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GOUNODS »FAUST« UND DIE FRANZÖSISCHE MUSIK DES 19. JAHRHUNDERTS Ein Gespräch mit François-Xavier Roth

Wie einige Komponisten ist Charles Gounod ja – zumindest in der Oper – vor allem für ein Werk bekannt. »Faust« erfährt bis heute regelmäßige Neuinszenierungen. Man übersieht deshalb vielleicht die Umstände seines gesamten Schaffens. Würden Sie uns etwas über seine kompositorische Ästhetik und seine Zeit berichten? Charles Gounod ist ein einzigartiger Komponist in der französischen Literatur. Zunächst muss aber gesagt werden, dass die französischen Komponisten während des 19. Jahrhunderts sich mit großen Herausforderungen konfrontiert sahen. Das lag zunächst an Berlioz, der ein wahrer Revolutionär war und dessen Bedeutung für die französische Musik mit der Beethovens vergleichbar ist. In seinem Schaffen nahm er sich große Freiheiten und verwirklichte neue, bislang unerhörte Ideen. Die Idee der Programmmusik gehört dazu, die Überlegung, großen Werken der Literatur musikalische Gestalt zu verleihen. Danach löste die Begegnung mit der Musik Richard Wagners ein wahres Trauma aus: Einige Komponisten waren fasziniert und beschäftigten sich intensiv mit seinem Werk, während auf der anderen Seite ganz erhebliche Vorbehalte laut wurden.


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Und welchen Standpunkt vertrat Gounod? Als Komponist der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist Gounod von diesem Richtungsstreit ganz unmittelbar betroffen. Er hat hier einen ganz eigenen Weg gefunden und letztlich auch – mit wenigen Ausnahmen – nur in den Gattungen Musiktheater und Sakralmusik gearbeitet. Seine Klangsprache ist auch ganz und gar untypisch für diese Zeit. Denkt man an die Opernkomponisten dieser Jahre, also zum Beispiel an Georges Bizet, Jules Massenet oder Édouard Lalo, dann fällt ganz besonders auf, dass hier luxurierende, bisweilen auch exotische Klangfarben geschaffen wurden – man denke nur an »Carmen«. Dagegen ist das Klangbild bei Gounod – besonders in »Faust« – oftmals geradezu intim und romantisch. Und Faust ist der romantische Held schlechthin. Warum hat Gounod es für notwendig befunden, eine zweite Fassung zu erstellen? Es gibt wohl viele verschiedene Gründe. Zunächst stellt sich ja die Frage, wo das Werk aufgeführt wird: Während in der Opéra-comique auch gesprochen wurde, waren Dialoge in der Grand-Opéra nicht vorgesehen. Andererseits könnten hier auch aufführungspraktische Gründe eine Rolle gespielt haben, so zum Beispiel die Besetzung der Solist*innen. Bisweilen mochte er auch nach den ersten Eindrücken seiner Musik auf der Bühne noch über Änderungen nachgedacht haben. Sie haben die Einzigartigkeit der Position Gounods in seiner Zeit erwähnt; hat sein Weg späterhin – vielleicht noch während des 20. Jahrhunderts – eine Nachfolge gefunden?

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Nicht direkt. Wir entdecken manche Aspekte seiner Musik – seine Innerlichkeit beispielsweise – bei anderen Komponisten wieder, bei Paul Dukas oder auch bei Henri Dutilleux, aber eigentlich bleibt Gounod ohne Nachfolge. Auf die große romantische Oper folgte in Frankreich ja ein radikaler stilistischer Umbruch, für den stellvertretend insbesondere »Pelléas et Mélisande« von Claude Debussy steht. Ein »Nach-Gounod« hat es auch deshalb so nicht gegeben. Es ist ja gerade interessant, wie sich Phänomene wiederholen, denn auch während des 20. Jahrhunderts gibt es ja eine Art Richtungsstreit in der Musik. Auf der einen Seite Komponisten, die an Ideen Debussys anknüpften – Olivier Messiaen… Bei Messiaen finden wir übrigens etwas wieder, was auch Gounods »Faust« eigen ist, nämlich sein Verzicht auf Brillanz und Virtuosität zugunsten einer intimeren, kontemplativeren, fast psychologischen Musik, wie sie zum Beispiel in seiner Oper »Saint François d’Assise« zu hören ist. Beide Komponisten eint überdies eine tief empfundene Religiosität, und in beider Schaffen nimmt die Sakralmusik folglich eine wichtige Position ein. Welche Rolle spielt für ihn die Idee charakteristischer Musik? Ich meine damit solche Klänge, die unmittelbar Bilder entstehen lassen und auf diese Weise vielleicht auch etwas über die Szenerie oder die Protagonisten preisgeben. Gounod folgt hier einer gewissen Operntradition, aber es ist nicht wirklich ein besonderes Merkmal seines Stils. Es gibt natürlich Szenen, die bestimmte Klänge herausfordern, beispielsweise das Volksfest mit seinen beschwingten Charakteren oder auch die fast pastoralen Momente dieser Oper. Andererseits weist gerade die


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Musik, die Mephisto zugedacht ist, auch effektvolle, phantastische Züge auf, die mit den Bühnenmöglichkeiten der damaligen Zeit korrespondieren. In der Arie »Le veau d’or« (»Das goldene Kalb«, Akt I, Szene 4) äußert sich das in der intensiven Betonung des Rhythmus, wodurch ein geradezu tänzerischer Charakter entsteht. Daraus ergeben sich wohl auch musikalische Bilder… Gerade die Schlussapotheose ist ein Beispiel für die bildhafte Wirkung der Oper. Die hier verwendeten Instrumente – darunter Harfen und Glocken – erzeugen spezifische Eindrücke, denn es entsteht ein hymnisches und auch himmlisches Klangkolorit. Hier zeigt sich übrigens besonders der Einfluss von Berlioz, in dessen Schaffen es ja – nicht zuletzt in der vielfachen Besetzung der Harfen – Vorbilder für diese Musik gibt. Handelt es sich hier um eine Oper, bei der wir aus der Musik allein bereits etwas über die Handlung und deren Verlauf erfahren können? Nein. Es gibt ein paar Stellen, wo die Musik selbst zu berichten scheint, die Ouvertüre wäre ein Beispiel dafür. Auch einige der Introduktionen für Chöre können so verstanden werden. Danach aber benötigt die Musik das Wort und beide Aspekte stehen in dieser Oper in einem besonders engen Verhältnis zueinander. Ein Beispiel dafür ist nicht zuletzt das Erklingen des Dies Irae – eines Teils der lateinischen Totenmesse – in der Kirchenszene Marguerites.

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Ich komme auf diese Frage, weil »Faust« ja in einer Zeit entstand, in der einige Komponisten über die sprachlichen Möglichkeiten der Musik nachgedacht haben. Liszts Idee der Tondichtung ist ja ein Beispiel dafür, wie man versuchte, Prosa und Poesie eine musikalische Gestalt zu verleihen. Der Tondichtung ist ein anderer Gestus eigen. Natürlich hat auch diese Gattung in Frankreich eine bedeutende Tradition, man denke nur an die entsprechenden Werke von Camille Saint-Saëns oder Paul Dukas. Liszt hat ja die Musiktheaterwerke von Berlioz in Weimar aufgeführt – »Benvenuto Cellini zum Beispiel« – und dabei auch erfahren, wie sehr seinen Kollegen die Ablehnung des Publikums traf. Womöglich – aber das ist nur eine Möglichkeit – wollte er dies nicht erleben. Aber wie bei Messiaen, finden sich auch bei Liszt Parallelen zu Gounod, ganz bestimmt zum Beispiel in der tief empfundenen Religiosität, die beider Schaffen beseelt. Welche Erfahrungen haben Sie bereits mit der Musik Gounods gemacht? Es ist das erste Mal, dass ich »Faust« dirigiere. Zuvor habe ich einige Messen dirigiert, beispielsweise die »Messe solennelle en l'honneur de Sainte-Cécile«. Ich wollte aber unbedingt mit Faust beginnen, denn das ist ein wahrer »Hit«, so etwas wie ein Blockbuster des Repertoires. Dazu kommt, dass wir die erste Fassung dieser Oper spielen, die gesprochene Dialoge vorsieht. Es hat mich besonders gereizt, die ursprünglichen Ideen Gounods kennenzulernen, auch bislang unbekannte Musik, die in der späteren Fassung nicht vorgesehen ist – und gleichzeitig wollten wir natürlich nicht auf so etwas wie die schon erwähnte Arie Mephistos (»Le veau d’or«) verzichten! Die Fragen stellte Fabian Oliver Bell.


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» JE FAIS MES ADIEUX … «

ABSCHIEDSGESTEN IN GOUNODS FAUST ES BEGINNT EINER FORTZUGEHEN, WENN ER ZU LIEBEN BEGINNT. – Hl. Augustinus, »Enarrationes in Psalmos« ABSCHIED NEHMEN HEISST IMMER EIN WENIG STERBEN. – Französisches Sprichwort

Der besondere Reiz der Sprache gründet sich in ihrer Vieldeutigkeit. Ein interessantes Beispiel dafür findet sich, wenn man über den Begriff des Abschieds nachdenkt; denn der Assoziationsreichtum dieses Wortes ermöglicht sowohl den Gedanken an eine banale, alltägliche Geste als auch an poetische oder gar dramatische Bilder.

der hier vorderhand in ganz verschiedenen Gestalten erscheint. Faust, der sein akademisches Leben verlässt, Abschied nimmt von den Idealen, die er einst vertrat, und sich der Magie ergibt. Sein Schüler Wagner, der von ihm fortgeht und Soldat werden möchte. Und schließlich Valentins Abschied von seiner Schwester Marguerite, der sie der Obhut Siébels überlässt. Eine wunderbare Fügung ergibt sich durch den französischen Abschiedsgruß »Adieu«, der nicht nur in den Texten, sondern auch auf der Bühne, in übergroßen Lettern, wiederkehrend begegnet. Es


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gibt für diesen Begriff keine unmittelbare Möglichkeit der Übertragung, obgleich auch in der deutschen Sprache – man denke einmal an das im alpenländischen Raum verbreitete »Grüß Gott« – ähnliche Aussprüche bestehen. Dieser ist jedoch nur äußerlich in Relation zu setzen, denn die französische Wendung meint einen dauerhaften Abschied, wohingegen »Au revoir« – die wortwörtliche Übersetzung für »Auf Wiedersehen« – sehr viel gängiger ist. Das Wort Adieu ist aber auch deshalb so spannend, weil dessen Aufspaltung zu ganz verschiedenen Bedeutungen führen kann, so zum Beispiel wenn die Buchstaben auf den in dieser Inszenierung zu sehenden Ballons allein das französische Wort für Gott (»Dieu«) entstehen lassen. Fausts vergebliche Suche nach diesem offenbart sich in den ersten Worten des Gelehrten, der besonders über seine theologischen Studien klagt und darüber verzweifelt, dass es ihm nicht gegeben ist zu erkennen, »was die Welt im Innersten zusammenhält«. Der Pakt mit Méphistophélès kommt seinem Suizid zuvor, doch darf man sich fragen, ob der Abschied von seinem akademischen Leben nicht bereits eine Art von Freitod ist. Der Abschied Valentins von seiner Schwester Marguerite wird jedoch mit dem endgültigen Wort Adieu beschlossen, was in dem Kontext der soldatischen Pflichten des Bruders wie eine Vorwegnahme von dessen Schicksal sich ausnimmt. Oder ist es vielleicht gerade eine Todessehnsucht, wegen der Valentin den Kriegsdienst wählt? Die Zeichnung dieses Charakters wendet sich jedenfalls gegen den verbreiteten Zeitgeist des 19. Jahrhunderts, in dem die Tendenz, den Soldatenberuf im Sinne abenteuerlicher Heldentaten zu begreifen, weit verbreitet war. Dieses übliche Bild – wie es sich beispielsweise auch in Liedern von deutschen Komponisten der Romantik zeigt – offenbart der Text des Soldatenchores. In dieser Inszenierung wird die romantisierende Darstellung jedoch durch die Aktion auf der Bühne gebrochen, denn es marschiert kein Batallion auf, sondern es zeigt sich ein Lazarett. Der zurückkehrende Valentin offenbart manische Gesten, die vielleicht an Schilderungen aus der Zeit des fortwährend mechanisierten Konflikts erinnern. Gewiss lohnt der Vergleich mit Selbstportraits Ernst Ludwig Kirchners, etwa mit dem

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1918 entstandenen »Selbstbildnis als Kranker«. Das Kollektiv des Chores geht hier über das Individuum hinweg. Die Charakterisierung und das Handeln Valentins lassen hingegen in mancher Hinsicht an Freuds Theorie des Todestriebes denken. In seiner Schrift »Jenseits des Lustprinzips« (1920) beschrieb er diesen Todestrieb nicht nur als Versuch der Zurückführung des Lebens in einen starren, unbelebten Zustand, sondern assoziierte ihn auch mit der Auflösung von Bindungen. In Valentins Arie »Avant de quitter ces lieux« (»Bevor ich diese Orte verlasse«) wird dies beispielhaft deutlich, denn darin beschreibt er, dass es ihm – nachdem Siébel anbietet, sich um Marguerite zu sorgen – möglich sei, in den Krieg zu ziehen. Die persönliche Bindung, die ihn bislang zurückhielt, wird auf den Freund übertragen. Die marschartigen Motive machen dies auch klanglich erfahrbar, und es besteht kein Zweifel daran, dass er weiß, dass es womöglich keine Rückkehr gibt: »J’irai combattre pour mon pays. / Et si vers lui, Dieu me rappelle, / Je veillerai sur toi fidèle, / O Marguerite!« (»Ich ziehe in die Schlacht für mein Land / Und falls Gott mich ruft / Werde ich treu über dich wachen«) So sehr sich die Abschiede Fausts und Valentins doch unterscheiden mögen – sie sind doch beide mit einer Todesnähe konnotiert. Diese Lebensmüdigkeit begegnet auch auf der Ebene des Bühnenbildes; erinnert dieses nicht gerade zu Beginn an Ferdinand Hodlers Gemälde »Die Lebensmüden«? Zuletzt stellt sich die Frage, wie der Komponist diese Ideen in seiner Musik aufnimmt. Freilich gibt es das Motiv des Abschiedes in seinen verschiedenen Formen auch in diesem Medium; erinnert sei nur an Beethovens Klaviersonate »Les Adieux« oder an das Violinkonzert Alban Bergs, in dem das Zitat eines Bach-Chorals (»Es ist genug«) keinen Zweifel an dessen Absichten lässt. Die Musik kennt verschiedene Insignien und sprachähnliche Techniken, mit der entsprechende Themen verhandelt werden können. Dies gilt auch für Gounods »Faust«, wie das Beispiel der Walpurgisnacht und der Kerkerszene eindrücklich zeigen. Während der Feier erblickt der Gelehrte eine


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Erscheinung Marguerites, die auf deren nahenden Tod hindeutet; in der Partitur setzt daraufhin eine Musik ein, die Gounod später zu einem eigenen Stück erweitern sollte. Es handelt sich dabei um den »Marche funèbre d’une Marionette« (»Trauermarsch einer Marionette«), dessen makabere Züge hier den Charakter der Walpurgisnacht kennzeichen, gleichsam jedoch das Schicksal der Geliebten antizipieren. Zuletzt verrät schließlich die Instrumentation etwas über den thematischen Hintergrund der zugehörigen Szene. Wenn Faust Marguerite in ihrer Gefangenschaft aufsucht, dann sind Trommelwirbel zu vernehmen, die das Bild eines Ganges zum Schaffot evozieren und als das Klangbild der nahenden Katastrophe verstanden werden können. An deren Ende steht der unbestimmte, düstere Klang des Tamtams, das in der Musik seit jeher als Todessymbol verwandt wurde.

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SPIELZEIT 2020 . 21 TEXTNACHWEISE Synopsis und »Im Dialog« mit Johannes Erath: Birgit Meyer; »Gounods ›Faust‹ – Ein Lebenstraum«: Originalbeitrag für dieses Programmheft von Prof. Paul Prévost, Editionsleiter Neuausgabe der weitgehend rekonstruierten Originalfassung des »Faust« mit gesprochenen Dialogen von 1859; »Die Kölner Aufführung«: Beitrag von Arne Willimczik (Studienleiter an der Oper Köln) »Die Allgegenwart des Symbols – Zur musikalischen Semantik von Gounods ›Faust‹«, »Die merkwürdige Sehnsucht nach Eindeutigkeit – Zum Beispiel ›Faust‹«, »Je fais mes Adieux – Abschiedsgesten in Gounods ›Faust‹«: Fabian Oliver Bell.

BILDNACHWEISE Bernd Uhlig › Die Szenenfotos von Bernd Uhlig entstanden auf der Orchesterhauptprobe sowie der Generalprobe zur Neuproduktion »Faust« von Charles Gounod am 18. & 21. Mai 2021.

IMPRESSUM HERAUSGEBER Oper Köln INTENDANTIN Dr. Birgit Meyer GESCHÄFTSFÜHRENDER DIREKTOR Patrick Wasserbauer REDAKTION Birgit Meyer, Fabian Oliver Bell GESTALTUNG formdusche, Berlin SATZ Alice Roch DRUCKEREI Köllen Druck + ­Verlag GmbH, Bonn WWW.OPER.KOELN


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