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Der Regisseur Ted Huffman erklärt, was es heisst, die Welt des holländischen Malers Jan

Nachdenken über und Geometrie

Der junge amerikanische Regisseur Ted Huffman inszeniert Stefan Wirths Oper «Girl with a Pearl Earring». Sie kreist um Jan Vermeer. Aber wie bringt man den Kosmos des holländischen Malers auf die Bühne, ohne eine historische Strasse in Delft zu zeigen?

Nachdenken über Form

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rechts: Thomas Hampson, Ted Huffman, Stefan Wirth und Lauren Snouffer diskutieren eine Szene

Vermeer (Thomas Hampson) ist in Gedanken versunken

Ted Huffman, nach Puccinis Madama Butterfly inszenierst du am Opernhaus Zürich nun die Uraufführung von Stefan Wirths Oper Girl with a Pearl Earring. Was machst du lieber: das Repertoire neu befragen, oder neue Stücke kreieren?

Wenn wir wollen, dass die Oper als Kunstform überlebt, dann müssen wir mindestens so viele neue Werke auf die Bühne bringen wie Repertoirestücke. Hälfte-Hälfte fände ich ein gutes Gleichgewicht. Ich habe selber immer wieder an Urauff ührungen mitgearbeitet, nicht nur als Regisseur, sondern auch als Librettist: Zusammen mit dem Komponisten Philip Venables habe ich beispielsweise das Stück Denis und Katya konzipiert. Diese Kammeroper, die in Philadelphia uraufgeführt wurde, hat gerade auch den Weg auf die europäischen Bühnen gefunden. Es ist schön zu sehen, dass die Anzahl neuer Werke während der Zeit, in der ich am Theater arbeite, enorm gewachsen ist und dass auch das Publikum mitwächst. Ich verbringe viel Zeit damit, neue Stücke zu kreieren und mag diese Arbeit sehr! Aber natürlich liebe ich auch das Repertoire. Ich glaube nicht, dass ich mich für das eine oder das andere entscheiden könnte.

Stefan Wirths Oper Girl with a Pearl Earring trägt den Titel eines berühmten Gemäldes von Jan Vermeer. Welche Bedeutung hat dieses Porträt für die Oper?

Die junge Frau, die auf Vermeers Gemälde zu sehen ist, blickt den Künstler an, der sie porträtiert. Ich glaube, dass dieser Blick den Betrachter fesselt, weil er so komplex ist: es drückt sich darin Aufregung aus, Angst, aber auch eine Energie, die etwas über das Verhältnis zwischen dem Künstler und der abgebildeten Frau erzählt. Dieses Gemälde ist einzigartig unter Vermeers Werken, weil es im Gegensatz zu seinen anderen Bildern, die oft einen grösseren Raumausschnitt zeigen, ganz auf das Gesicht fokussiert ist. Es wirkt sehr persönlich. Über die historische Entstehung dieses Gemäldes wissen wir nichts. Die Autorin Tracy Chevalier hat aber vom Bild ausgehend eine Geschichte erfunden, die auch in Stefans Oper erzählt wird.

Worum geht es?

Erzählt wird die Geschichte von Griet, einem Mädchen aus einer unvermögenden Familie, die im Haushalt des Malers Jan Vermeer als Dienstmagd angestellt wird. Dort wird sie mit den harten Realitäten der damaligen Zeit, des 17. Jahrhunderts in den Niederlanden, konfrontiert. Sie erfährt, was es bedeutet, eine Frau aus der unteren Gesellschaftsschicht zu sein. Griet muss lernen, mit den Umständen in Vermeers Haus zu leben. Es ist ein Haushalt mit vielen Kindern, und Vermeers Frau Catharina erwartet schon das nächste. Griet hat aber auch die Aufgabe, im Atelier von Vermeer sauber zu machen, wo sie einer ganz anderen Welt begegnet: derjenigen der klaren Formen, des Lichts und der Farben. Vermeer entdeckt, dass Griet ein gutes Auge für seine Arbeit hat, und er lässt sie daran teilhaben. So entwickelt sich eine intime Beziehung zwischen den beiden. Je weiter die Handlung voranschreitet, desto klarer wird aber, dass Griet und Vermeer in der realen Welt keine Beziehung führen können. Sie können sie nur im Atelier haben, in dem es keine gesellschaftliche Struktur gibt. Auf der Ebene der Kunst können sie sich als Gleichberechtigte begegnen, und in einer Szene erkennt man, dass Griets ästhetisches Urteilsvermögen dasjenige von Vermeer sogar übertrifft.

Tracy Chevaliers Roman schildert diese Geschichte äusserst detailreich. Der Regisseur Peter Webber hat den Roman mit Scarlett Johansson und Colin Firth in den Hauptrollen nah an einer möglichen historischen Realität verfilmt. Was kann eine Oper dem hinzufügen, und wie setzt du dich als Regisseur von diesem prominenten Film ab?

Ich muss gestehen, dass ich den Film nicht gesehen habe. Absichtlich. Ich wollte ihn nicht in meinem Kopf haben. Diese Geschichte als Oper zu erzählen, finde ich

Griet (Lauren Snouffer) wird vom Kunstmäzen van Ruijven (Ian Milne) belästigt

deshalb interessant, weil Musik und Psychologie sehr eng miteinander verbunden sind. In Tracy Chevaliers Roman gibt es wenig Dialog, dafür sehr viele Momente, in denen die Erzählung Griets innere Gedankenwelt wiedergibt. Ich glaube, dass dieser innere Monolog, in dem es um psychologische Strukturen, aber auch um ästhetische Überlegungen geht, auch für Stefans Musik entscheidend waren. Mich inspirieren sie jedenfalls zur Inszenierung: Eine Bühne ist für mich immer ein Raum, der Gedanken darstellt, nicht nur äussere Schauplätze. Gleichzeitig möchte ich aber auch, dass die Vorstellungskraft des Publikums angeregt wird, über die Orte des Geschehens nachzudenken, sie sich vorzustellen. Auf der Bühne wird also nicht eine Strasse in Delft zu sehen sein, aber es wird verschiedene Hinweise geben, die der Vorstellungskraft eine Richtung vorgeben.

Waren die Gemälde von Vermeer eine wichtige Inspiration für deine Inszenierung?

Auf jeden Fall. Ich kann mich gut erinnern, wie ich während einem Austauschsemester in London zum ersten Mal Gemälden von Vermeer begegnet bin. Es war in der National Gallery in einem sehr kleinen Eckzimmer. Vermeers Bilder lassen einen tatsächlich innehalten. Ich finde, dass darin eine grosse formale Klarheit und tiefe Menschlichkeit aufeinandertreffen. Man meint, den Geist des Künstlers zu fühlen. Genauso wenig, wie ich ein historisches Setting auf die Bühne bringen möchte, interessiere ich mich aber dafür, Vermeer-Bilder nachzustellen oder abzubilden. In meiner Inszenierung versuche ich, der Gedankenwelt Griets zu folgen und lasse bewusst Szenen entstehen, die ich dann auch wieder dekonstruiere. Die Menschen, Tische und Stühle möchte ich dabei genauso durchdacht platzieren, wie Vermeer das in seinen Gemälden macht. So will ich das Publikum dazu bringen, über Form und Geometrie nachzudenken.

Form spielt in deiner Regiearbeit eine grosse Rolle, das hat schon deine Madama Butterfly gezeigt. Susan Sontag hat in ihrem Essay Against Interpretation in den 1960er Jahren einmal sehr dafür plädiert, sich weniger mit dem Inhalt aufzuhalten und dafür die Form von Kunstwerken sichtbar zu machen. Ist das ein Ansatz, der dich geprägt hat?

Dieses Thema ist, wie du sagst, nicht neu. Aber ich finde, dass wir, die Opern machen, darüber nachdenken und sie besuchen, uns auch heute mit dieser Frage beschäftigen sollten. Ich bin sehr daran interessiert, durch die Form zu sprechen. Und eine Oper, die im Umfeld eines Künstlers spielt, der sich intensiv mit Fragen der Optik, der Geometrie und der Perspektive auseinandergesetzt hat, kommt mir da natürlich sehr entgegen. Ich nähere mich den Dingen auch oft durch die Form, wenn ich selber schreibe. Stark formalisierte Stücke wie beispielsweise Sarah Kanes 4.48 Psychose, das ich auch als Kammeroper von Philip Venables zur Uraufführung gebracht habe, haben mein Theaterverständnis geprägt.

Wie bereitest du dich jeweils auf Uraufführungen vor? Oft muss ja über die Inszenierung nachgedacht werden, bevor das Stück überhaupt fertig vorliegt.

Bei Stefans Oper hatte ich ein bisschen mehr Zeit, da diese Oper schon vor zwei Jahren auf die Bühne gelangen sollte. Und das Haus hat mir eine Aufnahme mit Klavier und markierten Singstimmen zur Verfügung gestellt. Das war eine grosse Hilfe. Aber Stefans Musik lebt natürlich stark von den strukturell ausgefeilten Klängen, die erst durch das Orchester hör- und erlebbar werden. Drei Wochen vor der Uraufführung weiss ich also noch immer nicht genau, wie das Stück klingen wird und freue ich sehr, bald eine Orchesterprobe zu hören. Bei meinen eigenen Stücken haben wir teilweise lange Workshops gemacht, auch mit den Orchestern. Das war natürlich ein Luxus, den man nicht immer und überall hat. Aber ich finde, es lohnt sich!

rechts: Regisseur Ted Huffman

Vermeers Ehefrau Catharina (Laura Aikin) erwartet ein Kind. Im Hintergrund: Maria Thins (Liliana Nikiteanu) und Child Engine (Lisa Tatin)

Müsste man für Uraufführungen und für die intensive Beschäftigung mit neuer Musik also eigentlich andere Strukturen zur Verfügung haben, als wir sie an einem grossen Repertoirehaus wie dem Opernhaus Zürich bieten können?

Ich glaube, das hängt sehr von der Art und Weise des Stücks ab. In diesem Fall war der Prozess eher «traditionell»: zuerst das Libretto, dann die Komposition, dann die Regie. Allerdings wurde ich sehr früh in das Projekt hereingelassen und hatte die Möglichkeit, mich intensiv mit Tracy Chevalier, Stefan Wirth und dem Librettisten Philip Littell auszutauschen. Das war sehr wertvoll und hat für mich gut funktioniert. Ich glaube, es ist auch richtig, dass Musik sich dem Verständnis zunächst entzieht, dass sie sich abstrakt anfühlt. Man muss sich ihr dann annähern. Jetzt, wo ich mit Stefans Musik von Tag zu Tag vertrauter werde, gefällt mir die Art und Weise, wie er die Gedanken der Figuren reflektiert, sehr gut.

Als ich zum ersten Mal von Stefans Idee hörte, eine Oper aus dem Stoff Girl with a Pearl Earring zu machen, war ich ein bisschen skeptisch. Oberflächlich gesehen, geht es doch um ein allzu bekanntes Narrativ über den berühmten Künstler und seine Muse…

Mir gefällt gerade gut, dass sich diese Geschichte einer solchen Vereinfachung entzieht. Im Mittelpunkt steht nicht der Künstler, sondern die Persönlichkeit und auch die Sexualität von Griet selbst. Zwischen ihr und Vermeer entsteht ausserdem keine sexuelle Beziehung, sondern eine erotische Anziehungskraft, die letztlich in einem künstlerischen Prozess mündet. Mit sexueller Energie wird Griet hingegen von den anderen beiden Männern des Stücks konfrontiert: der Kunsthändler van Ruijven, der viel Geld und Einfluss hat, belästigt Griet und versucht, sich an ihr zu vergreifen. Der junge Fleischer Pieter hingegen konfrontiert sie mit einer Art von sexueller Neugierde, die für Griet zwar ein unbekanntes Gebiet ist, die sie bei Pieter aber zulassen kann. Ich finde, dass Tracy Chevaliers Erzählung und Stefans Oper sehr ehrlich die Herausforderungen, Anziehungen und Gefahren widerspiegeln, mit der eine junge Frau konfrontiert werden kann. Und im Rahmen der MeToo-Bewegung haben wir in den letzten Jahren glücklicherweise gelernt, diese Themen öffentlich zu diskutieren. Am Ende der Oper bricht Griet aus der Situation in Vermeers Haus aus und entscheidet sich für ein anderes Leben, in dem sie keine Dienstmagd mehr ist. Der grosse Bogen dieser Erzählung beschreibt also, wie eine junge Frau zu sich selbst findet.

Stefan Wirths Oper geht von einem Gemälde Vermeers aus. Im Zentrum der Oper malt Vermeer dieses Porträt. Am Ende ist es dasjenige, was von der Beziehung zwischen Griet und Vermeer übrigbleibt. Ist Kunst an sich auch ein Thema dieser Oper?

Ich denke, dass uns diese Oper dazu bringen kann, ein Kunstwerk, das wir vielleicht nur aus der Populärkultur kennen, eingehender zu überdenken und vielfältigere Bedeutungsebenen dahinter zu entdecken. Ausserdem kann sie uns dazu anregen, über die Funktion von Kunst in unserer Gesellschaft nachzudenken. Meiner Meinung nach hilft uns die Kunst dabei, die Welt anders zu verstehen als sie auf den ersten Blick erscheint.

Das Gespräch führte Fabio Dietsche

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