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Ich sage es mal so – 4, Opernhaus aktuell – 6, Drei Fragen an Andreas Homoki

Ich spüre Vertrauen

Herr Homoki, das Opernhaus startet am 10. September mit dem traditionellen Eröffnungsfest in eine neue Spielzeit, aber lassen Sie uns noch kurz einen Blick zurück auf die vergangene werfen. Alle Theater und Konzerthäuser hatten damit zu kämpfen, das Publikum nach Corona wieder zurückzugewinnen. Wie ist die Saison am Opernhaus gelaufen?

Unterm Strich erfreulich und unerwartet gut. Künstlerisch bin ich sehr zufrieden. Und ganz wichtig: Das Publikum ist zurückgekommen. Wir haben eine gewisse Zurückhaltung in unseren Reperoirevorstellungen gespürt trotz hochkarätiger Besetzungen, aber unsere Neuproduktionen waren alle sehr gut besucht. Die Auslastung lag insgesamt bei über 80 Prozent, allerdings werden wir wirtschaftlich mit einem finanziellen Minus abschliessen. Wir sind gerade dabei, die genauen Zahlen zu errechnen. Organisatorisch war die Saison sehr anstrengend und nervenaufreibend, weil wir immer wieder Ausfälle durch CoronaInfektionen kompensieren mussten, sowohl auf als auch hinter der Bühne. Trotzdem haben wir keine einzige Vorstellung abgesagt. Das ist ein Verdienst aller Mitarbeitenden und insbesondere unseres Künstlerischen Betriebsbüros, das ständig kurzfristige Umbesetzungen organisieren musste, teilweise sogar mehrere für eine Vorstellung. Manchmal haben wir improvisiert, ich selbst habe beispielsweise in einer Vorstellung den Simon Boccanegra auf der Bühne gespielt, aber ein bisschen Glück war natürlich auch dabei, dass am Ende der Vorhang immer hochgehen konnte.

Dass so viele Menschen den Weg zurück ins Opernhaus gefunden haben, ist nicht selbstverständlich. Woran lag es?

Ich habe das Gefühl, dass wir eine stabile Beziehung zu unserem Publikum aufgebaut haben, die wirklich trägt. Ich spüre ein grosses Vertrauen in unsere Arbeit, und wir bemühen uns unsererseits verlässliche künstlerische Qualität zu liefern. Das zahlt sich offenbar aus.

Sie stecken mitten in den Proben zu Die Walküre, dem zweiten Teil von Wagners Ring des Nibelungen, der die neue Spielzeit eröffnet. Es ist ein extrem langes, probenaufwändiges Stück, aber die Sängerinnen und Sänger der vier Hauptrollen stehen parallel zu den Zürcher Proben noch in Bayreuth auf der Bühne. Wie geht das zusammen?

In der Tat fahren unsere Brünnhilde Camilla Nylund, unser Wotan Tomasz Konieczny, Daniela Köhler als Sieglinde und Eric Cutler als Siegmund zwischendurch immer wieder zu Vorstellungen nach Bayreuth, meist mit dem Auto, weil das schneller ist als die Zug oder Flugverbindungen. Das verkompliziert unsere Zürcher Proben natürlich sehr. Die vier singen aber zum Glück in Bayreuth in verschiedenen Produktionen, und die Walküre ist in ihrer Dramaturgie so aufgebaut, dass nie alle Protagonisten gleichzeitig auf der Bühne stehen. Also habe ich einen minutiösen Plan zusammengepuzzelt, wann ich mit wem was proben kann. Wir springen dabei wild durch das Stück, manchmal mache ich an einem Tag drei Proben an drei verschiedenen Akten. Voraussetzung dafür ist natürlich, dass man als Regisseur das Stück komplett durchgearbeitet und im Kopf hat, und ich muss mich hundertprozentig darauf verlassen können, dass meine Brünnhilde oder mein Wotan am Tag nach der Bayreuther Vorstellung wieder pünktlich in Zürich zur Probe erscheinen. Man muss schon ein bisschen theaterverrückt sein, um das auf sich zu nehmen. Aber es funktioniert. Ich bin mit dem bisherigen Verlauf der Proben sehr zufrieden und freue mich auf die Premiere am 18. September.

Vorhang auf – jetzt extra leise

Traditionell eröffne ich die Spielzeit im MAG mit einem Bericht darüber, was eine Minderheit unserer Mitarbeitenden während der Theaterferien im Opernhaus auf den Bühnen, in tiefen Kellern, auf heissen Dächern und in den Werkstätten geschafft hat, während die Mehrheit von uns mehr oder weniger faul in der heissen Sonne lag, Berge bestieg oder sich auf eine andere Art von der harten letzten Saison erholte. In den Werkstätten wurde (und wird) mit Hochdruck unsere Eröffnungspremiere Die Walküre fertiggestellt und an Jacques Offenbachs Opéra comique Barkouf und Francesco Cavallis Barockoper Eliogabalo gearbeitet, die im Verlauf des Herbstes Premiere haben. Das war nicht immer ganz einfach, da parallel dazu Elektroverteilungen und Notlichtsysteme ersetzt und der riesige Warenlift instandgehalten wurde. Am Warenlift musste zum Beispiel im hydraulischen Antriebssystem das Öl gewechselt werden: Bei einem Auto sind das relativ wenige, bei einem solchen Lift aber einige hundert Liter…

Das Publikum kann sich im Opernhaus auf sanierte Bodenbeläge und glänzende pausengastronomische Einrichtungen freuen, während sich die «Chefetage» im obersten Geschoss des «Fleischkäses» nicht mehr sorgen muss, im Nassen zu sitzen, da das Dach des Gebäudes dort saniert wurde. Unsere Maskenbildnerinnen und Maskenbildner arbeiten nun in frisch renovierten Räumen und an Schminkplätzen, in denen endlich auch in warmem oder kaltem Licht geschminkt werden kann. Dadurch wird sichergestellt, dass die geschminkten Personen dann auch im entsprechenden Scheinwerferlicht auf der Bühne so aussehen wie zuvor im Schminkspiegel.

Das Gebäudeleitsystem, in dem wichtige Daten über Temperaturen, Alarme, Zustände und Steuerungen von Anlagen verarbeitet werden, wurde im Alt und Neubau ersetzt. Dafür wurden kilometerweise neue Leitungen gezogen und alte entfernt. Die Maschinisten haben in der Unterbühne endlich helles Arbeitslicht bekommen und können somit die Fahrten und Bewegungen aus der Untermaschinerie besser einrichten und überwachen. Steuerungskomponenten der Maschinerie wurden erneuert und die letzten von Hand betriebenen Züge auf der Hauptbühne elektrifiziert.

Der tonnenschwere Hauptvorhang wurde mit einem neuen Vertikalantrieb ausgestattet und kann nun noch leiser öffnen und schliessen. Auf der Bühne wurden besonders abgenutzte Bereiche des Bühnenbodens ersetzt und der Boden neu gestrichen. Die Tonanlage wurde ebenfalls überarbeitet – dort mussten einige Verstärker und Lautsprecher ersetzt werden. Im Bereich der Beleuchtung wurde der Wechsel auf leise, leistungsfähige, extrem wandelbare und noch dazu stromsparende LED Schweinwerfer weiter vorangetrieben, ältere LEDScheinwerfer sowie Steuerungs und Netzwerkkomponenten wurden auf den aktuellsten Stand gebracht.

Nicht alles lief wie geplant, und einiges musste improvisiert werden: Auch unsere beauftragten Firmen haben mit Lieferengpässen zu kämpfen, und es war teilweise nicht sicher, ob das eine oder andere noch rechtzeitig eintrifft und in Betrieb genommen werden kann. Aber dank dem grossen Engagement sowohl der Firmen als auch unserer Mitarbeitenden hat fast alles geklappt, und wir freuen uns, beim Eröffnungsfest am 10. September den Vorhang leise und schnell für unser Publikum zu öffnen.

Sebastian Bogatu ist Technischer Direktor am Opernhaus Zürich

Das Eröffnungsfest ist zurück und feiert am 10. September sein 10. Jubiläum! Die Türen des Opernhauses stehen offen für ein abwechslungsreiches, kostenloses Programm für alle Er öffn ungs fest

Der rote Teppich

Zum zehnten Eröffnungsfest legen wir uns auf dem Sechseläutenplatz gleich selbst den roten Teppich aus. Sie dürfen darüber ins Opernhaus schreiten, wo Sie zu zahlreichen kostenlosen Veranstaltungen vom Kinderkonzert bis zur Walküre-Probe eingeladen sind. Bei hoffentlich schönem Wetter bildet er aber auch das Zentrum unseres Openair-Programms: Dort bieten wir Ihnen musikalische Beiträge, Ballett- und Tanz-Crashkurse, «Speed-Datings», in denen Sie mehr über die Berufe am Opernhaus erfahren können, fantasievolle Kostüme und gastronomische Leckerbissen wie z.B. Grillspiesse zum Selberbraten.

Für Kinder

Auf der Hauptbühne beginnen wir mit dem Familienkonzert «Ravel». Die Mitglieder der Orchesterakademie spielen «Ma mère l’Oye», eine Komposition, in der Maurice Ravel fünf verschiedene Märchen von «Dornröschen» bis «Die Schöne und das Biest» zum Leben erweckt (ab 6 Jahren). Ausserdem finden mehrere Workshops rund um unsere diesjährige Familienoper Alice im Wunderland (ab 8 Jahren) statt, auf der Studiobühne trifft eine Maus auf den Physiker und Geiger Einstein (Geschichte mit Musik, ab 7 Jahren), ausserdem stehen Ballett-Workshops für Kinder, Basteleien und Kinderschminken (von 12 bis 15 Uhr) auf dem Programm.

«Die Walküre», Arien, Chor und «Wake up!»

Einen exklusiven Einblick noch vor der eigentlichen Premiere erhalten Besucher:innen abends auf der Hauptbühne: Wir öffnen eine Probe zu Richard Wagners Walküre aus dem Ring des Nibelungen, mit Weltstars wie Camilla Nylund, Tomasz Konieczny und dem Dirigenten Gianandrea Noseda. Wer es intimer mag, dem seien Arienkonzerte oder der witzige, szenische Liederabend Wake up! u.a. mit Rebeca Olvera empfohlen. Wer es gern vielstimmig hat, kommt bei einem Konzert mit unserem Hauschor ganz sicher auf seine Kosten!

«Le nozze di Figaro», Bachs Orchestersuiten und Kammermusik

Unsere Instrumentalist:innen sind am Eröffnungstag im Dauereinsatz: Neben der Walküre proben sie morgens im Proberaum am Kreuzplatz unter dem quirligen Dirigenten Stefano Montanari Mozarts Le nozze di Figaro. Das Schöne dabei ist: Auch die Sänger:innen werden dabei sein! Die können Sie aus nächster Nähe erleben. Nachmittags verpasst Riccardo Minasi unserem Orchestra La Scintilla den letzten Schliff bei Bachs Orchestersuiten – ebenfalls am Kreuzplatz. Wie immer gibt es Kammerkonzerte im Spiegelsaal – und für die Fans heisser Rhythmen sogar ein Percussion-Konzert auf der Studiobühne.

Ballettproben, Tanz-Workshops und Tutu-Ausstellung

In unseren Ballettsälen wird bereits auf Hochtouren geprobt. Am Eröffnungsfest dürfen Sie bei den Trainings der Compagnie und des Junior Balletts oder bei Proben zu den neuen Ballettabenden «Nachtträume» und «Horizonte» dabei sein. Tanzen können Sie aber auch selbst: In den Ballettsälen finden Workshops für Erwachsene und Kinder statt, und bei schönem Wetter leiten unsere Tänzer:innen auf dem Sechseläutenplatz ein klassisches Training an der Ballettstange und einen «Bal moderne» für alle an. In einem Parcours auf der Hinterbühne des Opernhauses zeigen wir zudem die schönsten Ballett-Tutus aus dem Kostümfundus. Kommen Sie vorbei!

Werkstätten und Kostümabteilung

An der Seerosenstrasse 4 sind die Daniel Düsentriebs des Opernhauses zuhause. Sie setzen die Bühnenbildentwürfe nach den Vorgaben der Bühnenbildner:innen in die Realität um – wieviel Erfindungskraft und Knowhow dazu nötig ist, kann in der Schreinerei, Theatermalerei, Theaterplastik, Bildhauerei und Metallwerkstatt bestaunt werden. Kinder dürfen dort Figurinen basteln (10-16 Uhr) und sich schminken lassen (12-15 Uhr). Im Opernhaus selbst lohnt sich ein Gang durch die Schneiderei und die wunderbare Welt der Kostüme.

Ausserdem...

Einmal auf den Brettern stehen, die die Welt bedeuten: Von 14 bis 16 Uhr haben Sie im Opernhaus die Gelegenheit dazu. Auf dem Sechseläutenplatz zeigen wir ausserdem plastische Schmuckstücke unserer Werkstätten – Achtung: Selfie-Alarm! Dazu spielt die Kurkapelle, bestehend aus unserer Orchesterakademie, ein schmissiges Programm. Am Abend legt DJ Daniel Lutz zusammen mit Chandler Hammond vom Ballett Zürich auf.

Eröffnungsfest

Samstag, 10 Sep 2022 ab 10 Uhr

Der Eintritt zu allen Veranstaltungen ist frei. Für einzelne Veranstaltungen werden 30 Minuten vor Veranstaltungsbeginn vor dem Opernhaus kostenfreie Tickets abgegeben.

Gastronomisches Angebot im Bernadette, im Bernhard Bar Cafe und rund ums Haus.

Das detaillierte Programm zum Fest erfahren Sie in Kürze auf unserer Website: www.opernhaus.ch/offen

Wir danken unseren Partnern

ab

Wotans rebellische Kinder

In der «Walküre» haben die Frauen und der Held Siegmund ihren grossen Auftritt. Ein Gespräch mit dem Regisseur Andreas Homoki über den zweiten Teil von Richard Wagners «Ring des Nibelungen», der am 18. September Premiere hat

Fotos Michael Sieber

Vier der acht Walküren auf der Probe: Sarah Cambidge (vorne), Julie Adams, Freya Apffelstaedt und Simone McIntosh (hinten v.l.n.r.)

Andreas, Die Walküre ist die einzige Wagner-Oper, die allein den Namen einer Frauenfigur im Titel führt. Kann man daraus den Hinweis auf eine Besonderheit dieses Stücks entnehmen?

Eigentlich ist das nur folgerichtig, denn es ist üblich, ein Stück nach der zentralen Figur zu benennen. Und das ist in diesem Falle Brünnhilde, Wotans Tochter und erste der Walküren, deren Entwicklung und Handeln entscheidende Auswirkungen für den ganzen weiteren Verlauf der Tetralogie haben. Andererseits geht man aber nicht fehl, wenn man diesen Titel als Hinweis darauf nimmt, dass es sich um ein Werk handelt, bei dem Frauen eine besonders wichtige Rolle spielen.

Bevor wir weiter ins Detail gehen: Was ist eine Walküre?

Die Walküren sind Töchter Wotans, die den Auftrag haben, im Kampf gefallene Helden, wenn er sie für würdig befindet, nach Walhall zu bringen. Ausser Brünnhilde gibt es noch acht weitere Walküren, so dass der Besetzungszettel des Stücks, nimmt man Fricka und Sieglinde hinzu, nicht weniger als elf namentlich genannte Frauenfiguren aufführt. Das ist bei Wagner der absolute Rekord. Aber auch wenn wir Brünnhildes Schwestern, die eine kaum individualisierte Gruppe bilden, beiseitelassen, bleiben immer noch drei grosse, sehr differenzierte Frauenfiguren, die dieses Stück prägen und zu etwas Besonderem in Wagners Werk machen. Freilich muss man auch sagen, dass Wagners Werk voll ist von selbstbewusst und selbstbestimmt handelnden Frauenfiguren. Es ist um so bemerkenswerter, dass er immer wieder starke Frauen in den Mittelpunkt rückt, als sich seine Stoffe fast durchgehend vor dem Hintergrund brutal patriarchalischer Verhältnisse entfalten.

Einer weit verbreiteten Auffassung nach propagieren Wagners Werke ein reaktionäres, dem 19. Jahrhundert verhaftetes Frauenbild…

…ja, so etwas hört man oft. Aber wenn ich mir seine Werke anschaue, kann ich nichts finden, was diese Meinung rechtfertigt. Selbstverständlich denkt Wagner wie und als ein Mensch das 19. Jahrhunderts. Es wäre ja auch absurd, etwas anderes zu erwarten. Aber auch in diesem Punkt ist er der Umstürzler geblieben, der seinerzeit in Dresden für eine bessere Welt buchstäblich auf die Barrikaden gegangen ist: Mit seinen Frauenfiguren geht er weit über das hinaus, was zu seiner Zeit der allgemeine Konsens war. Man muss nur irgendeine seiner Gestalten neben das Ideal der Weiblichkeit halten wie es etwa in Schillers damals noch überaus beliebtem Lied von der Glocke oder in Chamissos vielleicht noch beliebterem Zyklus Frauenliebe und -leben ausgedrückt ist, um das sofort zu sehen. Statt die Bescheidung mit einem Leben zwischen Kindern, Küche und Kirche zu feiern, erfindet Wagner Gestalten, die sich dem Zwang widersetzen…

…woran sie aber so gut wie immer tragisch scheitern…

…was aber ihre Position nicht entwertet. In allen grossen Tragödien seit der Antike scheitern die Helden, aber das zeigt, dass die Verhältnisse unmenschliche sind, dass also die Welt anders eingerichtet werden muss. Wagner will sich nicht mit diesen Verhältnissen abfinden. Und die Frauen in seinen Werken tun es auch nicht.

Gilt das für alle drei grossen Frauenrollen dieses Stücks? Auch für Fricka?

Unbedingt. Wotans Gattin begegnet uns als eine kluge und selbstbewusste Frau, die sich von ihrem Mann nichts gefallen lässt. Zwar kann sie nicht verhindern, dass er sie fortwährend mit anderen Frauen betrügt, auch hat sie die Hoffnung, ihn wieder für sich zu gewinnen, die sie noch hegte, als Walhall geplant und errichtet wurde, inzwischen aufgegeben. Aber sie nimmt die ihr damit zugewiesene untergeordnete Rolle nicht an und tut, was sie kann, um sich gegen den übermächtigen Hausvater zu behaupten. Das kann sie, weil sie Wotan, wie man in der grosen Auseinandersetzung im zweiten Akt sieht, intellektuell mehr als ebenbürtig ist.

Worum dreht sich diese Auseinandersetzung?

Wotan hat den Riesen, die ihm die Burg gebaut haben, den Ring, den er Alberich geraubt hat, zur Bezahlung überlassen müssen. Er weiss aber, dass dieses Schmuckstück, das dem Besitzer masslose Macht verleiht, sehr gefährlich werden kann. Von Fafner, der den Ring im Moment besitzt, geht keine Gefahr aus, denn dem genügt es, als Riesenwurm auf dem Goldschatz, zu dem der Ring gehört, zu liegen. Aber wenn Alberich den Ring zurückerhält, sind die Götter und die ganze Welt in grösster Gefahr. Nun kann Wotan den Ring nicht einfach stehlen, weil er durch einen Vertrag an Fafner gekommen ist, den Wotan nicht brechen kann, weil seine Weltordnung auf Verträgen beruht. Darum kommt er auf den Gedanken, einen Sohn, Siegmund, zu zeugen, den er zum Anarchisten und Verächter aller Regeln und Ordnungen erzieht, damit dieser aus eigenem Antrieb Fafner tötet und den Ring seinem Vater übergibt. Fricka, der er diesen Plan – übrigens auf unverschämt herablassende Art – offengelegt hat, entdeckt sofort den wunden Punkt, den Wotan bis dahin erfolgreich verdrängt hat: Wenn er Siegmund schützt, ihn zum Kampf gegen Fafner reizt und ihm ausserdem noch die dazu nötige Waffe verschafft, ist es das Gleiche, als ob er Fafner gleich selbst tötet und den Ring rauben würde. Wotan muss einsehen, dass sie recht hat, und seinen Plan aufgeben.

Warum tut sie das? Was hat sie gegen Siegmund?

Sie ist eine Politikerin, die tut, was ihre Aufgabe ist. Sie ist für die Einhaltung der EheGesetze verantwortlich, die einen wesentlichen Bereich des menschlichen Zusammenlebens regeln. Wotan nimmt sich das Recht heraus, Sympathien für die Menschen zu haben, vor allem für die Rebellen, die gegen die unmenschliche und liebelose Ordnung aufbegehren. Fricka kennt nur ihre Gesetze. Und setzt sie mitleidlos aber übrigens nicht ungerecht durch. Nach diesen Gesetzen hat Siegmund zwei Verbrechen begangen, die nur durch den Tod gesühnt werden können: Ehebruch und Inzest. Wotan versucht, ihr zu widersprechen, indem er auf die Macht der Liebe verweist: Eine Ehe, die ohne Liebe geschlossen wird, erachtet er nicht für bindend, und die Liebe, die zwei Menschen füreinander empfinden, hält er immer für schützenswert, egal, unter welchen Umständen. Für Fricka ist das ganz inakzeptabel. Ihr einziges Interesse ist, die bestehende Ordnung zu erhalten, und dabei haben solche «Sentimentalitäten» keinen Platz. Wotan ist in einem Widerspruch gefangen. Einerseits ist auch er an der Erhaltung der Ordnung interessiert, andererseits will (und kann) er die Liebe nicht aufgeben, die sie fortwährend unterminiert. An diesem Punkt hakt Fricka ein und setzt sich schliesslich durch.

Lässt sich Frickas Verhalten nicht auch aus dem Schmerz über ihre unglückliche Ehe, die ihr die Mutterschaft verwehrt, erklären?

Auf jeden Fall. Für die psychologische Deutung der Figur spielt das eine wesentliche Rolle. Das sind zwei Erklärungen ihres Handelns, die sich keineswegs ausschliessen. Es sind zwei Ebenen der Figur, die zusammengehören und von Wagner, der sich gerade in solchen Punkten als genialer Dramatiker erweist, sehr fein aufeinander abgestimmt sind. Eine rein psychologische Erklärung würde darauf hinauslaufen, dass die Welt in Ordnung wäre, wenn Wotan freundlicher oder Fricka weniger anspruchsvoll wäre. Die rein politische würde Fricka zu einem herzlosen Monster machen. Erst beide gemeinsam erhellen die Figur so, dass sowohl ihre Grösse als auch ihre Tragik hervortreten.

Sieglinde verhält sich zu ihrem Ehemann ganz anders. Sie erduldet stumm das Leben neben Hunding und hofft auf den Helden, der sie von ihrem Schicksal erlöst. Ist das nicht ziemlich nahe an dem Frauenbild, das wir in der biedermeierlichen Kitschliteratur finden?

Nur bei sehr oberflächlicher Betrachtung. Denn schon der zweite Blick zeigt: Sie hat gar keine Wahl. In der Welt, die das Stück zeigt, kann sie schliesslich nicht

Daniela Köhler als Sieglinde, im Hintergrund die Walküren

einfach fliehen. Eine Frau, die ohne männlichen Beistand durch die Welt läuft, würde kaum lange überleben. Sie muss ihr Schicksal also dulden, aber sie akzeptiert das nicht als normal. Auch sie ist Wotans Kind und von ihm zur Aufrührerin erzogen worden. Sowie sie in Siegmund den erkennt, mit dem sie dem unerträglichen Leben entkommen kann, handelt sie entschlossen, unterstützt ihn und kämpft mit ihm gemeinsam für ihre Liebe. Siegmund seinerseits kann ihr Befreier werden, weil er als geborener Rebell dieses Frauenschicksal nicht als normal akzeptiert und alle Regeln, die er als unmenschlich erkannt hat, über den Haufen wirft. Am Rande sei vermerkt, dass Hunding kein Bösewicht ist, der seinen Spass daran hat, Frauen zu demütigen. Er ist ein Ehrenmann, der sich genauso verhält, wie es in seiner Welt normal ist. Er kommt gar nicht auf den Gedanken, das zu hinterfragen, und das trifft mit Sicherheit auch für alle anderen Männer und die meisten Frauen in seiner Umgebung zu. Der Gedanke, dass es zwischen Ehepartnern so etwas wie Liebe

geben könnte, ist ihm sicherlich vollkommen fremd. Darum wendet er sich nach der Entdeckung des Ehebruchs an Fricka, die Hüterin des Gesetzes, als zu versuchen, seine Frau durch ein liebevolleres Verhalten zurückzugewinnen.

Siegmund scheint hingegen das Ideal von einem Mann zu sein.

Das ist in Wagners Werk eine singuläre Figur: ein Mann, der ohne Einschränkung als Sympathieträger konzipiert ist, dessen Aufrichtigkeit, Liebesfähigkeit, Zärtlichkeit und Stärke durch keinen Widerspruch getrübt ist. Das ist möglich, weil er ausserhalb der Zivilisation, fern ihrer negativen Einflüsse aufgewachsen und von Wotan erzogen worden ist, der ihm seine besten Eigenschaften und Überzeugungen mitgegeben hat.

Aber er ist doch ein Killer…

Das sind in dieser Welt alle Männer. Und wir erfahren auch, wer daran schuld ist: Wotan selbst, der die Männer zum allgemeinen Krieg aller gegen alle aufgehetzt hat, um sich die Soldaten für seinen Krieg gegen Alberich zu verschaffen. Nichtsdestoweniger hat sich Siegmund die Liebesfähigkeit bewahrt, die er von Wotan geerbt hat. Er ist in dieser Welt, die wir uns wohl von lauter Hundingen bevölkert denken müssen, der einzige Mann, der in der Lage ist, menschlich mit einer Frau umzugehen, und also eine utopische Gestalt. Und weil zwischen ihm und Sieglinde Liebe waltet, ist ihre Beziehung auch nicht unfruchtbar.

Thomas Konieczny als Wotan mit seinen Töchtern, den Walküren (Julie Adams, Freya Apffelstaedt, Simone McIntosh, Justyna Bluj)

Im zeitlichen Mittelpunkt des Stücks steht die grosse Szene zwischen Wotan und Brünnhilde, in der er das Geschehen in einer langen Erzählung zusammenfasst und seine Situation beschreibt. Diese langen Erzählungen sind einigermassen berüchtigt. Eduard Hanslick bemerkte in seiner galligen Art, sobald auch nur die Spitze von Wotans Speer aus der Kulisse auftauche, sei eine halbe Stunde nachdrücklichster Langeweile garantiert. Damit dürfte er vielen Zuschauern aus dem Herzen gesprochen haben, die sich über die langen Passagen beklagen, die alles aufhalten und rekapitulieren, was man schon weiss, wenn man die bisherige Handlung verfolgt hat. Wie kann man die «edle Langeweile» vermeiden, die daraus so oft resultiert?

Ich muss gestehen, dass ich das Problem gar nicht sehe. Zumindest in diesem Stück gibt es ja nur eine einzige lange Erzählung, und die bringt sehr viele Informationen, die für die Zuschauerinnen und Zuschauer neu sind. Noch wichtiger ist aber, dass es hier nicht einfach um eine Information geht, die das Publikum auf den neuesten Stand bringt. Es handelt sich vielmehr um einen Dialog zwischen Wotan und Brünnhilde, auch wenn sie verbal nur wenig zu einem Dialog beiträgt. Um so wichtiger ist es aber, auf der Bühne deutlich sichtbar zu machen, wie ihr Schweigen, ihr Zuhören, ihre Gesten Wotans Erzählen beeinflussen. Wenn man die Partitur genau studiert, sieht man, dass Wagner grosse Mühe darauf verwendet hat, in jedem Moment hör und sichtbar zu machen, wie sich die Interaktion der beiden Figuren entfaltet. Dadurch ist eine Szene entstanden, die keineswegs langweilig, sondern in Wahrheit sehr ergreifend ist, weil sie die gesamte Problematik des Stücks im Dialog der beiden Hauptgestalten zusammenfasst. Ich muss sagen, dass ich das früher auch nicht so wahrgenommen habe, aber in der Inszenierungsarbeit sehe ich immer mehr, wie viel theatralisches Potenzial in dieser Szene vorhanden ist, die oft so statisch und praktisch ohne Beziehung zwischen den beiden Protagonisten abläuft.

Ein anderer Dramatiker hätte Wotan vielleicht eine Monologszene gegeben…

Das wäre für Wagner undenkbar gewesen. Sein Theater basiert immer auf dem Dialog, auch dann, wenn die Szene von einer Figur so stark dominiert wird wie hier. Aber es ist für das ganze Stück von zentraler Bedeutung, dass Wotan sich seiner Tochter ganz anvertraut und also in gewisser Weise auch ausliefert. Erst so wird verständlich, dass sein scheinbar so liebeloses Verhalten seinen Kindern gegenüber erzwungen ist, und erst so wird sein gewaltiger Zorn auf Brünnhilde verständlich, wenn sie ihn scheinbar verraten hat. Und vor allem wird erst so verständlich, dass Brünnhilde ihn zwar verstanden hat, aber andere Konsequenzen zieht, als er gehofft hat: Wenn sie auf Wotans Befehl Siegmund den Tod ankündigt und staunend sieht, dass ihm Sieglinde wichtiger ist als alle Verheissungen eines seligen Lebens in Walhall, macht sie eine Wandlung durch und kommt für sich selbst überraschend zu der Überzeugung, dass im Konflikt von Liebe und Macht immer die Liebe den Sieg davon tragen muss. So rebelliert sie gegen die unmenschliche Kälte der Macht und setzt ihr die Wärme der Liebe entgegen. Allerdings glaubt sie, damit zwar gegen das Interesse des Machthabers, aber ganz im Interesse ihres Vaters zu handeln, weil sie das wahre Ausmass seines Dilemmas noch nicht erfasst hat. Erst in der letzten Auseinandersetzung mit Wotan versteht sie, dass er nicht anders handeln kann, wie auch sie keine andere Wahl hatte, als sich seinem Gebot zu widersetzen. Damit wird es ihr möglich, die Strafe anzunehmen, das heisst, ihren göttlichen Status abzulegen und zum Menschen zu werden. Und als liebender Mensch ist sie schliesslich in der Lage, die Lösung aller Verstrickungen herbeizuführen und den Weg in eine vielleicht bessere Zukunft zu öffnen.

Das Gespräch führte Werner Hintze

Frauen bringen das patriarchale Machtgefüge zum Einsturz

Elisabeth Bronfen, die Zürcher Literaturprofessorin, Feministin und versierte Mythendeuterin, spricht über die Frauenfiguren und Richard Wagners «Walküre»

Frau Bronfen, uns interessiert ein weiblicher Blick auf die Frauen, die in Wagners Walküre auftreten. Drei Figuren stehen im Zentrum: Sieglinde, Fricka und Brünnhilde. Was fällt auf an Ihnen?

Grundsätzlich muss man feststellen: Die Position all dieser Frauen ist bezogen auf Wotan. Und Wotan steht für paternale Autorität, sowohl als Familienoberhaupt als auch als oberster Gott. In diesem System besitzen die Männer die Frauen. In ganz extremer Form ist das bei Sieglinde der Fall. Sie hat erst ihrem Vater gehört – Wotan, der sie mit einer ungenannten Menschenfrau gezeugt hat; später wird Sieglinde geraubt und Objekt eines oder vielleicht sogar mehrerer Tauschgeschäfte, an deren Ende sie mit Hunding verheiratet wird. Die Frau ist hier also ein Objekt, das man raubt und dann für Geld verschachert. Dabei ist natürlich die Idee, dass sie mit Hunding ein Kind bekommt, damit seine Familie weiterbesteht. Das wäre eine klassische Frauenposition. Aber das, was Sieglinde passiert, geht weit über das, was im Mündelgesetz vorgesehen wäre, hinaus. Sieglinde wird geraubt, sie muss zusehen, wie die Mutter ermordet wird, wie das Haus abbrennt, und ruft vergeblich nach dem Vater. Im zweiten Akt der Walküre erinnert sie sich noch einmal an dieses traumatische Erlebnis und wünscht sich wiederum ihren Vater herbei. Mit der Position der Tochter geht Abhängigkeit und Hilflosigkeit einher. Ein Bild in ihrer Erzählung hat mich sehr beeindruckt: An ihrer Hochzeit sass sie allein traurig da, während die Männer alle tranken und feierten – Sieglinde hat mit dieser Männerwelt gar nichts zu tun, sie steht völlig abseits.

Aber sie verharrt ja nicht in dieser passiven Rolle.

Nein, absolut nicht. Sie erkennt als einzige den Fremden – Wotan –, der geheimnisvoll an ihrer Hochzeit erscheint und ein Schwert in einen Stamm stösst. Sieglinde macht an ihm eine Hoffnung fest. Sie entwickelt in ihrer völligen Isoliertheit eine eigene Stärke. Als Siegmund auftaucht – ihr Zwillingsbruder –, erkennt sie auch ihn, verabreicht Hunding mutig einen Schlaftrunk und ist bereit, mit Siegmund zu fliehen. Später warnt sie Siegmund mehrmals. Sie ist sich klar darüber, dass ihre Position als Tochter und Ehefrau sehr fragil ist.

Die Stärke, die Sieglinde entwickelt, führt dazu, dass sie Ehebruch und Inzest mit ihrem Bruder begeht. Ihr entgegen steht Fricka, die das paternale System stützt.

Fricka ist die Hüterin der Ehe, kann aber gegen Wotans Untreue nichts tun. Sie steht ein für die patriarchalen Gesetze, die übrigens eine Doppelmoral enthalten: Der Mann darf die Ehe brechen, die Frau nicht. Fricka steht für diese Gesetze ein, denn das ist das Einzige, was sie hat. Sie ist Wotans Ehefrau, sie ist nicht Mutter und nicht Geliebte. Da macht Wagner eine kluge Beobachtung. Es sind ja auch die Mütter, die in gewissen afrikanischen Kulturen die Mädchenbeschneidungen vornehmen. Aber so weit weg muss man nicht einmal gehen. Als in der Schweiz darüber abgestimmt wurde, ob Frauen mehr Rechte bekommen sollten, waren es die älteren Frauen, die sagten: Nein, wir hatten diese Rechte damals nicht, also braucht

ihr sie jetzt auch nicht. Diese konservative Position ist keine der Schwäche, sondern der Stärke: Die Frau verteidigt den Ort, der ihr zugeschrieben wird.

Brünnhilde hingegen rebelliert offen gegen das System.

Brünnhilde ist zunächst einmal nicht dem häuslichen Bereich zugeordnet, sie ist Kriegerin und der Liebling des Vaters, sein ganzer Stolz. Auch sie liebt ihren Vater und kann sich nicht vorstellen, dass dieser Vater bereit sein könnte, seine Kinder zu verraten. Aber während Fricka auf der Seite jener kulturellen Gesetze steht, die die Gemeinschaft aufrechterhalten, steht Brünnhilde auf der Seite des Krieges. Brünnhilde ist, so könnte man sagen, geschlechtlich fluide – denn sie ist sowohl Kriegerin als auch Tochter. Anfangs ist sie frei, aber gleichzeitig eingebunden in die Kriegsmaschinerie des Vaters; sie baut gemeinsam mit ihren Schwestern für Wotan ein Heer aus gefallenen Helden auf. Im zweiten Akt macht sie eine Wandlung durch, weil sie von der Rede Siegmunds zutiefst getroffen wird. Sie überschreitet eine Grenze, indem sie sich für den Bruder und gegen den Vater entscheidet. Das tut sie aus einer weiblichen Position – aus ihrer Emotion heraus. Indem sie sagt: Es kann nicht sein, dass der Vater gegen seine eigenen Kinder handelt, argumentiert sie auf der Ebene der Familie, nicht auf der Ebene der staatlichen Verhältnisse. Sie entscheidet sich für die Macht der Liebe und gegen die politische Macht.

Was macht die Stärke der Frauen in der Walküre ausserdem aus?

Sie lassen nicht locker! Fricka hört genau zu und zeigt Wotan den Widerspruch in seiner Argumentation. Sieglinde begibt sich aktiv in die Liebesbeziehung mit Siegmund. Sobald sie erfährt, dass sie schwanger ist, überwindet sie ihre Sehnsucht, mit Siegmund zu sterben. Und Brünnhilde diskutiert bis zum Schluss mit ihrem Vater. Sie akzeptiert das Gesetz – sie war nicht gehorsam, also muss der Vater sie verbannen, und dazu gehört: Sie wird keine Walküre, keine Gottheit mehr sein und nicht mehr in Walhall leben. Aber sie schafft es, dass Wotan, sich auf ihre Idee mit dem Feuerkreis einlässt: Brünnhilde muss nicht irgendeinen Mann heiraten, sondern nur den, der die Furcht nicht kennt und das Feuer durchschreitet. Zwar hat Wotan in der Walküre das letzte Wort. Aber sein Abschied ist von grosser Wehmut gekennzeichnet, weil er begreift, was er alles kaputtgemacht hat. Er hat das, was er am meisten liebte, verloren. Wagner entlarvt damit das Selbstzerstörerische der maskulinen Wut und den tödlichen Kern des männlichen Beharrens auf absolutem Gehorsam.

Fricka ist kinderlos. Wotan zeugt seine Kinder mit anderen Frauen. Was erzählt uns das?

Es ist auffallend, dass die Kinder im Ring – die Walküren, Siegmund und Sieglinde, aber auch Siegfried – nicht im Haus gezeugt werden, also nicht im Raum von Ehe und Häuslichkeit, wo sie eigentlich hingehören würden, um das Fortbestehen der Familie zu sichern. Auffallend ist auch, was mit den Müttern passiert. Die erste – die Mutter von Siegmund und Sieglinde – wird ermordet, die zweite – Sieglinde – muss dabei zuschauen, wie ihr Vater ihren Bruder und ihren Ehemann umbringt und stirbt bei der Geburt ihres Sohnes Siegfried. Wenn wir den ganzen Ring anschauen, dann ist Erda, die Urmutter, die einzige, die nach der Geburt ihrer Tochter Brünnhilde weiterhin die Weise bleibt. Mutterschaft ist also schwierig in diesem Werk. Mütter scheinen das System nervös zu machen. In einer Shakespeare Komödie müssen die Paare am Schluss zusammenkommen, damit es die nächste und übernächste Generation geben kann. Im Ring scheint die Fortpflanzung, das Fortdauern, nicht vorstellbar. Das Fehlen von Müttern, die mit ihren Kindern und Enkeln spielen, hat ihr Pendant in der Melancholie Wotans, der den Untergang der Gesellschaft provoziert hat. Mutterschaft ist hier nicht zukunftsgerichtet; die Helden, die sie hervorbringt, sind von Anfang an dem Untergang oder eben der Götterdämmerung geweiht. Mütter sind nur dazu da, die kriegerische Macht Hojotoho

Der Schweizer Graphic Novel Künstler Thomas Ott hat für diese MAG-Ausgabe seine subjektive Sicht auf eine Walküre gezeichnet, die auf dem Schlachtfeld nach gefallenen Helden Ausschau hält, die würdig sind, nach Walhall gebracht zu werden.

Die Walküre

Erster Tag des Bühnenfestspiels «Der Ring des Nibelungen» von Richard Wagner

Musikalische Leitung Gianandrea Noseda Inszenierung Andreas Homoki Ausstattung Christian Schmidt Künstlerische Mitarbeit Bühnenbild Florian Schaaf Lichtgestaltung Franck Evin Dramaturgie Werner Hintze Beate Breidenbach

Siegmund Eric Cutler Hunding Christof Fischesser Wotan Tomasz Konieczny Sieglinde Daniela Köhler Fricka Patricia Bardon Brünnhilde Camilla Nylund Helmwige Sarah Cambidge Gerhilde Julie Adams Ortlinde Justyna Bluj Waltraute Anna Werle Siegrune Simone McIntosh Rossweisse Susannah Haberfeld Grimgerde Freya Apffelstaedt Schwertleite Nana Dzidziguri

Philharmonia Zürich Statistenverein am Opernhaus Zürich

Mit freundlicher Unterstützung der Freunde der Oper Zürich

Premiere 18 Sep 2022 Weitere Vorstellungen 21, 29 Sep; 2, 5, 8, 18 Okt 2022 aufrechtzuerhalten und gleichzeitig das Zerstörerische dieser Macht zu akzentuieren. Dadurch wird einmal mehr deutlich, wie selbstzerstörerisch diese Kultur ist, in der Gottvater Wotan und Alberich, Fafner und andere ihre Rivalitäten austragen.

Wenn wir nach den angeblich reaktionären Frauenbildern in Wagners Ring fragen, müssen wir uns auch die Männerbilder genauer anschauen: Inwiefern entsprechen sie traditionellen Heldenvorstellungen des 19. Jahrhunderts?

Gar nicht. Es fängt schon an bei der Vorgeschichte zur Walküre, mit der namenlosen Maid, die umgebracht wird. Ihre Brüder haben es nicht geschafft, sie zu verteidigen, und auch Hunding, zu dessen Sippe sie ja offenbar gehörte, kommt zu spät. Auch Sieglinde und ihre Mutter konnte niemand verteidigen, weil niemand da war. Wotan zeichnet sich aus durch aussereheliche Affären und Abwesenheit von den Orten, an denen er eigentlich sein sollte. Schon im Rheingold bricht er seine eigenen Verträge, und in der Walküre sein Versprechen, dass Siegmund der grosse Held sein wird, der alles wieder in Ordnung bringt. Aus Verzweiflung bringt er Siegmund und auch Hunding um – nicht sehr heldenhaft. Hunding wiederum traut sich nicht, allein gegen Siegmund anzutreten, sondern bittet Fricka um Hilfe. Und Siegmund ist von Anfang an ein Verlierer. Er bringt nur Unheil und Verzweiflung und ist darüber selbst ganz verzweifelt. Sogar der Moment, in dem er das von Wotan verheissene Schwert aus dem Stamm zieht, ist nicht wirklich heldenhaft, denn es ist Sieglinde, die es ihm zeigt. In der Walküre gibt es also keine konventionellen Helden. Auch im Rheingold nicht – sondern nur machthungrige Menschen, die sich gegenseitig betrügen, hintergehen, immer noch irgendwo eine Lücke im Gesetz sehen, die sie ausnutzen könnten. Der Ring passt nicht in das einfache Schema von heldenhafter Männlichkeit und gehorsamer, duldsamer Weiblichkeit.

Aber leider gibt es in Wagners Tetralogie ziemlich viel Gewalt von Männern gegenüber Frauen.

Ich würde nicht sagen leider. Denn genau daran zeigt sich die Brutalität dieser Art patriarchaler Kultur. Im Denken dieser Kultur sind Ehefrau und Tochter – und das geht bis weit ins 20. Jahrhundert – Eigentum des Mannes. Manchmal sind sie kostbar, dann werden sie geraubt. Während der Mann die Frau besitzt, kann er sich mit ihr schmücken wie mit einem Gemälde oder einem teuren Pferd. Auch heute sieht man noch weitaus häufiger sogenannte «trophy wives» als «trophy men». Die Gewalt gegen die Frauen in diesem Stück ist wie ein Gegenbild zu den sogenannten hehren Helden. Wenn Männer ein Haus abbrennen, die Mutter umbringen, die Tochter rauben, wird daran festgemacht, was eine Kultur, die den Männern mehr Macht gibt, tatsächlich bedeutet. Gerade durch die Gewalt gegen Frauen wird die Gewalttätigkeit der patriarchalen Kultur unterstrichen. Diese Gewalt trifft in der Walküre Sieglinde und ihre Mutter sowie die namenlose Maid, aber auch Brünnhilde. Mit ihrer Opferung wird keine körperliche, sondern eine strukturelle, psychologische Gewalt auf sie ausgeübt, und die ist fast noch schlimmer. Das ist eine Form von Kastration. Die Bestrafung Brünnhildes trifft uns viel stärker als die Tötung Siegmunds. Er begeht Ehebruch und Inzest und wird dafür hingerichtet; es gibt Kulturen, in denen das bis heute üblich ist. Brünnhilde hingegen ist der antiken Antigone nahe – sie wehrt sich gegen ein Gesetz, das für sie keinen Sinn ergibt, und tut dies aus Liebe zum Bruder. Dafür wird Brünnhilde in mehrfachem Sinn eingekreist. Zuerst durch den Feuerkreis, später durch die Ehe und die Intrigen um diese Ehe. Wir sehen ein freies Subjekt, das sich als solches behauptet und dafür bestraft wird. Der einzige Ausweg wird in der Götterdämmerung ihr Selbstmord sein und der Untergang aller. Man kann dieses Machtgefüge nicht von innen heraus verbessern, man muss es zerstören. Dann kann etwas Neues kommen. Ob das besser oder schlechter sein wird, wissen wir nicht.

Subtil, sorgsam, flexibel

Gianandrea Noseda dirigiert in Zürich seinen ersten «Ring». Für ihr «Rheingold» wurden er und sein Orchester sehr gelobt. Hier einige Pressestimmen.

Nosedas Wagner ist dynamisch abgewogen und klingt angenehm zivilisiert; dennoch schöpft er die gesamte Bandbreite im Leisen wie im Lauten aus, ohne die Sänger zu überdecken. Statt der gewohnten Dominanz der Blechbläser hört man subtil aufeinander abgestimmte Holzbläserlinien und zahllose Feinheiten in den Streichern. Selten ist ein Dirigent auf Anhieb so gut mit der topfigen, trockenen Akustik des Zürcher Opernhauses zurechtgekommen. Nosedas Tempi sind durchweg fliessend, manche sogar ungewöhnlich schnell.

Neue Zürcher Zeitung

Kraftvoll und satt klingt die Philharmonia Zürich, doch in keinem Moment zu laut; die Verständlichkeit ist hoch. Das geht auf die Sprachpflege zurück, deren Einfluss nicht genug gewürdigt werden kann, insbesondere aber auf den sorgsamen Umgang mit der musikalischen Struktur: mit der klanglichen Balance im verhältnismässig kleinen Haus, mit dem Netz der Leitmotive.

Opernwelt Auch Gianandrea Noseda nimmt das Stück erst einmal einfach wirklich wörtlich. Auch er erzählt, und zwar mit ähnlich viel Sorgfalt in den Details wie Homoki. Seine Tempi sind enorm flexibel, die Dynamik wechselt praktisch in jedem Takt. Deutlich hörbar wird die dezidierte Absicht, keine von Wagners so überaus vielen instrumentalen Linien zu verschenken oder untergehen zu lassen. Durchsichtigkeit ist Prinzip, aber auch die ungebrochene theatrale Geste darf nach Herzenslust ausgekostet werden. Manchmal ist das fast Filmmusik, ohne dass man es als platt oder banal empfinden würde, im Gegenteil: Sehr oft reagieren die Figuren auf der Bühne nicht nur auf das, was gerade gesagt wird, sondern auch darauf, was die Musik gerade erzählt.

Musik & Theater

So reich an Zwischentönen war Wagner noch nie.

NZZ am Sonntag

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