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Ich sage es mal so – 4, Opernhaus aktuell – 6, Drei Fragen an Andreas Homoki

Vom Weinen in der Oper

Herr Homoki, kommt es vor, dass Sie in einer Opernvorstellung sitzen und weinen müssen?

Ja, das kommt vor. Sehr oft sogar. Wenn ein tief emotionaler Moment in einer Oper richtig gut über die Rampe kommt, ist das bei mir geradezu unvermeidlich. Dann laufen mir die Tränen herunter. Und ich stehe dazu. Ich weine auch manchmal, wenn ich vor meinem Modell sitze und mir etwas ausdenke. Ich habe frühmorgens gearbeitet, komme verheult zum Frühstück und meine Frau fragt: Was ist denn mit dir los? Ich habe mir vor dem Modell gerade den Schluss des Schlauen Füchsleins überlegt. Ich bin ein Regisseur, der in die besonderen Gefühlsmomente eines Werks voll einsteigt. Manche Kolleginnen und Kollegen misstrauen ja dieser Unmittelbarkeit der Gefühle und finden es verdächtig, wenn die Regie das Publikum emotional zu manipulieren versucht. Ich kann da nur sagen: Klar werden wir in der Oper manipuliert. Darum geht es doch. Das ist ja das Schöne an der Kunstform. Die Stücke sind von Komponisten wie Puccini, Verdi oder Wagner genau so geschrieben. Wir haben gerade unsere Walküre zur Premiere gebracht: Da gibt es auch Momente, die mich zu Tränen rühren, wenn etwa Brünnhilde Siegmund den Tod verkündet, völlig überwältigt ist von dessen tiefer Liebe zu seiner Zwillingsschwester Sieglinde, oder wenn Wotan am Ende Abschied nimmt von seiner Tochter Brünnhilde, die er hart bestraft und gleichzeitig liebt wie niemanden sonst.

Wissenschaftliche Studien haben untersucht, was genau Rührung im Menschen ausmacht, und festgestellt, dass gleichzeitig ein Gesichtsmuskel aktiviert wird, der für das Lächeln zuständig ist und einer für das Traurigsein. Rührung ist also ein gemischter emotionaler Zustand, in dem positive und negative Elemente zusammenkommen.

Das ist doch interessant und bestätigt meine Beispiele. In der Oper rührt uns etwa immer wieder das Einstehen für eine ideelle Sache, auch wenn sie aussichtslos erscheint; rückhaltlose Solidarität in grösster Not – und natürlich der grosse Moment der Vergebung. Vergebungsfähigkeit ist das Höchste im menschlichen Verhalten, deshalb ist sie auch ein zentraler Punkt in unserer Religion. Es gibt nur Vergebung. Das macht eine Oper wie Elektra so tragisch. Elektra sehnt die ganze Zeit den Augenblick ihrer Rache herbei. Aber wenn er da ist, nützt er ihr überhaupt nichts. Sie wird verrückt.

Kann man das Phänomen der Rührung als Regisseur bewusst in einer Inszenierung herbeiführen?

Klar. Das ist kein mystisches Geheimnis, das sich entweder offenbart oder nicht. Das ist hergestelltes Theater. Es muss einem als Regisseur etwas einfallen, das szenisch stark ist. Man macht sich auf der Probe den emotionalen Vorgang gemeinsam bewusst und versucht ihn präzise zu realisieren. Es kommt dabei mitunter auf winzige Details an: Ein Blick, der eine Sekunde zu früh oder zu spät erfolgt, und die Wirkung ist dahin. Gelingt der Moment, erzeugte er auch in jeder Vorstellung zuverlässig die intendierte Wirkung. Und es ärgert mich wahnsinnig, wenn ich in einer Aufführungen sitze und so ein Moment verschenkt wird. Als ich vor vielen Jahren den letzten Akt von La bohème geprobt habe, kam die Assistentin vor jeder Probe und sagte: Die Taschentücher liegen bereit. Und die haben wir dann auch gebraucht. Man benutzt sie ja nicht gegen die Tränen, sondern für die Nase, die dann immer anfängt zu laufen. Ich finde, im Theater sollte man sich seiner Tränen nicht schämen. Die sind doch auch schnell wieder weg. Sie laufen runter und trocknen. Und weiter geht’s.

Wintersturm hinter der Wand

Manchmal fällt es mir sehr schwer, komplexe Bühnenbilder zu beschreiben, da sie eben kompliziert, ineinander verschachtelt und auch mit 1000 Worten nicht greifbar sind. Bei der Walküre ist es anders: Dieses Bühnenbild besteht aus vier Wänden, die sich in der Mitte der Drehscheibe treffen und im 90° Winkel zueinander stehen. Von oben drauf geschaut einfach ein Kreuz oder ein Pluszeichen. Zwischen den Wänden stehen dann mal ein riesiger Baum, ein paar grosse Baumstämme (symbolisieren Wald), lange goldene Tische oder ein grosser Felsen (für Wagnerianer selbstverständlich: der Walkürenfelsen). Während das Publikum von vorne auf das Bühnenbild schaut, baut die Technik hinter den sichtbaren Wänden um, und wenn sich die Scheibe dreht, kommt dann z. B. der Baum in Sicht, und die Tische drehen aus der Sicht heraus.

Sie wundern sich jetzt wahrscheinlich darüber, dass ich über solch eine technische Banalität schreibe, und warten darauf, dass ich erwähne, dass Bäume, Felsen, Tische etc. tonnenschwer sind und mittels ausgefeiltester Raffinesse hinten leise von der Drehscheibe geschoben werden, während vorne auf der Bühne grade eine Arie hingehaucht wird. Genauso ist es zwar (lediglich am «leise» arbeiten wir grad noch, da haben die Bühnentechnik und der Regisseur noch unterschiedliche Auffassungen darüber, was «leise» bedeutet), aber um diese Raffinesse geht es nicht: Der wirkliche Bühnenzauber besteht darin, dass sich zum Ende des ersten Akts die Wände des Bühnenbildes plötzlich in der Mitte öffnen: Das Kreuz auf der Bühne teilt sich, die beiden Wände links und rechts schwingen wie Türflügel auf und geben den Blick auf die Hinterbühne frei, auf der die Baumstämme stehen und es schneit.

Das geht so, dass wir in die Wände pneumatische Heberollen eingebaut haben, die auf Hebeldruck Rollen nach unten ausfahren, und somit die Wände auf Rollen stehen und verschoben werden können. Natürlich heben sich die Wände nur wenige Millimeter, damit das Publikum das nicht mitbekommt. Damit die Wände sich nicht zu früh öffnen, sind in die Wandflügel starke Magnete eingebaut, die die Wände vor der Öffnung zusammenhalten. Auf Knopfdruck können die Maschinisten mittels Stromfluss die Magnete entmagnetisieren, und die Bühnentechnik öffnet dann die Wände gleich zwei grossen Türflügeln.

Die Verwandlungen im zweiten und dritten Aufzug sind noch komplexer: Zur Vorbereitung stellen wir die Wände wieder wie zu Beginn als «+» auf die Bühne. Dann schrauben wir zwei der vier aneinanderstossenden Wände zu einer langen Wand zusammen und verankern diese in der Drehscheibe. Dazu werden lange Schrauben durch die Unterkonstruktion der Wand und die Drehscheibe gesteckt und aus der Untermaschinerie fest mit der Drehscheibe verbunden.

Während des zweiten Aktes können wir nun in Deckung dieser langen Wand (leise!) Stützräder an der nach hinten stehenden Wand anbringen, per Hebeldruck nur diese Wand auf Rollen heben und nach hinten (leise!) wegrollen. Nun sind noch drei Wände auf der Scheibe, von denen zwei unsere lange feste Wand bilden, während die dritte senkrecht dazu steht und von der langen Wand gestützt wird. Nach einer 180° Drehung der Scheibe kann die Technik auch diese Wand mit Stützrädern versehen, sehr leise von der langen Wand lösen und nach hinten wegfahren.

Bei der nächsten Drehung ist nur noch eine sieben Meter hohe, frei stehende Wand auf der Scheibe: Eine komplexe Aufgabe wurde raffiniert gelöst. Ich musste darüber schreiben, sonst merkt es niemand, und das wäre ein Jammer!

Sebastian Bogatu ist Technischer Direktor am Opernhaus Zürich

Neununddreissig Jahre ist er alt, vierunddreissig Bühnenwerke hat er schon geschaffen. Stand heute. Zu Beginn seiner Karriere gewann er so ziemlich jeden ChoreografieWettbewerb, den es zu gewinnen gab: in Kopenhagen, Hannover, Madrid, Gran Canaria. Aber dennoch erfährt man über ihn fast nichts: Marcos Morau, Jahrgang 1982, aufgewachsen in Valencia, studierte in Barcelona und New York. Dabei ist er heute ein ShootingStar mit Auftragsbüchern, gefüllt für die kommenden drei Jahre. Es findet sich allein ein altes Interview aus der Zeit, als er 2013 den Spanischen Nationalpreis gewann, damals als Jüngster unter den je von der Regierung in Madrid Geehrten. Da war er 31 Jahre alt.

In Wahrheit ist der Mensch Marcos Morau absolut zugänglich, neugierig und hellwach. Als wir uns treffen, trägt er ein blaues Fussballshirt der französischen Nationalelf, ausgerechnet der Spanier – der in Katalonien lebt. Seine dort 2005 gegründete Compagnie heisst «La Veronal». Er nennt sie seine «Familie». Sie schützt ihn, und er schützt sie. 2013 war es, in einer Nacht nach der Aufführung eines Meisterwerks namens Siena. Da tafelte die Familie an langen RestaurantTischen in einer Gasse von Las Palmas de Gran Canaria. Im Teatro Cuyas hatte sie zuvor ihr surreales Stück als einen Krimi vor gigantischen Gemälden wie in einem Museum getanzt. Im Zentrum: eine nackte Frau, die Venus von Urbino, ein Werk des italienischen Renaissancemalers Tizian, auch wenn das Original in den Uffizien in Florenz hängt, nicht in Siena. Ihretwillen geschah ein Mordfall, die Stimmung liess an Vertigo von Hitchcock denken. Stählerne Leichenbahren trafen auf Frauen in grauen Fechtanzügen, die in weit ausladenden Schritten jede Menge choreografische Gewalt entwickelten, die auch ohne die aufwändige Bildwelt von Marcos Morau in den Bann gezogen hätte. Noch ahnte niemand, dass dieses Werk, Siena, der internationale Durchbruch sein würde. Hellerau, das Europäische Zentrum der Künste in Dresden, wurde damals als erste Institution im Ausland auf die Compagnie aufmerksam. Dass sich nur wenig Publikum im kanarischen Las Palmas zu ihrer Vorstellung verirrt hatte, schien die Familie kaum zu kümmern. Sie ass und trank in den Gassen der Inselstadt. Marcos Morau erklärte damals, ihm ginge es nicht so sehr um Geschichten, es ginge darum, «den Tanz zu nutzen, als das flüssigste Medium, das die Geschichten ins Schwimmen bringen kann». Und erzählte, wie sie überleben: Dass es der Wettbewerbszirkus sei, der ihnen das Weitermachen ermögliche. Bei den Wettbewerben der Choreografen sitzen immer auch die Theater und Festivaldirektor:innen in der Jury. Sie vergeben die Preise und entsprechende Aufträge, damit die Newcomer im Schutz und mit dem Geld der Compagnien neue Werke schaffen können.

Marcos Morau hatte damals einen Mentor: Cesc Casadesús. Heute ist er Leiter des «Grec Festival» in Barcelona, zu jener Zeit war er der Direktor des einzigen spanischen Tanzhauses, des dortigen Mercat de les Flors, des alten Blumenmarkts. Casadesús erlebte Morau als Studenten am Institut del Teatre de Barcelona. Er sah den Eigensinn des angehenden Choreografen, der gerade aus New York zurückgekehrt war. Ein halbes Jahr lang hatte er dort ausgeharrt, im Tanzlabor «Movement Research» in Greenwich, einer Instanz, die sich der Geschichte des postmodernen Tanzes im eigenen Land widmete. «Ich war lange nach dem Anschlag auf die Twin Towers da, drei Jahre später, aber alle waren nur noch mit Merce Cunningham oder Bill T. Jones beschäftigt, mit dem eigenen Tanzerbe. Ich fühlte, die Stadt lebte bloss noch im Damals. Ich wollte aber Zukunft – in dieser Stadt, von der man immer glaubte, das sie die Zukunft repräsentiert.»

Sie tat es nicht mehr. Barcelona ist heute die Stadt der Zukunft, diese zunehmend selbstbewusster werdende katalanische Metropole mit eigener Sprache und einem ähnlichen Nationalismus, wie ihn Frankreich besitzt: «‹Catalunya first› heisst es hier», sagt Morau, der wie ein Fremder kam, «als eine Null», wie er sich erinnert, aufgewachsen im 300 Kilometer südlich gelegenen Valencia mit seiner deutlich kleineren Kunstszene. Dort studierte er am Conservatorio Superior de Danza, gab aber bald den Glauben auf, je ein guter Balletttänzer werden zu können.

Bewegung fasziniert ihn seit Kindesbeinen an. Bewegung ist der Motor, der die Welt, die Sinne, die Körper definiert. Ohne Bewegung ist die Welt nicht Welt. Auch Lesen ist Bewegung, Musik, Film, und natürlich ist es der Tanz. Tanz ist für ihn die erste Kunst, die einen aus den als unbeweglich gedachten Gesetzen, Schriften und SinnZuschreibungen befreit. Morau sagt das, weil er – der Choreograf – in Barcelona auch das Geschäft des Dramaturgen erlernte, an der Universidad Pompeu Fabra. Da ging es um die Idee, einen Text durch den Akt des Lesens zu verflüssigen, ihn mit Assoziationen und Fantasien in Bewegung zu setzen. Damals ging es um Harold Pinter und William Shakespeare, nicht um Tanz. Aber der Akt des Lesens, sich etwas in Bewegung vorzustellen, eine Landschaft, einen Dialog, eine Stimmung, ist das, was auch ein Film zeigt, der sich aus einer Unzahl von Bildern zusammensetzt, bewegte Bildende Kunst sozusagen.

Für den damals üblichen Zeitgeist des «Anything goes» gab es folglich keine Spartengrenzen mehr. Das Zentrum wurde die Bewegung selbst. «Bewegung», so sagte der Choreograf vor Jahren, «kennt keine Grenzen.» Eine sich begrenzende Tanztechnik um der Technik willen, das gehe für ihn gar nicht. «Ich sage zu den Tänzerinnen und Tänzern oft, dass wir nicht Opfer unserer eigenen Technik sein dürfen. Wir müssen Türen öffnen, um zu sehen, wie die Dinge am Ende miteinander in Beziehung stehen. Ich sage meinen Tänzerinnen und Tänzern, dass wir uns in einem Korridor voller offener Türen befinden, von denen wir keine einzige schliessen werden – selbst am Tag vor der Premiere sind einige offen.»

Ganz glauben muss man ihm das nicht. In Wahrheit ist Marcos Morau ein sehr weit vorausschauender Ingenieur seiner Stücke, ein Konstrukteur, der stets mit einer bereits deutlich entwickelten Idee auf die Proben kommt und wie ein Architekt die Gründe für jede Bewegung, jeden Lichtstand, jedes Bühnenrequisit genau vor Augen hat. Sein Team, seine Familie, seine Freunde, wie er sie abwechselnd nennt, «La Veronal», ist kein Kollektiv, wie manche meinen. Es ist eine Versammlung von Spezialistinnen und Spezialisten, die gemeinsam der Vision

dieses Choreografen folgt, der in sich schlüssige, mitunter auch in sich selbst verschlossene, immer aber starke Bilder schafft.

Natürlich wird er nicht müde, seine Mitstreiter zu loben. Seine Tänzerinnen und Tänzer sind es, die seine Stücke weitergeben oder die bei einer Neuproduktion zu Gast bei einer anderen Compagnie die Prinzipien seiner Arbeit weiterreichen. Es geht ihm um das Können, Geschichten zu erzählen, ohne eine Geschichte nachzubuchstabieren, eine Handlung zu suggerieren, ohne sie zu zeigen oder sich einen Ort vorzustellen, ohne ihn zu benennen. Bis Siena, bis zu seinem Durchbruch in «Nordeuropa» – so nennt er unsere Hemisphäre – hiessen fast alle Stücke nach einem Ort: Nippon-Koku spielte auf das faschistische Regime in Japan zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs an, Russia, Bologna Pasolini oder Tundra, Islandia, Moscow, København oder Portland, so hiessen seine Werke zu Beginn, buchstäbliche Traumreisen, die «dich an einen Ort nahe der Realität versetzen, der aber nicht wirklich real ist», wie er heute sagt. Es folgte eine Phase mit Werken, die immer deutlicher auf bildende Künstler Bezug nahmen. Nach Picasso war es vor allem Voronia. Hier stand Luis Buñuels Würgeengel Pate. In dessen Setting schienen die Tänzer:innen wie Avatare im Nirwana der Simulation und in einer unabsehbaren Logik von Computeranimationen verloren zu gehen. Es gab Edvard – als eine Arbeit für die norwegische Compagnie «Carte Blanche»: als eine Hommage an Edvard Munch, des von den okkupierenden Nazis in Oslo 1940 isolierten Malers, der in Zwangsjacke in seinen eigenen Bildern wiederaufersteht, in einem vom Munch selbst so genannten Kristallreich aus Schrecken und Tod. Dann, in Göteborg, entstand für die dortige Compagnie ein sehr typisches Werk von Marcos Morau, ein komplex inszeniertes Musterbeispiel für seine Bühnenkunst: Rothko Chapel. Gemeint ist eine 1971, nach dem Freitod des Malers Mark Rothko, im texanischen Houston errichtete Kapelle ohne Religion. Die fünf blau schimmernden Werke dieses Meisters der Abstraktion haben die Fähigkeit, auf einen Schlag ihr Blau zu verlieren und tiefschwarz gähnende Löcher zu werden. Als zwei beleibte USTouristen den Bühnenraum betreten, stürzt eines der Riesengemälde um. In Anspielung auf Flüchtlinge geht es Morau in diesem Werk um die Heimatlosigkeit der Kunst, ihre bilderstürmerische Vertreibung aus der Religion. Das Ensemble gibt im Blaumann den Diener der Kunst, als eine Horde Schimpansen das Museum erobert. Die Ignoranten der Kunst seien die wahren Bilderstürmer. Es folgt ein Auftritt von Mönchen, der byzantinische Bilderstreit des 8. Jahrhunderts: Sturm auf die Ikonen, Verbot der Darstellung Gottes, die Trennung von der Ostkirche. Ohne Angst vor islamisch wirkender Ornamentik tauchen die Tanzenden tief ein in die Anfänge der abstrakten Kunst, hier von Mark Rothko.

So klug, ohne Zeigefinger, im dramaturgischen Furor und zugleich choreografisch exakt bis in die Zehenspitzen arbeitet Marcus Morau. Zuletzt, nach Le Surréalisme au service de la révolution für das Ballet de Lorraine, entstand eine weitere Hommage an Luis Buñuel, das Werk Sonoma: eine Lustbarkeit zwischen Schmerz und Befreiung mit strenger Flamenco Ordnung und wildfantastischer Kombinatorik, die höchste

Ich sage meinen Tänzerinnen und Tänzern, dass wir uns in einem Korridor voller offener Türen befinden, von denen wir keine einzige schliessen werden.

tänzerische Fähigkeiten verlangt: Nie wiederholt sich ein Schritt, nie ein Gedanke, nie eine Geste. Eine solche Material und Schrittfülle muss eine Tänzerin sich erst einmal merken können, zumal auch die Logik des Schritts, ganz in Sinne des Surrealismus, jederzeit selbst ihrer eigenen Logik auszuweichen sucht. Von einer sich bedrohlich herabsenkenden Zimmerdecke geht die Reise in Sonoma zu einem Sarg. Tänzerinnen mit riesigen Blumengestecken im Haar heben davor vielstimmig ihren chorischen Gesang an. Man hört Unheimliches vom Gelobten Land, dem Schwert des Damokles, dem Schlüssel zu allen Türen, die für immer geschlossen bleiben. Diese stets ins Surreale gewendete Märchenwelt speist sich letztlich aus jener romantischen Quelle, aus der er auch für sein jüngstes Werk, Nachtträume für das Ballett Zürich, schöpfen wird.

Marcos Morau achtet bei alledem vor allem auf eins: auf seinen Stil. «Sieht man nur eine Minute lang ein Stück von Pina Bausch, William Forsythe oder Merce Cunningham, dann weiss man sofort, das ist eine Bausch, ein Forsythe, ein Cunningham.» Das soll bei ihm nicht anders sein.

Bilder sind das, was der Tanz aus einer Bewegung heraus zeigen kann. Bewegung geht immer von einem Körper aus. Morau sagt das als ein Bildschöpfer, dessen zweite Liebe kaum einer kennt: Er ist Fotograf aus Leidenschaft, wie sein Grossvater einer war, der noch mit schweren Bildplatten, Gelatine und Fixierbad hantierte. Das Atelier voller Fotografien faszinierte den Jungen schon in seiner Kindheit. Er kommt aus keiner Künstlerfamilie. Nur der Grossvater hatte diese Ader, die er, laut seiner Mutter, schon früh auch in sich selbst verspürte: die Liebe zur Komposition, die Hoffnung, den besten Moment, den richtigen Blick zu erhaschen, die ästhetische Lust an Balancen, Farbgebung und Bildkomposition. Auch wenn er sagt, er fotografiere nicht mehr, stammen doch viele der Plakatmotive von «La Veronal» aus seiner Kamera. Auch der Zeichenstift gehört zu seinem Werkzeug. Jeder Entwurf, jede Bühnen und Kostümskizze stammen von ihm selber. Das Bild ist sein Medium, das er nicht in Öl, sondern dreidimensional und in Bewegung realisiert. Unter den zeitgenössischen Choreografen ist Morau der Maler. Weder eine Grundierung noch ein Rahmen sind entscheidend für seine tanzenden Gemälde. Sie beruhen auf genauer architektonischer Planung und dem Können, mit Tanz die Statik an ihre Grenzen zu führen. Eine riskante Komposition – gemacht, um die Bildkraft seines Theaters so zu stützen, dass das tanzende Gebäude wie gemeisselt in sich selber ruht.

Im Traum ist alles möglich

Das neue Stück «Nachtträume» von Marcos Morau lässt sich nicht auf eine Geschichte, eine künstlerische Vorlage, ein Thema und erst recht nicht auf einen Ballett-Stil festlegen. Der spanische Choreograf liebt die Multiperspektive. Ein Gespräch über das Denken und die Quellen, die seine Arbeit prägen

Marcos, mit deiner in Barcelona beheimateten Compagnie «La Veronal» bist du ein gefeierter Gast auf den grossen internationalen Tanzfestivals. Warum hast du deiner Compagnie den Namen eines Schlafmittels gegeben?

Dieser Name hat mit meiner Verehrung für Virginia Woolf zu tun. Ihre Art zu denken, die Art, wie sie Realität und Fiktion verbindet, begeistert mich immer aufs Neue. In Woolfs Biografie habe ich gelesen, dass sie mehrmals versucht hat, sich mit Veronal das Leben zu nehmen. Seinen Namen verdankt das Medikament einer wirklich verrückten Geschichte. Einer der Erfinder hatte das Mittel auf einer Zugreise an sich selbst ausprobiert und war nicht, wie geplant, in Basel, sondern in Verona angekommen. Er hatte durchgeschlafen! Städte und andere geografische Orte spielen in vielen meiner Stücke eine grosse Rolle, und es gibt in ihnen auch immer solche unerwarteten Wendungen. Kunst ist für mich keine Reproduktion des Lebens, sondern findet auf einer völlig anderen Ebene statt. So wie Veronal eine veränderte Wahrnehmung der Realität hervorruft, versuche ich in meinen Produktionen ebenfalls, die Wirklichkeit aus verschiedenen Perspektiven und Bewusstseinszuständen heraus zu reflektieren.

In den begeisterten Kritiken über «La Veronal» taucht immer wieder das Wort «Interdisziplinarität» auf. Das klingt schön, aber wie funktioniert das in der Praxis?

Für mich klingt dieses Wort inzwischen ein bisschen altmodisch, weil die Grenzen in der Kunst heute wirklich fliessend sind. Es spielt keine Rolle, ob man Tanz, Theater oder Oper, bildende oder performative Kunst macht. Am Ende geht alles ineinander über und kommt zusammen. Ich selbst bin kein Tänzer, weder ein professioneller noch ein nicht-professioneller. Ich widme mich dieser Aufgabe, ohne selbst Tanzerfahrung zu haben, aber das hindert mich nicht daran, die Tänzer zu führen und anzuleiten. Ich komme eher von der Fotografie und vom Theater. Die Bühne betrachte ich als einen Ort, wo alles miteinander im Konflikt steht. Dabei bin ich sehr wählerisch. Ich versuche, Bilder zu kreieren, die sich nach und nach mit einer Idee verbinden, allerdings nicht im Sinne eines konventionellen Tanzstücks. Ehrlich gesagt, fühle ich mich nicht als interdisziplinärer Künstler, sondern viel mehr als ein interdisziplinärer Mensch, der sich für die unterschiedlichsten Dinge begeistert. Das Theater ist für mich keine Insel, sondern steht in Zusammenhang mit einer Welt, die sich in ständiger Veränderung befindet. Das bedeutet

nichts anderes, als dass alles möglich ist und dass ich mit meinen Ideen mein eigenes Universum erschaffen kann. «Der einzige Weg, meine Ängste loszuwerden, ist, Filme über sie zu machen.» So hat es Alfred Hitchcock einmal formuliert. Mit meinen Stücken geht es mir ähnlich.

Zum ersten Mal arbeitest du jetzt mit dem Ballett Zürich zusammen. Das ist eine Compagnie, die sich nicht nur in ihrer Stärke und Zusammensetzung, sondern auch in ihrer stilistischen Ausrichtung sehr von «La Veronal» unterscheidet. Welchen Einfluss hat das auf dein neues Stück?

Die Arbeit mit anderen Tänzerinnen und Tänzern eröffnet mir immer neue Wege der Kommunikation, es ist eine Herausforderung. Als Christian Spuck mich anrief, um mir ein neues Stück für das Ballett Zürich anzubieten, habe ich zugesagt. Ich mag es, mich in neue Dimensionen hineinzuversetzen und zu sehen, wie mein Team und ich mit Menschen zusammenzuarbeiten, die ihren Körper anders nutzen, weil sie einen anderen Hintergrund haben. Wie mutig werden sie, aber wie mutig werde auch ich selbst sein, sich einem Konflikt mit dem eigenen Körper und einer vertrauten Arbeitsweise auszuliefern? Für mich sind solche Herausforderungen die einzige Möglichkeit, um zu wachsen und mich zu verändern – das Scheitern inbegriffen. Die Arbeit mit einer grossen, neoklassisch geprägten Ballettcompagnie an einem Ort wie dem Opernhaus Zürich ist da schon etwas Besonderes, auch bei einem Publikum, das an diesem Ort der Hochkultur mit bestimmten Erwartungen in die Vorstellung kommt. Mir geht es nicht darum, Erwartungshaltungen zu bedienen. Ich möchte mit meiner Zeit und meiner Gegenwart in einen Dialog treten und dabei hoffentlich eingefahrene Sichtweisen hinterfragen und verändern.

Dein Stück trägt den Titel Nachtträume. Wovon handelt es?

Den Titel eines Stücks lege ich immer im Voraus fest. Er fungiert für mich als eine Art Leuchtturm im kreativen Prozess, in dessen Verlauf man in verschiedenste und manchmal auch völlig entlegene Dimensionen eintaucht. Träume sind auch in meinen Arbeiten mit «La Veronal» immer ein grosses Thema. In den Träumen ist alles möglich, die Welt kann auf dem Kopf stehen. Die Nacht ist der magische Ort, an dem die grossen Dinge passieren und die Intensität des Lebens zum Vorschein kommt. In Nachtträume setze ich mich mit dem Begriff der Macht auseinander. Welche Rolle spielt sie in den unterschiedlichen Bereichen des Lebens? Wie erfahren wir sie als Gesellschaft, als Liebende, als Politik, als Religion? Bezugspunkt ist mir dabei ein legendäres Stück von Kurt Jooss. Sein Ballett Der grüne Tisch wurde 1932 am Théâtre des Champs-Élysées in Paris uraufgeführt und gilt bis heute als ein Meilenstein in der Geschichte des Tanztheaters. Den Ersten Weltkrieg hatte der deutsche Choreograf seinerzeit als Totentanz dargestellt. Darin erschienen die Tänzerinnen und Tänzer als Typen, die anonymen Mächten ausgeliefert sind. Mächten, die am grünen Tisch über das Schicksal von Millionen entscheiden und zugleich jedes individuelle Schicksal negieren. Aus heutiger Sicht mag die Ästhetik des Stücks vielleicht skurril anmuten, aber seine Essenz finde ich hochaktuell. Es spricht von dem, was unter der Oberfläche einer Gesellschaft brodelt. Auf sehr hintergründige Weise erzählt Joos vom Schmerz der Realität zwischen den beiden Weltkriegen. Auf den ersten Blick denkt man an einen Witz oder an eine Parodie, doch darunter verbergen sich Abgründe. Die Themen, die Kurt Joos 1932 verhandelte, haben auch neunzig Jahre später nichts von ihrer Aktualität verloren.

Wer sind die Menschen, denen wir in deinem Stück begegnen?

In einer kabarettartigen, gelegentlich an Stummfilme erinnernden Atmosphäre werden die Tänzerinnen und Tänzer mit verschiedenen Ausprägungen von Macht konfrontiert. Es ist wie ein Tanz auf dem Vulkan, während draussen die Welt

untergeht. Die Individualität der Protagonisten ist aufgehoben. Sie agieren marionettengleich und geraten in die unterschiedlichsten Situationen und Konflikte. Immer geht es um die Frage: Wer ist oben, wer ist unten? Wer steht im Licht, wer ist im Schatten? Wer ist die Marionette, wer zieht die Fäden? In Nachtträume ist es eine geheimnisvolle Königin, die zu einer grotesk-bizarren Party des Lebens lädt. Die Gäste lassen sich von ihr willig unterwerfen. Warum tun sie das? Um dazuzugehören und sich nicht einsam zu fühlen? Wir haben uns heute daran gewöhnt, die Macht und die Mächtigen zu kritisieren und in Frage zu stellen. Aber brauchen wir bestimmte Machtstrukturen nicht auch als Gerüst für unser Leben?

Du hast «Nacht», «Träume» und «Macht» als die grossen Themen in deinem Stück benannt. Wie verbindest du sie zu einem Ganzen, wie verläuft der Entstehungsprozess eines solchen Stücks?

Ähnlich wie im Kino arbeite ich mit einem Storyboard, einer Sammlung von Ideen und Bildern. Deren Anordnung variiere ich ständig, so dass ich den Spannungsbau und den Rhythmus des Stückes bis zur letzten Minute optimieren kann. Ich versuche, das Publikum über verschiedene Kanäle zu erreichen. Dabei ist das Bild wichtiger als Worte. Texte spielen zwar auch eine Rolle, aber ich benutze sie nicht konkret, sondern als parallele Möglichkeit, die Imagination des Publikums anzuregen. Die Art, wie man mit den Bildern spielt, ist für mich das alles Ent scheidende. Wie viel Harmonie möchte ich haben? Wie komponiere ich Situationen? In welchem Verhältnis stehen Schönheit und Dunkelheit? Wie lasse ich ein Fest entstehen, was brauche ich für das Chaos? Wie verleihe ich den lustig-bizarren Traumelementen das Gefühl von Dunkelheit und Verlorenheit, das mir vorschwebt? Die Magie des modernen Theaters besteht für mich darin, dass ich die Symbole und die Ikonografie eines Stückes beeinflussen und in eine Richtung lenken kann. Es ist ein Spiel mit der Wahrnehmung, es ist ein Spiel mit der Kontrolle der Bilder, der Kontrolle der Charaktere und ihres Verhaltens zueinander. Ich möchte, dass man sich in diese Figuren verliebt, auch weil sie mit ihrer Eleganz, ihrer Schönheit und ihrer Abgründigkeit unser Mitgefühl erregen.

Du hast den Grünen Tisch von Kurt Jooss erwähnt. Auch das Bühnenbild von Max Glaenzel nimmt diese Verbindung auf. Ein Grossteil des Geschehens spielt sich an, auf und unter einem riesigen, runden Tisch ab. Welche Verbindungen zum Stück von Kurt Jooss gibt es sonst noch?

Als Künstler habe ich die Verantwortung, darüber Bescheid zu wissen, was frühere Künstlergenerationen an Grossartigem hervorgebracht haben. Im Falle von Kurt Jooss ermöglicht mir die zeitliche Nähe zum 20. Jahrhundert, nach Parallelen zu suchen und die Fragen von damals auf das Heute anzuwenden. Dennoch ist Nachtträume nicht als Fortsetzung oder eine Art zweiter Teil des Grünen Tisches gedacht. Ich bin mir nicht sicher, ob Kurt Jooss sich beim Kreieren der politischen Brisanz und Tragweite seines Stücks bewusst war. Beim heutigen Blick auf die Geschichte und auf das, was sich im Nachklang dieses Stückes ereignet hat, scheint uns Der grüne Tisch in seiner Radikalität fast wie eine Art Prophezeiung. Andererseits kann Kunst die Dinge nicht verändern. In den letzten 20, 30, 40 Jahren gab es so viele Provokationen, und wer spricht heute noch darüber? Jooss’ Radikalität möchte ich in die Welt von Nachtträume übernehmen, um so hoffentlich eine Reflexion unserer Zeit zu erzeugen.

Die Musik von Nachtträume stammt von der aus Barcelona stammenden Komponistin Clara Aguilar. Aber es gibt noch weitere Kompositionen, wie zum Beispiel Nacht und Träume, eines der berühmtesten Lieder von Franz Schubert. Wie integriert ihr solch ein Lied in euer musikalisches Konzept?

Clara und ich entwickeln einen Soundtrack, der auf den ersten Blick ganz unterschiedliche und gegensätzliche Nummern enthält. Aber sowie es Verbindungen auf

der musikalischen oder textlichen Ebene oder in der Intention gibt, kann ein Schubert-Lied ohne Probleme neben einem Song von Kurt Weill stehen. Wir versuchen mit der Musik zu spielen, ihre Eleganz und Raffinesse in unsere Zeit zu transportieren. Das passiert niemals völlig digital, oft gibt es ein Blas- oder ein Streichinstrument als Brücke in die Vergangenheit, die wir als solche aber nicht rekonstruieren oder kopieren wollen. Wenn unsere Königin das Schubert-Lied auf ihrem Fest anstimmt, erscheint es in völlig neuem Licht, fast wie eine Parodie. Andere Teile der Musik beschwören die Atmosphäre von Kabarett und Music Hall herauf. Darüber hinaus gibt es verschiedene Texte, wie zum Beispiel einen Monolog aus Calderón de la Barcas berühmtem Stück La vida es sueño (Das Leben ein Traum).

Erstmals sind die Tänzerinnen und Tänzer des Balletts Zürich mit der Bewegungssprache von Marcos Morau konfrontiert. Was zeichnet diesen Bewegungsstil aus?

Ja, wie soll ich ihn beschreiben? Er ist sehr schnell, sehr bizarr, sehr hektisch, präzise, isoliert. Er ist unorganisch, voller Kontraste und voller Rhythmuswechsel. Für die Zürcher Tänzerinnen und Tänzer ist er sehr komplex. Sie kommen aus einer Tradition, in der die Harmonie, die fliessende Bewegung ein hohes Ideal darstellt. Ich möchte genau das Gegenteil. Deshalb bin ich sehr froh, wie diese Compagnie sich gerade auf diese Herausforderung einlässt.

In den Proben meint man tatsächlich zu sehen, wie konzentriert die Gehirne der Tänzerinnen und Tänzer arbeiten, um sich die komplizierten und ständig variierten MorauBewegungsabläufe zu merken. Du hast selbst nie professionell getanzt. Aus welchen Quellen schöpft dein Bewegungsvokabular?

Schon in meiner Schulzeit habe ich Bewegung und Tanz geliebt. Ich war ständig im Theater, um mir Tanzproduktionen anzusehen. Dann habe ich angefangen, an einer spanischen Universität Choreografie zu studieren. Anders als meine Kommilitoninnen und Kommilitonen war ich kein Tänzer, aber sie haben mich dennoch akzeptiert. Mit ihnen habe ich meine choreografische Sprache erfunden, ich habe die unterschiedlichsten Dinge mit ihnen ausprobiert. Den Tanz an sich habe ich mit ganz klarem Bezug auf seine Theorie und Geschichte studiert. Nach und nach wurde mir klar, wie man mit Tanz kommuniziert, wie sich bestimmte Qualitäten mit Bewegung ausdrücken lassen. Ich weiss da sehr genau, was ich will und wie das Bild des Körpers aussieht, das ich erzeugen möchte. Es waren vor allem drei Choreografen, die mich beeindruckt und geprägt haben: Bob Fosse, der sich nicht nur als Choreograf, sondern auch Musical- und Filmregisseur, u. a. von Cabaret, einen Namen gemacht hat, William Forsythe und schliesslich der in London lebende Australier Lloyd Newson, der Gründer des DV8 Physical Theatre. Von ihnen habe ich Präzision und Kontrolle gelernt. Dass eine Bewegung hochauflösend ist, dass man sieht, wo sie beginnt und wo sie endet. Und dass alles messerscharf und sehr sauber sein muss. Dabei mag ich es nicht, Emotionen und Formen zu vermischen. Ich kreiere nicht aus Gefühlen heraus. Ich erschaffe aus Formen, aus Spannungen, aus Geschwindigkeit, aus den Eigenschaften und Obsessionen, die die Tänzerinnen und Tänzer haben.

Welche Fähigkeiten und Qualitäten wünschst du dir von ihnen?

Die Frage stelle ich mir selbst immer wieder, weil sich diese Qualitäten auf zwei Ebenen beziehen: den Körper und den Geist. Da geht es um Schnelligkeit, Präzision und Agilität. Aber es geht auch um Offenheit, Intuition, Sensibilität. Gerade bei so einer Produktion wie hier in Zürich, für die man zwei Monate Zeit hat und im Grunde bei null anfängt, müssen die Koordinaten stimmen. Ich versuche immer, mit meinen Tänzerinnen und Tänzern in ein Gleichgewicht zu kommen, ihnen das Gefühl zu vermitteln, dass wir auf der Grundlage ihrer Mittel und Fähigkeiten an einem gemeinsamen Ziel ankommen werden. Ich begreife mich da nicht nur als Choreograf, sondern auch als Coach. Deshalb beginne ich meine Zusammenarbeit auch mit Workshops, bei denen ich die Tänzerinnen und Tänzer kennenlerne, erfahre, wie sie ticken, wie sie sich bewegen und fühlen.

Du hast von den Bildern in Nachtträume gesprochen. Wie verbinden sie sich mit dem riesigen Reservoir von Bildern, das jeder im Publikum in seinem Unterbewusstsein mit sich herumträgt?

Auch wenn es in Nachtträume keine «Story» im eigentlichen Sinne gibt, ist dennoch nichts dem Zufall überlassen. Alles, was man sieht, geschieht mit Absicht: Diktatur, Gesellschaft, Krisen, Revolution, Autoritäten, Manipulation. Da kommen viele Welten zusammen. Aber es geht mir in diesem Stück nicht darum, eine Geschichte zu erzählen. Es ist eine Landschaft, die sich eröffnet und die jeder mit den eigenen Träumen verbinden und mit Leben erfüllen kann.

Das Gespräch führte Michael Küster

Nachtträume Ein Stück von Marcos Morau

Choreografie Marcos Morau Bühnenbild Max Glaenzel Kostüme Silvia Delagneau Musik Clara Aguilar, Franz Schubert, Sergej Rachmaninow u.a. Lichtgestaltung Martin Gebhardt Dramaturgie Israel Solà, Michael Küster Choreografische Assistenz Lorena Nogal, Shay Partush, Marina Rodriguez

Uraufführung 30 Sep 2022 Weitere Vorstellungen 4, 9, 14, 16, 20, 21, 28 Okt; 10, 15 Nov 2022

Partner Ballett Zürich

ab

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