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Ich sage es mal so – 4, Opernhaus aktuell – 6, Drei Fragen an Andreas Homoki
Nachhaltige Stabilität
Herr Homoki, das Opernhaus hat einen Immobilienkauf getätigt. Wie kam es dazu und was steht dahinter?
Es handelt sich um unseren Orchesterprobenraum am Kreuzplatz. Der ist für unsere künstlerische Arbeit von zentraler Bedeutung, denn dort werden alle Werke musikalisch erarbeitet, bevor sie ins Opernhaus kommen. Dort probt unsere Philharmonia Zürich, dort finden auch Chorproben statt, und dort werden in den sogenannten Sitzproben, Orchester, Chor und Sängerensemble unter der Leitung des jeweiligen Dirigenten musikalisch zusammengeführt. Der Raum muss deshalb Platz für sehr viele Menschen bieten, alleine unser Orchester besteht ja aus über hundert Musikerinnen und Musikern. Er muss gut klingen, gut erreichbar und gut erschlossen sein, und er sollte in der Nähe des Opernhauses liegen. Das Gebäude am Kreuzplatz erfüllt all diese Bedingungen auf geradezu ideale Weise. Die Gehdistanz zum Opernhaus beträgt nur fünf Minuten. Über viele Jahre hinweg waren wir Mieter des Gebäudes. Jetzt konnten wir es kaufen. Seit Oktober ist es in den Besitz der Opernhaus Zürich AG übergegangen. Bisherige Eigentümerin war eine Kirche, zu der wir als Mieter immer eine sehr freundschaftliche Beziehung gepflegt haben. Die Realisierung dieses Kaufes ist eine gute Nachricht für das Opernhaus, denn nun sind die Arbeitsbedingungen für unser Orchester langfristig gesichert. Nachhaltige Rahmenbedingungen für die Zukunft des Opernhauses zu schaffen, ist meinem Direktionsteam und mir ein wichtiges Anliegen. Mit dem Kauf des Orchesterprobenraums hinterlassen wir dem Haus und zukünftigen Direktionen nun ein bleibendes Erbe.
Was können Sie zur Finanzierung dieses Projekts sagen?
Wir haben diesen Kauf aus Reserven finanziert, die wir vor der Corona Pandemie aufgebaut haben. Mit dem erworbenen Orchesterprobenraum ist die Opernhaus Zürich AG nun Eigentümerin fast aller Gebäude: Sie besitzt das Theater, den Erweiterungsbau, im Volksmund Fleischkäse genannt, die Werkstätten, die Probebühnen und das Ausstattungslager Kügeliloo. Das Einzige, was wir jetzt noch mieten, sind die Appartements für Künstlerinnen und Künstler und Büroräume in der Dufourstrasse.
Welche langfristigen Chancen eröffnet der Kauf am Kreuzplatz dem Opernhaus?
Wie gesagt, er schafft nachhaltige Stabilität der Arbeitsbedingungen in einem weiteren wichtigen Bereich. Wir haben das EigentümerMieterverhältnis mit unsern Partnern von der Kirche umgedreht. Die Kirche ist jetzt für eine Dauer von maximal sieben Jahren bei uns eingemietet. Das bedeutet, dass wir danach, über den eigentlichen Orchesterprobenraum hinaus, weitere Räumlichkeiten in der Nähe zum Opernhaus erhalten. Das ist für uns ebenfalls sehr wichtig, weil wir ja grundsätzlich hinter den Kulissen aus allen Nähten platzen und mit schwerwiegenden Raumproblemen zu kämpfen haben, was jeder schon alleine daran erkennen kann, dass wir wertvolle Dekorationen auf der Strasse im Freien lagern müssen. Eine von vielen Abteilungen, die unter unserer Raumnot stark leidet, ist beispielsweise die Theaterpädagogik. Wir haben da ein tolles Team und ein tolles Angebot, aber die Möglichkeiten, Workshops und kleine Produktionen zu zeigen, sind durch fehlende Räume stark eingeschränkt. Allein die Bedürfnisse dieser Abteilung lassen erkennen, wie wertvoll dieser Immobilienkauf für das Opernhaus in vielerlei Hinsicht ist.
Alice und die Zaubertricks
In unsere neue Familienoper Alice im Wunderland haben wir so viele Tricks eingebaut, dass ich sie auf dieser Seite nicht alle schildern kann. Ich habe auch kurz überlegt, ob meine Erklärungen diesen Tricks den Zauber nehmen – aber ich bin überzeugt, dass das Gegenteil der Fall ist: Sie werden davon bezaubert sein!
Die Zaubershow fängt damit an, dass ein Stofftier in eine Waschmaschine gesteckt wird und die Waschmaschine zu wackeln und zu schäumen anfängt. Das Wackeln macht der Schauspieler, der in der Waschmaschine versteckt ist, der Schaum kommt aus dem Schlauch einer Schaummaschine. Dann Nebel und noch mehr Schaum: Die Vorderwand der Waschmaschine platzt auf und der Schauspieler im Kaninchenkostüm krabbelt heraus. Die Drehscheibe dreht und das Kaninchen rennt gegen eine Wand, bricht hindurch und ist weg: In die Wand haben wir vorher schon ein grosses Loch gemacht, das nur mit Papier in Wandfarbe verschlossen ist und vom Kaninchen einfach zerstört wird. Alice geht ebenfalls durch das Loch und fliegt gleichzeitig von der anderen Seite oben ins Bild: Das ist ein Double, gleiche Grösse, gleiches Kostüm, gleiches Make-up. Die Artistin hängt an zwei Seilen und kann sich so recht frei bewegen und Saltos machen. Mit unserer Obermaschinerie bewegen wir sie hin und her, hoch und runter. Während sie schwebt, fliegen Papiere vom Boden nach oben. Diese sind eine Projektion auf einen hauchdünnen, durchsichtigen Stoff, den wir zwischen Zuschauerraum und Bühne gespannt haben.
Im Hintergrund fliegt vom Boden eine Standuhr mit Pendeluhrwerk die Wand hoch. Diese Uhr ist keine Projektion, sondern wirklich vorhanden. Sie wird seitlich in einer Schiene geführt, die wie eine Säule verkleidet ist. In der Säule sind auch die Seile, mit der die Uhr hochgezogen wird – das Seil geht oben über eine Umlenkrolle und hinter dem Bühnenbild wieder zum Boden, wo sie von Technikern gezogen wird. Die gleiche Lösung haben wir für das Gemälde, das ebenfalls plötzlich anfängt an der Wand hochzufliegen. Wenn sich alles beruhigt hat, taucht das Kaninchen wieder auf und verschwindet durch eine Tür, hinter der man in einen wunderschönen Garten sehen kann. Kaum öffnet Alice diese Türe, ist dort eine zweite, kleinere Türe. Dahinter die nächste. Und die nächste und nächste… bis zu einer Türe, die so klein ist, dass Alice nicht hindurchpasst: Diese Türen sind dicht hintereinander auf einem Wagen montiert und wurden blitzschnell, nachdem das Kaninchen durch die erste Türe durch ist, dorthin gestellt. Genauso schnell verschwinden sie dann wieder, nachdem Alice einen Zaubertrank aus einer Flasche getrunken hat, die ihr von einem an einer Wand hängenden Mantel gereicht wurde. Ja, am Kleiderhaken hängt ein Regenmantel, und plötzlich kommt aus dem Ärmel eine Flasche, und dann hebt sich der Ärmel von Zauberhand und überreicht die Flasche und später noch ein Stück Kuchen und einen Regenschirm: Das geht ganz einfach, indem eine Person unsichtbar hinter der Wand steht und durch ein vom Mantel verdecktes Loch seinen Arm steckt. Ein simpler, aber genialer Effekt.
Ich bin noch nicht mal in der Pause angekommen – und schon viel zu weit unten auf dieser Seite. Der Platz reicht für die unzähligen weiteren Tricks nicht aus. Der schönste Zauber ist aber eine kleine kuschelige Wolke, die von oben hereingeschwebt kommt und aus der es auf den aufgespannten Schirm von Alice regnet. Und dass die Tafel im Schulzimmer immer dann, wenn Alice den Verkleinerungstrank getrunken hat, viel höher hängt, als wenn sie normal gross ist, hätten Sie ohne diesen Text sicher nie bemerkt.
Sebastian Bogatu ist Technischer Direktor am Opernhaus Zürich
Was machst du, Mann?
Am 4. Dezember hat die frühbarocke Oper «Eliogabalo» von Francesco Cavalli am Opernhaus Premiere. Sie poträtiert einen grausamen, sexgierigen römischen Herrscher, der aber auch weibliche Seiten in sich zeigte. Aus diesem Anlass haben wir mit dem Philosophen Philipp Hübl darüber gesprochen, was Männlichkeit heute ausmacht.
Fotos Danielle Liniger
David Hansen und Yuriy Mynenko
Eliogabalo ist in Cavallis Oper ein tyrannischer Herrscher, der die Erfüllung seiner eigenen Lust über alles stellt, Frauen am laufenden Band vergewaltigt und ihre Ehemänner umbringen lässt. Heute würde man das als einen besonders schweren Fall von toxischer Männlichkeit bezeichnen. Längst ist «toxische Männlichkeit» ein Modebegriff, ein ModeSchlagwort geworden; was genau ist eigentlich damit gemeint?
Ursprünglich sollte damit gesagt werden, dass es Extremformen gibt von männlicher Gewaltbereitschaft; einige wenige Männer sind Mörder und Vergewaltiger, die man in ihre Schranken weisen muss. Mittlerweile wird das Schlagwort aber häufig so verwendet, als sei der Mann an sich toxisch. Das stimmt nicht, denn die meisten Männer der Welt führen ein tugendhaftes Leben, vor allem in westlichen Industrieländern, in denen die Menschen so friedlich sind wie nie zuvor; die wenigsten Männer werden dort straffällig. Statistisch gesehen ist es allerdings so, dass fast alle Gewalttäter Männer sind, und diese Extremfälle stechen heraus. Toxisch heisst giftig, damit verbunden ist die Vorstellung, dass da etwas Giftiges, also Gefährliches lauert. Menschen als giftig zu bezeichnen, finde ich keine gute Idee.
Heute sind viele Männer verunsichert; viele der Werte, nach denen sie in ihrer Vergangenheit gelebt haben, scheinen veraltet. Wie würden Sie das traditionelle Bild von Männlichkeit beschreiben? Gehört das, was heute oft als toxisch bezeichnet wird, auch dazu?
Eine faszinierende Kulturentwicklung der letzten siebzig Jahre ist die sogenannte Feminisierung. Die Werte von Frauen sind weltweit relativ ähnlich: Sie wollen Gleichberechtigung, sie bevorzugen in der Kindererziehung Liebe statt Strenge, sie fordern, dass in der Politik Frauen genauso oft wie Männer das Sagen haben und dass man Konflikte nicht mit Gewalt löst, sondern mit Worten und im Einvernehmen. In feminisierten Kulturen wie Schweden oder Finnland haben sich die Männer dem stark angenähert. Doch in männlich geprägten Kulturen – im Extremfall autokratische Kulturen in der arabischen Welt zum Beispiel, oder in China und in einigen Ländern Afrikas –, muss der Mann stark sein; es geht im Alltag um Ehre, Dominanz und Strenge. In den industrialisierten Ländern, also den besonders feminisierten Ländern Nordeuropas, sind Männer viel offener, toleranter und auch fürsorglicher.
Wenn man über Männerbilder und typisch männliche Eigenschaften nachdenkt, ist man schnell bei der Frage, was von diesen vermeintlich typisch männlichen Eigenschaften – zum Beispiel Stärke und Männlichkeit – tatsächlich genetisch bedingt, also angeboren ist, und was davon anerzogen, also soziologisch bedingt.
Es gibt eine sehr starke Evidenz dafür, dass es angeborene Neigungen gibt. Die legen uns nicht zwingend fest, wir können dagegen angehen; aber es gibt weltweit Unterschiede zwischen Männern und Frauen. Männer reden insgesamt weniger als Frauen, sie fokussieren sich eher auf den Aussenbereich, Frauen eher auf den Innenbereich, Frauen sind deutlich mitfühlender als Männer, Männer haben ein höheres Aggressionspotential und sind sexuell viel triebhafter als Frauen. Das sind natürlich Stereotype; ein einzelner Mann, eine einzelne Frau mag nicht so sein. Es kann eine sehr aggressive Frau geben und einen gar nicht aggressiven Mann, aber als Aussagen über das statistische Mittel stimmen diese Stereotype. Der Fehler, den viele machen, und zwar auf beiden Seiten der Diskussion, ist, von statistischen Verallgemeinerungen auf die Essenz zu schliessen. Essenzialismus ist die Idee: Kennst du einen, kennst du alle. Dass Männer insgesamt häufiger gewalttätig sind, lässt nicht darauf schliessen, dass alle Männer gewalttätig sind. Aber generell gibt es durchaus Unterschiede zwischen Frauen und Männern. Frauen sind zum Beispiel weltweit verträglicher als Männer, sie wollen mehr Harmonie in der Kommunikation und in der Gesellschaft. Männern ist das nicht ganz so wichtig.
Da würden Ihnen jetzt vermutlich viele Menschen heftig widersprechen und sagen: Das Meiste von dem, was Sie beschrieben haben, ist gesellschaftlich anerzogen.
Erziehung und Prägung verstärken Anlagen, ganz klar, aber die wissenschaftlichen Daten belegen die grundlegenden Unterschiede sehr deutlich. Sexualität ist das beste Beispiel. Männer haben einen stärkeren Sexualtrieb. Sie gehen zu Prostituierten, Frauen machen das so gut wie gar nicht. Männer konsumieren Pornographie, Frauen deutlich weniger. Männer denken viel häufiger an Sex, sie wollen tendenziell viele verschiedene Sexualpartnerinnen haben, Frauen dagegen sind selektiver. All das ist unabhängig von allen Kulturen, egal, ob man in China Umfragen durchführt oder in Kamerun, Mexiko oder Deutschland. Deshalb ist es relativ unwahrscheinlich, dass es sich um ein rein kulturelles Phänomen handelt. Natürlich sind genetische Neigung und Kultur eng miteinander verschränkt, sodass man schwer trennen kann. Aber vieles deutet darauf hin, dass es klare Unterschiede gibt zwischen Männern und Frauen, die nicht nur anerzogen sind.
Ist der Mann von heute in einer Identitätskrise?
Wenn Identitätskrise heisst, dass Männer unzufrieden sind, dann kann man das auf keinen Fall sagen. Vor allem in den feminisierten Gesellschaften – dazu gehört neben Schweden, Thailand und den Niederlanden inzwischen auch Deutschland – haben die Männer eine höhere Lebenserwartung als in den anderen Ländern, sie begehen seltener Selbstmord, sie sind zufriedener, auch sexuell, sie leben länger und gesünder und sind seltener obdachlos. Wenn Männer die heutige Zeit als Krise der Männlichkeit empfinden und sagen: Früher gab es noch echte Männer, heute sind alle verweichlicht, dann ist das meistens ein Phänomen der älteren Generationen ab Mitte 40. Da waren die Vorbilder von JeanPaul Belmondo bis Sean Connery vielleicht maskuliner, und möglicherweise hadern heute einige mit diesem Kulturwandel. Aber statistisch gesehen geht es den Männern heute besser als je zuvor.
Klingt ein bisschen so, als wäre die Krise des Mannes nur herbeigeredet, oder hat das auch etwas mit «Männerbashing» zu tun – die «toxische Männlichkeit» ist ja nicht umsonst so ein beliebtes Schlagwort geworden?
Das ist die Kehrseite der Emanzipation. Frauen waren über lange Zeit stark benachteiligt, inzwischen gibt es fast so etwas wie umgekehrten Sexismus. In einer Studie wurden Leuten Untersuchungen vorgelegt, die angeblich zeigten, dass Frauen intelligenter sind als Männer; das fanden alle Probanden ganz in Ordnung. Wenn man aber behauptete, man hätte herausgefunden, dass Männer intelligenter sind als Frauen, dann war die Reaktion häufig: Hör mir auf mit diesem sexistischen Unfug! Ausserdem gibt es ein halbironisches, halbernstes Männerbashing im Alltag, das nicht alle Männer immer mit Humor nehmen wollen. Und ein wachsendes Problem ist für Männer der Ausbildungs und Arbeitsmarkt, auf dem sie zusehends auf der Strecke bleiben. Männer sind in vielen Dingen extremer – sie sind sowohl bei extremen Erfolgen stärker vertreten als auch bei extremen Misserfolgen. Männer sind in den Bereichen mit hohem Prestige stark vertreten, also in Machtpositionen, aber auch in den Bereichen mit sehr wenig Prestige, also bei den Obdachlosen oder Gefängnisinsassen. Unsere Gesellschaft wandelt sich, Berufe, die körperliche Kraft erfordern, werden zunehmend weniger gebraucht, Dienstleistungsberufe hingegen häufiger, bei denen man unter anderem soziale Intelligenz und sprachliches Geschick benötigt. Darin sind Frauen besser. Auch an den Universitäten vieler Länder in Europa studieren inzwischen mehr Frauen als Männer, und in den PisaStudien schneiden Schülerinnen in fast allen Fächern besser ab als Schüler. Das bedeutet für Männer in Zukunft: weniger gutbezahlte Jobs und weniger Anerkennung als bisher.
Trotzdem sind Männer nach wie vor sehr viel häufiger in Machtpositionen vertreten.
Da gibt es verschiedene Faktoren, die man anschauen muss. Zunächst die Altersstruktur: Um mächtig zu sein, ist man typischerweise zwischen 45 und 70 Jahre alt, wie die meisten Politiker oder Topmanager, das sind die Jahrgänge 195075. In diesen Generationen haben viele Männer solche Karrieren angestrebt; in jüngeren Jahrgängen dünnt sich das etwas aus, und in zehn, fünfzehn Jahren wird der Anteil der Frauen in Machtpositionen deutlich grösser sein. Dazu kommt, dass Männer und Frauen – wie Untersuchungen zeigen – sehr unterschiedliche Vorstellungen davon haben, wie ein erfülltes Leben aussieht. Vereinfacht gesagt, will die Mehrheit der Männer primär Karriere machen, ein kleinerer Teil wünscht sich Ausgeglichenheit zwischen Familie und Karriere, und ein winziger Teil möchte sich ausschliesslich um Familie und Kinder kümmern. Bei den Frauen wollen nur etwa 20 Prozent ausschliesslich Karriere machen, die Mehrheit von etwa 60 Prozent wünscht sich Ausgeglichenheit zwischen Beruf und Familie, und der Rest will sich nur auf die Familie konzentrieren. Bei den Männern wollen aber etwa 60 Prozent Karriere machen, etwa 30 Prozent streben eine WorkFamilyBalance
an und nur 10 Prozent sehen sich als Hausmänner. In den allermeisten Fällen tritt das dann genauso ein, sowohl bei den Frauen als auch bei den Männern. Und wenn Männer häufiger Karriere machen wollen, kommen auch mehr Männer in Machtpositionen. Männer streben eher nach Anerkennung durch Geld und Macht und gehen insgesamt mehr Risiken ein. Dafür sterben sie auch sehr viel häufiger am Arbeitsplatz. Es gibt aber natürlich auch echte Diskriminierung im Berufsleben, zum Beispiel die sogenannte Motherhood Penalty, eine «Mutterschaftsstrafe»: Das bedeutet, dass Frauen, wenn sie Kinder bekommen, im Berufsleben zurückgeworfen oder erst gar nicht eingestellt werden. Kinderlose Frauen über 40 schneiden dagegen in vielen Bewerbungen sogar besser ab als die Männer.
Ist das nicht auch das Resultat gesellschaftlicher Prägung? Macht und Geld verschaffen Männern ja nach wie vor gesellschaftliche Anerkennung, Frauen sind gesellschaftlich eher so geprägt, dass die Familie ihnen wichtiger erscheint.
Kulturelle Erwartung und universelle Neigung sind schwer auseinanderzuhalten. Aber in verschiedenen Untersuchungen hat sich gezeigt, dass Frauen in freien Gesellschaften eher akademische Berufe wählen, die mit sozialer Arbeit zu tun haben, mit Fürsorge, Sprache, dem Kontakt mit Menschen, und weniger Mechatronik, Tiefbau und Elektrotechnik, obwohl die sogenannten MINTFächer ein höheres Einkommen versprechen als die Geistes und Sozialwissenschaften. Je freier die Länder sind, desto grösser ist der Unterschied zwischen Männern und Frauen, was MINTFächer und andere Fächer betrifft. In Ländern wie Algerien, Tunesien oder der Türkei, wo weniger Gendergerechtigkeit herrscht, studieren Frauen häufiger MINTFächer, vermutlich weil sie sozial nicht so gut abgesichert sind, Geld verdienen müssen und über ihren Beruf auch Unabhängigkeit erlangen können. Das würde darauf hinweisen, dass es nicht nur die patriarchalen Stereotype sind, denn die sind in der Türkei und Algerien deutlich stärker ausgeprägt als in Schweden oder Finnland.
Sie haben gesagt, dass insgesamt mehr Männer gewalttätig sind. Gibt es auch mehr Männer in Machtpositionen, die diese Macht ausnutzen? Ist Diktatur männlich?
Etwa 90 Prozent aller Gewaltstraftaten und fast 100 Prozent aller Vergewaltigungen werden von Männern begangen. Allerdings sind auch 80 Prozent aller Mordopfer männlich. Es geht also meistens um den Kampf zwischen Männern, so wie wir das auch von unseren nächsten Verwandten, den Affen, kennen – da sind auch die Männchen viel aggressiver. Der Kampf zwischen Männern ist fast immer ein Statuskampf, und Status hat etwas mit der Funktion in der Gruppe und der Partnerschaft zu tun. Soweit ich weiss, sind bisher keine grossen Diktaturen von Frauen errichtet worden. Herrschaft durch Dominanz ist typischer für Männer. Die Neigung, zu denken, dass es bestimmte Gruppen gibt, die minderwertig sind und vernichtet werden müssen – ein Extrembeispiel dafür ist der Nationalsozialismus –, das radikal religiöse Denken, das besagt, dass die Ungläubigen nicht so viel wert sind wie die eigene Gruppe, diese Art zu denken also ist deutlich häufiger bei Männern vertreten als bei Frauen. Frauen versuchen eher, sozialen Status durch Prestige zu erlangen, also durch Leistung, Attraktivität oder Besitz, nicht durch Gewalt oder Gewaltandrohung. Das fängt bei Männern schon auf dem Schulhof an.
Klingt ziemlich archaisch…
Von Hobbes, Freud und Norbert Elias bis in die Moderne wurde immer wieder diskutiert, wie wir überhaupt zivilisiert worden sind. Das passierte durch Gesetze, Erziehung, aber auch dadurch, dass Männer eine Art Ersatz gefunden haben für den echten Kampf, zum Beispiel Fussball, Kampfsport oder Autorennen – das ist eine sublime Form von Stammeskampf, die Regeln unterliegt und bei der es nicht mehr um Leben und Tod geht, also eine kulturell überformte, verfeinerte Art des alten Kampftriebs.
Seit Februar ist der Krieg wieder in Europa angekommen. Glauben Sie, dass sich das Männerbild dadurch verändert?
Das ist schwer vorherzusehen. In Deutschland, Italien und Japan – den drei Achsenmächten, die den zweiten Weltkrieg verloren haben – ist die Bereitschaft, für das eigene Land in den Krieg zu ziehen, extrem gering, ganz anders in Norwegen oder Frankreich. Der Diskurs in Deutschland ist ausserdem sehr vom Pazifismus geprägt; es ist aber gut möglich, dass sich seit Beginn des Krieges einiges gewandelt hat. Interessanterweise hat sich zwar das Männerbild verändert, und das Stereotyp vom Mann als Kämpfer und Beschützer gilt als überholt; gleichzeitig zeigen aber Untersuchungen, dass die meisten Männer gern Beschützer sind, und auch die Mehrheit der Frauen empfinden es als attraktiv, wenn der Mann ein Kavalier ist und sich sogar um Notfall für die Familie opfern würde. Da besteht eine gewisse Spannung zwischen dem modernen Ideal und der Realität.
Zurück zur Oper. Eliogabalo verkörpert auf der einen Seite die sogenannte toxische Männlichkeit, andererseits ist er genderfluid: Er singt nicht nur im Falsett, sondern liebt auch Frauenkleider und den ständigen Rollenwechsel. Warum, glauben Sie, wirken genderfluide oder transsexuelle Menschen auf manche bedrohlich?
Menschen, die sehr traditionalistisch denken, auch Menschen aus sehr religiösen Gesellschaften und Extremisten am rechten Rand der Politik haben bestimmte Vorstellungen von Reinheit und Natürlichkeit. Das Heterosexuelle gilt als rein, andere Formen wie Homosexualität, aber auch Genderfluidität gelten als unrein oder unnatürlich. Allerdings gibt seit es 70 Jahren eine starke progressive Wende, und alle sexuellen Identitäten und Vorlieben erfahren viel mehr Akzeptanz. Grundsätzlich wollen Menschen die Welt gern kategorisieren, und wenn etwas nicht eindeutig einer Kategorie zuzuordnen ist, dann fordert das viele heraus; vom Fluiden, Mehrdeutigen,
Unklaren fühlen sich manche sogar verunsichert. Sehr autoritäre Menschen, die solche Identitäten als unnatürlich empfinden, haben dann auch die Neigung, aggressiv zu reagieren.
Kim de l’Horizon hat den deutschen Buchpreis gewonnen, identifiziert sich als nonbinär, trägt gern Röcke und Lippenstift und wurde tätlich angegriffen – der Angreifer, so beschreibt es Kim de l’Horizon, hat dabei gesagt: «Normale Schwuchteln kann ich mittlerweile schlucken, aber du bist mir einfach zu viel.» Heisst das, Homosexualität ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen und legalisiert – aber nonbinäre und transsexuelle Personen stellen für manche Menschen nach wie vor eine Bedrohung dar?
Wir waren nicht dabei, als dieser Angriff geschah, aber wir können vermuten, dass der Angreifer aus einem Milieu kommt, in dem ein traditionalistisches Denken vorherrscht, in dem Genderfluidität als unrein, widernatürlich und abstossend gilt und mit Ekel belegt ist. Solche Vorstellungen haben viel mit Erziehung zu tun. In Kulturen, in denen man sich sicher fühlt, ist man liberaler; Kulturen, in denen Mangelwirtschaft herrscht, wo Hunger, Krieg oder Infektionen drohen, da müssen Gruppen stärker zusammenhalten. Regelbrecher werden heftiger bestraft, alle Arten von Abweichungen als Bedrohung gesehen, und Vorstellungen von Reinheit sind dort auch stärker vertreten. Männer sehen Genderfluidität übrigens viel eher als Herausforderung als Frauen.
Dazu passt die Aussage des Bundesrats Ueli Maurer: «Hauptsache, mein Nachfolger ist kein Es.»
Das ist ein typisches Muster der Rechtspopulisten, um mit Provokation Aufmerksamkeit und Stimmen zu gewinnen. Dieses Manöver ist nicht nur durchschaubar, sondern auch strategisch falsch, denn selbst unter den Konservativeren in der westlichen Welt gibt es mittlerweile eine grosse Akzeptanz für Homosexuelle und für Genderfluidität. Daher setzen erfolgreiche Populisten ja so stark auf die Migrationsfrage, um Wähler zu gewinnen. So oder so: Die tolerante und liberale Mehrheit sollte viel weniger auf solche Provokationen eingehen, denn sie dienen am Ende nur der Aufmerksamkeitsmaschinerie.
Das Gespräch führte Beate Breidenbach
Philipp Hübl ist Philosoph, Gastprofessor für Philosophie und Kulturwissenschaft an der Universität der Künste Berlin und Autor der Bücher «Die aufgeregte Gesellschaft», «BullshitResistenz», «Der Untergrund des Denkens» und «Folge dem weissen Kaninchen… in die Welt der Philosophie» sowie von Beiträgen zu gesellschaftlichen und politischen Themen, unter anderem in der ZEIT, FAZ, taz, NZZ und Republik.
Eliogabalo
Oper von Francesco Cavalli
Musikalische Leitung Dmitry Sinkovsky Inszenierung Calixto Bieito Bühnenbild Anna-Sofia Kirsch, Calixto Bieito Kostüme Ingo Krügler Lichtgestaltung Franck Evin Video Adria Bieito Camì Dramaturgie Beate Breidenbach
Eliogabalo Yuriy Mynenko Anicia Eritea Siobhan Stagg Giuliano Gordio Beth Taylor Flavia Gemmira Anna El-Khashem Alessandro Cesare David Hansen Atilia Macrina Sophie Junker Zotico Joel Williams Lenia Mark Milhofer Nerbulone Daniel Giulianini Tiferne Benjamin Molonfalean Un console Aksel Daveyan Altro console Saveliy Andreev
Orchestra La Scintilla Statistenverein am Opernhaus Zürich
Premiere 4 Dez 2022 Weitere Vorstellungen 7, 11, 13, 16, 21, 26, 30 Dez 2022; 2, 7 Jan 2023
Unterstützt von Atto primo
Herrscher, Lustmensch, Mörder
In Francesco Cavallis «Eliogabalo» geht die männliche Hauptfigur für die Erfüllung ihrer sexuellen Wünsche über alle Grenzen. Die Oper handelt von blutiger Gewalt, GenderFluidität, Einsamkeit und Nihilismus. Der Regisseur Calixto Bieito erkennt darin einen sehr aktuellen Stoff.
Calixto, deine letzte Arbeit hier in Zürich war Monteverdis Incoronazione di Poppea, in der der römische Kaiser Nero eine zentrale Rolle spielt. Auch der Titelheld der Oper Eliogabalo hat einen römischen Kaiser als historisches Vorbild: Varius Avitus Bassianus, genannt Elagabal, der 218 nach Christus als Vierzehnjähriger den römischen Thron bestieg und vier Jahre später ermordet wurde. Wie wichtig war für dich dieser historische Hintergrund im Zusammenhang mit Cavallis Oper?
Während der Vorbereitung war es natürlich interessant, sich mit der historischen Figur Elagabal zu beschäftigen, der als einer der grausamsten römischen Herrscher überhaupt galt – und das in einer Zeit, die an grausamen und verrückten Kaisern nicht gerade arm war. Was ihn von seinen Vorgängern und Nachfolgern unterschied, war zum einen seine Religion; er stammte ursprünglich aus Syrien, gehörte also einer ganz anderen Kultur an und war als Kind und Jugendlicher Priester eines syrischen Sonnengottes namens Elagabal, von dem er auch den Namen übernahm. Nach Rom brachte er einen religiösen Kult mit, zu dem gehörte, dass jeden Morgen Tausende von Tieren geopfert wurden und das Blut in Strömen floss; Priester, die diesem Gott dienten, trugen Frauenkleider und haben sich in Ekstase selbst entmannt. Aber auch dass Eliogabalo in der Oper als jemand gezeigt wird, der sich selbst als Frau verkleidet, um die Frau, die er begehrt, zu verführen, geht offenbar auf historische Tatsachen zurück: Der jugendliche Kaiser ging, so liest man, in Frauenkleidern in Bordelle und bot sich Männern als Prostituierte an; er liebte sowohl Frauen als auch Männer und hatte stets wechselnde Sexualpartner. Für Politik interessierte er sich nicht. All das war selbst den Römern zu viel, die an vielerlei Ausschweifungen gewöhnt waren.
Anna El-Khashem mit Yuriy Mynenko
Was interessiert dich an Cavallis Eliogabalo?
Die Freiheit seines Geistes in Kombination mit extremer Grausamkeit ergibt für mich eine faszinierende Spannung. Eliogabalo ist grausam und brutal, wirkt aber auf andere Menschen auch verführerisch. Er ist ein Hedonist, aber gleichzeitig sehr unsicher in Bezug auf sich selbst und seine Identität. Er muss sich ausprobieren; er ist unersättlich, niemals zufrieden oder befriedigt. Eine Figur, die sich schwer einordnen lässt, eine Figur voller Widersprüche, die die Regeln einer Gesellschaft gehörig durcheinanderbringt.
Ein grausamer, empathieloser Hedonist, der aber auch eine grosse Faszination ausübt auf seine Umwelt – das erinnert an eine andere bekannte Opernfigur…
Ja, Eliogabalo ist in gewisser Weise ein Vorläufer von Don Giovanni. Beide sind für mich Nihilisten. Daneben hat Eliogabalo auch etwas von einer Künstlerfigur, die Grenzen austestet. Dabei geht es einerseits um die Frage, ob sich ein Genie gegenüber seinen Mitmenschen alles erlauben darf, weil er oder sie eben ein Genie ist. Zudem geht es darum, ob Kunst generell Grenzen hat, wie frei sie sein kann. Eine momentan sehr aktuelle Frage; für mich fühlt es sich zurzeit manchmal so an, als wären wir auf dem Weg zu einem neuen Puritanismus mit vielen Beschränkungen und der immer präsenten Angst, etwas falsch zu machen. Gleichzeitig empfinde ich unsere Zeit in vielem als sehr brutal. Wir leben zwischen Extremen, wie das häufig der Fall ist an der Schwelle zu gesellschaftlichen Umbrüchen. Aber ich bin kein Soziologe. Ich beschreibe nur, was ich beobachte und empfinde.
Zurück zur Oper: Im Unterschied zu Don Giovanni ist Eliogabalo ein Mächtiger, ein tyrannischer Herrscher…
…der seine Macht skrupellos ausnutzt, seine Mitmenschen auf übelste Weise manipuliert und für die Erfüllung seiner sexuellen Wünsche über Leichen geht, ja. Seinen Cousin Alessandro will er umbringen lassen, um dessen Verlobte zu besitzen. Interessanterweise gründet er einen Senat, in dem nur Frauen vertreten sind; auf den ersten Blick würde man denken: Eine Regierung nur aus Frauen, wie modern! In Wahrheit ist aber auch dies für ihn wieder nur ein Mittel zum Zweck – um nämlich leichter an Sex mit den von ihm begehrten Frauen heranzukommen. Der französische Schriftsteller Antonin Artaud nannte Eliogabalo einen Anarchisten. Er zerstört Emotionen und Menschen. Und trotzdem provoziert sein Tod am Ende der Oper auch Mitgefühl. Denn letztlich ist auch er – ebenso wie Don Giovanni – entsetzlich einsam.
Nicht nur der Frauensenat, auch die Tatsache, dass Eliogabalo verschiedene Geschlechteridentitäten ausprobiert, scheint sehr gut in unsere Zeit zu passen…
Ja, vieles in diesem fast 400 Jahre alten Stück ist erstaunlich modern. Vor einiger Zeit hat mich jemand gefragt, warum ich diese Oper überhaupt mache – sie erzähle uns doch heute nichts mehr. Das Gegenteil ist der Fall! Diktatoren wie Elio
gabalo gibt es leider nach wie vor, da muss man nicht lange suchen. Zudem leben wir in einer Zeit, in der vieles in Frage gestellt wird und wir mit vielen Unsicherheiten umgehen müssen. Die Unsicherheiten fangen in Cavallis Oper ja schon mit der Besetzung der Rollen an: Ein Tenor singt eine ältere Frau, eine Altistin singt einen jungen Mann, und Eliogabalo selbst ist mit einem Countertenor besetzt, der wie eine Frauenstimme klingt und einen Mann spielt, der sich als Frau verkleidet. Ein modernes Kaleidoskop von Identitäten, in dem sich Tragik und Komik die Waage halten. Grundsätzlich kommt mir Ambiguität sehr entgegen. Es interessiert mich nicht, mit meinen Inszenierungen eine bestimmte Message zu transportieren. Für mich ist das der grosse Unterschied zwischen Kunst und Kultur: Kunst beschäftigt sich mit unserem Innersten, mit unseren Träumen, unserem Unterbewussten, unseren Fantasien, unserer Vorstellungskraft. Kunst lässt sich – im Gegensatz zu Kultur – nicht kontrollieren.
Wir sprachen vorhin von den blutrünstigen religiösen Riten, die der historische Elagabal nach Rom mitbrachte. Inwiefern ist davon auch etwas in Cavallis Oper eingeflossen? Spielten sie für deine Inszenierung eine Rolle?
Ich komme aus einem Land, in dem der Stierkampf in der Vergangenheit eine grosse und wichtige Rolle gespielt hat; das war eine wichtige Tradition, die mittlerweile in vielen Teilen des Landes verboten ist, weil sie so ungeheuer brutal und blutig ist. Ich mag den Stierkampf nicht, ich halte das fast nicht aus, muss aber zugeben, dass er auf viele Menschen, die ich kenne, eine starke Wirkung hat – als ein Ritual, das eine grosse Schönheit ausstrahlen kann und eine merkwürdige Intimität besitzt. Wir brauchen Rituale oder doch zumindest Routine in unserem Leben; das gibt uns Orientierung und Sicherheit. Natürlich müssen diese Rituale nicht so blutig sein wie ein Stierkampf. Deshalb kommt bei uns der Stier auf der Bühne auch eher als ein ironisches Zitat vor.
In was für einer Welt spielt deine Inszenierung?
Die Figuren in Cavallis Oper empfinde ich als sehr modern, deshalb spielt die Oper bei uns auch in einer mehr oder weniger zeitgenössischen, aber zugleich auch zeitlosen Welt – in einer sehr reichen und mächtigen italienischen Familie vielleicht, deren Mitglieder sich hassen bis aufs Blut, sich gegenseitig manipulieren, aber auch abhängig sind voneinander. Einen ganz konkreten zeitlichen Bezug gibt es nicht. Es interessiert mich auch nicht so sehr, die Geschichte möglichst realistisch oder sozialkritisch zu erzählen; was mich viel eher interessiert, sind authentische Emotionen. Deshalb sind auch die Räume, die auf der Bühne zu sehen sein werden, nicht unbedingt realistische Orte, sondern traumartige Räume, Seelenräume, die innere Zustände der Hauptfigur zeigen, oder aber realistische Räume, die in Traumwelten kippen können.
Eliogabalo ist eine Oper von Cavalli – aber es ist zugleich auch ein Barockprojekt, ein Stück, das während der Proben erst entsteht. Womit hängt das zusammen?
oben: Regisseur Calixto Bieito mit Yuriy Mynenko als Eliogabalo unten: Joel Williams und Yuriy Mynenko
Wenn wir die Oper so spielen würden, wie sie überliefert ist, würde sie etwa vier Stunden dauern. Aber nicht nur das: Die Rezitative sind zum Teil sehr lang und manchmal auch redundant, weil sie die Handlung nicht voranbringen und Dinge erzählen, die wir schon längst wissen. Die Instrumentation kennen wir nicht, denn wie bei Monteverdi ist auch bei Cavalli keine komplette Partitur überliefert, sondern nur ein sogenannter Generalbass; die Instrumentation richtete sich damals nach den finanziellen Möglichkeiten des jeweiligen Theaters und muss heute in jeder Aufführung neu erfunden werden. Das Libretto ist in einer veralteten, zum Teil sehr verschlungenen Sprache verfasst und enthält viele Metaphern, die kaum jemand heute noch entschlüsseln kann, und ein grosser Teil der Komik, die zu Cavallis Zeit mit all ihren Anspielungen problemlos verstanden wurde, funktioniert heute nicht mehr. Wir gehen mit dem vorhandenen Material durchaus respektvoll, aber frei um. Die Arbeit an dieser Inszenierung ist ein sehr kreativer Prozess, den man fast als kollektive Arbeit bezeichnen könnte – wir kreieren alle gemeinsam eine Oper für heute mit barocker Musik! Dabei kommt es uns sehr entgegen, dass diese Oper so unbekannt ist und niemand eine bestimmte Erwartung damit verknüpft. Zu Lebzeiten Cavallis wurde sie nie aufgeführt, 1999 hat man das Manuskript überhaupt erst wiederentdeckt. Das gibt uns eine grosse Freiheit. Für mich ein grosses Geschenk. Wobei ich ganz grundsätzlich der Meinung bin, dass eine Premiere das Publikum überraschen sollte. Es wäre ja auch langweilig, in der Oper oder im Theater nur das zu sehen, was man sowieso erwartet.
Möglich ist diese ungewöhnliche Inszenierungsarbeit nicht zuletzt, weil wir mit Dmitri Sinkovsky einen Dirigenten haben, der mit BarockMusik als Geiger und als Sänger viel Erfahrung hat …
… und sehr flexibel ist, wenn es darum geht, hier noch ein Ritornell einzubauen oder dort noch ein paar mehr Rezitativ Takte zu streichen. Auch unsere Sängerinnen und Sänger müssen sehr flexibel sein und diesen Weg mitgehen; ich bin sehr froh über unsere fantastische Besetzung, mit der das so problemlos möglich ist.
Das Gespräch führte Beate Breidenbach