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Wie machen Sie das, Herr Bogatu? – 11, Volker Hagedorn trifft
Dmitry Sinkovsky
Dmitry Sinkovsky leitete zahlreiche Ensembles, u.a. Il Giardino Armonico, Il Complesso Barocco, Il Pomo D’Oro, Musica Petropolitana und Accademia Bizantina, das belgische Ensemble B’Rock sowie das Helsinki Baroque Orchestra. Weitere Orchester, die er musikalisch geleitet hat, sind u.a. MusicAeterna, Musica Viva und jüngst das Orchester des Mariinski Theaters. Seit 2022 ist er Chefdirigent der Nizhny Novgorod Oper in Russland. Wir sitzen neben einem Wald von schwarzen Notenständern auf der ansonsten leeren Probebühne. Arbeitslicht, Stille – puristischer geht es kaum. Auf ein Pult hat Dmitry Sinkovsky, ein kräftiger 42-Jähriger, der die Haare hinterm Kopf zum Knoten geschnürt trägt, seine dicke Partitur gestellt, ein anderes Pult habe ich mir in die Waagrechte gebogen, als Tischchen für den Kaffee. Der ist dringend nötig. Wie sich herausstellt, hat auch der Dirigent nur vier Stunden Schlaf gehabt, allerdings nicht wegen einer Zugverbindung. Er hat bis spät in die Nacht noch Wortbedeutungen im italienischen Libretto recherchiert. Was die Protagonisten in Francesco Cavallis früher Barockoper Eliogabalo singen, ist nämlich selten ohne Hintersinn...
Aber jetzt möchte ich erstmal wissen, ob er, der diese Oper musikalisch leitet, auch Geige spielen wird. Denn vor ein paar Minuten, als ein paar Schritte weiter auf der anderen Probebühne die heutige Arbeit mit den Sängerinnen und Sängern und dem Regisseur Calixto Bieito endete, hat Sinkovsky noch fröhlich ein paar Akkorde angestrichen. Sein Barockinstrument hat er immer dabei. Besser gesagt, beide Instrumente, denn Countertenor ist er ja auch. «Auf jeden Fall spiele ich», meint er, «zusammen mit Luca Pianca an der Laute. Das müssen wir machen, denn diese Musik fordert viel Improvisation. Calixto möchte auch, dass ich an einigen Stellen singe, aber das lassen wir noch offen.» Er lacht. «Keiner weiss, was in einer Woche passiert. Die Proben sind ein permanenter Prozess.»
Sicher ist nur, dass, wenn Dmitry Sinkovsky spielt oder singt, er sich auf demselben hochprofessionellen Level bewegen wird wie die anderen Akteure auch. Das Label Glossa hat ihn als Interpreten von Beethovens Violinkonzert ebenso im Programm wie mit einer CD, auf der er Lieder von Sergej Akhunov singt, geschrieben für seine Stimme und die historischen Instrumente seines Ensembles «La Voce Strumentale». Bei Naïve erschien eine CD, auf der er Vivaldis Vier Jahreszeiten spielt und dazu noch eine Arie des Venezianers singt, fast unnötig zu sagen, dass er das Ganze auch dirigiert. Inzwischen dirigiert er auch Opern von Rossini, Verdi, Tschaikowski. Auch dazu kommen wir noch…
Was er derzeit an der Oper Zürich macht, ist Neuland für Sinkovsky – eine Oper aus dem Jahr 1667. «Das Früheste, was ich je spielte, sang, dirigierte», sagt er, auf Englisch, denn sein Deutsch findet er nicht so gut wie sein Italienisch, Serbokroatisch, Französisch und, natürlich, Russisch. «Aber Dirigieren ist bei dieser Musik nicht das Dominierende, auch wenn ich natürlich Einsätze gebe. Ich bin eher der, der es zusammensetzt, Instrumente aussucht, kürzt. Wenn man nicht kürzt, dauert Eliogabalo dreieinhalb Stunden, es sollen aber nur etwas mehr als zwei werden. Die Rezitative sind sehr, sehr lang, manchmal endlos, es wird oft dasselbe auf immer neue Weise erzählt. Das ist leichter zu kürzen als Monteverdi, den man eigentlich gar nicht kürzen kann. Aber man muss aufpassen, kein wichtiges Material dabei zu verlieren. Es gibt unglaubliche Momente in dieser Oper, die sind… wow, echte Meisterstücke.»
Was es nicht gibt, ist eine Instrumentierung. Es gibt Instrumentalstimmen, «die kann man besetzen, wie man will. Ich will so viele Farben wie möglich. Zinken, Flöten, Dulzian, Posaune, Harfe, drei Theorben, Laute, Lirone, Cembalo, Orgel… Jede Person bekommt ihre musikalische Identität, ihr Instrument.» Das ist schon deswegen hilfreich, weil Cavalli ein dichtes Netz machtpolitischer wie sexueller Intrigen zwischen zehn Männern und Frauen komponiert hat, an der Spitze der grössenwahnsinnige Kaiser, der eigentlich alle Frauen beansprucht und vor Gewalt nicht zurückschreckt, aber natürlich trotzdem wunderschön singen darf, wie es mir Sinkovsky nun demonstriert. «Oh che vaghi candori…»
Seine schlanke, fokussierte Stimme schwebt im mezzopiano durch den stillen Saal, nach «che morbide rose» bricht er ab. «That’s it, ein Arioso von acht Takten. Eliogabalo singt sie für Gemmira, die Alessandro liebt, und die weichen Rosen… das ist etwas Physisches.» «Etwas Erotisches.» «Oh yes. Ich habe bis halb vier daran gesessen, hinter diese Metaphern zu kommen. Wir sprechen heute nicht mehr in Metaphern. Wie ausdrucksvoll diese Sprache war!» Und mit der Emotion müsse man beginnen, die Technik sei nur Unterstützung. «Das habe ich von Harnoncourt gelernt. Es ist eben nicht so, dass man in die Noten guckt und sagt, ja, kenne ich, den Rhythmus», er singt ein paar punktierte Noten, «der muss so und so verziert werden», er umgibt die Töne mit 32tel-Girlanden. «Natürlich muss man wissen, wie man Verzierungen schreibt. Aber Cavalli, das ist hauptsächlich gesprochene Musik. Wie man ein Wort ausspricht, das kann alles ändern, mehr als eine Verzierung oder ein Vibrato oder kein Vibrato.»
Es macht Spass, Cavallis Geheimnisse zu erkunden, aber ich möchte auch wissen, wie eigentlich ein Musiker zu Cavalli kommt, der zuerst am Konservatorium seiner Geburtsstadt Moskau in die alte russische Schule des Geigens einstieg, virtuos, hochromantisch, Bruch, Brahms, Tschaikowski... «Am Konservatorium war damals Alte Musik schon in Mode, Pinnock, Gardiner, Leonhardt, die Pioniere. Ich hörte das und bekam eine Gänsehaut, es war wie ein geheimer Raum. Mit zwanzig hatte ich das Glück, als Geiger zu einer erfahrenen Gruppe von Barockmusikern zu kommen, Musica Petropolitana aus St. Petersburg. Die brachten mich mit berühmten Musikern in Kontakt, mit dem Counter Michael Chance, mit Emma Kirkby. Und ich dachte, wenn ich in Zukunft Dirigent sein will, und das wollte ich, sollte ich auch singen lernen. Was will man Sängern sagen, wenn man nicht versteht, was sie tun?» Na schön, aber das muss ja nicht gleich zu einer Zweitkarriere als Counter führen. Wie hat er seine Stimme entdeckt? «Das fragen mich Sänger auch.» Er lacht, dann schmettert er ein sehr hohes «Haaa» in die Luft. «Okay.» Der frischgebackene Barockgeiger bekam Unterricht bei Marie Leonhardt, der Sänger bei Michael Chance. Der kommende Dirigent studierte in Zagreb Chorleitung und in Toulouse Orchesterleitung. Seit Februar 2022 ist Dmitry Sinkovsky Chefdirigent der Oper in Nizhny Novgorod, einer Millionenstadt 400 Kilometer östlich von Moskau. Seit ebenso langer Zeit herrscht Krieg in der Ukraine. Wie aber kommt damit der Sänger der Titelpartie klar, der Ukrainer Yuriy Mynenko? «Wir haben uns ohne jede Diskussion vom ersten Tag an verstanden. Wir machen dasselbe Ding. So sollte es sein in unserer kleinen musikalischen Gemeinschaft, die zusammenbleiben muss in jeder Art von Zeit. Ich bin der Zürcher Oper dankbar, den Vertrag eingehalten zu haben.»
Er erzählt vom Orchester in Nizhny, ein sehr junges Ensemble von 25- bis 27-Jährigen, «diese neugierigen jungen Augen sind mir mehr wert als Geld, so motiviert, die wollen arbeiten, die sind wie eine Familie. Und egal mit welcher Situation man sich befasst, immer kümmert man sich um seine Familie. Leute mit einer festen Stelle im Orchester, mit Familie und Verwandten, haben keine Wahl, woanders hinzugehen wie reisende Musiker. Die können nur die Musik verlassen und auf die Strasse gehen. Besonders als Solist und Dirigent sollte man daran denken, dass es weitaus Abhängigere gibt.» Und die lässt er nicht sitzen.
«Keiner weiss, was in einer Woche passiert», Dmitry Sinkovskys Satz zum Probenprozess passt auch zur Weltlage. Nur dass man im Theater eher mit dem Schönsten rechnet als mit dem Schlimmsten. Für den Ensembleleiter, Sänger und Geiger hat sich der Regisseur schon wieder eine neue Herausforderung einfallen lassen, ein viertes Metier. «Calixto sagte heute, hier will ich einen ballo, einen Tanz, mach was! Also werde ich heute nacht ein paar Ritornelle komponieren. Im Stil von Cavalli, oder seine Themen benutzend, mit Zink oder Geige im Stil einer Triosonate…» Es wird wohl mal wieder spät werden.
Volker Hagedorn
Yuriy Mynenko
Aus welcher Welt kommen Sie gerade?
Mein letztes Projekt vor Zürich war Antonio Vivaldis Il Giustino im Schloss Drottningholm in Stockholm. Danach fuhr ich nach Hause, nach Odessa. Von dort wieder nach Zürich zu kommen, war sehr schwierig. Wenn ich keine Spezialgenehmigung vom Ministerium für Kultur gehabt hätte, wäre es vollkommen unmöglich gewesen. Aber auch mit dieser Genehmigung sass ich zehn Tage an der Grenze fest. Für Männer im wehrfähigen Alter ist die Ukraine zurzeit ein Gefängnis. Ich bin der Meinung, die Leute, die gelernt haben, in der Armee zu kämpfen, sollten das Land an der Front verteidigen – und wer nicht kämpfen kann oder will, sollte das Land verlassen dürfen. Ich unterstütze mein Land so gut ich kann finanziell. Aber ich bin Sänger und nicht Soldat.
Auf was freuen Sie sich in unserer EliogabaloProduktion?
Ich freue mich sehr darauf, ganz neue Dinge auszuprobieren! Frühbarocke Musik singe ich hier zum ersten Mal, bisher habe ich vor allem Händel, Vivaldi, Mozart und viel russische Musik gesungen. Auch szenisch ist vieles für mich neu. Aber ich liebe das Theater, Oper ist für mich zuallererst Musiktheater! Dieser Eliogabalo ist eine sehr widersprüchliche Figur. Er sucht die Extreme, er will Sex mit Frauen und mit Männern, er ist unersättlich in seiner Gier. Ich mag Calixto Bieitos Ideen, seine Interpretation, und es macht grossen Spass, das umzusetzen.
Welches Bildungserlebnis hat Sie besonders geprägt?
Freiheit! Niemand hat mir während meiner Ausbildung Grenzen gesetzt. Ich bin davon überzeugt, dass wir Künstler uns das nehmen müssen, was uns weiterbringt. Künstler zu sein, kann einem niemand beibringen.
Welche CD hören Sie immer wieder?
Das ändert sich ständig, mal ist es Hard Rock, mal ukrainische Popmusik, dann wieder Oper oder klassische Instrumentalmusik. Gestern habe ich erst ACDC gehört und dann das Mozart-Requiem.
Mit welchem Künstler, welcher Künstlerin würden Sie gerne essen gehen, und worüber würden Sie reden?
Mit Luciano Pavarotti! Ich habe ihn mal in St. Petersburg kennengelernt und würde gern mit ihm über seine Lebensphilosophie, seine Beziehung zur Musik und seine fantastische Gesangstechnik sprechen. Oder mit Joan Sutherland. Sie war Jury-Präsidentin beim Francesco Viñas Wettbewerb in Barcelona, als ich einen Preis gewonnen habe. Mit ihr würde ich auch sehr gern einen Abend verbringen.
Welches Buch würden Sie niemals aus der Hand geben?
Die Bibel. Wenn mehr Menschen auf der Welt die Bibel lesen und nach den Gesetzen des Neuen Testaments leben würden, gäbe es nicht so viele Kriege auf der Welt. Ich lese aber auch andere Bücher. Philosophie fasziniert mich – Nietzsche und Kant zum Beispiel.
Warum ist das Leben schön?
Mein Herz blutet, weil in meinem Land Krieg herrscht und sich die Ukraine gegen einen übermächtigen Angreifer verteidigen muss. Deshalb ist mein Leben zurzeit nicht nur schön. Aber ich bin dankbar dafür, dass ich trotz allem reisen und mein Land repräsentieren kann, dass ich hier mit tollen Kolleg:innen eine Oper erarbeiten kann. Und dass in meinem Herzen immer noch Liebe ist.
Yuriy Mynenko, Countertenor aus Odessa, singt die Titelpartie in der Neuproduktion «Eliogabalo». Er ist bisher u.a. an der Staatsoper Stuttgart, am Theater an der Wien und bei den Salzburger Festspielen aufgetreten.
Tosca
Unsere Solo-Klarinettistin Rita Karin Meier über ihr Solo im 3. Akt in Puccinis Oper
Das grosse Klarinettensolo im dritten Akt ist eine Oase in Puccinis «Tosca», die ansonsten von einem nervösen Grundton dominiert wird: Die Ereignisse überstürzen sich, es fallen schnelle Entscheidungen. Wenn hingegen der zum Tode verurteilte Cavaradossi auf der Engelsburg zu seinem Abschiedsbrief ansetzt, bleibt mit den ersten drei Tönen der Klarinette, die die Arie «E lucevan le stelle» anstimmt, die Zeit stehen. Noch eine Stunde hat Cavaradossi zu leben. All seine Sinne sind äusserst empfänglich, wie es typisch für Menschen in Extremsituationen ist. Er sieht («Und es leuchteten die Sterne»), riecht («die Erde duftete») und hört intensiv («das Tor zum Garten knarrte, Schritte huschten über den Kies»). Cavaradossi erinnert sich in diesem Moment nur an die schönen Dinge, die er mit Tosca erlebt hat, an die süssen Küsse, das sehnsuchtsvolle Liebkosen. Er bereut nichts in seinem Leben. Dies alles muss ich mit der Klarinette transportieren. Wichtig ist es, die Melodie ganz fein und leise anzufangen. Man braucht einen butterzarten Ton und ein schönes Legato, denn die Melodie darf nicht auseinanderfallen. Puccini schreibt mehrmals «rubando», es ist also teilweise sehr erwünscht, nicht streng mathematisch zu interpretieren, sondern mit grosser Flexibilität und vielleicht mit einem Hauch «Italianità». Denn jede Vorstellung ist anders, jeder Sänger des Cavaradossi ist anders, und Dirigentinnen und Dirigenten geben einem unterschiedliche Freiheiten. Die Stelle ist für eine A-Klarinette geschrieben, die ein etwas dunkleres Timbre als die B-Klarinette hat und natürlich sehr passend für eine nächtliche Szene ist – Puccini hatte ein unfassbar gutes Gespür für Instrumente und die Instrumentation. Für mich ist diese Arie jedes Mal wie ein Zückerchen. Ich freue mich den ganzen Tag darauf.
Rita Karin Meier
Ich muss über jeden Schritt nachdenken
Hans van Manen ist dieses Jahr 90 Jahre alt geworden, das Ballett Zürich zeigt im Januar sein Stück «On the Move». Michael Küster hat den Jahrhundert-Choreografen in Amsterdam besucht. Ein Gespräch über die Freiheit des Suchens beim Choreografieren, über Schallplattenstapel, Disneys «Fantasia», Homosexualität, Fotografie und wie man als Künstler sein Erbe regelt
Fotos Florian Kalotay
Hans van Manen, im Juli 2022 hat die Ballettwelt Ihren 90. Geburtstag gefeiert. Wie haben Sie selbst diesen Tag verbracht?
Das schönste Geschenk war das dreiwöchige Festival, bei dem in der Amsterdamer Oper insgesamt 19 meiner Ballette gezeigt wurden. Das Dutch National Ballett, das Nederlands Dans Theater und Introdans aus Rotterdam haben getanzt. Aber besonders gefreut hat mich, dass mit dem Ballett am Rhein, dem Wiener Staatsballett und dem Stuttgarter Ballett auch drei internationale Compagnien angereist waren. Es war ein riesiger Erfolg. Ich habe alle 13 Vorstellungen gesehen und musste mich jedes Mal verbeugen. Gott im Himmel! Es war einfach fantastisch!
Sie haben bereits vor einigen Jahren, 2014, aufgehört zu choreografieren. Wie präsent sind Ihre Stücke heute für Sie?
Ich habe in meinem Leben 150 Ballette gemacht und dachte irgendwann, es reicht. Ich wollte nicht, dass man sagt: Oh, er ist schon 90 und macht noch immer Ballette. Das Aufhören war damals wie eine Befreiung. Ich fand es herrlich, nicht mehr unter dem Druck zu stehen, zu drei Terminen im Jahr eine neue Choreografie fertig haben zu müssen. Aber die Tanzkunst interessiert mich bis heute zu hundert Prozent. Wo auch immer ein Ballett von mir aufgeführt wird, ich komme! Ich habe fünf Leute, die meine Ballette einstudieren, und jedes Mal bin ich überrascht, wie gut sie das machen. Aber ich versuche auch immer, ein paar Tage vor der Premiere selbst vor Ort zu sein, um noch mit den Tänzerinnen und Tänzern zu arbeiten. Natürlich komme ich auch nach Zürich.
Zum Ballett Zürich haben Sie eine lange Beziehung. Seit fast dreissig Jahren sind Stücke von Hans van Manen in Zürich zu sehen, darunter so berühmte Choreografien wie Metaforen, Frank Bridge Variations oder Kammerballett.
Zürich war immer ein besonderer Ort für mich. Bernd Roger Bienert hat in den 90er-Jahren die ersten van Manen-Stücke gezeigt. Heinz Spoerli, mit dem ich bereits in seiner Zeit in Basel viel zusammengearbeitet habe, hat das fortgeführt, und auch mit Christian Spuck gibt es eine schöne Verbindung.
Nicht nur die jüngeren Choreografien, sondern auch viele Stücke aus den sechziger und siebziger Jahren haben sich ihre Zeitlosigkeit bewahrt. Beschäftigt Sie der Gedanke, was aus Ihrem Werk wird, wenn Sie nicht mehr da sind?
Als Choreograf hofft man natürlich, dass es einige Stücke auch über den eigenen Tod hinaus schaffen, lebendig zu bleiben, aber eine Garantie für Zeitlosigkeit gibt es nicht. Ich finde es wichtig, über den Tod nachzudenken und Vorkehrungen zu treffen – nicht nur, was die Ballette betrifft. Sonst wird es für alle furchtbar, die das dann regeln und auflösen müssen. Vor seinem Tod sollte man so viel wie möglich weggeben. Nur so hat man in der Hand, dass das im eigenen Sinne passiert. Mein künstlerisches Erbe wird von der Hans-van-Manen-Stiftung verwaltet.
Wir führen unser Gespräch auf Deutsch. Nicht nur die Sprache, sondern auch Deutschland an sich spielt in Ihrem Leben eine wichtige Rolle.
Ich bin in Nieuwer Amstel in Nordholland geboren, aber meine Mutter war Deutsche. Allerdings erinnere ich mich nicht, dass wir zu Hause Deutsch gesprochen hätten. Doch wahrscheinlich täusche ich mich, denn sonst würde ich die deutsche Sprache nicht so gut kennen. Meine internationale Karriere hat 1971 von Deutschland aus ihren Anfang genommen. Damals ist Keep going in Düsseldorf entstanden. Schon vorher waren namhafte deutsche Tanzkritiker wie Jochen Schmidt und Horst Koegler immer wieder nach Holland gekommen, um meine Aufführungen zu rezensieren. Aber in Deutschland habe ich immer wieder gearbeitet.
Galt der Prophet nichts im eigenen Land?
Das ist etwas Wahres dran. Meinen Ruf als Choreograf musste ich mir im Ausland
ON THE MOVE Choreografien von Hans van Manen, Louis Stiens und Christian Spuck Premiere am 14 Jan 2023
und vor allem in Deutschland erarbeiten, ehe er nach Holland ausgestrahlt hat. Damals wie heute hat die Tanzkunst hier keinen einfachen Stand. Obwohl das Interesse gross ist und die Ballettvorstellungen gut gefüllt sind, findet der Tanz fast überhaupt keinen Widerhall im Feuilleton.
Musik und die Tänzerinnen und Tänzer haben Sie immer wieder als die wichtigsten Quellen Ihrer Inspiration benannt.
Von der ausgewählten Musik hängt die Besetzung für eine Choreografie ab. In einer grossen Orchesterpartitur wird sie grösser sein als bei einem Klavierstück oder einem kammermusikalischen Werk. Wenn die Musik einmal feststeht, habe ich sofort eine Besetzung im Kopf, mit der ich arbeiten will. Das waren keineswegs nur meine Lieblingstänzerinnen und -tänzer, sondern ich fand es immer spannend, ihnen Leute an die Seite zu stellen, die ich in anderen Vorstellungen oder im Training gesehen hatte. Die richtige Musik zu finden, hiess in den Sechziger und Siebziger Jahren: Schallplatten, Schallplatten, Schallplatten! Ich habe mich damals quer durch das Repertoire gehört.
In einem Film haben Sie von einem Plattengeschäft erzählt…
Das war wirklich einmalig. Dort musste ich nur das Genre sagen, zum Beispiel Streichorchester aus dieser oder jener Zeit, und schon kamen sie mit einem Stapel Platten oder CDs, die ich mit nach Hause nehmen und daraus in Ruhe eine Auswahl treffen konnte. Wenn ich die passende Musik gefunden habe, nehme ich für mich eine Einteilung vor und lege fest, wo es einen Pas de deux gibt oder wo drei, vier oder sechs Leute tanzen. Ich habe eine Vorstellung von Anfang und Ende, weil das dramaturgisch sehr wichtig ist. Auch bei einem Buch sind ja die ersten Zeilen die wichtigsten! Aber ansonsten weiss ich nichts im Voraus. Alles entsteht mit dem Beginn der Arbeit im Studio. Ich kenne die Einteilung der Tänzerinnen und Tänzer und lasse mich ansonsten von der Musik leiten. Sie weist mir den Weg. Ich improvisiere viel, und dabei steht man natürlich ziemlich nackt da. Deshalb liebe ich risikofreudige Tänzerinnen und Tänzer. Wenn sie gar zu vorsichtig sind, werde ich auch vorsichtig. Sie müssen sich hineinwerfen. Sie machen geniale Fehler, und dann rufe ich: Das bleibt so! Da wird nie geschrien. Es geht alles sanft und ohne Druck, und so muss es auch laufen. Wir hatten immer Spass mit den Choreografien. Wenn ich meinte: «Das kann man ja nicht anschauen. Das sieht aus wie Balanchine.», fragte ein Tänzer gleich zurück: «Welcher Balanchine?» Und dann stellten wir fest, dass es doch eine Eigenständigkeit hatte, und wir haben die Sequenz behalten.
George Balanchine galt und gilt vielen Tanzschaffenden als eine Art Überfigur. Was hat er am Anfang Ihres Weges als Choreograf bedeutet, und was bedeutet er heute?
Als ich das erste Mal Balanchine sah, fand ich das unglaublich. Und das ist bis heute so geblieben. Bei einigen meiner Stücke spürt man, dass er mich inspiriert hat, aber ich glaube, sie sehen trotzdem nicht aus wie von Balanchine. Strawinsky und Picasso hassten das Wort «Inspiration», für sie war es ein Modewort. Halb im Scherz sage ich deshalb lieber: Ich stehle, wo immer ich kann. Man «stiehlt» und stellt fest: Mit diesem Element kann ich auch dieses oder jenes tun. Stehlen ja, imitieren nein! Das muss man sich bei jedem Stück sagen.
Wo sagen Sie denn heute: «Das habe ich von Balanchine gelernt.»?
Von Balanchine lernt man zuallererst Musikalität! Zu beobachten, wo und warum sich die Choreografie ändert, das ist fantastisch anzusehen. Die Art, wie er mit Wiederholungen umgeht. Auch was die Ausnutzung des Bühnenraums angeht, habe ich viel von ihm gelernt. In welchem Verhältnis stehen Horizontale und Vertikale, wann verwende ich die Diagonale, die ja die längste Form von Wiederholung ist,
die man in einer Choreografie machen kann. Es war mir immer wichtig, den zur Verfügung stehenden Raum voll auszunutzen. Wenn man Architekt ist, gebraucht man das ganze Haus und nicht nur die erste Etage.
Jetzt haben Sie viele Begriffe aus der Geometrie und Architektur verwendet. Wahrscheinlich können Sie es schon nicht mehr hören, aber Ihr Beiname «Mondriaan des Tanzes» kommt ja nicht von ungefähr…
Es ist ein grosses Kompliment, und es ehrt mich, wenn man das beim Betrachten meiner Stücke so empfindet. Ich messe dem aber keine so grosse Bedeutung bei. Mein ganzes Leben habe ich mich für Bildende Kunst interessiert, vor allem für die Werke des Konstruktivismus. Da kommt man an Mondriaan natürlich nicht vorbei. Auch in Zeiten, in denen ich kein Geld hatte, habe ich Bilder gekauft und dann in Monatsraten abbezahlt. Die Herzensbeziehung war dabei immer das Wichtigste. Es gibt diesen magischen Moment, wo du merkst: Ich muss und soll das haben. Und dann muss man kaufen.
Ihr Weg zum Tanz führte über einen Umweg. Sie sind zunächst bei dem grossen holländischen Maskenbildner Herman Michels in die Lehre gegangen.
Es war kurz nach Kriegsende, und die Schulen waren geschlossen. Meine Mutter, die wusste, dass ich tanzen wollte, hat mich durch Vermittlung einer Freundin bei Michels untergebracht, damit ich überhaupt etwas machen konnte. Michels war der beste Maskenbildner in Holland für Film, Bühne und Oper. In den fünf Jahren bei ihm habe ich alles an Balletteindrücken aufgesogen, was möglich war. Als ich 18 war, sagte ich zu ihm, dass ich aufhören wolle, um im Ballett von Sonia Gaskell zu tanzen. Er meinte, ich solle nur noch an einem Tag in der Woche für ihn arbeiten und könne mein Salär trotzdem behalten. Das habe ich noch ein halbes Jahr gemacht, mich dann aber ganz dem Tanz gewidmet. Ich war sicher nicht der Idealtyp für Schwanensee oder Giselle, aber ich war ein Virtuose und konnte unglaublich gut drehen. Zehn Pirouetten waren für mich normal. Nach einer kurzen Zeit bei Sonia Gaskell bin ich ins Opernballett gewechselt und 1958 schliesslich für ein Jahr nach Paris zu Roland Petit gegangen. Paris war eine Enttäuschung, die grosse Ballettgeschichte schien dort vorbei, und so sind Gérard Lemaître und ich schon nach einem Jahr nach Holland zurückgekehrt, wo wir uns dem gerade gegründeten Nederlands Dans Theater angeschlossen haben. Ich wurde zunächst als Tänzer und Choreograf engagiert, ein halbes später war ich Künstlerischer Leiter. Nach zehn Jahren reichte es mir, von da an habe ich nur noch als Choreograf gearbeitet und bin ohne alle administrativen Verpflichtungen sehr gut gefahren.
Amsterdam ist immer der Mittelpunkt Ihres Lebens gewesen. Warum haben Sie dieser Stadt ein Leben lang die Treue gehalten?
Ich wollte immer nur in Amsterdam leben, denn hier kann man anonym bleiben. Die Konkurrenz in einer Stadt wie New York hätte ich nicht ausgehalten. In Holland konnte ich immer machen, was ich machen wollte. Das Nederlands Dans Theater und das Holländische Nationalballett waren die beiden Pole meiner Arbeit. Jede der beiden Compagnien hat – bedingt durch die unterschiedliche TanzTechnik – ihr völlig eigenes Profil, und entsprechend unterschiedlich choreografiert man dann auch.
Ihr Schaffen ist mittlerweile auch zum Forschungsgegenstand geworden. Kluge Köpfe haben Ihr Werk in Perioden eingeteilt. Da ist die Rede von der Frühzeit, der Zeit der beginnenden Reife, der romantischen Periode, der Phase der kleinformatigen Duos... Können Sie das nachvollziehen?
Das Leben stellt sich in der Rückschau nicht in solchen Schubladen, sondern eher als ein grosser Kosmos dar. Man merkt oft erst viel später, was wichtig für einen war. Der Jazz zum Beispiel. Mein Bruder war Jazz-Pianist, und das hat mich sehr beeinflusst. In den 50er-Jahren habe ich, inspiriert von Jerome Robbins, JazzBallette gemacht. Aber auch zu Popmusik habe ich choreografiert, in Twice von 1970 zum Beispiel Sex Machine von James Brown. Das haben wir in London bei einem Gala-Abend des Royal Ballet aufgeführt. Später war das überall ein Erfolg, nur dort nicht. Aber hinterher bekam ich einen Brief von James Brown. Er fände es toll, dass Sex Machine endlich den Weg nach Covent Garden gefunden hätte. Nach diesem Brief war die Welt für mich wieder in Ordnung.
Schon 1987 hat der Tanzkritiker Jochen Schmidt seiner HansvanManenMonografie den Titel Der Zeitgenosse als Klassiker gegeben…
Ein fantastischer Titel, oder?
Sie fühlen sich damit also richtig beschrieben?
Jochen Schmidt hat das Spannungsverhältnis von Klassizität und Moderne in meinen Stücken gesehen. In der tänzerischen Ausbildung steht der klassische Tanz oft am Anfang. Aber dann kommen die unterschiedlichsten Eindrücke hinzu und
hinterlassen ihre Spuren. 1952 habe ich durch Martha Graham erfahren, was es heisst, den Boden in einer Choreografie zu benutzen. So etwas hatte ich noch nicht gesehen! Heute habe ich oft den Eindruck, dass die Choreografen fast zu viel mit dem Boden arbeiten. Da sieht man fast gar keinen Tanz mehr, und die Beine werden nicht mehr gebraucht.
Genauso wichtig wie die Beine sind in Ihren Choreografien die Augen und der Blick…
Das stimmt. Für die Beziehung zweier Tänzer in einem Pas de deux ist die Blickrichtung unverzichtbar. Bei mir ist sie immer einchoreografiert. Wohin schaut man? Wie schaut man einander an? Man darf nie in den Saal schauen, nach dem Motto «Guckt mal, wie fantastisch ich tanze!» Ausgestellte Virtuosität finde ich schrecklich. Wenn man in die Gasse schaut, stellt sich die Frage: Geht man? Geht man noch nicht? Geht man im Guten? Geht man im Bösen? Blicke sind ein Seismograph für die Beziehung und ausschlaggebend für alles, was sich choreografisch ereignet.
Lassen Sie uns noch einmal auf die Musik zurückkommen. Welche Qualität muss Musik haben, damit Sie choreografische Ideen bei Ihnen freisetzt?
Ich merke immer wieder, wie wichtig der Rhythmus ist. Erst der Rhythmus lässt tanzen. Musik muss mich so anfassen, dass ich gar nicht anders kann, als dazu zu choreografieren. Ich finde manche Stücke fantastisch, aber weiss von Anfang an, dass es nicht einfach wird. Aber dieses Risiko muss man eingehen. Ohne Risiko ist alles uninteressant. In vielen Choreografien, die ich sehe, wird die Musik als Wallpaper, als Tapete, benutzt. Es ist ein verbreiteter Irrglaube, dass es sich bei Ballett um illustrierte Musik handelt. Mir war immer wichtig, sich nicht auf den äusseren Ablauf zu verlassen, sondern die Innenspannung der Musik zu erfassen und ergründen. Ich finde es toll, wenn Musik es mir nicht einfach macht und sie mich zwingt. Das ist herrlich. Ich will auch gezwungen werden. Es gibt Choreografen, die Schritte geradezu mühelos aus dem Ärmel schütteln. In den meisten Fällen gelingt mir das nicht. Ich muss über jeden Schritt nachdenken.
Sie haben fast nie zu Musik choreografiert, die ausdrücklich für den Tanz komponiert wurde. Eine Ausnahme war 1974 Strawinskys Le Sacre du printemps beim Holländischen Nationalballet. Was war das für eine Erfahrung?
Ich muss 14 gewesen sein, als ich Walt Disneys Zeichentrickfilm Fantasia gesehen habe. Da traten die Dinosaurier zu Sacre-Klängen auf! Ich bin damals sicher zehn Mal ins Kino gegangen, weil ich die Musik so fantastisch fand. Aber ehrlich gesagt, war ich mit meinem Sacre nie zufrieden. Ich habe damals mit einem Pas de deux in der Mitte begonnen, weil zwei Solisten gerade für eine Probe frei waren. Das hätte ich nicht tun sollen. Man muss von Anfang an anfangen und weiterchoreografieren bis zum Ende. Wenn man hier ein Stückchen und da ein Stückchen macht, gerät die Dramaturgie in Gefahr, und man verliert die Geschichte aus den Augen.
Trotzdem sind Sie zu Strawinsky immer wieder zurückgekehrt. Weil er ein musikalischer Seelenverwandter ist?
Weil er mich aufgeregt hat! Wir sprachen über den Konstruktivismus, der steckt ja auch in dieser Musik. Bei Strawinsky ändert sich die musikalische Struktur jede Minute. Man kann fast die Uhr danach stellen.
Gibt es Musik, bei der Sie denken: Das hätte ich gern noch choreografiert?
Ich kann Musik inzwischen gut ohne jeden Gedanken an Choreografie geniessen. Ich höre etwas und denke mir: Was für ein fantastisches Stück Musik! Erst gestern gab es im Fernsehen ein Gustav-Mahler-Adagio in einer Fassung für Klarinette, Cello und Klavier. Vor ein paar Jahren hätte mich das wahrscheinlich inspiriert. Kammermusik ist einfach herrlich!
Was sollten Tänzerinnen und Tänzer begriffen haben, wenn sie Ihre Stücke tanzen?
Dass man mit Schritten noch ganz andere Sachen machen kann, als man normalerweise tut. Ich hab immer versucht, die herkömmlichen klassischen Schritte zu verändern. Man kann sie länger oder kürzer machen, und mit der erlernten Technik lässt sich das Spektrum tänzerischen Ausdrucks immer wieder erweitern. Dieser Kreis ist noch lange nicht ausgeschritten. Aber es geht mir, wie gesagt, nie um die Technik an sich. Das Wichtigste im Pas de deux ist die Beziehung zwischen zwei Menschen. Deshalb wollte ich immer Menschen auf der Bühne sehen. Tänzer, die Menschen sind und nicht nur Tänzer.
Sie haben in Ihren Stücken die unterschiedlichsten Paarkonstellationen zusammengebracht. 1965 war in Metaforen der erste MännerPas de deux der Tanzgeschichte zu sehen. Trotzdem waren Ihre Ballette nie eine Selbstfeier der Homosexualität…
Warum sollten sie das auch sein? Ich habe die Homosexualität immer sehr einfach und als etwas völlig Normales gesehen. Ich wusste seit meinem 10. Lebensjahr, dass ich homosexuell bin und habe das ab 15 auch offen gelebt. Dennoch bin ich mir im Klaren, dass das in vielen Teilen der Welt auch heute nicht selbstverständlich ist und verfolge den Umgang der Politik mit diesem Thema sehr bewusst.
Mit Ihrem Partner Henk sind Sie seit 51 Jahren zusammen. Was ist das Rezept für diese lange Beziehung?
Das funktioniert, weil wir nicht zusammenwohnen. Wir sehen einander fast jeden Tag, wir essen zusammen. Aber abends geht jeder zu sich nach Hause, denn es gibt immer noch Dinge, die man alleine tut. Vielleicht läuft im Fernsehen ein Stück, das ihn nicht interessiert, und ich will es sehen? Wenn man einander totale Freiheit gibt und sich jeder trotzdem für den anderen verantwortlich fühlt, kann man es lange miteinander aushalten. Auf Reisen sind wir immer im selben Hotelzimmer. Gerade erst hatten wir in Paris wieder so viel Spass zusammen. Wir gehen da jedes Mal zu Armani, und die wollen dann immer, dass wir alles anziehen. Das tun wir auch. Aber wir sagen dann zehn Mal Nein und einmal Ja.
Armani ist Ihr Lieblingsdesigner?
Ja, aber auch Ralph Lauren mag ich sehr. Und halten Sie mich für verrückt, aber oft kaufe ich auch die idiotischsten Schuhe bei Dolce & Gabbana. Aber ich trage sie nie, weil ich finde, dass es Kunstwerke sind!
In Ihren Stücken steckt neben einer grossen Klarheit, Eleganz und Menschlichkeit oft auch sehr viel Humor. Schuhe bzw. Absätze haben Sie sogar auch in der Choreografie zum Thema gemacht…
Wann immer ich irgendwo auf einer Terrasse sitze, beobachte ich, wie die Leute laufen. Es gibt so wenig Menschen, die das gut können. Und die Absätze sind bei fast allen furchtbar. Bei den Frauen sind sie oft so hoch, dass sie die Beine nicht strecken können. Zu den Premieren in Russland kamen die Damen oft in Sportschuhen und brachten ihre High Heels in einem Beutel mit, um sie im allerletzten Moment anzuziehen. Das fand ich grossartig. In Twilight von 1972 stand meine Ballerina Alexandra Radius auf hochhackigen Spitzenpumps. Was im Leben etwas Normales ist, bringt eine klassische Tänzerin auf der Bühne in eine eigenartige Position. Sie tanzt weder auf Spitze noch auf flacher Sohle, sondern in einem Zwischenbereich. Der Schuh scheint nicht nur ihre Motionen, sondern auch ihre Emotionen einzuschränken. Die Musik von John Cage für präpariertes Klavier fand ihre Entsprechung in dieser Choreografie für «präparierte Füsse». Aber Absätze können auch eine Waffe sein. Dagegen wirken nackte Füsse fast wie ein Friedensangebot.
Unser Gespräch wäre unvollständig, wenn wir nicht auch über den Fotografen Hans van Manen sprechen würden. Fotos wie Stretching, Sword oder Bacchanten sind geradezu ikonografische Kunstwerke, die in namhaften Museen ausgestellt sind. Woher kam der Impuls zum Fotografieren?
Das hatte mit den vielen Malern zu tun, mit denen ich befreundet war. Sie wollten immer, dass ich meine Meinung zu ihren Kunstwerken äussere, weil ich angeblich «den richtigen Blick» hätte. Irgendwann fanden sie, ich müsse fotografieren. 1972 habe ich mit der Kleinbildkamera zunächst in Farbe begonnen. Dann habe ich noch ein Studium angefangen und mit der Hasselblad in schwarz-weiss und im Negativformat 6x6 das fotografiert, was mich als Choreograf interessiert – den menschlichen Leib. Während es in der Choreografie um den Ablauf von Bewegung geht, hat mich beim Fotografieren der Stillstand interessiert, das Verhältnis von Körper, Raum und Licht und ihrer zweidimensionalen Abbildung. Neben dem Choreografieren war das eine anstrengende Sache. Fast jede Nacht stand ich bis drei Uhr morgens im Labor. Ich musste mich irgendwann entscheiden und fand die Choreografie am Ende doch wichtiger für mich. 1991 habe ich mit dem Fotografieren aufgehört und seither auch nie wieder eine Kamera angefasst. Aber ich kaufe nach wie vor Fotografien und interessiere mich sehr dafür. Gerade bin ich sehr glücklich mit den Close-Ups, die mein Freund, der holländische Fotograf Erwin Olaf, von einigen meiner Choreografien gemacht hat. Sie wurden in Amsterdam und Paris in Ausstellungen gezeigt und auch als Bildband veröffentlicht.
Das Ballett Zürich tanzt jetzt Ihre Choreografie On the Move aus dem Jahr 1972. Was ist das für ein Stück?
On the move habe ich seinerzeit für das Nederlands Dans Theater choreografiert. Mit insgesamt vierzehn Tänzerinnen und Tänzern war das für mich eine relativ grosse Besetzung. Ein befreundeter Kritiker hatte mir das Erste Violinkonzert von Sergej Prokofjew empfohlen. Ich habe es gehört und fand es am Anfang alles andere als einfach. Besonders die Wiederholungen in der Partitur haben mich damals beschäftigt. Müsste ich da in der Choreografie nicht etwas anderes machen? Aber ich habe mich dann doch für eine choreografische Wiederholung entschieden, und wenn das toll getanzt wird, ist das absolut richtig. Heute bin ich zufrieden, dass ich das Stück gemacht habe.
Was muss denn zusammenkommen, damit Hans van Manen zufrieden ist?
Man muss einfach guten Gewissens draufschauen können. Zu vielen meiner Ballette stehe ich bis zum heutigen Tag. Aber es gibt auch welche, über die die Zeit ihr Urteil gefällt hat. Henk und ich sind all meine Stücke durchgegangen, und bei etwa 40 Prozent fanden wir: Weg damit! Wenn Henk zögerlich war, habe ich gesagt: Du kannst es aufführen lassen, wenn ich es nicht mehr sehen muss. Also nicht, solange ich lebe!
Wir haben während unseres Gesprächs köstlich gegessen und guten Wein genossen, und Sie haben sich dabei ein paar kleine Zigaretten gedreht…
Das muss sein! Ich rauche seit 70 Jahren aus Passion. Erst kürzlich habe ich mich wieder durchchecken lassen, und die Ärztin rief mich am nächsten Tag an: «Spreche ich mit dem 18-jährigen Hans van Manen?» Ich fragte: «Alles in Ordnung?» «Alles in Ordnung!» Ich rauche nicht Lunge, sondern ein bisschen durch die Nase. Ich inhaliere nicht total, das habe ich nie getan. Aber ich rauche mit Henk noch immer fast jeden Tag einen Joint. «Prima!», sagen die Ärzte.
Tal
von Louis Stiens
Im Herbst 2018, ich erinnere mich gut, hatte ich das Glück, zum ersten Mal in Zürich zu arbeiten. In meinem Stück Wounded habe ich mich seinerzeit mit dem Tanzen junger Menschen in den Medien der Unterhaltungsindustrie auseinandergesetzt. Mit den Tänzerinnen und Tänzern des Junior Balletts war das eine wunderbare Erfahrung.
Seither ist viel passiert. Inzwischen tanze ich nicht mehr im Stuttgarter Ballett, das seit 2011 meine künstlerische Heimat gewesen ist. Das Choreografieren ist für mich in den letzten Jahren immer wichtiger geworden, und diesen Weg will ich jetzt – ohne Engagement im Rücken – noch konsequenter beschreiten. Im Erforschen der eigenen Körperlichkeit beim Tanzen habe ich in jüngster Zeit eine grosse Bereicherung durch meinen Partner Shaked Heller erfahren, der ebenfalls tanzt und choreografiert. Schon für 2020 war eine Zusammenarbeit mit dem Ballett Zürich geplant, aber wie so viele andere Projekte ist sie der Corona-Pandemie zum Opfer gefallen. Umso schöner, dass es jetzt doch noch dazu kommt!
In den letzten zehn Jahren war ich damit beschäftigt, eine eigene Bewegungssprache zu finden. Im Kontakt mit den Tänzerinnen und Tänzern hoffe ich, hier in Zürich noch einmal auf neue Ideen zu kommen und diese Sprache weiter auszubauen. Der künstlerische Austausch und das Einbinden der an einer Produktion beteiligten Personen ist mir sehr wichtig. Dabei interessiert mich das Feedback der Tänzerinnen und Tänzer sehr. Ich selbst hätte als Tänzer oft gern mehr zu entstehenden Projekten beigetragen, als einem Choreografen lediglich meine tänzerischen Fähigkeiten zur Verfügung zu stellen. William Forsythe hat schon in den 80er-Jahren vorgemacht, wie das gehen kann: Gemeinschaftschoreografien, die an die Leute gebunden sind, die sie kreiert und erfunden haben.
Hier in Zürich wollte ich nicht einfach eine abstrakte Choreografie abliefern. Mein neues Stück für das Ballett Zürich entsteht in enger Zusammenarbeit mit der Bühnenbildnerin Bettina Katja Lange. Da sie aus dem Bereich der visuellen, digitalen Medienkunst kommt und bisher nur wenig mit Tanz zu tun hatte, gehen wir gemeinsam durch einen bereichernden Arbeitsprozess. Das Konzept zum Stück ist im intensiven Austausch mit ihr entstanden. Bis auf die Musikwahl gab es keine konkreten Vorgaben. Wir wollten autonom arbeiten, uns im Austausch mit dem Sounddesigner Mike Utz gegenseitig inspirieren und so die Bedeutungsebenen des Stücks ständig hinterfragen und erweitern. Ich bin sehr glücklich über diesen Austausch, nachdem die Pandemie uns noch einmal deutlich vor Augen geführt hat, welch grossen Wert gemeinschaftliches Arbeiten hat und wie viel bereichernder das ist als der einseitige Egotrip.
Mit der Philharmonia Zürich steht für den Ballettabend On the move ein Spitzenorchester zur Verfügung. Auf der Suche nach einer Musik, die Tänzer und Musiker gleichermassen herausfordert, bin ich irgendwann auf Claude Debussy und Maurice Ravel gestossen. In vielen ihrer Kompositionen haben sie Naturereignisse zum Thema gemacht. Mich hat interessiert, wie sie Natur in ihren Stücken spiegeln und wie sich die Sicht auf Natur, aber auch die Naturerfahrung in den letzten 100 Jahren gewandelt haben. Wenn wir Stücke wie Nuages oder Une barque sur l’océan heute hören, stellt sich oft der Gedanke an eine Idylle ein, die es so nicht mehr gibt und vielleicht auch nie gegeben hat. Es ist eine Natur, die mit der Realität nichts zu tun hat und die
ON THE MOVE Choreografien von Hans van Manen, Louis Stiens und Christian Spuck Premiere am 14 Jan 2023
für mich nach einem Gegenpol verlangt. Natur in Reinform ist für uns heute kaum noch erlebbar. Fast immer treten wir in eine von Menschen, von Technologie überformte Natur. Ich habe mir angeschaut, was andere Choreografen zu diesen Kompositionen gemacht haben. Dabei ist mir aufgefallen, dass die Musik zu bestimmten Stereotypen verleitet. Als Choreograf gerät man schnell in Versuchung, nur noch auf den fahrenden Zug aufzuspringen. Das möchte ich vermeiden. Für mich war relativ schnell klar, dass ich das Ganze in irgendeiner Form brechen muss.
Das dreidimensionale Bühnenbildobjekt, das Bettina Katja Lange entwickelt hat, wirkt deshalb wie ein Überbleibsel von Natur nach dem menschlichen Eingriff. Es erinnert noch an verschiedene Naturszenarien – eine Welle, einen Berg oder auch einen Lufthauch, aber es ist bereits ein Kommentar. Was passiert mit dem menschlichen Körper in dieser Umgebung? Wie natürlich, aber auch wie künstlich können sich Tänzerinnen und Tänzer darin bewegen?
Die Debussy- und Ravel-Kompositionen kontrastieren wir mit Tonaufnahmen, die wir mit unserem Sounddesigner Michael Utz am Uetliberg gemacht haben: das Rauschen des Windes ist zu hören, bewegtes Gestein, ein Flugzeug, das über den Berg fliegt. Entstanden ist eine Klangcollage aus Feldaufnahmen, die uns zufällige Bruchstücke und Ausschnitte aus der Natur präsentiert, denen aber nichts Idyllisches mehr anhaftet. Gemeinsam mit den Orchesterkompositionen entsteht eine Soundlandschaft,
die in einen Dialog mit dem Bühnenbild und der Choreografie treten soll. In der Interaktion mit den Tänzerinnen und Tänzern wird in diesem Kosmos eine besondere Dramatik entstehen.
Für einen Choreografen ist es ein grosses Plus, wenn er im Studio selbst vormachen kann, was ihm in seiner Choreografie vorschwebt. Im Studio können wir im Moment nur in einem sehr vereinfachten Probensetting arbeiten. Deshalb bin ich nach Probenschluss gerade jeden Abend noch allein im und auf dem Originalbühnenbild unterwegs, um auszuprobieren, welche Bewegungs- und Schrittabläufe in diesem Setting möglich und praktikabel sind. Dabei ich habe ich mir schon jede Menge blaue Flecken geholt, die ich meinen Tänzerinnen und Tänzern in den Bühnenproben gern ersparen will.
Zufällig ist es das Werk eines Schweizer Autors, das mich während der Entstehung dieses Stückes begleitet. In seinem 1934 erschienenen Roman Derborence erzählt Charles Ferdinand Ramuz von einem Bergsturz, der ein ganzes Dorf unter sich begräbt. Dass sich vor diesem Hintergrund im Roman eine Liebe entwickelt, die Natur also nicht nur ihre zerstörerische Kraft entfaltet, sondern weiter schöpferisch bleibt, hat etwas sehr Hoffnungsvolles.
Notiert von Michael Küster
Lontano
von Christian Spuck
ON THE MOVE Choreografien von Hans van Manen, Louis Stiens und Christian Spuck Premiere am 14 Jan 2023
Christian, On the Move heisst der neue Abend des Balletts Zürich mit Choreografien von Hans van Manen, Louis Stiens und von dir. Wie ist dieser Abend zustande gekommen?
Hans van Manen hatte ich bereits 2020 mit seinem Kleinen Requiem engagiert. Dieses Projekt ist leider der Pandemie zum Opfer gefallen. Deshalb war es mir wichtig, ihn wieder einzuladen – auch vor dem Hintergrund seines 90. Geburtstages. Aber wir haben uns für ein anderes Stück von ihm entschieden, weil es eine grössere Besetzung hat und so mehr Tänzerinnen und Tänzer in den Genuss kommen, Hans van Manen zu tanzen. Ähnlich ist es mit Louis Stiens, der bereits sehr erfolgreich für das Junior Ballett choreografiert hatte und nun – wie lange vereinbart – die Chance erhält, mit der Hauptcompagnie zu arbeiten. On the move ist nicht nur ein grossartiges Werk von Hans van Manen. Der Titel hat eine schöne Doppeldeutigkeit, denn beim Ballett Zürich wird sich – bedingt durch den Wechsel in der Direktion – in den nächsten Monaten einiges in Bewegung setzen. Nicht nur die Tänzerinnen und Tänzer, auch die Institution wird sich weiterbewegen.
Was verbindet die drei Choreografien?
Es ist, wie ich finde, ein repräsentatives Kaleidoskop wegweisender Musik des 20. Jahrhunderts. Impressionistische Musik von Ravel und Debussy verbindet sich mit Prokofjews Erstem Violinkonzert und György Ligetis eindrücklicher Orchesterstudie Lontano. Es ist eine schöne Gelegenheit, noch einmal die grossartige Zusammenarbeit des Balletts Zürich mit der Philharmonia Zürich zu feiern.
Lontano ist dein letztes Stück für das Ballett Zürich. Nach grossen abendfüllenden Produktionen kehrst du zur kleinen Form zurück?
Für mich war das grosse Abschiedsstück bereits unsere Monteverdi-Produktion in der vorigen Saison. Es war mein Wunsch, eine Brücke zur neuen künstlerischen Leitung des Balletts Zürich zu bauen. So wird meine Nachfolgerin Cathy Marston mit ihrem Ballett The Cellist die dritte Premiere dieser Saison bestreiten. Ich geniesse es gerade, noch einmal im Studio kreativ zu sein und zum Schluss diesen kleinen Einakter zu choreografieren.
Ihren Titel Lontano hat deine Choreografie von einem berühmten Stück des ungarischen Komponisten György Ligeti. 1967 wurde es bei den Donaueschinger Musiktagen uraufgeführt. Was ist das Besondere an dieser Musik?
György Ligeti fasziniert mich seit langem, weil er sich als Komponist immer wieder neu erfunden hat. Seine frühen Werke sind sehr melodiös und eingängig. Später ändert sich seine Kompositionstechnik. Seine Musik entwickelt sich nicht mit Hilfe der gewohnten formgebenden Stilmittel, wie motivisch-thematischer Arbeit, Kadenzierungen und traditionellen Formprinzipien. Die Atmosphäre entsteht vielmehr auf eine völlig neue Weise: Aus einem einzigen Ton im äussersten Pianissimo entwickelt das in Einzelstimmen geteilte Orchester kanonartig immer dichtere polyphone Strukturen, die sich gegenseitig überlagern. Obwohl diese Klangflächen fast stehend wirken, hat das Ganze eine relativ grosse Dynamik und scheint sich fortzubewegen. Man hat das Gefühl, man sei selbst in Bewegung.
Choreografisch klingt der Begriff «Klangfläche» nach einer besonderen Herausforderung. Wo kann man auf diesen Klangflächen choreografisch andocken?
Die Klangflächen haben ein faszinierendes Eigenleben. Es gibt feinste Mikrostrukturen, in denen unglaublich viel passiert und die man beim Choreografieren sehr gut erfassen kann. Ich gehe aber gerade einen anderen Weg. Ich choreografiere relativ grosse Gruppensequenzen, die wir erst sehr spät auf die Musik setzen werden. Ich möchte, dass sich Musik und Choreografie erst relativ spät begegnen. Vielleicht ergeben sich dadurch ja ganz neue Möglichkeiten der Verbindung, mit denen man von Vorstellung zu Vorstellung spielen kann. Die Tänzerinnen und Tänzer des Balletts Zürich haben seit Produktionen wie Lachenmanns Mädchen mit den Schwefelhölzern oder Monteverdi ein sehr geschultes Ohr und haben im Umgang mit sehr komplexen Formen von Musik viele Erfahrungen gesammelt, die ihnen jetzt auch bei Ligeti zugutekommen.
Sowohl On the move als Lontano tragen nicht nur den Gedanken des SichEntfernens, sondern auch den Aspekt des Abschieds in sich. Was für einen Niederschlag findet das in deiner Choreografie?
Es ist ein Abschied, ein Sich-Auflösen in ganz vielen Aspekten. Dabei geht es gar nicht um mich: Das Ensemble in seiner aktuellen Zusammensetzung löst sich auf und wird sich von dem entfernen, was bis jetzt das Ballett Zürich war. Ich sehe das durchaus positiv. Jedes Ding hat seine Zeit. Dass es dann weitergeht und sich etwas Neues entwickelt, ist grossartig. In meinem kurzen Stück möchte ich dem ein bisschen nachspüren. Es wird eine Art Abschiedspostkarte.
Alle Mitglieder des Balletts Zürich sind an dieser Abschiedspostkarte beteiligt und hinterlassen eine tänzerische Signatur. Wie machst du diese Vielzahl von starken Einzelpersönlichkeiten und starken Charakteren für die Choreografie nutzbar?
Angesichts eines im Moment sehr dichten Probenplans gibt es die Vereinbarung, dass ich immer nur die Tänzerinnen und Tänzer bekomme, die gerade frei sind und nicht in anderen Proben stecken. Ich darf sie genau zwei Mal haben und muss bei diesen beiden Proben von jeweils einer Stunde alle Szenen entwerfen. Das macht viel Spass, weil man sich trotz dieser Einschränkung ganz frei bewegen kann und die Tänzerinnen und Tänzer ihrerseits ganz viel Kreativität in die Proben mitbringen. Dass ich die einzelnen Tänzerinnen und Tänzer nach einer langen Zusammenarbeit inzwischen gut kenne, ist ein Vorteil. Ich weiss, wo ihre besonderen Stärken liegen. Bei diesem letzten Stück will ich mich nicht mehr unter Druck setzen. Wie das Ganze am Ende aussehen wird, weiss ich noch nicht, aber dieses Arbeiten ohne Druck geniesse ich gerade sehr.
Dem Stück von Ligeti hast du weitere Kompositionen an die Seite gestellt. Welche sind das, und was waren deine Überlegungen dabei?
Das zweite Orchesterstück stammt von dem Amerikaner John Zorn. Es ist eine Fassung des hebräischen Gebets Kol Nidre, das an den höchsten jüdischen Feiertagen gebetet wird und bei dem man sich von allem Gewesenen loszulösen und reinzumachen sucht. Den Gedanken, sich zu reinigen und alles aufzuarbeiten, bevor man geht, fand ich sehr wichtig. Zu den zwei Orchesterstücken kommen noch zwei Einspielungen der Pianistin Alice Sara Ott – ein Chopin-Stück und eine Eigenkomposition von ihr. In diesem Lullaby to Eternity reflektiert sie über das Lacrymosa aus Mozarts Requiem. Jeder Abschied ist mit einer Form von Trauer verbunden, deshalb berühren mich die beiden Takte, in denen man das MozartRequiem erkennen kann, sehr.
Das Gespräch führte Michael Küster.
On the Move Ballettabend
On the Move
Choreografie Hans van Manen Musik Sergej Prokofjew Bühnenbild und Kostüme Keso Dekker Lichtgestaltung Joop Caboort Choreografische Einstudierung Ken Ossola
Tal
Choreografie Louis Stiens Musik Claude Debussy, Maurice Ravel Bühnenbild Bettina Katja Lange Kostüme Louis Stiens Soundcollagen Michael Utz Lichtgestaltung Martin Gebhardt Dramaturgie Michael Küster Choreografische Assistenz Shaked Heller
Lontano
Choreografie Christian Spuck Musik György Ligeti, John Zorn, Frédéric Chopin, Alice Sara Ott Bühnenbild Rufus Didwiszus Kostüme Emma Ryott Lichtgestaltung Martin Gebhardt Dramaturgie Michael Küster
Ballett Zürich, Junior Ballett Philharmonia Zürich Musikalische Leitung Alevtina Ioffe
Premiere 14 Jan 2023 Weitere Vorstellungen 15, 21, 22, 27, 28, 29 Jan; 2, 4, 11 Feb 2023
Partner Ballett Zürich