Making Woodstock. Ein legendäres Festival und seine Geschichte (erzählt von denen, die es bezahlt ha

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Joel Rosenman | John Roberts | Robert Pilpel

Making Woodstock Das legendäre Festival und seine Geschichte (erzählt von denen, die es bezahlt haben)

Aus dem Amerikanischen von Adelheid Zöfel und Stefanie Fahrner


Joel Rosenman, John Roberts, Robert Pilpel: Making Woodstock Deutsche Erstausgabe. Titel der Originalausgabe: Young Men With Unlimited Capital © Copyright 1974 Joel Rosenman, John Roberts, Robert Pilpel © Copyright für die deutsche Ausgabe 2009 bei Alle Rechte vorbehalten. Aus dem Amerikanischen von Adelheid Zöfel und Stefanie Fahrner

Umschlaggestaltung: Katharina Gabelmeier unter Verwendung des Original-Woodstockmotivs von Arnold Skolnick Druck und Bindung: Westermann Druck, Zwickau ISBN: 978-3-936086-42-3 www.orange-press.com


Vorwort  .....................................................................

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Dramatis Personae  ...................................................

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Partner  ......................................................................

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Auf nach Wallkill  ......................................................

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Projekt-Fortschritt (?): 15. April 1969  ......................

53

Wir sind im Geschäft  . ..............................................

55

Projekt-Fortschritt (?): 15. Mai 1969  . ......................

75

Es braut sich was zusammen  . .................................

77

Projekt-Fortschritt (?): 15. Juni 1969  .......................

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Bloß raus aus Wallkill  . .............................................

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Projekt-Fortschritt (?): 15. Juli 1969  ........................

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Auf nach White Lake  . ..............................................

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Countdown  ...............................................................

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Projekt-Fortschritt (?): 15. August 1969  ..................

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Wassermann!  ............................................................

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Drei Tage Peace & Music  ..........................................

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Das Nachspiel  ...........................................................

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Gewinn (?) und Verlust (!): 31. Dezember 1973  .....

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Roberts und Rosenman blicken zurück  . .................

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Epilog & Abspann  . ...................................................

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Inhalt


Vorwort


Der Regen hat aufgehört. Was für eine Ironie des meteorologischen Schicksals – wie wenn bei einem Picknick der Himmel plötzlich blitzblau wird, nachdem die Fluten längst alles unter sich begraben haben. Und drei Meilen entfernt ist das größte Picknick aller Zeiten noch im Gange, die Klänge wehen durch die kühlfeuchte Nacht, die Landstraße hoch. Ein grüner Porsche biegt rückwärts auf die State Route 17B ein, Richtung Osten, hält kurz im Leerlauf, während der Fahrer seine Zigarette ausdrückt und sich gleich die nächste ansteckt. Sein Begleiter sitzt stumm daneben, müde und mit leerem Blick. Hinter der Stadt tauchen im Scheinwerferlicht die Überreste des Chaos-Wochenendes auf. Parkende, vielleicht auch liegengebliebene Autos am Straßenrand. Müll und Matsch. Matsch und Müll. Ein Abschleppwagen kommt ihnen entgegen getuckert, einen »modifizierten« Leichenwagen Marke Cadillac im Schlepptau. Der Beifahrer im Porsche lacht grimmig in sich hinein: ein Omen. In der Nähe von Monticello kauert ein durchnässtes Mädchen erschöpft am Straßenrand, daneben, mit jüdischem Afro und Bart, ein junger Typ, der den Daumen raushält. Als der Porsche näherkommt, verzieht sich der Mund zwischen den wuscheligen Haaren zu einem Grinsen, und seine Augen signalisieren »Wir sind alle Brüder«. Aber der Porsche verlangsamt seine Fahrt nicht, und das Grinsen gefriert. Im Rückspiegel erstarrt es zu einer Grimasse hinter erhobener Faust mit Stinkefinger: Drei Tage »Peace & Music« gehen zu Ende. Gegen Mitternacht erreicht der Porsche die vierspurige Route 17, eine Straße, die man den »New York Quickway« nennt: noch so eine Ironie des Schicksals, wenn man an die Staus der letzten zweiundsiebzig Stunden denkt. Der Wagen beschleunigt, und der Wind, der durch die halb geöffneten Fenster pfeift, raschelt mit den Seiten der Sonntags-News auf dem Rücksitz. »HIPPIES VERSINKEN IN MEER AUS MATSCH« lautet die Schlagzeile. »Mann, oh Mann«, stöhnt der Fahrer nach ein paar Meilen.

Sonntag, 17. August 1969, 23:30 Uhr


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»Hast du früher auch manchmal geträumt, du machst ’ne Party und keiner kommt?« Eine Weile hängen sie schweigend diesem Gedanken nach. »Wir haben den Kredit um mindestens eine Million überzogen«, sagt der Fahrer. »Der Banktermin ist morgen um neun?« Der Fahrer wirft einen Blick auf die Uhr im Armaturenbrett. »Heute um neun.« »Heute um neun«, wiederholt der Beifahrer dumpf. »Auf dem Quick­ way vergeht die Zeit echt schnell.« Sie erreichen den New York Thruway und fahren weiter Richtung Süden. »Joel, erinnerst du dich noch – im März oder wann das war?« »Woran soll ich mich erinnern?«, fragt der Beifahrer nach einer Pause. »Du weißt doch – als du total die Hoffnung aufgegeben hattest.« »Stimmt. Ich wollte ein Jahr lang aussteigen oder irgendwas. Mich selbst finden.« »Genau. Weißt du auch noch, was du gesagt hast? Das muss man sich mal reinziehen: ›Du schaffst das schon, Jock. Du hast ein gutes Projekt ...‹ « »Und gute Partner! Ich weiß noch genau, wie ich gesagt habe: gute Partner. ›Du brauchst mich nicht. Du hast ja Michael und Artie.‹ Wow!« »Weswegen hat Artie heute so rumgebrüllt? Zwei Kästen Coca-Cola für Blood Sweat & Tears. Sofort! Per Hubschrauber!« »Koste es, was es wolle, Mann! Die Stars sind durstig.« »Koste es, was es wolle, Mann. Ist ja nicht unser Geld.« Sie lachen beide. »Und Michael: ›Hey, Joel, das ist echt ein Wahnsinnstrip, Mann! Du musst mal hier raufkommen und das miterleben.‹ ›Klar, Michael. Gleich. In meiner Mittagspause.‹ Du lieber Gott!« Der Porsche überquert jetzt die Tappan Zee Bridge. Auf halber Strecke, an der höchsten Stelle über dem Fluss, sieht man am südlichen Horizont ein schwaches Glühen. New York. »Na ja, Jock«, meint der Beifahrer aufmunternd, »auf jeden Fall ist es etwas, wovon wir noch unseren Enkeln erzählen werden.«


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»Allerdings. Während wir uns in der Schlange vor der Suppenküche aneinander kuscheln, damit wir nicht so frieren.« »Suppenküche – das ginge ja noch. Du meinst wohl eher, wenn sie uns im Knast besuchen.« Das Gespräch verstummt. Plötzlich, in wütend verzweifeltem Ton: »Scheiße, Joel! Was sollen wir bloß machen?« »Ich habe keine Ahnung, Jock. Entscheidend ist, was die Bank macht. Was ist mit Lefkowitz? Was kommt von Warner Brothers?« »Warner Brothers! Du lieber Himmel. Hoffentlich hatten die wenigstens Film in den Kameras.« Wieder schweigen sie. Der Wagen brettert jetzt den Major Deegan Expressway entlang, dann über die Triboro Bridge und den FDR Drive hinunter. An der Ecke 86th Street und Lexington Avenue springt der Beifahrer kurz raus, um am Zeitungsstand die Times zu kaufen. Er steigt wieder ein, schlägt die Seite drei auf. »Und?«, fragt der Fahrer. »Hier, die Überschrift: ›Albtraum in den Catskills‹. Willst du noch mehr hören?« »In den Catskills, so ein Quatsch! Die sollen mal in sieben Stunden mit uns bei der Bank antanzen, dann wissen sie, was ein Albtraum ist.« Der Beifahrer verzieht das Gesicht. »Tja, ein Albtraum hätte einen großen Vorteil. Spätestens, wenn wir aufwachen, wäre er vorbei.« »Davor habe ich am allermeisten Schiss«, murmelt der Fahrer, als er in die Garage ihres Apartmenthauses einbiegt. »Stell dir vor, wir wachen auf – und sind tot.«


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entschlossen vortrat, um dem Anführer die Hand zu geben. Der Hund hätte mir gleich auffallen müssen. Im Vergleich zu den anderen Anwe­ senden hatte er wenig Haare, und außerdem war er der einzige im Raum, der keine Jeans trug. »Sitz, Floyd!«, rief der Chefgorilla, auch bekannt unter seinem bürger­ lichen Namen Abbie Hoffman. Alle lachten brüllend, auch meine beiden Partner, die sorgfältig darauf achteten, ihr Gegluckse mit dem von Floyd rhythmisch abzustimmen. So viel zu unserem geschlossenen Auftreten. »Also«, krächzte ich, »die Herrschaften wollen uns sprechen?« Es ist nicht so einfach, im Sopran zuversichtlich und gelassen zu wirken. Artie zog mich nervös am Ärmel. Anscheinend verlangte das Protokoll, ihnen die Eröffnung zu überlassen. »So«, zischte Abbie in bester SS-Manier, »ihr seid also Woodstock Ventures, hm?« Das war ein Statement, keine Frage. Mir kam langsam der Verdacht, dass er uns gar nicht zutraute, eine verdammte kapita­ lis­tische Abzocke auf die Beine zu stellen. »Okay«, sagte er, »ihr denkt wahrscheinlich, wir wollen Publicity, stimmt’s? Oder dass wir vielleicht missionieren wollen. Keine Sorge – es ist ganz einfach. Wir wollen bloß zehntausend Dollar bar auf die Hand.« Der leise Seufzer der Erleichterung, den ich nach seinen einführenden Worten ausstoßen wollte, wurde von zunehmender Übelkeit erstickt. »Wie bitte?«, schrie ich. »Zehn Riesen«, erklärte er seelenruhig. »Sonst ...« »Sonst was?«, fragte ich so schwachsinnig, dass es wehtat. Eines musste man Abbie zugestehen: Er hatte ein Gespür für große Gesten. Er hob die Faust und ließ sie so krachend auf den Tisch nieder­ donnern, dass Floyd die Zähne fletschte. »Sonst – « (bedeutungsvolle Pause) »... könnt ihr euch euer Scheißfestival sonstwohin stecken.« Diese unverhohlene Drohung brachte uns drei und den Hund zur Räson. Wir dachten nicht an Widerworte, eher an Flucht. »Wir melden uns wieder«, versprach ich, als wir uns unterwürfig Richtung Tür bewegten. Und das taten wir. Wir blechten schließlich ein paar Tausender, die wir unter »Festivalstände für Panther und andere Wildtiere« ver-


buchten. Ich betrachte es inzwischen als gut angelegtes Geld, denn der »Underground« tat für sein Geld einfach nichts und wirkte daher auch nicht mit an den Katastrophen, die uns sonst noch so ereil­ten. Es war sogar so, dass ihre wohlwollende Nichtbeachtung unseres Festivals der einzige Punkt des ganzen Woodstock-Fiaskos war, der hinterher weniger kostete als ursprünglich angenommen.

*

Einer der ersten Mitarbeiter von Woodstock Ventures war ein Kerl namens Stanley Goldstein. Er hatte in Florida zusammen mit Michael eine Reihe Projekte auf die Beine gestellt, darunter das Miami Pop Festival. Wir hatten ihn als Allroundkraft, Ideengeber, Organisator, Helfer in der Not und Faktotum angeheuert. Stanley war ein in die Jahre gekommener Hippie, groß und dünn, mit langen Haaren und einem imposanten schwarzen Bart. Er hatte eine gelangweilte und zynische Art an sich. Alles, was wir planten, sagten oder taten, war seiner Meinung nach nichts Neues und würde sich wahr­scheinlich als ein Riesenflop herausstellen. Abgesehen davon war Stanley kompetent, fleißig, redegewandt, und er hatte meistens recht. Wenn er allerdings selbst eine Idee ausbrütete, war sein gewohn­ heitsmäßiger Pessimismus wie weggeblasen, und er legte einen fast manischen Enthusiasmus an den Tag. Einer dieser Vorschläge lautete, die Dienste der Hog Farm in Anspruch zu nehmen. Die späten Sechzigerjahre waren die Blütezeit der Aussteigerkommu­ nen. Im gerade angebrochenen Zeitalter des Wassermanns suchten viele junge und weniger junge Menschen nach Frieden, Liebe und Schönheit. Sie träumten von einem abgelegenen Zufluchtsort, wo sie der Natur nahe sein, alles miteinander teilen und dem Konsumzwang entfliehen konnten. Diese Kommunen waren nicht nur physisch, sondern auch spirituell weit weg vom Rest der Welt. Sie glaub­

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John über die Hog Farm


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ten, dass sie ES gefunden hatten. Sie waren keine Etappenziele, son­ dern die Endstation. Ausnahmen von dieser Regel waren Gruppen wie Ken Kesey’s Merry Pranksters und die Hog Farm. Sie waren von ernsthaften Intellektuellen gegründet worden und als soziale Experi­ mente angelegt. Ihre Mitglieder suchten den Kontakt zur Außenwelt, und sie wollten andere überzeugen. Es war Goldsteins Idee (für die er sich fanatisch einsetzte), die Hog Farmer als Schlichter, Sanitäter und Mädchen für alles zu engagieren. Anscheinend hatten sie schon bei anderen Rockkonzerten wertvolle Dienste geleistet, und als Bezahlung verlangten sie nur die Fahrtkos­ ten. Stanleys Argumente waren überzeugend: Eine Sicherheitstruppe, die wie die Festivalbesucher aussah, sprach und roch, wäre sowohl glaubwürdig als auch effektiv. Außerdem seien alle Hog Farmer Experten in Zeltaufbau, Feuermachen und Knotenknüpfen und könn­ ten daher den Campern helfen. Und schließlich – das war eigentlich der wichtigste Pluspunkt – kannten sie sich mit Drogen aus. Sie konn­ ten gutes von schlechtem Acid unterscheiden, gute Trips von Horror­ trips und Glückspillen von Gift. Da Drogen von Anfang an eine unse­ rer Hauptsorgen waren, beruhigte uns die Aussicht auf siebzig erfahrene Sanitäter. Der Vorschlag hatte Hand und Fuß. Also schickten wir Stanley in die Berge New Mexicos, wo unsere Helfer lebten. Um sie zu uns zu bringen, charterten wir eine Boeing 727 für gut siebzehntausend Dollar. Das war klug angelegtes Geld. Am Abend des 7. August rief mein Vater an. Er hatte in der Post ein Foto gesehen, das die Hog Farmer bei ihrer Ankunft am KennedyFlughafen zeigte: Lauter bizarr aussehende Typen, die die anderen Reisenden erschreckten. Unter dem Bild war zu lesen, sie seien gekommen, um zusätzliche Sicherheitsdienste beim bevorstehenden Woodstock-Festival zu leisten. Was, wollte mein Vater wissen, ist denn eigentlich mit der Polizei? Und ob wir nun vollkommen übergeschnappt seien, usw., usw. SIEBZEHNTAUSEND DOLLAR!!?? Ich erläuterte ganz ruhig, das maßgebliche Wort hier sei »zusätzlich«. Sie seien nur da, um auszuhelfen. Und was das Geld betraf, na ja, da gebe es berechtigte Gründe, die er einfach nicht verstehen könne, usw., usw., bla, bla, knirsch.


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Die Hog Farmer wurden am 9. August mit Lastwagen nach White Lake gefahren, wo sie sofort begannen, ihre Reisekosten abzuarbeiten, und das machten sie ganz wunderbar. Sie halfen uns, den Campingbereich zu roden und herzurichten. Sie packten beim Bühnenaufbau mit an. Sie kauften riesige Mengen Reis – und verteilten ihn kostenlos an hungrige Hippies. Sie taten sich mit unserem Arzt Dr. William Abbruzzi und seinem Team zusammen und erklärten den freiwilligen Helfern, wie man mit Drogenkonsumenten auf Horrortrips umgeht. Der Chef der Hog Farm, Hugh Romney alias Wavy Gravy, war ein ge­ mütlicher, zahnloser Kerl, der sich als fantastischer Organisator, Mas­ sen­besänftiger und Bühnenansager herausstellte. Während des Festi­ vals verbrachte er die meiste Zeit auf der Bühne. Er tröstete, wenn es regnete, und er sorgte für Frieden, wenn die Schwingungen schlecht waren, indem er alle als groovy bezeichnete. Er erzählte auch Witze, Märchen und Gutenachtgeschichten; er hatte die riesige Zuschauermenge vollkommen im Griff. In meinen Augen war er der Star der Show. Er war unbezahlbar. Am Samstag eskalierte das Drogenproblem. Wavy Gravy verband seine »Bitte melde dich bei deinen Eltern«-Durchsagen immer wieder mit Warnungen vor schlechtem Acid. Seine Farm-Freunde unterstütz­ ten die Sanitäter und die State Police bei der Prävention, und sie re­ deten beruhigend auf diejenigen ein, die schon auf einem Horror­ trip waren. Vom alten Telephone Building aus – unserem Hauptquar­ tier außerhalb des Geländes – hörte ich einmal einen Funkspruch zwischen einem Polizisten bei der Bühne und einem Hog Farmer im Sanitätszelt mit. Es ging um gutes und schlechtes Acid, und der Polizist wollte wissen, wie man es auseinanderhalten kann. »Du kannst es dir so merken, Mann: gutes Acid ist grün, schlechtes Acid ist blau.« »Okay. Ich wiederhole: Das gute Acid ist das grüne Acid, und das schlechte Acid ist das blaue Acid.« »Genau, Mann. Gut: grün. Schlecht: blau. Kapiert?« »Ja, ich glaub schon. Gut: grün. Schlecht: blau. Stimmt’s?« »Stimmt genau!« »Danke!« Das gibt’s nur in Amerika.


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Joel über Mike, den Filmstar Am Montag, dem 11. August, saßen Jock und ich im Büro von Paul Marshall, um mit den Standbesitzern zu feilschen. Pauls Sekretärin stellte einen Anruf von »unserem Mann vor Ort«, dem ehrwürdigen Reverend Don Ganoung, zu mir durch. »Es ist schon wieder passiert, Joel«, sagte Ganoung mit seiner klangvollen Bassstimme, auf die mein gesamter Organismus reflexartig mit Unbehagen reagierte. »Was denn?«, fragte ich und ging im Geiste die Liste bevorstehender Katastrophen durch. »Die Stadt«, sagte er. »Sie mögen uns hier nicht mehr.« (Da wusste ich noch nichts von den Eskapaden der Earthlite-Typen.) Er klang wie ein eingeschnapptes Kind. Ich wollte ihn trösten. »Wie meinst du das, Ganoung? Vor fünf Tagen hast du mir doch noch ver­ sichert, dass wir Michael zum Bürgermeister von White Lake machen können, wenn wir das wollen. Was ist denn jetzt schon wieder schief­ gelaufen? Ich dachte, du predigst in der Sonntagsschule. Ich dachte ...« Mir wurde plötzlich klar, dass ich nicht allein im Büro war, und ich riss mich am Riemen. »Okay, Don. Sag mir einfach, wo wir deiner Meinung nach im Moment stehen.« »Das ist es ja gerade, Joel. Ich weiß es nicht. Heute Morgen habe ich gehört, dass heute Abend eine Bürgerversammlung über den Festival­ antrag entscheiden soll.« »Über den Festivalantrag! Was zum Geier soll das heißen? Der Stadt­ rat hat das Festival letzten Monat genehmigt!« »Hör zu, Joel, ich kann dir nur weitergeben, was Amatucci, der Vorsitzende, gesagt hat. Er meinte, wir sollen uns keine Sorgen machen, aber ich finde das beängstigend.« Er fand das beängstigend! Himmelherrgott. »Was sagt Michael dazu?«, fragte ich, und fürchtete mich augenblick­ lich vor der Antwort. »Na ja, äh, deswegen rufe ich an. Ich habe versucht, Michael zu er­rei­ chen, aber Ticia weiß nicht, wo er ist. Also habe ich mir erlaubt, dich direkt anzurufen.«


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Diese implizite Entschuldigung dafür, dass er seinen Vorgesetzten übergangen hatte, störte mich, aber da ich Michaels Reaktionen nur allzu gut kannte, ahnte ich, wie viel Mut das den Reverend gekostet hatte. »Don, ich bin wirklich froh über deinen Anruf, auch wenn es sich viel­ leicht nicht danach anhört. Sieh zu, dass du so viel wie möglich über diese Versammlung heute Abend herausbekommst, und dann ergreifen wir von hier aus die notwendigen Maßnahmen. Entweder meldet sich jemand telefonisch bei dir – oder es kommt jemand hoch. Und Don, tut mir leid, dass ich mich eben so aufgeregt habe.« »Schon okay, Joel. Ich schnüffele dann mal weiter rum. Bis dann.« Kaum hatte ich aufgelegt, zogen Jock und ich Strohhalme, um zu entscheiden, wer nach Sullivan County gurken musste, um die Katastrophe abzuwenden. Ich zog den Kürzeren, und drei Stunden später kam ich in White Lake an. Der Raum, der als Vorzimmer zu Michaels Büro im Telephone Building genutzt wurde, erinnerte fatal an das Finanzamt am Stichtag der Steuererklärung. Acht bis zehn Vorarbeitertypen warteten mehr oder weniger ungeduldig in einer ungeordneten Schlange. Manche waren schon halb zu Stein erstarrt. Als ich einfach an ihnen vorbeiging, hatte ich dennoch Angst, sie könnten mich anmotzen, aber meine Sorge war unnötig. Ich gelangte völlig unbehelligt in Michaels Büro. Die Einzige, die sich über mein Verhalten wunderte, war Ticia, Michaels Assistentin. »Hallo Ticia. Wo ist Michael? Und wer sind die ganzen Leute da draußen?« »Ach, die«, stammelte sie. »Das sind nur ein paar Subunternehmer.« »Ein paar Subunternehmer«, wiederholte ich starr. »Worauf warten sie? Auf ihre Bezahlung?« »Nein, nein. Sie brauchen Michaels Zustimmung zu einigen Plänen.« »Und wie lange stehen sie schon da draußen?«, fragte ich. In meiner linken Schläfe begann es zu pochen. »Ach, keine Ahnung. Ich war den ganzen Tag unterwegs.« Das Pochen wurde stärker. »Und wo steckt Michael? War er heute überhaupt schon da?«


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»Natürlich war er da.« »Und wann, Ticia?« »Ich habe dir doch gerade gesagt, dass ich den ganzen Tag unterwegs war. Ich erinnere mich nicht genau daran, wann Michael da war und wann nicht.« Ich merkte, dass ich Michaels loyale Assistentin genug strapaziert hatte. In meiner linken Schläfe entwickelte sich ein Plan, und das Pochen wich freundlicherweise auf die rechte Seite aus. »Also gut, Ticia«, sagte ich so ruhig ich konnte. »Wenn er kommt, sag ihm, er soll mich anrufen, ja?« Sie nickte. »Weißt du auch wirklich nicht, wo er ist?« »Nein«, log sie. »Okay«, log ich zurück, »ich bin drüben im Motel.« Ich durchquerte den düsteren Warteraum, trat hinaus in die grelle Sonne der Catskills und ging zu meinem Auto. Der Wettergott, oder wer auch immer das Wetter bestimmt, schenkte mir einen herrli­chen Nachmittag, den man einfach genießen musste. Eine Spritztour durch die wunderschönen Hügel um White Lake, fern aller Unternehmens­ intrigen, hätte mir jetzt bedeutend besser gefallen, als meinen Plan auszuführen. Am Ende des Blocks bog ich rechts ab und wendete. Dann parkte ich am Straßenrand und wartete. Wäre das ein Film gewesen, hätte die Frau, die Ticia spielte, aus dem Haus rennen müssen – ein paar Minuten nach dem Mann, der mich spielte (Clint Eastwood). Aber passierte so etwas im echten Leben, oder wenn schon nicht im echten Leben, dann in der Art von Leben, wie ich es führte? Jawohl. Wie aufs Stichwort ging die Tür des Telephone Building auf – da kam sie, mit wehenden roten Haaren, und rannte zu ihrem Auto. Sie zögerte kurz, bevor sie einstieg, und blickte die Straße hinauf, direkt zu den Bäumen, hinter denen mein Herz wie wild pochte. Aber sie entdeckte mich nicht. Schnell wie der Blitz war sie im Wagen und fuhr mit quietschenden Reifen Richtung Festivalgelände. Ich folgte ihr mit gebührendem Abstand.


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Nachdem ich die letzte Kurve vor dem Gelände genommen hatte, entdeckte ich ihr Auto hinter dem Bühnenbereich, dort, wo die Straße an die sanft geschwungenen Felder grenzte, die Max für seine ahnungslosen Kühe reserviert hatte. Während ich noch die letzten vierhundert Meter zurücklegte, sprang sie schon aus ihrem Auto und lief quer über die Kuhweide. Ich ahnte, dass hinter dem ersten Hügel der Stein der Weisen verborgen war. Als sie oben auf dem Hügel ankam, war ich nur noch ein paar Schrit­te hinter ihr. Ihr sechster Sinn musste ihr gesagt haben, dass ich da war. Sie machte noch zwei Schritte und rief, »Michael!« Bevor sie ein zweites Mal rufen konnte, war ich neben ihr, und ich sah gleich, dass Michael sie nicht gehört hatte. Er war zu beschäftigt. Vor dem Festival wurden wie im Rausch alle möglichen Ausrüstungsgegenstände gekauft, darunter auch so wahnwitzige Erwerbungen wie: »Zwei Amphibienfahrzeuge, Stückpreis 1.200 Dollar, zusammen 2.400 Dollar«. Auf meine Nachfrage hin informierte man mich, dass es sich um besonders geländegängige Fahrzeuge handelte, die wir für Erkundungsfahrten durch die sumpfigeren Ecken unseres Veranstaltungsortes brauchten. Als ich nun also schweigend neben Ticia auf einem Hügel des Borscht Belt stand, bekam ich einen ersten Eindruck davon, was aus unserem Geld geworden war. Etwas, das aussah wie ein gigantischer orangefarbener Käfer, sauste mitten in einem riesigen Feld mit halsbrecherischer Geschwindigkeit hin und her. Am Steuer saß jemand, der offenbar viel Erfahrung im Umgang mit solchen Insekten hatte. Er war männlich, weiß, durchschnittlich groß und hatte eine imposante braune Lockenmähne. Er war mein Partner Michael Lang, Produktions- und Bauleiter auf dem Gelände des Woodstock-Festivals in White Lake. »Jetzt ist es also doch so weit«, murmelte ich. »Er ist völlig übergeschnappt.« Als ob er diese Befürchtung bestätigen wollte, winkte Michael mir fröhlich zu und steuerte dabei mit nur einer Hand. »Vergib ihm, denn er weiß nicht, was er tut«, deklamierte ich. Dann erst sah ich die Kameras.


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Angesichts der Ereignisse im Vordergrund konnte man sie leicht über­ sehen. Es waren drei Personen: ein Kameramann, der hinter einer Arriflex klebte, ein Tontechniker mit Mikrofonausrüstung und einer der unvermeidlichen Assistenten. Ich ließ meine Augen wandern und entdeckte am anderen Ende des Feldes noch weitere Beförderungsmittel: ein Motorrad, einen großen Traktor und ein Pferd mit Westernsattel. Ticia und ich befanden uns am Drehort von »Michael groß in Fahrt«. Klappe, die vierte. Meine Freunde wissen, dass mir nicht so schnell der Hut hochgeht, aber in dieser Situation stellte ich einen Geschwindigkeitsrekord im Explodieren auf. Ich hatte genug gesehen. Tausende von platzenden Äderchen weckten in mir den Wunsch, loszuschlagen, zu würgen, zu verstümmeln, zu zerstören. Ich rannte den Hügel hinunter. Michael entdeckte mich, und fuhr mit seinem Käfer auf mich zu, blieb aber klugerweise etwa drei Meter entfernt von mir stehen und grinste. »Hey, Mann. Was ist los?«, begrüßte er mich. »Was los ist? Was los ist?« Mehr brachte ich nicht heraus. Ich schnappte nach Luft. »Was los ist, du elender Flachwichser?« – da war meine Stimme wieder – »Die ganze verdammte Mannschaft wartet in deinem verdammten Büro verdammt noch mal auf dich, du verdammtes Arschloch!« Ich merkte so halb, dass ich bei jedem einzelnen Wort ruckartig den Kopf nach vorne bewegt hatte. Also versuchte ich, mich zu zügeln, und fuhr fort: »Sie warten auf dich, du mieses Arschloch, und du bist hier draußen auf einem verdammten Acker und drehst einen ... einen ... einen ...« »Einen Film«, soufflierte Ticia. »Danke. Einen Film.« Durch das Gestotter hatte ich mich wieder einigermaßen beruhigt. »Hey, Mann. Das ist nur so ein Werbeding. Nur keine Panik«, erwiderte Michael nervös. Ihn eingeschüchtert zu sehen, war fast so gut, wie ihn zu verstümmeln. Ticia soufflierte noch mehr Text. »Ein paar Subunternehmer sind im Büro, Michael. Ich habe ihnen gesagt, dass du gleich zurück bist.«


Das war ein kläglicher Rettungsversuch, aber Michael ging darauf ein. »Super, Tish. Bin schon unterwegs.« Er wandte sich an das Kame­ rateam. »Vielen Dank, Jungs. Bringt bitte den Kram in den Schuppen.« Ohne Zeit auf weiteres Geplauder zu verschwenden, stieg mein Partner aus seinem Insekt, rannte vorbei an Traktor und Pferd, kletter­ te auf das Motorrad und fuhr in den Sonnenuntergang. Ich schaute Ticia an, die meinem Blick nur widerwillig begegnete. »Gut gemacht, Tish«, sagte ich ironisch. »Danke, Joel. Tut mir leid. Ich will einfach nur, dass es vorbei ist.« »Ich auch, Tish. Ich auch.«

*

Sobald ich mich in meinem Büro am Rand des Festivalgeländes eingerichtet hatte, machte ich mich zusammen mit Reverend Don Ganoung auf den Weg, um den Eigentümern der angrenzenden Ländereien einen Besuch abzustatten. Wir wollten sie dazu überreden, uns ihre Felder zu verpachten. Vorsicht ist besser als Nachsicht. Wir wussten, dass sich unser Publikum kaum an die »Betreten verboten«-Schilder halten würde, und so boten wir den demnächst unter Belagerung stehenden Bauern einen traumhaften Versicherungsschutz und eine solide Aufräumtruppe an. Wir hofften, Klagen vor Gericht dadurch von vornherein zu vermeiden. Es war nicht weit zu dem zehn Hektar großen Anwesen eines gewis­ sen William Filippini. Falls es ein Stück Land gab, das unseren Heuschreckenschwärmen mit Sicherheit zum Opfer fallen würde, dann war es seines. Aber Mr. Filippini sah das anders. Er konnte sich so viele Leute auf einem Haufen gar nicht vorstellen. »Trinken Sie ein Glas Chianti mit mir, dann können wir uns darüber unterhalten, warum ich Ihnen mein Land nicht verpachte.«

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Joel über Filippinis Farm


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Wir nahmen in seinem Esszimmer Platz, und ich merkte sofort, dass Filippini sich fragte, ob Reverend Ganoung wirklich Geistlicher war. Ein richtiger Pfarrer war er in seinen Augen jedenfalls nicht. Filippini erzählte uns von der alten Heimat und wie seine Familie in die Gegend hier gekommen war. Er hatte hart arbeiten müssen, um sich seinen Platz in der bäuerlichen Gemeinschaft zu erobern. Eine Spur von respektvoller Abneigung gegenüber Max und den anderen loka­ len Agrarmogulen klang dabei durch, und er fragte sich laut, warum Max der Katastrophe Tür und Tor geöffnet hatte. Er habe ja nichts gegen mich oder Mister Ganoung – und Michael war bis auf seine Klei­dung auch ein netter Junge – aber eines verstehe er nicht: Es gebe so viel Weideland im Nordosten. Warum hatten wir uns ausgerechnet White Lake ausgesucht? Mrs. Filippini sagte die ganze Zeit über kein Wort, aber ich hatte den Eindruck, sie konnte die Lage besser einschätzen als ihr Mann. Sie kannte sich mit Jugendlichen aus und wusste, dass man sich am besten entschädigen ließ, bevor die Verwüstungen entstanden. Schließlich kam Mr. Filippini uns ein Stück weit entgegen: Er werde sich mit dem Gedanken befassen, uns die vier Hektar am Südende zu vermieten, mit denen er ohnehin nicht viel anfangen konnte. Und wenn dort ein paar Leute campen wollten, war das in Ordnung, solange sie nichts beschädigten und sich anständig benahmen. Ich wollte ihm nicht noch einmal sagen, dass Tausende von jungen Men­ schen kommen würden und er von Glück sprechen könne, wenn sie sein Haus unangetastet ließen – ganz zu schweigen von den oberen sechs Hektar, seiner Scheune und dem Hühnerstall. Ich mochte Mr. Filippini sehr. Er war nicht der Schnellste im Denken, aber er war uns sehr wohlgesonnen und ehrlicher als die meisten Leute, mit denen wir zu tun hatten. Ich wollte nicht, dass ihm ein Schaden entstand. Aber ich hatte schon Erfahrung mit sturen Farmern, man durfte nicht zu lange reden, sonst hörten sie einem einfach nicht mehr zu. Ich bot ihm einen Teil der Woodstock-Park-und Campingplatz-Einnahmen an. Seine Freunde und Nachbarn hatten ihn ohnehin schon mit eingeplant.


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Nach gründlicher Überlegung, weiteren Besuchen und noch mehr Chianti beschloss Mr. Filippini, uns ein kleines Stück seines Landes für einen bestimmten Zeitraum zu einem nicht verhandelbaren Preis zu vermieten. Ich fand diese Vereinbarung besser als eine glatte Abfuhr und setzte auf der Stelle einen Vertrag auf. Es war Donnerstag, der 14. August. Vierundzwanzig Stunden später waren alle Dämme gebrochen. Jeder Quadratzentimeter Land war von Hippies überflutet. Sie waren in der Scheune, verbrannten das Heu, zertrampelten das Grünfutter, erschreckten die Hühner und terrorisierten fröhlich die gesamte Fami­lie. Mr. Filippini folgte einem natürlichen Überlebensinstinkt und versammelte seinen ganzen Clan um sich. Alle Kinder wurden mitsamt ihren Familien im Haus untergebracht. Hin und wieder erhielt ich einen verzweifelten Anruf von ihm; er berichtete, bestimmte Leute würden Teile seines Landes betreten, die nicht von Woodstock Ventures, Inc., gemietet worden seien. Ich versuchte, in dem ganzen Chaos möglichst viel Verständnis für seine Klagen zu zeigen, aber seine Forderung, man solle die Polizei rufen, um die Eindringlinge in die Flucht zu schlagen, überhörte ich geflissentlich. Ein paarmal wagte ich die gefährliche Reise quer über das Veranstaltungsgelände und schaute persönlich nach Filippini. Im oberen Stockwerk stand immer eine Wache – für gewöhnlich eins der Enkel­ kinder – und schlug sofort Alarm, wenn sich jemand dem Haus näherte. Großvater hockte derweil auf der Veranda, die Flinte auf dem Schoß. Filippini glaubte tatsächlich, eine Horde bedröhnter Hippies könne sein Haus stürmen, und er wollte ein paar von ihnen mitnehmen, wenn er mit seiner Familie unterging. Filippini war dennoch ein großzügiger Gastgeber, obwohl der Chianti fast aufgebraucht war. Er forderte uns höflich auf, unsere Konzertbesucher von den nicht angemieteten Teilen seines Besitzes fernzuhalten. Ich gab stets genauso höflich zurück, ich könne keinerlei Verantwortung für ihre Anwesenheit übernehmen. Letzten Endes überstand Mr. Filippini die ganze Sache einigermaßen unbeschadet. Er bekam zweitausendfünfhundert Dollar dafür, dass er die jungen Leute auf einen Teil seines Besitzes ließ, den sie


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Campinggäste neben Max Yasgurs Scheune


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214 Hippies verschonen den englischen Rasen – noch zumindest


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Den Filippinis dämmert allmählich, was auf sie zukommt

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Jagen und Angeln im Vorgarten verboten!


John im WoodstockBüro in White Lake

Joel Mitte August

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Für die Presse war Michael Lang (links) das Gesicht von Woodstock


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»Ich möchte, dass die Bühnenscheinwerfer angeschaltet bleiben. Und die Musik soll ohne Pause weiterspielen. Klar?« »Jawoll«, entgegnete er. »Kapiert. Aber vielleicht hast du noch nicht gehört, was mit den Kabeln los ist ...« »Ich weiß genau, was mit den Kabeln los ist«, fauchte ich. »Aber ich will nicht, dass die Musik auch nur für eine Minute aufhört. Ist es irgendwie möglich, diese Kabel abzuschalten, ohne die Bühne zu verdunkeln?« »Das habe ich mir auch schon überlegt«, erwiderte er. »Ich könnte alles über ein gesichertes Kabel laufen lassen, aber ich brauche eine Weile, um alles neu anzuschließen.« »Mach das – so schnell es geht«, bat ich. »Aber ohne dass die Musik unterbrochen wird. Ist das klar?« Es war klar. Ich konnte Fabbri ansehen, dass er nicht einverstanden war, aber ich bin mir sicher, er hätte das gleiche Gesicht gemacht, wenn ich mich anders entschieden hätte. Was ich auch sagte, es war verkehrt. An die nächste Stunde erinnere ich mich kaum. Ich weiß nicht mehr, wer ins Büro kam oder wer es verließ oder was ich gemacht habe. Alles weg. Ich weiß nur noch, dass ich Fabbris Camels rauchte, eine nach der anderen, während er reglos auf seinem Stuhl saß und darauf wartete, dass das Licht kurz flackerte, so wie im Film, wenn sie bei Jimmy Cagney den Schalter umlegen. Ich war sechsundzwanzig Jahre alt. Ich wusste, dass es viele Männer in meinem Alter und sogar jüngere gab, zum Beispiel in der Army oder bei den Marines, die Verantwortung für Menschenleben trugen, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass irgendjemand die Kompetenz besaß, solche Entscheidungen zu treffen. Ich besaß sie jedenfalls nicht und wartete wie paralysiert auf den Rückruf des Elektrikers. Endlich klingelte das Telefon. »Es funktioniert!«, schrie er. »Ich habe alles umgeschaltet. Die blanken Kabel sind jetzt tot.« »Hat die Bühne Saft?«, fragte ich. »Jede Menge.«


Ich schaute Fabbri an und machte das Daumen-Hoch-Zeichen. Er ließ sich vornüber auf seinen Schreibtisch sinken – zu müde, um erleich­ tert zu sein. »Das ist klasse!«, sagte ich zu dem Elektriker. »Das ist ganz große Klasse! Gute Arbeit. Weiter so!« Wir legten auf, und ich steckte mir noch eine Camel an. Offenbar hatte ich wieder angefangen zu rauchen.

*

Der Sonntag war wie eine endlose Nacht. Er begann mit panischen Anrufen beim Personal des Hubschrauberlandeplatzes, wo Chris Langharts Zaunbeleuchtung plötzlich ausgegangen war. Eine Landung bei Regen und Dunkelheit in unmittelbarer Nähe zu einer halben Million dicht gedrängter Menschen entsprach nicht gerade den Empfehlungen der Luftaufsichtsbehörde. Improvisation war gefragt. Also bildeten wir eine Taschenlampenbrigade, die den Maschi­ nen leuchtete, bis wir etwas Dauerhafteres auf die Beine gestellt hatten. Angesichts dieses raffinierten Tricks gab das Höhere Wesen uns die Lichter zurück und ging wieder in seine Werkstatt, um sich neue Folterqualen für uns auszudenken. Im Morgengrauen war Es wieder da, und zwar mit einem Regenguss, der sich gewaschen hatte: Erbarmungslos durchnässte er alles und jeden. Das waren keine gelegentlichen Schauer, es war eine Sturzflut, die den Bühnenbereich in ein schlammiges Flussdelta verwandelte. Es regnete unerbittlich, ohne Pause, bis es hell wurde. Wie Joel bereits schilderte, wäre es beinahe zu einer Massenexekution gekommen, weil die Kabel beschädigt waren. Es gab aber auch profanere Schwierigkeiten. Wir wurden zum zweiten Mal verklagt, und zwar von einer Firma namens »Juds Reitställe«. Jud wurde überrannt von Hippies, die Lust auf einen Ausritt hatten.

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Das Festival: John über Tag drei


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Die Ställe waren knapp fünfhundert Meter von der Bühne entfernt, das heißt, wenn man die Zahl der Konzertbesucher bedenkt, quasi Teil des Festivalgeländes. Das ganze Wochenende über wurden die Pferde bestiegen, ohne Sattelzeug, und galoppierten durch die Gegend. Weil die Blumenkinder fanden, die Tiere seien Teil der Natur und gehörten allen, sahen sie keinen Grund, Jud für seine Rösser zu bezahlen oder auch nur um Erlaubnis zu fragen. Jud wandte sich an uns und verlangte dreihundert Dollar Wiedergutmachung. Das war das erste und einzige Mal, dass jemand nur für das tatsächlich entgangene Einkommen entschädigt werden wollte. Jud war allerdings nicht der einzige, der unter den Festivalbesuchern zu leiden hatte. Alle Leute in der näheren Umgebung waren betroffen, und diejenigen, die sich geweigert hatten, uns ihr Land zu vermie­ ten, blickten neidisch auf ihre klügeren und reicheren Nachbarn. Wie konnten sie ihre Verluste wieder reinholen? Es ging das Gerücht, das Festival sei ein finanzielles Fiasko, spätere Klagen wären darum vermutlich sinnlos. Was tun? Sich sofort entschädigen lassen! Die schufti­ gen Veranstalter auf der Stelle zur Rechenschaft ziehen. Einen Scheck von ihnen verlangen! Das ganze Wochenende über hatten wir – so weit es unsere Bankkre­ dite zuließen – Schecks ausgestellt, aber selbst dieser scheinbar uner­ schöpfliche Quell trocknete langsam aus. Ich beriet mich mit meiner Familie und kam zu dem Schluss, nur noch solche Schecks zu unterschreiben, die einen direkten Einfluss auf die Fortsetzung der Show oder die Sicherheit der Besucher hatten. Außerdem sollten möglichst wenig Zahlungsverpflichtungen eingegangen werden, egal, ob mit Scheck oder ohne. Das einzige Problem dabei war, dass ich – zu Recht – in dem Ruf stehe, für alle, die Geld wollen, leichte Beute zu sein. Ich bin nicht fähig, jemandem kein Geld zu geben, wenn ich versprochen habe, ihn zu bezahlen. Ich habe sogar Schwierigkeiten, jemandem von vornherein zu sagen, dass ich ihn nicht bezahlen werde. Besonders, wenn seine Forderungen berechtigt sind oder er einen Hang zu Gewalt hat. Darum war es eine meiner wichtigsten Aufgaben, den Leuten aus dem Weg zu gehen, die Geld wollten. Der Judas, der ausgeplaudert hatte, dass ich die Finanzen kontrol-


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lierte, hatte zum Glück kein Foto von mir verbreitet, was mir mein Vorhaben enorm erleichterte. Mein Gesicht war im Unterschied zu dem von Joel oder Michael in White Lake unbekannt. Deshalb wies ich unsere Mitarbeiter an, sie sollten allen erzürnten Einheimischen und anderen Geldjägern sagen, ich sei schon nach New York gefahren. Am Anfang klappte das hervorragend. Ich saß an meinem Schreibtisch, während irgendwelche Möchtegerngläubiger, die höchstens anderthalb Meter von mir entfernt standen, gesagt bekamen, ich sei nicht da. Ich konnte nur mit Mühe ein Kichern unterdrücken. Dann kam eine Gruppe wütender Farmer hereingestapft, und mir verging das Lachen. Es waren kräftige Naturburschen, die es gewohnt waren, mit den Händen zu arbeiten und Tieren den Hals umzudrehen. Und allesamt ziemlich in Rage. Sie schimpften über die unverschämte Rücksichtslosigkeit unserer Konzertbesucher gegenüber ihrem Land und ihren Familien und wollten wissen, wo dieser Drecks­ kerl Roberts steckte, weil er derjenige war, der, verdammt noch mal, dafür zu sorgen hatte, dass sie eine Entschädigung bekamen. Ich saß da, lächelte mild und schüttelte den Kopf, während Renee sich ihre Beschwerden anhörte und ihnen erklärte, ich sei in New York. Sie tobten noch eine Weile, aber es sah aus, als hätten wir das Spiel gewonnen. Dann schaute ich aus dem Fenster – und wer kam da angelaufen? Sheriff Ratner, ein Mann, der garantiert diesen Dreckskerl Roberts suchte. »Puh! Heiß hier drinnen«, stöhnte ich und strebte zum Hintereingang, um mich im strömenden Regen abzukühlen. Schon nach fünf Sekunden war ich klatschnass. Ich sah, wie im Büro die zornigen Farmer den Sheriff umringten. Er blickte fragend zu Renee, die beteuerte: »Ich habe es ihnen gesagt. Er ist nach New York gefahren.« Seine Antwort konnte ich nicht hören, aber es war klar, dass er verärgert war. Schließlich schickten die Farmer sich an, das Büro zu verlassen. Sie gingen zum nächstliegenden Ausgang, und das war leider der hintere. »Bisschen nass hier draußen, was?«, fragte mich einer.


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»Ich brauche frische Luft«, erwiderte ich und täuschte einen Husten­ anfall vor. »Er ist verrückt«, sagte ein anderer. »Mensch, dieses Wochenende sind hier alle verrückt«, meinte ein Dritter, und sie verließen den Schauplatz. Ich lehnte mich gegen die Hauswand und atmete tief durch. Dann ging ich wieder rein, um Ratner zu informieren, dass ich noch da war. Der Vorfall mit den Farmern zeigt, welche mentale Veränderung ich durchmachte: Ich konzentrierte mich nicht mehr ausschließlich auf das Festival, sondern machte mir schon Sorgen um die Folgen. Während des Wochenendes hatte ich nur von Moment zu Moment gedacht, und die Zukunft ging nicht weiter als der nächste anstehende Auftritt und die dazugehörigen Probleme. Jetzt überlegte ich, wie wir Humpty Dumpty wieder zusammensetzen konnten – vor allem, weil Humpty Dumpty großenteils aus mir selbst bestand. Ganz oben auf der Agenda standen die Aufräumarbeiten. Ich besprach das Problem am Sonntagnachmittag mit Mel Lawrence und Max, und wir beschlossen, sofort damit anzufangen, sobald das Festival beendet war. Heikel war das Saubermachen der Grundstücke, die wir nicht gemietet hatten: Konnte man das als stillschweigendes Schuldeingeständnis interpretieren? Übernahmen wir damit die Ver­antwortung? Wir wussten es nicht, aber wir einigten uns darauf, trotz­dem loszulegen und alles Weitere auf uns zukommen zu lassen. Auf der Bühne wurde angesagt, dass freiwillige Helfer gebraucht würden, und Hunderte folgten dem Aufruf. Sie blieben noch den Montag über da und machten sich nützlich. Fürs Grobe heuerten wir einen gewissen Milton Sardonia an. Er und seine Männer schufteten fast eine Woche lang. Sie stellten zwanzigtausend Dollar in Rechnung, aber dafür leisteten sie ganze Arbeit. Wir sind noch billig davongekommen, glaube ich. Außerdem mussten wir uns um die Leute kümmern, die nicht mehr nach Hause kamen – weil sie kein Geld, keine Mitfahrgelegenheit oder keinen Verstand mehr hatten. Unsere Mittel waren begrenzt, aber wir taten, was wir konnten.


Ganz allmählich löste sich die Menge auf. Im Laufe des Sonntags wurden es immer weniger Menschen, und gegen Mitternacht waren »nur noch« hundertfünfzigtausend da. Das Konzert dauerte noch neun Stunden. Unser letzter Act, Jimi Hendrix, bekam mehr Geld als alle anderen: sechsunddreißigtausend Dollar. Er ging am Montagmorgen um halb sieben auf die Bühne und spielte vor etwa fünfundzwanzigtausend erschöpften Besuchern. Sic transit gloria mundi. Als sein Auftritt zu Ende ging, waren Joel und ich schon auf dem Weg zur Bank.

*

Der Sonntag war die Krönung. Er begann mit einem Paukenschlag, nämlich mit Charlie Princes Barschecks, die mich so lange auf den Beinen hielten, dass es sich nicht mehr lohnte, ins Bett zu gehen. Jock und ich hatten beide den Eindruck, dass eine bösartige kosmi­ sche Intelligenz uns fertigmachen wollte – und dass sie ihr Werk fast vollendet hatte. Wir gewöhnten uns langsam an sie und berück­ sichtigten sie bei unseren Entscheidungen. Am Sonntag versuchte ich mich in dieses transzendente Ekelpaket hineinzuversetzen, und kam zu folgendem Schluss: Wenn ich darauf aus wäre, Rosenman und Roberts zu vernichten, müsste ich bald zuschlagen. Kaum war ich zu dieser Erkenntnis gelangt, da begann unser kleines Drama mit der Elektrik. Der Regen führte nicht nur zu der Stromschlag-Gefahr, er behinderte auch den Hubschrauberverkehr. Von Zeit zu Zeit verloren wir einen Helikopter. Eine Maschine geriet zum Beispiel außerhalb der Funkreichweite und musste in irgendeinem Tal in der Nähe notlanden. Wir stimmten alle zusammen ein OMMMM an, bis der Pilot sich wieder meldete. Auch die Honda wurde zu einem gefährlichen Trans­ portmittel, und ich ärgerte mich, dass ich keinen Helm gekauft hatte.

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Das Festival: Joel über Tag drei


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