absolute Marshall McLuhan

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absolute Herausgegeben von Klaus Theweleit


absolute Marshall McLuhan Herausgegeben von Martin Baltes und Rainer Hรถltschl Mit einem biografischen Essay von Philip Marchand

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absolute Marshall McLuhan Hg. v. Martin Baltes und Rainer Höltschl Freiburg, orange-press 2011 Copyright für die deutsche Ausgabe © orange-press GmbH, 2011 Alle Rechte vorbehalten Buchgestaltung: Annette Schneider (debusc.de) Korrektorat: Anne Wilcken Die im Text angegebenen URLs verweisen auf Websites im Internet. Der Verlag ist nicht verantwortlich für die dort verfügbaren Inhalte, auch nicht für die Richtigkeit, Vollständigkeit oder Aktualität der Informationen. Alle Texte in neuer Rechtschreibung. ISBN 978-3-936086-55-3 orange-press.com


Seite |

Inhalt

7 | Interview Geschlechtsorgan der Maschinen Playboy-Interview mit Eric Norden

58 |

Biografie I Der Malstrom der Medien 1911 – 1952

72 | 80 | 85 |

McLuhan McLuhan McLuhan

88 |

Biografie II Das Medium ist die Botschaft 1953 – 1966

101 | 109 | 114 | 136 |

McLuhan McLuhan McLuhan McLuhan

Die mechanische Braut Fließband der Liebes-Göttinnen Die Leiche als Stillleben

Kultur ohne Schrift Medien- und Kulturwandel Die Gutenberg-Galaxis Medien verstehen – die Ausweitungen des Menschen

172 |

Biografie III Medienstar, heiß und kalt 1967 – 1970

180 | 186 | 190 |

McLuhan McLuhan McLuhan

200 |

Biografie IV Medienökologie 1971 – 1980

207 |

McLuhan

218 | 220 | 221 |

Bibliografie | Textnachweise | Dank Herausgeber | Biograf Personenregister

Der Inhalt der Umwelt – Bemerkungen zu Burroughs Das Medium ist Massage Krieg und Frieden im globalen Dorf

Das resonierende Intervall



Geschlechtsorgan der Maschinen

Mr. McLuhan, was zum Teufel machen Sie eigentlich? Das frage ich mich manchmal auch. Ich begebe mich auf Forschungsreisen, bei denen ich nie weiß, wohin sie mich führen werden. Meine Arbeit ist ganz pragmatisch darauf ausgerichtet, unsere technologische Umwelt und ihre psychischen und sozialen Konsequenzen zu verstehen. Aber meine Bücher zielen eher darauf, den Prozess des Entdeckens offen zu legen, als mit einem fertigen Ergebnis aufzuwarten. Statt meine Ergebnisse traditionsgemäß steril in schön geordnete Versuchsreihen, Kategorien und Schubladen zu stecken, verwende ich sie wie Probebohrungen, um Einblick in gewisse Dinge zu gewinnen und Strukturen zu erkennen. Ich möchte lieber neue Gebiete abstecken, als alte Markierungen auswerten. Aber ich wollte meine Forschung niemals als Offenbarung der Wahrheit verstanden wissen. Als Forscher habe ich keinen fixen Standpunkt, bin ich keiner bestimmten Theorie verpflichtet – weder der eigenen noch der von irgend jemand anderem. Ich würde jede Aussage, die ich irgendwann einmal zu einem bestimmten Gegenstand gemacht habe, sofort über Bord werfen, wenn die Realität mich eines Besseren belehrt oder wenn ich merke, dass sie zum Verständnis eines Problems nichts beiträgt. Am meisten gefällt mir an meiner Arbeit über Medien, dass ich mich dabei wie ein Panzerknacker fühlen kann. Ich weiß nie, was ich innen finden werde. Ich setze mich einfach hin und beginne zu arbeiten. Ich suche herum, ich höre hin, ich teste etwas aus, ich übernehme und verwerfe. Ich probiere es in einer anderen Reihenfolge – bis sich das Schloss öffnet und die Tür aufspringt. Und wenn ich Pech habe, ist der Safe leer. Ist so eine Methode nicht ein wenig planlos und inkonsistent – wenn nicht gar, wie Ihre Kritiker sagen, etwas überspannt? Jede Herangehensweise, die sich mit der uns umgebenden Welt beschäftigt, muss ausreichend flexibel und anpassungsfähig sein, um sämtliche Faktoren ihrer sich ständig verändernden Struktur mit einzubeziehen. Ich betrachte mich selbst als Generalisten. Ich bin kein Spezialist, der seinen winzigen Studienbereich als intellektuelles Gärtlein abgesteckt hat und für alles andere blind ist. In meiner Arbeit geht es, wie in den meisten modernen Forschungszweigen, von der Psychiatrie über die Metallurgie bis zur Strukturanalyse, um

6 | Interview. Geschlechtsorgan der Maschinen

Playboy-Interview mit Eric Norden


Tiefenstrukturen. Medienwissenschaft, die etwas taugt, beschäftigt sich nicht nur mit dem Inhalt der Medien, sondern mit den Medien selbst und der gesamten kulturellen Umgebung, in der sie aktiv werden. Nur mit einer gewissen Distanz und einigem Überblick kann man erkennen, wie eine Sache funktioniert und welchen Einfluss sie ausübt. Diese Vorgehensweise hat nichts Sensationelles oder Radikales an sich. Die Wirkung von Medien – von Sprache, Schrift, Buchdruck, Fotografie, Radio und Fernsehen – ist von den Erforschern der gesellschaftlichen Entwicklung der westlichen Welt in den vergangenen 3.500 Jahren systematisch übersehen worden. Sogar heute, in diesem revolutionären elektronischen Zeitalter, bleiben die Wissenschaftler bei ihrer VogelStrauß-Taktik und stecken den Kopf weiter in den Sand. Aber warum? Weil alle Medien, vom phonetischen Alphabet bis zum Computer, Ausweitungen des Menschen sind, die tiefe und andauernde Veränderungen im Menschen selbst auslösen und seine gesamte Umwelt verwandeln. So eine Ausweitung ist eine Intensivierung, eine Ausdehnung eines Organs, eines Sinnes oder einer Körperfunktion, und wann immer sie eintritt, sorgt das zentrale Nervensystem offenbar als Selbstschutz für eine Betäubung des betroffenen Bereichs, trennt ihn von jeder bewussten Wahrnehmung ab und anästhesiert uns für das, was mit ihm geschieht. Etwas Ähnliches passiert im Körper unter Schock oder Stress oder, wenn man Freuds Konzeption von Verdrängung folgt, auch im Gedächtnis. Ich nenne diese spezielle Form der Selbsthypnose Narziss-Narkose, ein Syndrom, bei dem sich der Mensch der psychischen und sozialen Auswirkungen seiner neuen Technologien genauso wenig bewusst ist, wie ein Fisch sich des Wassers bewusst ist, in dem er schwimmt. Und so wird schließlich eine von neuen Medien erzeugte Umwelt genau an dem Punkt unsichtbar, an dem sie alles durchdringt und unser Gleichgewicht der Sinne vollkommen verändert. Dieses Problem ist heute besonders akut, da der Mensch, wenn er überleben will, verstehen muss, was mit ihm geschieht – wie schmerzlich das auch immer sein mag. Die Tatsache, dass es ihm im Zeitalter der Elektronik bisher noch nicht gelungen ist, hat unsere Zeit auch zu einer Ära der Angst werden lassen, die selbst wiederum ihren Doppelgänger hervorgebracht hat – das therapeutisch darauf reagierende Zeitalter der Ziel- und Teilnahmslosigkeit. Aber trotz unserer als Selbstschutz wirkenden Ausweichmechanismen: Dieses von den elektronischen Medien ermöglichte Verständnis für große Zusammenhänge erlaubt, ja erzwingt es, uns bewusst zu machen und zu erkennen, dass


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Technologien Ausweitungen unserer eigenen Körper sind. Heute vollziehen sich die Veränderungen zum ersten Mal so schnell, dass ihre Grundstruktur auch für den Großteil der Gesellschaft wahrnehmbar wird. Bis in unsere Zeit ist dieses Bewusstsein immer zuerst bei Künstlern entstanden, die die visionäre Kraft – und den Mut – hatten, die Zeichen der äußeren Welt zu lesen und mit der inneren Welt in Verbindung zu bringen. Warum ist es gerade der Künstler und nicht der Wissenschaftler, der diese Zusammenhänge wahrnimmt und Trends vorhersieht? Weil es zur kreativen Inspiration des Künstlers gehört, unterschwellige Veränderungen der Umwelt aufzuspüren. Es ist immer der Künstler, der die von einem neuen Medium erzeugten Verwandlungen der Menschen bemerkt, der erkennt, dass die Zukunft die Gegenwart ist, und der mit seiner Arbeit den Boden für diese Zukunft bereitet. Aber die meisten Menschen, vom Lastwagenfahrer bis zum Literaturpapst, ignorieren noch immer ganz fröhlich, was die Medien mit ihnen machen: Das alle Bereiche des Menschen erfassende Medium selbst, und nicht der Inhalt, ist die Botschaft, die Message. Und das Medium ist nicht nur Message, sondern auch Massage – jedes Zusammenspiel der Sinne wird von ihm durchgeschüttelt, durchdrungen und vollständig umgeformt. Der Inhalt oder die Botschaft eines bestimmten Mediums haben ungefähr so viel Bedeutung wie die Aufschrift auf der Kapsel einer Atombombe. Aber die Fähigkeit, die von den Medien erzeugten Ausweitungen des Menschen wahrzunehmen – einst die Domäne der Künstler –, ist heute weiter verbreitet, da die neue Welt der elektronischen Information ein neues Ausmaß an Erkenntnis und kritischem Bewusstsein auch bei Nichtkünstlern ermöglicht. Die Öffentlichkeit beginnt also endlich, die »unsichtbaren« Konturen dieser neuen technologischen Umwelt zu erkennen? Es gibt zwar Menschen, die anfangen, die Natur ihrer neuen Technologien zu verstehen, aber bei Weitem noch nicht gut genug. Die meisten Menschen halten, wie ich bereits angedeutet habe, daran fest, ihre Welt im Rückspiegel zu betrachten. Ich meine damit Folgendes: Weil jede Umwelt, solange sie neu ist, unsichtbar bleibt, nimmt man nur die Umgebung wahr, die ihr vorausgegangen ist. Mit anderen Worten: Eine Umwelt wird nur dann vollständig sichtbar, wenn sie durch eine neue Umwelt abgelöst wurde. Daher hinken wir mit unserer Weltsicht immer einen Schritt hinterher. Weil wir von jeder neuen Technologie – die wiederum eine vollkommen neue Welt schafft – betäubt werden, neigen wir dazu, die alte Welt sichtbarer werden zu lassen, indem wir sie in eine Kunstform verwandeln und unser Herz an die Gegenstände und die Stimmung


hängen, die für sie charakteristisch war. So war es beim Jazz, und das Gleiche macht heute die Pop Art mit den Abfallprodukten der mechanischen Welt. Die Gegenwart ist immer unsichtbar, denn als Umwelt überflutet und überwältigt sie unsere gesamte Aufmerksamkeit. Daher lebt nur der Künstler, als Mensch mit ganzheitlichem Bewusstsein, nicht in der Vergangenheit. Mitten im elektronischen Zeitalter der Software, der unmittelbaren Informationsübertragung, glauben wir immer noch, dass wir im mechanischen Zeitalter der Hardware leben, während man auf dem Höhepunkt des mechanischen Zeitalters den Blick zurück auf frühere Jahrhunderte lenkte, um in ihnen die Werte einer ländlichen Idylle zu suchen. Die Renaissance und das Mittelalter orientierten sich an Rom, Rom an Griechenland, und Griechenland orientierte sich an den vorhomerischen Urvölkern. Wir kehren den alten Erziehungsgrundsatz um und schreiten nicht mehr vom Bekannten zum Unbekannten, sondern wenden uns ab vom Unbekannten hin zum Bekannten – was nichts anderes ist als der Betäubungsmechanismus, der immer dann abläuft, wenn unsere Sinne durch neue Medien drastisch erweitert werden. Wenn dieser »Betäubungseffekt« so wichtig ist als Schutz vor dem psychischen Schmerz, den die von Ihnen auf die Medien zurückgeführten Ausweitungen des Nervensystems verursachen –, warum versuchen Sie dann, diesen Effekt zu beseitigen und die Menschen vor der Veränderung ihrer Umwelt zu warnen? In der Vergangenheit hat man die Wirkung der Medien eher nach und nach erfahren. Dadurch war es für den Einzelnen und die Gesellschaft möglich, deren Stoßkraft bis zu einem gewissen Grad zu absorbieren und abzufedern. Heute im elektronischen Zeitalter sofortiger, unmittelbarer Kommunikation ist, wie ich glaube, unser Überleben, zumindest aber unser Wohlstand und Glück, vom Verständnis der Natur unserer neuen Umgebung abhängig. Denn anders als frühere Veränderungen der Welt bewirken die elektronischen Medien eine beinahe sofortige, totale Veränderung der Kultur, der Werte und Einstellungen. Dieser plötzliche Umsturz ist sehr schmerzhaft und führt zum Verlust der eigenen Identität. Das Einzige, was bei so einem Umsturz hilft, ist die bewusste Wahrnehmung seiner Dynamik. Wenn es uns gelingt, die durch die neuen Medien verursachten revolutionären Veränderungen zu verstehen, dann können wir sie vorhersehen und beherrschen. Verharren wir aber in unserem selbstverschuldeten, bewusstlosen Trancezustand, dann werden wir zu ihren Sklaven werden. Aufgrund der unglaublichen Beschleunigung der Informationsübertragung haben wir heute die Möglichkeit, die auf uns einwirkenden Umwelteinflüsse zu


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verstehen, vorherzubestimmen und auf sie einzuwirken – und so die Kontrolle über unser Schicksal zurückzugewinnen. Die neuen Ausweitungen des Menschen und die von ihnen erzeugte Welt sind der zentrale Bestandteil des evolutionären Prozesses. Und trotzdem können wir uns immer noch nicht von der Selbsttäuschung befreien, dass es nur darauf ankäme, wie man ein Medium gebraucht, und nicht darauf, was es in und mit uns anstellt. Das ist die ZombieHaltung eines technologischen Idioten. Genau weil ich dieser narzisstischen Trance entgehen wollte, habe ich versucht, die Einflüsse der Medien auf den Menschen – von den frühesten Aufzeichnungen bis zur Gegenwart – aufzuspüren und aufzudecken. Könnten Sie diese Einflüsse in verkürzter Form für uns nachzeichnen? Es ist schwierig, das in einem solchen Interview unterzubringen, aber ich werde versuchen, Ihnen in einem kurzen Abriss die entscheidenden Umbrüche der Mediengeschichte vorzustellen. Sie müssen bedenken, dass ich meine Definition von Medien sehr weit fasse: Medien sind alle Technologien, die Ausweitungen des menschlichen Körpers und der menschlichen Sinne darstellen, von der Kleidung bis zum Computer. Dabei möchte ich noch einmal einen entscheidenden Punkt betonen: Gesellschaften sind immer stärker von der Beschaffenheit der Medien, über die die Menschen miteinander kommunizieren, geformt worden als vom Inhalt der Kommunikation. Jede Technologie wirkt wie eine Berührung durch König Midas: Sobald eine Gesellschaft eine Ausweitung von sich entwickelt, neigen alle anderen Funktionen dieser Gesellschaft dazu, sich zu verändern, um diese neue Form in sich aufzunehmen. Sobald eine neue Technologie in eine Gesellschaft eindringt, erfasst sie alles, was in dieser Gesellschaft existiert. Neue Technologien sind der Motor für revolutionäre Veränderungen. Das ist heute so bei den elektronischen Medien, und das war schon vor einigen tausend Jahren so bei der Erfindung des phonetischen Alphabets, einer Erfindung, die in ihren Auswirkungen auf den Menschen genauso weitreichend und tiefgehend war. Welche waren das? Vor der Erfindung des phonetischen Alphabets lebte der Mensch in einer Welt, in der alle Sinne ausbalanciert und gleichzeitig präsent waren, in einer Stammeswelt voller Tiefe und Resonanz, einer oralen Kultur, in der das Leben vom Gehörsinn dominiert wurde. Das Ohr ist ganz anders als das kühl und neutral beobachtende Auge. Feinfühlig und überempfindlich nimmt es alles auf und trägt so innerhalb der Stammeswelt zu dem nahtlos miteinander verbundenen Netz der Verwandtschaften und gegenseitigen Abhängigkeiten bei, in dem alle


Mitglieder der Gruppe harmonisch zusammenleben. Das erste Kommunika­ tionsmedium war die Sprache, und so wusste niemand spürbar mehr oder weniger als der andere – was bedeutete, dass es die Markenzeichen des »zivilisierten« westlichen Menschen, Individualismus und Spezialisierung, noch kaum gab. Tribalistische Kulturen können auch heute den Begriff des Individuums oder des einzelnen, unabhängigen Bürgers schlicht nicht begreifen. In oralen Kulturen laufen Aktion und Reaktion gleichzeitig ab, während die Fähigkeit, eine Aktion ohne Reaktion mit einer gewissen Teilnahmslosigkeit durchzuführen, eine spezielle Gabe des »distanzierten« alpha­betisierten Menschen ist. Und noch etwas, wodurch sich der Stammesmensch von seinen alphabetisierten Nachfahren grundlegend unterscheidet: Er lebte in einer Welt des akustischen Raumes und besaß daher eine von Grund auf andere Vorstellung von Raum-Zeit-Verhältnissen. Was verstehen Sie unter »akustischem Raum«? Ich meine einen Raum, der kein Zentrum und keine festen Umrisse hat, ganz im Gegensatz zu einem streng visuellen Raum, der eine Ausweitung und Intensivierung des Auges darstellt. Der akustische Raum ist eine organische Ganzheit, die durch das simultane Wechselspiel aller Sinne erfasst wird, während der »rationale« oder bildhafte Raum gleichförmig, sequenziell und kontinuierlich ist und eine geschlossene Welt schafft, die ohne die reiche Resonanz des tribalen Echo-Landes auskommen muss. Unsere eigenen Raum-Zeit-Vorstellungen leiten sich, wie unsere gesamte Vorstellung von westlicher Zivilisation, von einer Welt ab, die mit der Entdeckung der phonetischen Schrift errichtet wurde. Der Mensch der Stammesgesellschaft führte ein komplexes, kaleidoskopartiges Leben, und zwar deshalb, weil das Ohr sich im Gegensatz zum Auge nicht auf einen Punkt konzentrieren kann und eher synästhetisch als analytisch und linear ist. Die Sprache ist eine Ausdrucksform oder genauer: ein Nach-außen-Wenden all unserer Sinne zur selben Zeit. Im Hörraum passiert alles gleichzeitig, im Sehraum folgt eins nach dem andern. Die Lebensweisen nicht-alphabetisierter Menschen umfassten alle Erfahrungsbereiche, waren simultan und diskontinuierlich und boten auch einen viel größeren Erfah­ rungsreichtum als die der alphabetisierten Welt. Weil sie in ihrer Informa­tions­ beschaffung vom gesprochenen Wort abhängig waren, wurden die Menschen in das Netzwerk ihres Stammes hineingezogen. Und weil das gesprochene Wort emotionsgeladener ist als das geschriebene – indem es durch die Intonation so vielfältige Gefühle wie Zorn, Freude, Leid und Angst vermittelt –, war der Mensch in der Stammesgesellschaft spontaner, leidenschaftlicher und leb-


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hafter. Der Mensch der Stammesgesellschaft hatte Anteil am kollektiven Unbewussten, lebte in einer magischen, ganzheitlichen Welt, die ihre Ordnung durch Mythen und Rituale erhielt, deren Werte göttlich und unangefochten waren. Der alphabetisierte oder visuelle Mensch hingegen schafft sich eine Umwelt, die stark fragmentiert, individualistisch, eindeutig, logisch, spezialisiert und distanziert ist. War es das phonetische Alphabet allein, das diese tief greifende Veränderung von der Verbundenheit zwischen den Stammesmitgliedern zur »zivilisierten« Distanziertheit bewirkte? Ja. In jeder Kultur werden bestimmte Sinne bevorzugt verwendet. In der Stammesgesellschaft waren die Sinne des Tastens, Schmeckens, Hörens und Riechens aus sehr praktischen Gründen viel weiter entwickelt als die streng visuellen. Das phonetische Alphabet schlug in dieser Welt wie eine Bombe ein und katapultierte das Sehen in der Hierarchie der Sinne an die erste Stelle. Das Alphabet trieb den Menschen aus der Stammesgesellschaft hinaus, gab ihm ein Auge für ein Ohr und ersetzte sein ganzheitliches, intensives Zusammenleben in der Gemeinschaft durch visuelle, lineare Werte und ein fragmentiertes Bewusstsein. Als Intensivierung und Erweiterung des Sehsinns verringerte das phonetische Alphabet die Bedeutung des Hör-, Tast-, Geschmacks- und Geruchssinns, durchdrang die diskontinuierliche Kultur des Stammesmenschen und verwandelte sie in das, was wir mit seiner Uniformität, seiner logischen Konsequenz und seiner Betonung des Sichtbaren noch immer für die Norm einer »rationalen« Existenz halten. Der ganze Mensch wurde zum fragmentierten Menschen. Das Alphabet zertrümmerte den Zauberkreis und die mitschwingende Magie der Stammeswelt und verwandelte die Menschen in einer Explosion zu einem Haufen spezialisierter und psychisch verarmter »Indivi­ duen« oder zu Funktionseinheiten in einer Welt der linearen Zeit und des euklidischen Raums. Aber Schriftkulturen gab es in der antiken Welt doch schon lange vor dem phoneti­schen Alphabet. Warum ist denn bei ihnen die Stammesgesellschaft nicht zusammenge­ brochen? Das phonetische Alphabet veränderte oder erweiterte den Menschen nicht deshalb so drastisch, weil er jetzt lesen konnte. Wie Sie bereits gesagt haben, hatten Stammeskulturen bereits seit Tausenden von Jahren mit in anderer Weise verschrifteten Sprachen gelebt. Aber die vom phonetischen Alphabet hervorgebrachte Kultur war etwas völlig anderes als die älteren und vielfältigeren Kulturen mit ihren Hieroglyphen und Ideogrammen. Die Schriften der



ÂťStatt sich in eine

Ecke zu verkriechen

und darĂźber zu jammern, was die Medien mit uns anstellen,

sollte man zur Attacke blasen

und ihnen in die

Elektroden

treten.ÂŤ


Biografie I Der Malstrom der Medien 1911 – 1952

In den siebziger Jahren ist McLuhan, Professor für englische Literatur an der University of Toronto, als international anerkannter Guru des elektronischen Zeit­ alters am Höhepunkt seines Ruhmes angelangt. Eines Tages bekommt er überraschend Besuch von seinen Verwandten aus dem Westen Kanadas. Er zeigt ihnen auf dem Campus der Universität das Coach House, wo er sein »Centre for Culture and Technology« eingerichtet hat und in dem ihn der kana­dische Premier Pierre Trudeau, Andy Warhol und andere aufsuchen, um sich bei ihm Rat zu holen. Anschließend lädt er seine Verwandten zum Mittag­essen ein und beantwortet Fragen zu seinem Job. Als sie wieder fort sind, schüttelt er den Kopf darüber, dass er von solchen Einfaltspinseln abstammen soll. So zumindest wurde mir die Geschichte kolportiert. Und wahrscheinlich trug sie sich auch genauso zu. Sein ganzes Leben lang blieb McLuhan schmerzlich bewusst, dass er ein »yokel« war, ein Landei – ein Wort, das er recht oft gebrauchte –, der von rechthaberischen Farmern mit ebenso ausgeprägten wie engstirnigen Ansichten abstammte. Und er litt wohl auch unter dem Gefühl, sich Wissenschaftlern mit geschliffenerem und konventionellerem Auftreten nicht ebenbürtig zu fühlen. Diese Wissenschaftler schüttelten nur den Kopf, wenn sie McLuhans Theorien hörten – ungefähr so, wie McLuhan den Kopf über seine Verwandten schüttelte. Ist es möglich, dass McLuhan genau so ein Dummschwätzer war wie seine Verwandten, wenn auch ein ungewöhnlich talentierter Dummschwätzer, einer der pausenlos neue Theorien produzierte, die nur wenig mit der empirischen Realität zu tun hatten? Kann es sein, dass McLuhan, der eine ausgeprägte Vorliebe für exzentrische Ideen hatte und etwa an einen Extrakt aus Pfirsichkernen als Heilmittel gegen Krebs glaubte und einen Glücks- und Unglückszahlenspleen kultivierte, nichts weiter war als ein Junge vom Land, der seine Ignoranz zu einer erfolgreichen Starallüre weiter entwickelt hatte? McLuhans Starrsinn und Exzentrik sind auffällige Merkmale seines Charakters wie des Rufes, der ihm vorauseilte, eines Rufes, den er sich, wie man so schön sagt, ehrlich verdient hatte. Seine Urgroßeltern väterlicherseits waren schottisch-irische Einwanderer, die in Ontario als Bauern ihr Glück suchten. Sein Großvater, James McLuhan, war ein streitsüchtiger Möchtegernphilosoph, der mit der Faust auf den Tisch schlug, wenn ihm die Argumente, die er in ir-


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gendeinem Buch aufgeschnappt hatte, nicht mehr einfielen. Der ganze Clan hatte einen Hang zu geistigen Dingen. So besuchte James‘ Sohn Herbert beispielsweise Vorlesungen in Theologie oder höherer Philosophie. Kurz nach 1900 verließen James McLuhan und seine Söhne Ontario und zogen Richtung Westen auf eine Farm in den kanadischen Prärien. Herbert heiratete Elsie Hall, die Tochter einer Familie von der Ostküste, die ursprünglich aus England stammte. Aus der Ehe gingen zwei Söhne hervor: 1911 Marshall und 1913 Maurice, die beiden in Edmonton geboren wurden. Ihre Eltern führten keine glückliche Beziehung. Herbert war freundlich und sanft, während Elsie rastlos und ehrgeizig war und eine sehr scharfe Zunge hatte. Je mehr sich herausstellte, dass Herbert es nie zu etwas bringen würde – er endete als Versicherungsvertreter in Winnipeg und konnte sich damit kaum über Wasser halten –, desto mehr Verachtung empfand sie für ihn. Elsie nahm Sprechun­ terricht und wurde eine semiprofessionelle Vortragskünstlerin, die in ganz Ka­nada in Kirchenkellern und primitiven Hörsälen Gedichte und Theatermo­ nologe vortrug. Ihr verdankt Marshall sein phänomenales Gedächtnis für Literatur und seine Fähigkeit, frei zu sprechen, in deutlich und klar formulierten langen Absätze aus einem Guss. Als Kind wird er regelmäßig von ihr geschlagen, so wie sie es nicht anders von ihrem Vater gewohnt war. Als Jugendlicher verwickelt Marshall seine Mutter, meist am Küchentisch, in heftige Diskussionen. Das »Niemals nachgeben«, das ihn später so sehr auszeichnet, lernt er in diesen Wortgefechten. In späteren Jahren bekennt er, ein schreck­li­ cher Zuhörer zu sein, aber eines ist sicher: In Diskussionen ist er nicht zu schla­ gen, höchstens feindselige Interviewer können ihn aus der Fassung bringen. Nach seiner Mutter sind die berühmtesten und größten intellektuellen Gegner für ihn nur mehr kleine Fische. Die Auseinandersetzungen am Küchentisch fördern außerdem maßgeblich sein starkes Interesse an Kommunikation und Rhetorik, die Basis für seine medientheoretischen Arbeiten. McLuhan studiert zuerst Literatur an der University of Manitoba, bevor er 1934 mit der finanziellen Unterstützung einer Tante ins englische Cambridge wechselt. Cambridge steht damals an der Spitze einer literaturtheoretischen Revolution, die später als »New Criticism« Schlagzeilen macht. Der New Criticism ist eine Gegenbewegung gegen eine Interpretation von Literatur, die sich auf biografische Fakten der Autoren oder die Geschichte einzelner Ideen stützt. Die von so berühmten Cambridge-Professoren und Literaturtheoretikern wie I. A. Richards, William Empson und F. R. Leavis inspirierten Analysen bleiben nah an den lyrischen oder epischen Texten, um so herauszufinden, wie die Wörter,


einzeln oder in Verbindung mit anderen, beim Leser den Effekt des »Schönen« hervorrufen. Dazu braucht es unter anderem genaue Untersuchungen, wie die Vorstellungskraft der Leser tatsächlich funktioniert, und wie die vielfältigen Bedeutungen einzelner Wörter mit anderen Wörtern und deren vielfältiger Bedeutung zusammenwirken, um vielschichtige und oft mehrdeutige Lesarten zu produzieren. Neben dem New Criticism lernt McLuhan in Cambridge auch eines der größten Geheimnisse der westlichen Kultur kennen: das Trivium. Bei seinen Forschungen zur Prosa der Renaissance entdeckt McLuhan die wahre Bedeutung der Unterrichtsprogramme im mittelalterlichen Europa: das dreigeteilte Studium von Grammatik, Rhetorik und Dialektik (Logik). McLuhan erkennt, dass die intellektuelle Geschichte des Westens ein unaufhörlicher Kampf zwischen diesen drei Wissenszweigen ist. Zu bestimmten Zeiten, etwa im Mittelalter, wird das Wissen von der Logik dominiert. Die Humanisten der Renaissance hingegen wehren sich mit Vehemenz gegen die endlosen syllogistischen Argumentationen der Scholastiker und treten für die Wiederbelebung einer stilistischen Eleganz ein, die sich am Latein von Cicero, Vergil und Ovid orientierte. McLuhan ist der Überzeugung, dass nun die Grammatik – das Studium der Sprache – in Form des New Criticism ein Comeback erlebt. Später weitet McLuhan die Anwendung der Prinzipien des New Criticism aus auf das Studium der Wirkungen aller Kommunikationsmedien und aller auf die menschlichen Sinnesorgane einwirkenden Erscheinungsformen von Technologie. So wie die Vertreter des New Criticism sich bei einem Gedicht nur wenig mit dessen Inhalt – der Botschaft, die mit anderen Begriffen zu umschreiben ist – beschäftigen und sich stattdessen darauf konzentrieren, wie die Wörter des Gedichts tatsächlich ihre Wirkung entfalten, genauso wenig kümmert sich McLuhan um die ganz offensichtlichen Funktionen menschlicher Erfindungen und konzentriert sich stattdessen darauf, wie eine neue technische Erfindung eine neue Umwelt und bei ihren Benutzern eine neue Form der Sinneswahrnehmung erzeugt. Seine Verachtung der »Logik« oder eines linearen, durchdachten Diskurses beschert McLuhan immer wieder Schwierigkeiten und ruft ständig neue Kritiker auf den Plan. Aber die Jahre in Cambridge sind ein hervorragender Start für seine intellektuelle Laufbahn – trotz der Tatsache, dass er bei den Abschlussprüfungen nicht so gut wie erhofft abschneidet. Die begehrte Eins bleibt ihm in Cam­ bridge verwehrt, und sein Tutor meint, er habe zwar die Anlagen zu einem passablen, aber nicht gerade brillanten Universitätsprofessor. Einige Jahre später, 1943, vollendet McLuhan ebenfalls in Cambridge seine Dissertation mit


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einem Essay über das Trivium, der immer noch eine eigenständig-schöpferische Arbeit innerhalb der Kulturtheorie darstellt. Zeit seines Lebens bleibt seine Dissertation unveröffentlicht, vermutlich weil McLuhan nie ganz mit ihr zufrieden ist. Nach dem Abschluss des Studiums in Cambridge geht McLuhan 1936 wieder nach Nordamerika, wo er zunächst an der University of Wisconsin eine auf ein Jahr befristete Anstellung als Lehrassistent erhält. Im selben Jahr konvertiert er zum Katholizismus. Es ist der Abschluss einer langen spirituellen Reise, die mit der Lektüre der Werke des katholischen englischen Schriftstellers Gilbert Keith Chesterton begonnen hatte. In Chesterton erkennt McLuhan einen Seelenverwandten, der noch gewandter als er selbst mit Ideen jonglieren kann. Es macht großen Spaß zu beobachten, wie Chesterton Klischees und konventionellen Vorstellungen die Luft ablässt, eine Fähigkeit, die McLuhan auf dem Höhepunkt seines Ruhmes perfektioniert hat. Chestertons spielerischem Umgang mit Worten und Konzepten liegt jedoch die Überzeugung zugrunde, dass sich auf der Welt letztlich alles zum Guten füge. Und wie sein eigenes Vorbild Thomas von Aquin glaubt Chesterton an die Macht der Sinne. Sinneseindrücke konnen täuschen, aber grundsätzlich kann man auf sie vertrauen. McLuhan gelangt später zu der Ansicht, dass sie nur richtig funktionieren, wenn sie in einem angemessenen Gleichgewicht zusammenwirken. Sobald einer der menschlichen Sinne die anderen überwältigt – wie zum Beispiel der von der Druckpresse ausgeweitete Augensinn den weiter im Körperinneren sitzenden, weniger zielgerichteten Hörsinn – wird die menschliche Wahrnehmung verzerrt. Ein Problem, das weniger durch die Realität selbst entsteht, sondern durch den Drang des Menschen, seine Macht mittels Technologie auszuweiten. Ein Christ, und besonders ein Katholik wie Chesterton, kann hingegen angstfrei die Welt erkunden in dem ruhigen Vertrauen darauf, dass Gott von jeder menschlichen Technologie und Wahrnehmungsform unberührt und unveränderlich bestehen bleibt. Der Katholizismus erweist sich für McLuhan als unschätzbarer emotionaler Rückhalt. »Der Glaube an Gott verändert das Leben«, sagt er einmal einem Interviewer, »macht es mystisch und lässt einen uninspirierten, schwerfälligen Menschen auf lyrische Art über sich hinauswachsen.« Sein Glaube bewahrt ihn auch vor einem Phänomen, das Philosophen ein Übermaß an Idealismus nennen. McLuhan ist ein Denker, der dazu neigt, Strukturen als das einzig Reale anzusehen. In diesem Sinn ist er empfänglich für okkultes und mystisches Denken. Als junger Mann besucht er Vorlesungen über solche Themen wie Telekinese oder


das Ektoplasma und reagiert darauf mit dem starken Abscheu eines Menschen, der weiß, dass er von solchen Vorstellungen allzu leicht abhängig werden kann. Nachdem er moderne Schriftsteller wie William Butler Yeats und Ezra Pound kennengelernt hat, die schnell zu seinen Helden aufsteigen, wird ihm bewusst, dass in viele ihrer Werke okkulte Theorien und Praktiken eingeflossen sind. Auch hier reagiert er mit Entsetzen, trotz oder gerade wegen seiner tiefen Verehrung für ihr Schreiben. Für McLuhan ist der Katholizismus ein Bollwerk gegen die Verführung durch das, was er die »gnostischen« Tendenzen bei Autoren wie Yeats, Pound und selbst T. S. Elliot nannte. Allerdings bewahrt das McLuhan nicht davor, in paranoide Theorien zu verfallen. Er sieht Verschwörungen von Freimaurern und anderen Okkultisten am Werk, die es darauf abgesehen hätten, seine Karriere in der akademischen Welt zu durchkreuzen. Tatsächlich ist Paranoia ja eine Extremform des Erkennens von Strukturen, von der auch McLuhan nicht frei ist. Es bleibt jedoch festzuhalten, dass McLuhans zahlreiche unheilvolle Vorhersagen, dass der Gnostizismus die zukünftige Form der Häresie sei, sich wie so viele seiner Beobachtungen als sehr weitblickend erwiesen haben. Nach dem Jahr in Wisconsin bekommt er eine Stelle am Englischen Seminar der St. Louis University, einer jesuitischen Lehranstalt. McLuhan glaubt, die katholische Umgebung werde seinem Denken gut tun, was in mancher Hinsicht auch zutrifft. In St. Louis begegnet McLuhan dem brillanten und exzentrischen Mediävisten Bernard J. Muller-Thym, der schon bald die Uni verlässt, um eine Karriere als Wirtschaftsberater einzuschlagen, begründet auf Prinzipien, die er von den mittelalterlichen Scholastikern übernommen hat. Muller-Thym ist der Erste, der den Wirtschaftsbossen in den dreißiger und vierziger Jahren klar zu machen versucht, dass sie in einem Zeitalter der Information leben, und dass ihr eigentliches Produkt von nun an Information ist. Auf McLuhan, der sich ebenfalls Gehör bei den Führern aus Wirtschaft und Politik verschaffen will, machte das starken Eindruck. Der Leiter des Seminars, der Jesuit William McCabe, selbst Cambridge-Absolvent, wird zu einem Freund und Förderer McLuhans. Er ermutigt ihn dazu, ein Projekt zu verfolgen, das seinen Ursprung in jener Universität hat – besonders in den Arbeiten von F. R. Leavis, der als Co-Autor ein Buch mit dem Titel Culture and Environment herausgebracht hatte. In diesem Werk fordert Leavis die Literaturwissenschaft auf, Radio und Zeitungsanzeigen mit demselben kriti­ schen Methodenapparat zu durchleuchten wie die Dichtung. Leavis schreibt im Ton moralischer Entrüstung, für den McLuhan wenig Sympathie hegt, aber


62 | 63 Biografie I

die Konzentration auf die Methoden der Werbung, Methoden, die McLuhan auch in den Werken mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Rhetoriker wiedererkennt, faszinieren ihn. McLuhan beginnt Werbeanzeigen zu sammeln, um sie später in sein erstes Buch Die mechanische Braut einzubauen. Niemand hasst die Verlogenheit und die Verführungskraft der Werbung mehr als McLuhan, aber er ist der festen Überzeugung, dass die ernsthafte Untersuchung von Anzeigen der einzige Weg ist, ihre Macht über die Psyche der Menschen zu brechen. Durch die Vermittlung seiner Mutter lernte McLuhan 1938 die aus Texas stammende Corinne Keller Lewis kennen, eine Studentin der Theaterwissenschaft, die bereits ein Jahr darauf seine Frau wird. Mutter Keller-Lewis hingegen ist wegen der finanziell sehr beschränkten Verhältnisse des Jung-Professors und seiner Yankee-Abstammung eher skeptisch. Corinne konvertiert ebenfalls zum Katho­ lizismus und wird eine hingebungsvolle Ehefrau sowie Mutter von sechs Kindern (vier Töchtern und zwei Söhnen). McLuhan, ein attraktiver und selbst­ sicher auftretender Junggeselle, erweist sich zwar als treuer Verlobter, aber nicht als idealer Ehemann und Vater. Seine Arbeit nimmt ihn voll in Anspruch und außerdem fehlen ihm, vielleicht als Folge der spannungsgeladenen Beziehung zu seiner Mutter, Rücksichtnahme und eine gewisse zärtliche Fürsorge. Nicht gerade hilfreich sind dabei einige von McLuhans Ticks, zum Beispiel der Dagwood Bumstead-Komplex. McLuhan interessiert sich für den amerikani­ schen Comicstrip Blondie, in dem ein bemitleidenswerter Ehemann und Vater – Dagwood – nichts richtig auf die Reihe bekommt, bei der Arbeit von seinem Boss schikaniert und zu Hause von seiner Frau herablassend behandelt wird. McLuhan erkennt, dass der Comicstrip ein Problem dramatisiert, das in Nordamerika weit verbreitet ist und zum Teil aus der besonderen Zusammensetzung einer von Einwanderern dominierten Gesellschaft herrührt, in der die Söhne dazu neigen, ihre Väter zu verachten. In Blondie wird sehr treffend ein Aspekt des amerikanischen Lebens in den Fokus genommen und dieser Comic ist ein frühes Beispiel für die Art von Kulturkritik, wie McLuhan sie dann in der Mechanischen Braut anwandte. Auch wenn McLuhans Einsicht dazu durch seine eigene familiäre Vorgeschichte in Winnipeg begünstigt wird, ist es eine ganz andere Frage, ob dadurch die Atmosphäre in seinem eigenen Heim verbessert wurde, denn mit der Zeit wird das Leben an der St. Louis University unerträglich. Die geringe Bezahlung – Laien bekommen an katholischen Universitäten noch weniger als an weltlichen – und die beschränkten Möglichkeiten – McLuhan muss die nahe gelegene Bibliothek an der George Washing-


Unterlagen bezüglich der Einzelheiten der verschiedenen Druck-Verfahren haben, mit denen die ersten Bücher hergestellt wurden.« Gleichermaßen besitzt die Ford Company keinerlei Dokumente, die die tatsächlichen Verfahren beschreiben, die bei der Herstellung der ersten Automobile angewandt wurden. Der Buchdruck bildet die Endphase der Alphabet-Kultur, die den Menschen in erster Linie aus dem Stammesverband gerissen oder entkollektviert hat. Der Buchdruck verleiht den visuellen Grundzügen des Alphabetes die größte Intensität und Schärfe. So dehnt der Buchdruck die individuierende Macht des phonetischen Alphabetes viel weiter aus, als es die Manuskriptkultur je vermochte. Der Buchdruck ist die Technik des Individualismus. Wenn nun die Menschheit sich entschließt, diese visuelle Technik durch eine elektrische Technik einzuschränken, wird auch der Individualismus eingeschränkt. Wollte man darüber ein moralisches Gejammer anstimmen, dann wäre dies so unklug, wie wenn man eine Säge verdammen würde, weil sie einem einige Finger abgetrennt hat. »Aber wir wussten ja nicht«, sagt man dann immer, »dass es passieren würde.« Aber selbst die Einfalt ist kein moralisches Problem. Sie ist zwar ein Problem, aber nicht ein moralisches; es wäre sehr erfreulich, wenn man einige der moralischen Nebel verscheuchen könnte, die unsere Techniken umgeben. Auch die Moral würde daraus Nutzen ziehen.


neuen Krieg.«

134 | 135 Marshall McLuhan. Die Gutenberg-Galaxis

»Jede neue

Technologie

verlangt

nach einem


Medien verstehen – die Ausweitungen des Menschen 1964

Das Medium ist die Botschaft In einer Kultur wie der unseren, die schon lange gewohnt ist, alle Dinge aufzusplittern und zu teilen, um sie so unter Kontrolle zu bekommen, ist es ein kleiner Schock, wenn man daran erinnert wird, dass in Funktion und praktischer Anwendung das Medium die Botschaft ist. Das soll nur heißen, dass die persönlichen und sozialen Auswirkungen jedes Mediums – das heißt jeder Ausweitung unserer eigenen Person – sich aus dem neuen Maßstab ergeben, der durch jede Ausweitung unserer eigenen Person oder durch jede neue Technik eingeführt wird. So streben beispielsweise mit dem Aufkommen der Automation die neuen Formen menschlichen Zusammenlebens hin auf die Abschaffung der Routinearbeit, des Jobs. Das ist das negative Ergebnis. Auf der positiven Seite gibt die Automation den Menschen Rollen, das heißt eine tief erlebte Beteiligung der Gesamtperson an der Arbeit und der menschlichen Gemeinschaft, die durch die mechanische Technik zerstört worden war. Viele Menschen sind wohl eher geneigt zu sagen, dass nicht in der Maschine, sondern in dem, was man mit der Maschine tut, der Sinn oder die Botschaft liege. Für die Art und Weise, wie die Maschine unsere Beziehungen zueinander und zu uns selbst verändert hat, ist es aber vollkommen gleichgültig, ob sie Cornflakes oder Cadillacs produziert. Die Neugestaltung der menschlichen Arbeit und des menschlichen Zusammenlebens wurde durch die Technik des Zerlegens bestimmt, die das Wesen der Maschinentechnik darstellt. Das Wesen der Automationstechnik ist gerade gegenteiliger Art. Es integriert, dezentralisiert und wirkt in die Tiefe, während die Maschine fragmentierte, zentralisierte und bei der Gestaltung menschlicher Beziehungen an der Oberfläche haften blieb. Das Beispiel des elektrischen Lichtes ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich. Elektrisches Licht ist reine Information. Es ist gewissermaßen ein Medium ohne Botschaft, wenn es nicht gerade dazu verwendet wird, einen Werbetext Buchstabe um Buchstabe auszustrahlen. Diese für alle Medien charakteristische Tatsache bedeutet, dass der »Inhalt« jedes Mediums immer ein anderes Medium ist. Der Inhalt der Schrift ist Sprache, genauso wie das geschriebene Wort Inhalt des Buchdrucks ist und der Druck wieder Inhalt des Telegrafen ist. Auf die Frage: »Was ist der Inhalt der Sprache?« muss man antworten: »Es ist ein effektiver Denkvorgang, der an sich nicht verbal ist.« Ein abstraktes Gemälde stellt eine direkte Äußerung von schöpferischen Denkvorgängen dar, wie sie etwa in Plänen für Computer auftauchen


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könnten. Was wir jedoch hier betrachten, sind die psychischen und sozialen Auswirkungen der Muster und Formen, wie sie schon bestehende Prozesse verstärken und beschleunigen. Denn die »Botschaft« jedes Mediums oder jeder Technik ist die Veränderung des Maßstabs, Tempos oder Schemas, die es für die Existenz des Menschen mit sich bringt. Die Eisenbahn hat der menschlichen Gesellschaft nicht Bewegung, Transport oder das Rad oder die Straße gebracht, sondern das Ausmaß früherer menschlicher Funktionen vergrößert und beschleunigt und damit vollkommen neue Arten von Städten und neue Arten der Arbeit und Freizeit geschaffen. Und zwar, ob nun die Eisenbahn in einer tropischen oder nördlichen Umgebung fuhr, völlig unabhängig von der Fracht oder dem Inhalt des Mediums Eisenbahn. Das Flugzeug andererseits führt durch die Beschleunigung des Transporttempos zur Auflösung der durch die Eisenbahn bedingten Form der Stadt, der Politik und der Gemeinschaft, ganz unabhängig davon, wie und wofür das Flugzeug verwendet wird. Kehren wir zum elektrischen Licht zurück. Ob das Licht bei einem gehirnchirur­ gischen Eingriff oder einem nächtlichen Baseballspiel verwendet wird, ist vollkommen gleichgültig. Man könnte behaupten, dass diese Tätigkeiten in gewisser Hinsicht der »Inhalt« des elektrischen Lichts seien, da sie ohne elektrisches Licht nicht sein könnten. Diese Tatsache unterstreicht nur die Ansicht, »dass das Medium die Botschaft ist«, weil eben das Medium Ausmaß und Form des menschlichen Zusammenlebens gestaltet und steuert. Der Inhalt oder die Verwendungsmöglichkeiten solcher Medien sind so verschiedenartig, wie sie wirkungslos bei der Gestaltung menschlicher Gemeinschaftsformen sind. Ja, es ist nur zu bezeichnend, wie der »Inhalt« jedes Mediums der Wesensart des Mediums gegenüber blind macht. Erst jetzt haben manche Industriezweige erkannt, mit was für Geschäften sie eigentlich zu tun haben. Als IBM entdeckte, dass seine Tätigkeit nicht die Erzeugung von Bürobedarf oder Büromaschinen ist, sondern die Verarbeitung von Information, begann es, sein Unternehmen mit klarem Blick zu leiten. Die General Electric Company zieht einen beträchtlichen Teil ihrer Gewinne aus Glühlampen und Beleuchtungsanlagen. Diese Gesellschaft aber hat genauso wenig wie A.T. & T. herausgefunden, dass ihr Geschäft in der Informationsbewegung liegt. Bei der Verleihung eines Ehrentitels an der Universität von Notre Dame machte General David Sarnoff vor ein paar Jahren folgende Feststellung: »Wir neigen nur zu leicht dazu, die technischen Mittel zum Sündenbock jener zu machen, die sie handhaben. Die Schöpfungen der modernen Wissenschaft sind an sich weder gut noch schlecht; die Art und Weise aber, wie sie verwendet werden, bestimmt ihren Wert.« Das ist die Stimme der üblichen Nachtwandlermentalität. Nehmen wir an, wir wollten sagen, »Apfelkuchen ist an sich weder gut noch schlecht; nur die Art, wie er verwendet wird, bestimmt seinen Wert«. Oder, »der Pockenvirus ist an


sich weder gut noch schlecht; nur die Art, wie er verwendet wird, bestimmt seinen Wert.« Oder auch »Schusswaffen sind an sich weder gut noch schlecht; nur die Art, wie sie verwendet werden, bestimmt ihren Wert.« Das heißt, wenn die Kugeln die richtigen Leute treffen, sind Schusswaffen gut. Wenn die Fernsehröhre die richtigen Leute mit der richtigen Munition beschießt, ist das Fernsehen gut. Ich will jetzt nicht boshaft sein. In dieser Behauptung Sarnoffs steckt einfach gar nichts, was einer genaueren Überprüfung standhielte, denn sie ignoriert die Natur des Mediums, jedes einzelnen Mediums und aller Medien in der echt narzisstischen Art von jemandem, der hypnotisiert ist durch Amputation und die Ausweitung seiner eigenen Person in eine neue Form von Technik. General Sarnoff legte dann seine Stellungnahme zur Drucktechnik dar und führte aus, dass durch den Buchdruck zwar viel Schund unter die Menschen gekommen sei, aber er habe auch die Bibel und die Gedanken von Visio­ nären und Philosophen verbreitet. Es ist General Sarnoff nie aufgefallen, dass ein Me­ dium etwas anderes tun könnte, als sich dem bereits Vorhandenen anzuschließen. Knapp bevor ein Flugzeug die Schallmauer durchbricht, werden die Schallwellen an den Tragflächen des Flugzeugs sichtbar. Das plötzliche Sichtbarwerden des Schalls gerade dann, wenn der Schall aufhört, ist ein treffendes Beispiel jener großen Seinsgesetzmäßigkeit, die neue und gegensätzliche Formen offenbart, wenn frühere Formen gerade den Höhepunkt ihrer Entwicklung erreichen. Die Mechanisierung war nie so deutlich atomistisch oder kontinuierlich wie bei der Geburt des Films, dem Zeitpunkt also, der uns über die Mechanisierung hinaus in die Welt des Wachstums und der organischen Wechselbeziehungen führte. Der Film brachte uns, durch bloße Beschleunigung der Mechanik, von der Welt der Folge und Verbindung zur Welt der schöpferischen Gestalt und Struktur. Die Botschaft des Mediums Film ist die des Übergangs von linearer Verbindung zur Gestalt. Es ist der Übergang, der zu der nun vollkommen richtigen Bemerkung geführt hat: »Sobald es funktioniert, ist es bereits überholt.« Wenn die elektrische Geschwindigkeit noch mehr von den mechanischen Filmsequenzen übernimmt, werden die Kraftlinien in Strukturen und Medien laut und deutlich. Wir kehren zur allumfassenden Form des Bildsymbols zurück. Einer hochalphabetisierten und mechanisierten Kultur erschien der Film als eine Welt triumphierender Illusionen und Träume, die man mit Geld kaufen konnte. In diesem Augenblick der Geschichte des Films kam der Kubismus auf, der von E. H. Gombrich in seinem Buch Art and Illusion als »der gründlichste Versuch, Mehrdeutigkeit auszuschließen und einer Lesart des Bildes Geltung zu verschaffen – der eines von Menschenhand geschaffenen Werkes, einer mit Farbe behandelten Leinwand« bezeichnet worden ist. Denn der Kubismus setzt alle Aspekte eines Gegenstandes


Heiße und kalte Medien Es gibt ein Grundprinzip zur Unterscheidung zwischen einem »heißen« Medium, wie dem Radio, und einem »kühlen«, wie dem Telefon, oder einem »heißen«, wie dem Film, und einem »kühlen«, wie dem Fernsehen. Ein »heißes« Medium erweitert durch seinen Detailreichtum nur einen Sinn allein. Detailreichtum ist der Zustand hoher Datendichte. Eine Fotografie ist optisch »detailreich«. Eine Karikatur ist »detail­ arm«, und zwar einfach, weil wenig optisches Informationsmaterial zur Verfügung steht. Das Telefon ist ein kühles Medium oder ein detailarmes, weil das Ohr nur eine

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gleichzeitig anstelle des »Blickwinkels« oder des Aspekts der perspektivischen Illu­ sion. Der Kubismus ersetzt die spezialisierte Illusion der dritten Dimension auf der Leinwand durch ein Wechselspiel von Ebenen und Widersprüchen oder durch einen dramatischen Konflikt von Muster, Licht und Textur, der durch das Miteinbeziehen »die Botschaft an den Mann bringt«. So werden, wie viele behaupten, wirklich Gemälde geschaffen und nicht Illusionen. Mit andern Worten, der Kubismus gibt Innen und Außen, Oben, Unten, Hinten, Vorne und alles übrige in zwei Dimensionen wieder und lässt damit die Illusion der Perspektive zugunsten eines unmittelbaren sinnlichen Erfassens des Ganzen fallen. Mit diesem Griff nach dem unmittelbaren, totalen Erfassen verkündete der Kubismus plötzlich, dass das Medium die Botschaft ist. Ist es nicht klar, dass im selben Augenblick, in dem das Aufeinanderfolgen der Gleichzeitigkeit weicht, wir uns in der Welt der Struktur und Konfiguration befinden? Ist nicht gerade das in der Physik wie in der Malerei, Dichtung und auf dem Gebiet der Kommunikation eingetreten? Die Aufmerksamkeit gilt nicht mehr speziellen Teilaspekten, sondern wendet sich der Wirklichkeit als totalem Feld zu, und wir können jetzt ganz natürlich sagen, »das Medium ist die Botschaft«. Vor der elektrischen Geschwindigkeit und dem totalen Feld war es nicht klar, dass das Medium die Botschaft ist. Die Botschaft, so schien es damals, sei der »Inhalt«, als die Leute noch fragten, was ein Gemälde bedeute. Doch wäre es ihnen nie eingefallen zu fragen, was eine Melodie, ein Haus oder ein Kleid bedeute. In solchen Dingen haben die Menschen eine gewisse ganzheitliche Auffassung der Struktur, Form und Funktion als einer Einheit beibehalten. Aber im Zeitalter der Elektrizität ist diese ganzheitliche Auffassung der Struktur und Konfiguration so vorherrschend geworden, dass die Pädagogik diese Angelegenheit aufgegriffen hat. Anstatt sich mit speziellen »Problemen« der Arithmetik zu beschäftigen, folgt die strukturelle Methode der Kraftlinie im Feld der Zahlen und lässt Kinder über Zahlentheorie und »Mengen« nachdenken.


dürftige Summe von Informationen bekommt. Und die Sprache ist ein kühles, in geringem Maße definiertes Medium, weil so wenig geboten wird und so viel vom Zuhörer ergänzt werden muss. Andererseits fordern heiße Medien vom Publikum eine geringe Beteiligung oder Vervollständigung. Heiße Medien verlangen daher nur in geringem Maße persönliche Beteiligung, aber kühle Medien in hohem Grade persönliche Beteiligung oder Vervollständigung durch das Publikum. Daher hat natürlich ein heißes Medium wie das Radio ganz andere Auswirkungen auf den, der es verwendet, als ein kühles Medium wie das Telefon. Ein kühles Medium wie hieroglyphische oder ideografische Schriftzeichen hat ganz andere Auswirkungen als das heiße und explosive Medium des phonetischen Alphabets. Als das Alphabet bis zu einem hohen Grade von visueller Intensität verdichtet wurde, wurde es zum Buchdruck. Das gedruckte Wort zerbrach mit der Intensität der Spezialisierung die körperschaftlich organisierten Zünfte und Klöster des Mittelalters und schuf die extrem individualistischen Formen des Unternehmertums und der Monopole. Aber die typische Umkehrung trat ein, als extreme Formen der Monopole wieder zur Bildung von Körperschaften führten mit ihrer unpersönlichen Herrschaft über viele Menschenleben. Das »Aufheizen« des Mediums der Schrift bis zur Intensität des wiederholbaren Drucks führte zum Nationalismus und den Religionskriegen des 16. Jahrhunderts. Schwere und unhandliche Medien wie etwa Stein sind zeitenverbindend. Zum Schreiben verwendet sind sie tatsächlich sehr kühl und dienen der Verbindung zwischen Zeitaltern, während Papier ein heißes Medium ist, das dazu dient, Räume horizontal zusammenzuschließen, und zwar sowohl im Reich der Politik wie in dem der Unterhaltung. Jedes heiße Medium lässt weniger persönliche Beteiligung zu als ein kühles, wie ja eine Vorlesung weniger zum Mitmachen anregt als ein Seminar und ein Buch weniger als ein Zwiegespräch. Durch den Druck wurden viele ältere Formen vom Leben und von der Kunst ausgeschlossen, viele aber erhielten eine merkwürdig neue Intensität. Aber unsere eigene Zeit ist voller Beispiele für den Grundsatz, dass die »heiße« Form ausschließt und die »kühle« einschließt. Als die Balletttänzerinnen vor einem Jahrhundert auf den Zehenspitzen zu tanzen begannen, glaubte man, dass die Ballettkunst zu neuer »Durchgeistigung« gekommen sei. Durch diese neue Intensität wurden männliche Personen zunächst vom Ballett ausgeschlossen. Die Rolle der Frau war mit dem Aufkommen der industriellen Spezialisierung und der Explosion der häuslichen Aufgaben in Wäschereien, Bäckereien und Spitäler als Randerscheinungen der Gemeinschaft ebenfalls aufgeteilt worden. Intensität oder Detailreichtum bringt Spezialisierung und Aufteilung im Bereich des Lebens und der Unterhaltung mit sich, was wiederum erklärt, warum jedes tiefe Erlebnis »vergessen«, »zen-


Verliebt in seine Apparate – Narzissmus als Narkose Die griechische Sage von Narziss hat, wie das Wort Narziss andeutet, direkt mit

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siert« und in einen sehr abgekühlten Zustand versetzt werden muss, bevor es in die »Erfahrung aufgenommen« oder einverleibt werden kann. Die freudsche »Zensur« ist weniger eine moralische Funktion als eine unbedingt notwendige Bedingung der Erfahrung. Wenn wir jeden Schock in unsere verschiedenen Bewusstseinsbezirke direkt und im vollen Umfang aufnehmen müssten, wären wir bald Nervenbündel mit Spätzündung, die jeden Augenblick den Bedienungsknopf für den Schleudersitz betätigten. Die »Zensur« schützt unser zentrales Wertesystem wie sie unser physiologisches Nervensystem schützt, und zwar ganz einfach dadurch, dass das Erlebnis schon im Ansatz stark abgekühlt wird. Für viele Menschen bringt dieses »Kühlersystem« ihr ganzes Leben lang einen Zustand der Totenstarre oder des Nachtwandelns, den man besonders zu Zeiten des Auftretens neuer Techniken beobachten kann. Das Medium des Geldes, des Rades, der Schrift oder irgendeiner anderen Form von spezialistischer Beschleunigung des Austausches und der Information führt zur Zersplitterung der Stammesorganisation. In ähnlicher Weise führt eine noch viel stärkere Beschleunigung, zu der es etwa mit der Elektrizität kommt, zur stammesorganisatorischen Verhaltensweise des intensiven Miterlebens, die wir bei der Einführung des Rundfunks in Europa erlebten und die sich als Folge des Fernsehens in Amerika abzuzeichnen beginnt. Spezialisierte Techniken zerstören die Stammesorganisation, die nicht spezialisierte Technik der Elektrizität stellt sie wieder her. Der Vorgang des Umbruchs als Folge einer Neuverteilung von Arbeiten und Fähigkeiten wird von einem großen kulturellen Rückstand begleitet, wobei die Menschen beinahe zwangsläufig neue Situationen wie die alten betrachten; sie kommen dann im Zeitalter der Implosion mit Ideen wie »Bevölkerungsexplosion« daher. Blakes Gegenmittel gegen die mechanistische Weltanschauung seiner Zeit war der organische Mythos. Heute, mitten im Zeitalter der Elektrizität, ist der Mythos selbst eine automatische Reaktion, die auch ohne die Phantasiebilder Blakes mathematisch formuliert und ausgedrückt werden kann. Im Zeitalter der Elektrizität hätte Blake auf dessen Herausforderung nicht mit einer bloßen Wiederholung der elektrischen Form geantwortet. Denn der Mythos ist die komplexe, visionäre Gestalt eines vielschichtigen Vorganges, der sich gewöhnlich über einen langen Zeitabschnitt erstreckt. Der Mythos ist die Kontraktion oder Implosion irgendeines Vorganges, und die Instantangeschwindigkeit der Elektrizität verleiht heute gewöhnlichen Tätigkeiten in der Industriegesellschaft eine mythische Dimension. Wir leben mythisch, aber wir denken weiterhin fragmentarisch und eindimensional.



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Herausgeber Rainer Höltschl, Autor, Übersetzer und Herausgeber. Studium der Literaturwissenschaften und Geschichte in Wien und Freiburg, Promotion. Zahlreiche Veröffentlichungen zu McLuhan, u.a. Aufsätze (»Gutenberg-Galaxis« und »Medienökologie«), Übersetzung von Die mechanische Braut (zus. mit Baltes, Böhler und Reuss), von McLuhan-Interviews und -Aufsätzen. Herausgeber von McLuhan-Sammelbänden. Autor einer Biografie zu Jimi Hendrix (zus. mit Klaus Theweleit).

Martin Baltes, geboren 1965. Studium der Germanistik, Soziologie, Sprachen in Saarbrücken, Brest, Freiburg. Gründer von orange-press. Geschäftsführer von Lizard Energy. Herausgeber zahlreicher Publikationen zur Medientheorie und Markengeschichte, insbesondere zu Marshall McLuhan, u.a. Aufsätze (»Global Village«, »Sex and Technology«, »Economy – Iconomy«). Herausgeber von absolute Marken-Labels-Brands.

Biograf Philip Marchand, geboren 1946 in Pittsfield, Massachusetts, kanadischer Literaturkritiker und Buchautor. Zu Studienzeiten an der University of Toronto lernte er Marshall McLuhan kennen. Er war maßgeblich an der Katalogisierung von McLuhans Nachlass durch die National Archives in Ottawa verantwortlich. Er ist Verfasser der grundlegenden Marshall McLuhan Biografie: The Medium is the Messenger (Dt.: Marshall McLuhan. Botschafter der Medien, Stuttgart 1999). Foto © David Penhale


Adams, Henry 81 Addison, Joseph 123 Alexander III, genannt »der Große« 195 Allen, Fred 159 Allen, Woody 97, 202 Alvarez, Alfred 95 Aquin, Thomas von 61 Aretino, Pietro 119 Aristoteles 215 Auerbach, Erich 131 Augustinus, Aurelius 120 f Bach, Johann Sebastian 95 Bacon, Francis 130 Baldwin, Ralph 94, 97, 172 Ballinger, Bill 85 Baudelaire, Charles 86, 109, 183, 191 Beethoven, Ludwig van 95 Bekesy, Georg von 117 Belloc, Hilaire 91 Bergman, Ingrid 82 Bergson, Henri 45, 64, 80, 151 Blake, William 141 Boccioni, Umberto 123 Brahms, Johannes 95 Brecht, Bertolt 159 Brown, Jerry 97 Browning, Robert 148 Bryson, Lyman 147 Burckhardt, Jakob 73 Burne-Jones, Edward Coley 105 Burroughs, William Seward 180 ff Burton, Robert 131 Butler, Pierce 103 Cäsar, Gaius Julius 195 Canetti, Elias 147, 152 Carlyle, Thomas 48 Carpenter, Edmund 88, 90 Carpenter, Ted 173 f, 176  Carroll, Lewis 182 Carter, Jimmy 202 Castro, Fidel 24

Cellini, Benvenuto 20 Cervantes 128 Cézanne, Paul 109 Chaplin, Charles 107 Chardin, Teilhard de 123, 155 Chaucer, Geoffrey 123 Chaytor, H.  J. 103 Chesterton, Gilbert Keith 61, 91 Chruschtschow, Nikita 159 Cicero, Marcus Tullius 60, 105, 130 Clinton, Bill 202 Conrad, Joseph 41 Cromwell, Oliver 130 Cues, Nikolaus von 115 Culkin, John 172, 176 Cummings, E. E. 88 Dante Alighieri 46 Darwin, Charles 95 da Vinci, Leonardo 194 DeMille, Cecil B. 82 De Quincey, Thomas 86, 191 de Sancto Caro, Hugo 120 Descartes, René 16 Dewey, John 127 f Dillon, Emile Joseph 113 Disney, Walt 107 Doyle, Arthur Conan 85 Doyle, Edward Dermot 85 Dreyfus, Norman 64 Drucker, Peter F. 112 Dylan, Bob 97 Einstein, Albert 95, 109, 172 Eliot, T. S. 50, 62, 64, 68, 86, 90, 98, 104, 214 Empson, William 59 Erasmus von Rotterdam 105 Euklid 13 Febvre, Lucien 126 f, 132 Feigen, Gerald 95 Felton, Norman 175 Ford, Gerald 202 Ford, Henry 20, 129

220 | 221 Herausgeber, Biograf, Personenregister

Personenregister


Forsdale, Lou 93 Fraser, Douglas 211 Frazer, James 101 Freud, Sigmund 8, 95, 141, 149 Frye, Northrop 66 Fuller, Buckminster 175, 179 Fuller, Margaret 48 Geddes, Patrick 102 Gibbon, Edward 105 Giedion, Siegfried 88, 129 Goethe, Johann Wolfgang von 209 Goldschmidt, E. P. 119 ff Gombrich, Ernst H. 138, 209 Gossage, Howard 95, 97 Graves, Robert 88 Guerard, Albert 130 Gutenberg, Johannes 20 ff, 55, 88, 95, 110, 114 ff, 122 ff, 133, 135, 166 Hearst, William Randolph 113 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 210 Heidegger, Martin 210 Herbert, George 103 Hitler, Adolf 23 f, 158, 160 Hoffman, Abbie 98 Hopkins, Gerard Manley 132 Horney, Karen 69 Huizinga, Johan 124 Hume, David 154 Humphrey, Hubert H. 25, 55 Hutchon, Kathryn 93 Innis, Harold A. 67 f, 88, 93, 109 ff Ivins, William 114 ff Jefferson, Thomas 188 Johnson, Lyndon B. 25, 55 Jonas, Adolphe 142 Joyce, James 50, 64, 68, 74, 76, 97, 103, 133, 161, 184, 215 Kant, Immanuel 154 Keller Lewis, Corinne 63 Kennedy, John F. 24 f, 159, 202 Kepes, Gyorgy 116 f

Kermode, Frank 96 Kierkegaard, Sören 157 Kipling, Rudyard 158 Klein, Paul 175 f Kubrick, Stanley 175 Lardner, Ring 80 Laski, Harold Joseph 112 Lawrence, David Herbert 190 Leary, Timothy 34 Leavis, F. R. 59, 62, 91,172 Lennon, John 97 Lewis, Clive Staples 73, 131 Lewis, Wyndham 64 , 183 , 201 Machiavelli, Niccolò 73 Malraux, André 97 Marconi, Guglielmo 127 Martin, Henri-Jean 126 f, 132 McCabe, William 62, 64 McCarthy, Joseph 105, 159 McGeoch, John A. 125 McLuhan, Corinne 63, 172, 203 McLuhan, Elsie 59 McLuhan, Eric 93, 173 McLuhan, Herbert 59 McLuhan, James 59 McLuhan, Maurice 59 McLuhan, Michael 176 McLuhan, Teri 204 Mead, Margaret 74 Mickie, Dave 150 Miller, Henry 31 Milton, John 66 f Monet, Claude 156 Monroe, Marilyn 159 Montague, Ashley 88 Morse, Samuel 157 Morus, Thomas 117 f, 181 Muller-Thym, Bernard J. 62, 92 f Mumford, Lewis 146 Mussolini, Benito 24 Napoleon (Bonaparte) 128, 130, 195


Seneca, Lucius Annaeus 105, 132 Seurat, George 22, 156, 162 Shakespeare, William 67, 92, 123 f Shannon, Claude E. 207, 211 Silberman, Charles 94, 97 Skelton, John 131 Smothers Brothers 175 Sontag, Susan 97 Spengler, Oswald 21 Stanislawskij, Konstantin 151 Stein, Gertrude 64 Stewart, Margaret 203 Stroud, Frank 204 Tamerlan 119 Tennyson, Alfred 66 Toynbee, Arnold 74, 194 Trudeau, Pierre 58, 97 Tuve, Rosamunde 103 Twain, Mark 214 Tyler, Parker 83 Usher, Abbott Payson 132 f van Gogh, Vincent Willem 209 Vergil, eigentl. Publius Vergilius Maro 60 Wakeman, Frederic 82 Warhol, Andy 58 Weaver, Warren 207, 211 Welles, Orson 160 Whitehead, Alfred North 186 Wilde, Oscar 105 Wolfe, Tom 95, 97 Woodhouse, A. S. P. 65 f Yeats, William Butler 50, 54, 62 Young, J. Z. 155 Ziegfeld, Florenz 80

222 | 223 Personenregister

Nashe, Thomas 132 Nevitt, Barrington 214, 218 Newton, Isaac 16, 95, 104 Nixon, Richard 25, 159, 202 Ong, Walter 93, 128 Ovid 60 Paar, Jack 25, 173 Papinian 130 Parker, Harley 173 Pauling, Linus 40 Piaget, Jean 88 Picasso, Pablo 74, 76 Platon 102, 130, 181 Poe, Edgar Allan 71, 85 ff, 189, 191 Pope, Alexander 95 Postman, Neil 97 Pound, Ezra 50, 62, 64, 68, 97, 201 Pulitzer, Joseph 113 Pullman, George 129 Rabelais, François 128 ff Ramus, Peter 127 f Ray, Johnny 67 Renoir, Jean 156 Richards, Ivor Armstrong 59 Riesman, David 88 Rimbaud, Arthur 182 Roosevelt, Franklin D. 24, 106, 197 Rossetti, Dante Gabriel 105 Rouault, Georges Henri 162 Rowan, Dan 175 Rubin, Edgar 208 Ruskin, John 182 Russell, Bertrand 109 Sarnoff, David 137 f Sayre, Kenneth 110 Schramm, Wilbur 128 Schwartz, Eugene 174 f Schwartz, Tony 172 Scott, Walter 85 Seldes, Gilbert 81 Selye, Hans 142, 155


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