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More Than Honey Vom Leben unD Ăœberleben Der Bienen

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Markus Imhoof | Claus-Peter Lieckfeld: MORE THAN HONEY – Vom Leben und Überleben der Bienen Freiburg: orange-press 2013 © Copyright für die deutsche Ausgabe 2013 bei orange Alle Rechte vorbehalten.

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Gestaltung: Katharina Gabelmeier Lektorat: Undine Löhfelm, Torben Pahl Gesamtherstellung: Westermann Druck, Zwickau Der Film MORE THAN HONEY von Markus Imhoof ist eine Koproduktion von zero one film, allegro film, Thelma Film und Ormenis Film Im Text angegebene URLs verweisen auf Websites im Internet. Der Verlag ist nicht verantwortlich für die dort verfügbaren Inhalte, auch nicht für die Richtigkeit, Vollständigkeit oder Aktualität der Informationen. ISBN: 978-3-936086-67-6 | www.orange-press.com

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Inhalt

Vorwort 9 Der Mensch lebt nicht vom Brot allein Die Biene im Big Business 17 Millionengeschäft mit Massentransport | Rätselhafter Bienentod | Nervengifte, Genmais und die Folgen | Indianerbienen Die Biene in der heilen Welt 39 Bienenrassen | Die Brutbiologie der Bienen | Bestäubung | Nektar, Pollen, Honig | Faulbrut und andere Krankheiten | Wesensgemäße Bienenhaltung | Der Schwarm | Biene und Wachs als Kulturbildner Die Biene im Labor 57 Der Bienenflug | Bekannte und unbekannte Sinne | Der Schwänzeltanz | Navigation nach Landkarte | Das Berufsleben der Biene Die Biene nach Wunsch 77 Zuchtziele und Zuchtverfahren | Bruder Adam und die Buckfast-Biene | Das Bienen- und das Imkerjahr | Die Honigernte | Propolis Der Mensch als Biene 129 Menschen als Ersatzbestäuber | Die Varroamilbe erobert die Welt | Gelée Royale | Bienen in der Stadt | Die neuen Imker Die Biene als ungezähmte Kraft 145 Mythos »Killerbiene« | Honig von Killerbienen | Imkern im Kampf mit der Milbe | Ein Gegner für Varroa destructor? Die Biene der Zukunft 163 Ein Erdteil ohne Varroa | Schlüsselfaktor Immunstärke | Verwandtschaft als evolutionäres Prinzip | Wildbienen und ihre Lebensräume

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Die Entstehung des Films More Than Honey 179

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Was die Neue Zürcher Zeitung am 24. Mai 2012 meldete, hätte es noch vor Kurzem nicht auf die vorderen Seiten der renommierten Schweizer Zeitung geschafft: »Bienenschmuggel aufgedeckt – Acht­ zig illegal importierte Bienenvölker vernichtet.« Was war passiert? Ein knapp dreißigjähriger Deutscher war Zollfahndern ins Netz gegan­gen, als er sogenannte Kunstschwärme – kiloweise aus ande­ ren Völkern ent­nom­mene Bienen mit separat verpackter Königin – ohne Grenzkont­rolle und damit illegal anbieten wollte. Unter den zwanzig Imkern, die er via Internet aus der Schweiz ins deutsche Grenz­gebiet gelockt hatte, befand sich auch ein Scheinkäufer vom Verein deutschschweizerischer Bienenfreunde. Der ließ den Deal in dem Moment auffliegen, als Cash gegen Bienen getauscht werden sollte. Plötzlich schwärmten nicht Bienen aus, sondern Grenzwäch­ ter. Und sie machten Beute. Die Zollfahndung Zürich stieß bei ihrer Aktion auf achtzig Schweizer Käufer, deren illegal importierte Völker sogleich restlos vernichtet wurden. Eine hohe Dunkelziffer nicht er­ mittelter Käufer blieb bestehen. Warum wurden die Völker umgebracht? Und wieso machte man so viel Aufhebens wegen eines Geldwerts von 135 Franken pro Bienen­ volk? Ausnahmsweise ging es der Zollfahndung in dem Fall nicht ums Geld. Es geht um den Fortbestand der Schweizer Bienenwelt. Illegal importierte Völker könnten Seuchenträger sein, könnten dem Bienensterben, das auch hier grassiert, mit weiteren Ausbruchsher­ den Vorschub leisten. In manchen Regionen der Schweiz haben bis zu siebzig Prozent der Bienenvölker den Winter 2011/2012 nicht überlebt. In Deutschland sind es nach Expertenschätzung bis zu einem Drittel der Völker – rund 300.000 von insgesamt rund einer Million –, die den Winter nicht überstanden haben.1 Auch in den USA sterben seit 2006 jährlich durchschnittlich ein Drittel aller Bienenvöl­ ker. Bei der Eurbee, einem internationalen Kongress von Bienenfor­

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Vorwort

»Der Bienenstaat gleicht einem Zauberbrunnen; je mehr man daraus schöpft, desto reicher fließt er.« Karl von Frisch

Der Mensch lebt nicht vom Brot allein

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schern in Halle Anfang September 2012, hat Professor Robin Moritz bei seiner Eröffnungsrede vor dem weltweiten Zusam­menbruch der Bienenpopulationen gewarnt. Wenn jährlich siebzig Prozent der Kühe sterben würden oder auch nur dreißig Prozent der Hühner, würde überall der nationale Not­ stand ausgerufen. Der Tod der Bienen ist aber mindestens so drama­ tisch, ja folgenreicher. Die Biene ist unser kleinstes Nutztier. Im Spit­ zen­jahr 2007 hat sie uns weltweit eine Rekordmenge von 1,4 Millio­ nen Tonnen Honig eingebracht. Aber es geht bei der Frage nach den Konsequenzen dieser Entwicklung um viel mehr als nur um Honig, um More Than Honey. Eine erfolgreiche Bestäubung ist Voraussetzung dafür, dass Früchte geerntet werden können. Von den wichtigsten hundert Nutzpflanzen­ arten der Welt werden mehr als siebzig Prozent von Bienen bestäubt. Eine Kolonie Honigbienen kann täglich bis zu sieben Millionen Blü­ ten besuchen. Kaum vorstellbar, was ein Wegfall der bee power be­ deuten würde; was wäre, wenn die Honigbienen, deren Leistung die Menschheit seit Jahrtausenden kostenlos in Anspruch nimmt, es nicht mehr täten. Bienen sind für dreißig Prozent der globalen Ernte ver­ antwortlich, und wenn sie ausfielen, müssten wir auf jeden dritten Bissen verzichten. Es geht um nicht weniger als die Welternährung. Der Teller sähe trist aus ohne Bienen: Es würde vieles von dem feh­ len, was bunt, duftend, verführerisch ist. So unterschiedliche Pflan­ zen wie Äpfel, Kirschen, Spargel, Sojabohnen, Pfirsiche oder Gurken sind auf die Bestäubung durch Bienen angewiesen – insgesamt fast einhundert Obst- und Gemüsesorten. In einem Hamburger wäre kein Salat, keine Zwiebel, kein Ketchup und Fleisch von Kühen, die nie Klee gefressen haben. Übrig bliebe das Brötchen, dessen Weizen vom Wind bestäubt wird – die »Sättigungsbeilage«. Auf der Suche nach den Ursachen, warum uns die Honigbienen welt­ weit zu Milliarden und Abermilliarden verlassen, erfährt man nicht den Grund, sondern Gründe: Krankheiten, darunter solche, die sich epi­demisch ausbreiten; Agrargifte; Verarmung der Blütenlandschaft, also Hunger; aber auch sich verändernde klimatische Bedingungen und eine Schwächung der natürlichen Widerstandskraft der Bienen.

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Die Mehrzahl der Experten ist der Meinung, dass es die Summe vie­ler verschiedener, sich gegenseitig verstärkender Angriffe auf ihr Im­ mun­system ist, die schließlich katastrophale Lücken in die Welt­po­pu­ lation der Bienen reißt. Viele Imker sehen den Schuldigen vor allem in den Pestiziden. Wis­sen­ schaft­ler konnten nachweisen, dass 2008 im Rheintal über 11.000 Bie­nen­völker durch ein nikotinähnliches Nervengift, das bei der Mais­ aussaat verwendet wurde, umgekommen sind oder massiv geschä­ digt wurden. Am 10. März 2011 reagierten die Vereinten Nationen mit einer Stel­ lungnahme auf die Krisensituation: »Durch systemi­sche Insektizide, wie man sie beispielsweise zum Samenbeizen verwendet, die von den Wurzeln in die gesamte Pflanze und auch in die Blüten wan­ dern, können blütenbestäubende Insekten möglicherweise einer dau­erhaften Gifteinwirkung ausgesetzt sein. […] Laboruntersuchun­ gen haben gezeigt, dass diese Chemikalien einen Verlust des Orien­ tie­rungssinns bewirken können, dass sie das Gedächtnis und die Stoff­­wechselvorgänge im Hirn beeinträchtigen und zum Tod führen können.«2 Der UNO-Welternährungsbericht sagt zwar, dass die Menschheit nur mit einer kleiner strukturierten Landwirtschaft zu ernähren sei. In der Realität jedoch findet weiterhin das Gegenteil statt, weil Monokulturen rationeller zu bewirtschaften sind. Alle totalitären Systeme können nur mit einer brutalen Polizei überleben, im Fall der Monokulturen sind das die Pestizide. Sie halten die Schädlinge in Schach, die sonst ideale Lebensbedingungen vorfinden würden. Gift im Essen und Bienenverluste sind die Kollateralschäden, die da­ bei in Kauf genommen werden. Die Methoden der intensiven Land­ wirtschaft zur Rationalisierung und Effizienzsteigerung werden ger­ ne damit gerechtfertigt, dass die Welternährung anders nicht zu garantieren sei. »Die Menschheit hat sich der Illusion hingegeben, im 21. Jahrhundert durch technischen Fortschritt unabhängig von der Natur zu sein.«, so Achim Steiner, Chef des Umweltprogramms der Vereinten Nationen.3 Zynisch formuliert, stellt sich also die Frage: Wollen wir gesund verhungern oder vergiftet überleben?

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Es gibt jedoch auch Experten renommierter Bieneninstitute, zum Beispiel Dr. Peter Rosenkranz von der Landesanstalt für Bienenkunde der Universität Hohenheim, die nicht der Agrochemie die Schuld am Bienensterben geben: »Der wichtigste Faktor ist Varroa, der zweit­ wichtigste Varroa, dann kommt Varroa.«4 Sicher ist, dass diese aus China eingeschleppte Milbe der Honigbiene seit Ende der 1970er-Jahre entscheidend zu schaffen macht. Sie bei­ ßen sich bevorzugt an der Brut fest und leben vom Blut der Bie­nen. An den Bissstellen dringen außerdem Viren ein, welche die Flü­gel ver­kümmern lassen. Übertragen auf menschliche Proportionen ent­ spräche der Blutsauger der Größe eines Kaninchens. Die immensen Ausfälle im Volk führen zu Arbeitskräftemangel und damit zu schlech­ ter Brutversorgung und mangelnden Futterreserven. Das Volk wird schwach und kollabiert schließlich. Und mit ihm die Milbe? Leider nein. Schwächelnde Völker werden von anderen, stärkeren ausge­ raubt – wo sonst ließe sich Nektar leichter einsammeln, als da, wo er fertig verarbeitet eingelagert liegt. Den Raubzug nutzt allerdings auch die Varroa als Mitreisegelegenheit und zieht mit den Räubern in deren möglicherweise noch nicht infizierten Stock ein. Darüberhinaus gibt es noch ein knappes Dutzend schwerwiegender Krankheiten und Parasiten, welche die Honigbiene begleiten und von den Imkern mit zum Teil belastenden Medikamenten im Zaum gehalten werden. Kann das alles zusammen das Phänomen erklären, das unter dem Na­men Colony Collapse Disorder (CCD) bekannt geworden ist, das den plötzlichen Zusammenbruch kompletter Bienenvölker bezeich­ net? Vor allem in den USA, aber auch in Europa sind Imker seit eini­ gen Jahren damit konfrontiert, dass ihre Völker ohne jede Spur ein­ fach verschwinden. Auf gut mit Honig und Pollen gefüllten Waben sitzt nur noch die Königin mit ein paar wenigen Bienen. Alle andern sind weg, es sind auch keine Ammenbienen mehr da, um die verlas­ sene Brut zu füttern. Aber es liegen keine Bienenleichen im Stock, auch nicht vor dem Flugloch oder in der Nähe der Bienenkästen. Sie sind verschwunden, scheinbar grundlos, ohne vorausgehende Krank­ heitssymptome, und tauchen auch nirgendwo anders wieder auf.

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Angesichts der dramatischen Entwicklung beschäftigt sich weltweit eine wachsende Anzahl von Wissenschaftlern mit den Problemen der Honigbiene – in der Ursachenforschung und auf der Suche nach Lösungsansätzen. Auch manche Imker befassen sich mit Alternati­ ven zur konventionellen Bienenhaltung, um die natürlichen Lebensund Vermehrungsgewohnheiten der Tiere in den Mittelpunkt zu stel­ len. Es besteht Hoffnung, dass die Bienen auf diese Weise gestärkt werden, um aus eigener Kraft besser mit belastenden Umweltfak­ toren zurechtzukommen als schwache, »zahmgezüchtete« Bienen, die vollkommen auf flankierende Maßnahmen von Menschenhand angewiesen sind. Dabei halten sich die Bienen ohne menschliches Zu­tun schon seit mindestens 80 Millionen Jahren auf dem Planeten, vielleicht länger. Über diesen Zeitraum haben sie sich nicht nur an die ständige Verän­ derung ihrer Umwelt angepasst, sondern auch die Abläufe ihres Zusammenlebens perfektioniert. Bereits das älteste in Bernstein konservierte Exemplar rechnen Experten einer staatenbildenden Art zu. Straff organisiert, diszipliniert, effizient: Es ist kein Wunder, dass die Menschen schnell begriffen haben, was für ein hervorragender Kooperationspartner dieses Tier ist. Anders als ein Ackergaul oder ein Lastelefant muss die Biene nicht zu etwas gezwungen werden, was sie von sich aus nicht tun würde. Alles, wovon wir profitieren – Süßigkeiten herbeischleppen und die Voraussetzungen für erfolg­ reiche Ernten schaffen – tut sie sowieso und besser, als wir es ihr je bei­bringen könnten. Der Mensch muss nur ein bestehendes, funktio­ nierendes System kontrollieren. Doch jetzt wird offensichtlich, dass gerade die menschlichen Eingriffe in dieses funktionierende Sys­ tem es destabilisiert haben. In den USA soll ein Sechstel aller Bienenvölker von nur 308 Königin­ nen abstammen, was zu einer massiven Verarmung der genetischen Vielfalt geführt hat. Das weltweite Schwächeln der Honigbienen hat auch damit zu tun, dass der Genpool der Bienen immer weiter reduziert wurde. Die absolute Fokussierung vor allem auf Fleiß und Sanftmut ging auf Kosten der Lebensfähigkeit, der Vitalität. Wie der Film More Than Honey begleitet das gleichnamige Buch

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Menschen, die mit, für und von den Bienen leben: Groß­unternehmer, Imker, Züchter und Wissenschaftler. Es zeigt Menschen, die Bienen Tausende von Kilometern über den Kontinent fahren, sie mit der Post in die ganze Welt verschicken, sie durch Rassereinheit schützen möchten, ihnen ins Hirn schauen oder versuchen, sie durch die eige­ ne Arbeitskraft zu ersetzen. So unterschiedlich und zum Teil absurd die jeweiligen Herangehensweisen erscheinen, ist doch allen Beteilig­ ten gemeinsam, dass sie ihre Bienen lieben – und trotzdem geht es schief. Es wäre fatal, wenn das jahrtausendealte Verhältnis zwischen Mensch und Biene zu einem Krieg zwischen Zivilisation und Natur würde.

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1 vgl. »Milbe verbreitet tödliches Virus unter Bienen«, SpiegelOnline, www.spiegel. de/wissenschaft/natur/bienensterben-milbe-verbreitet-toedliches-virus-unter-bienen-a837744.html, 8. Juni 2012 2 United Nations Environment Programme (Hrsg.), UNEP Emerging Issues: Global Honey Bee Colony Disorder and Other Threats to Insect Pollinators 2010, S. 7 (übersetzt vom Autor) 3 »Bienensterben wird zum globalen Problem«, SpiegelOnline, www.spiegel.de/ wissenschaft/natur/uno-bericht-bienensterben-wird-zum-globalen-problem-a-750139. html, 10. März 2011 4 Richard Friebe, »Volk der Bienen, quo vadis?«, faz.net, www.faz.net/aktuell/ wissen/natur/bienensterben-volk-der-bienen-quo-vadis-1622343.html, 6. April 2011

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Es war einmal ein Imker, der im winzigen, winterkalten Blackfoot in Idaho, USA, darüber nachdachte, wie er die lange arbeitsfreie Win­ter­ zeit am besten nutzen könnte. Außerdem schien ihm der Gedan­ke verlockend, dass in wärmeren Gegenden die Flug- und Arbeits­zeit von Bienen naturgemäß länger sein müsste. Vielleicht, dachte sich der Mann, ließen sich seine Bienen vor Kälteeinbruch ins ferne, aber warme Kalifornien verfrachten, wo sie über ihre normale Jah­ resschicht hinaus Honig sammeln könnten. Das war 1894, der Mann hieß Nephi Ephraim Miller und gilt heute als Pionier der US-Wander­ imkerei im großen Stil. Nach einem erfolg­reichen Probelauf verlud er seine Völker in den kommenden Jahren jedes Jahr kistenweise auf die Eisenbahn und sah mit Freuden, dass sie an der Westküste gute Erträge einflogen – zu einer Jahreszeit, zu der sie daheim noch im Halbschlaf auf den Frühling warten würden. Es hätte N. E. – unter diesem Kürzel kennt ihn jeder, der sich für die große Geschichte des Geschäfts mit den Bienen in den USA interes­ siert – sicherlich noch mehr gefreut zu erfahren, dass sein Urenkel John in seine Fußstapfen treten würde. Mehr noch, John machte den Weg, den sein Urgroßvater als Erster einschlug, zum Highway. Aber davon lässt sich nicht berichten, ohne neu anzusetzen: beim kalifornischen Mandel-Imperium. Achtzig Prozent aller Mandeln, die weltweit verzehrt werden – sei es roh oder geröstet, gemahlen oder zu Marzipan verbacken – wer­ den in Kalifornien geerntet. Im Handelsjahr 2011/2012 schickte der Sonnenstaat mehr als 453 Millionen Kilogramm in den Export. China, Spanien, Deutschland, Indien und die Vereinigten Emirate sind die größten Abnehmer, und zu fünft teilen sie allein 53 Prozent der Gesamtmenge unter sich auf. Mehr als 76 Millionen Kilogramm gin­gen nach China, 222 Millionen Kilogramm blieben für den USBinnenmarkt.

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Die Biene im Big Business

Millionengeschäft mit Massentransport | Rätselhafter Bienentod | Nervengifte, Genmais und die Folgen | Indianerbienen

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Die Biene im Big Business

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Um eine so gewaltige Ernte einzufahren, muss zuvor in entsprechend gewaltigen Dimensionen bestäubt werden. Dreiviertel aller Bienen­ völker, die auf dem Gebiet der USA leben, um die 93 Milliarden Ein­ zelbienen, sind in gut vier Wochen im Februar und Anfang März un­terwegs, um auf rund 3.000 Quadratkilometern Mandelblüten zu bestäuben. Eine Armada von Lkws ist auf Achse, um sie in Scharen über Land zu fahren, in einer vom Menschen terminierten und ausgeführten Völ­ kerwanderung. Die durchschnittliche US-Biene braucht ihre Kondi­ tion darum nicht nur für die normale Bienenarbeit, sondern vor allem für den stressi­gen Transport auf den schier endlosen Highways. Es gibt Wander­imker aus Florida, die ihre Bienen im Februar nach Kalifornien zur Mandelblüte fliegen, anschließend nach Washington State zur Apfel- und Kirschblütenbestäubung, danach quer durch die USA zurück nach Florida zur Zitrusbefruchtung, dann abermals nach Neuengland in die blueberries und schließlich zur Überwinte­ rung zurück nach Florida. Einer der großen Bestäubungsunternehmer und Honigproduzenten der USA ist N.E. Millers Urenkel John, Jahrgang 1954. Honey reimt sich bei ihm auf money, dass wird schnell klar, als der durchtrainier­ te Hobby-Marathonläufer aus dem 310-Seelen-Nest Gackle in North Dako­ta von seinem Geschäft erzählt. Miller ist einer, der seine Bie­ nen liebt; seine dancing ladies nennt er sie. Gleichwohl beutet er sie aus. Er lebt diesen Widerspruch, weil sein Business anders nicht funk­tionieren würde: Ein gigantischer Verschleiß an Tierleben ist der integrierte Kollateralschaden. Die Miller‘schen Bienen, die unter permanenter Temperaturkontrol­le in Kartoffelkellern in Idaho überwintern, werden zwei Wochen vor der Mandelblüte aus ihrer Winterruhe geweckt. Es ist Januar, wenn ein Gutteil der 15.000 Bienenvölker per Sattelschlepper aus dem Winterlager in Idaho über den Donner-Pass zur Bestäubung nach Kalifornien verfrachtet wird, und die Fahrer müssen nicht selten Schneeketten anlegen. Von Ende Januar an verteilt Millers Mann­ schaft die Völker auf einer 200-Meilen-Strecke zwischen Modesto und Chico in schier endlosen Mandelbaumreihen. An den Bäumen

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ist noch kein Blatt, die Blätter kommen erst nach den Blüten. Und dann heißt es gebannt warten, bis diese aufgehen. Die Bienen bekommen so lange Zuckerwasser vorgesetzt. Wenn es so weit ist beginnt der Bestäubungseinsatz. Normalerweise würden die Tiere an dem neuen Ort erst Orientierungsflüge unternehmen. Aber die Bienen von John Miller haben sowieso keine Wahl, als die sie umgebenden Mandelbäume anzufliegen. Es gibt weit und breit keine andere Blüte. Ab Mitte Februar ist das wellige Land blütenrosa. Am 1. März stehen die Mandeln in Hochblüte, und gut zwei Wochen später beginnen die pollination guys eilig, ihre Völker wieder einzusammeln und ab­ reisefertig zu machen. Die Mandelfelder sind extre­me Monokulturen, alles, was da sonst noch blühen und Bienen er­näh­ren könnte, wird akribisch weggespritzt – schon deshalb, damit sich die Bienen nicht von anderen Blüten ablenken lassen. »Sie sollen das tun, wofür sie be­zahlt werden, Mandelblüten bestäu­ben«, sagt Mil­ler, der pro Volk im Mandeleinsatz bis zu 150 Dollar kassiert. Multipliziert mit 15.000 Völkern macht das für vier Wochen Bestäubungs­dienst 2,25 Millio­ nen Dollar. Für die Mandelbarone der Westküste sind das 28 Prozent ihrer Ge­ samtproduktionskosten. Das mag viel sein, aber es gibt keine ande­ ren »Arbeitskräfte« oder Maschinen, die diese Arbeit zu vergleich­ baren Kosten leisten könnten. Nur mit der Honigbiene lassen sich punktgenau solche wohlorganisierten Heere von Zeitarbeitern auf­ stellen. Miller hat auch dafür einen dieser Kommentare, die ihn zum favorite bee guy of America gemacht haben, zumindest bei der Presse und als Talkshowgast: »Bestäubung ist ein Hurenjob: Ich kom­ me nachts, trage Schleier, sie bezahlen mich, ein paar Wochen spä­ter rufen sie mich an und sagen, ich soll mich gefälligst wieder vom Acker machen!« Wenn die Völker nach getaner Arbeit von Kalifornien aus wei­ter­ trans­­portiert werden, gilt es Hitzeschlachten zu bestehen. »Man kann eine Lastwagenladung voller Bienen in zwei Stunden totko­ chen«, sagt Miller, »etwa wenn die Fahrzeuge in einen Stau geraten oder mit Motorschaden liegenbleiben.«

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Die Trucker fahren fast nonstop, halten nur selten, und dann meist, um Wasser über die Schutzplanen zu spritzen, unter denen die Kis­ ten mit den Bienen fest verzurrt liegen. Die Fahrer trinken so wenig wie möglich, um auch noch Pinkelpausen einzusparen. Jeder Trans­ port ist ein Wettlauf mit dem Tod: Würde – bienenschonend – nur in den kühleren Nachtstunden gefahren, könnte man nicht genug Strecke machen und so die Tiere durch die Gesamtdauer on the road überfordern. Also brettert man auch unter praller Sonne da­ hin. Das wiederum können die Völker nur dann überstehen, wenn bei hoher Reisegeschwindigkeit genug Fahrtwind unter die Halte­ netze fasst. Es ist ein Knochenjob für Menschen und für die Tiere genauso. Aber man habe keine Wahl, sagen die bee guys. Keine Wahl haben auch die mexikanischen Wanderarbeiter, die das Spritzgeschäft in den Mandelplantagen erledigen. Gespritzt wer­ den vor allem Fungizide, Antipilzmittel, ohne die Kaliforniens gigan­ tische Mandelmonokultur auf der Stelle einknicken würde. Wie für alle Monokulturen gilt, dass sich spezialisierte Schadorganismen ex­ ponentiell vermehren können, wenn ihr Wirt quasi unbegrenzt zur Verfügung steht. Schilder an den Zufahrtswegen machen darauf aufmerksam, dass ein erhöhtes Krebsrisiko in Kauf nimmt, wer die Plantage betritt. Die Warnhinweise stehen nicht zum Schutz der Arbeiter da – die we­ nigsten der Mexikaner können Englisch –, sondern um Schadenser­ satz­forderungen abzuwenden. Mit den Mandeln ist es wie anders­ wo auch, wo Landwirtschaft im wirklich großen Stil betrieben wird, einerlei ob man Tiere in Ställe pfercht oder Pflanzen auf Äckern aus­bringt: Ohne unterstützende Agrochemie geht nichts mehr. Gespritzt werden muss in die offene Blüte, also tagsüber, wenn die Zeitarbeitsbienen unterwegs sind. Nachts würden sich die Spritzmann­ schaften verirren. Dass die Sammlerinnen mit dem Nektar die Wirk­ stoffe eintragen, die Pilze und deren Sporen abtöten, spielt unter Renditegesichtspunkten allenfalls eine sekundäre Rolle: Mandelblü­ tenhonig ist sowieso so gut wie ungenießbar und wird in den Waben belassen, geschädigt wird »nur« die Bienenbrut, die der FungizidHonig beeinträchtigt oder sogar umbringt. Aber im Mandelgeschäft

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ist es ökonomischer, die Verluste der Imker »einzupreisen«, als auf brachiale, bienenschädliche Spritzmittel­einsätze zu verzichten. Miller selber stöhnt: »Es ist ein Pakt mit dem Teufel.« Das Geschäftsjahr von Miller ist eine eng gestaffelte Abfolge von Transporten, Bienenarbeitseinsätzen, der Prozedur des »Splitting«, knapp bemessenen Ruhepausen und Überwinterung. Während der kurzen Winterruhe werden von John Miller die Ge­ schäftsbedingungen für die kommenden Einsätze ausgehandelt. Sogenannte bee broker (Bienenmakler) vermitteln dabei zwischen Nachfragern, zum Beispiel den Mandelproduzenten Kaliforniens und den Pfirsichbauern in Georgia auf der einen, und Dienstlei­ stern, den Bienenhaltern in den ganzen USA, auf der anderen Seite. Es geht um viel Geld. »I hear the sound of money«, sagt Miller, wenn seine Bienen in die Mandelfelder ausfliegen, und dieser Klang des Geldes ist ein Summ- und Brummton, wie ihn nur Bienen anstim­men können. Meist zu Beginn der Bestäubungsperiode trifft Miller irgendwo in den endlos scheinenden Baumreihen Kaliforniens seinen Freund MacIlvaine, einen Mandelfarmer, mit dem er schon seit vielen Jahren zusammenarbeitet. Die almond guys und mehr noch die bee guys sind wertkonservative Leute. Richtige Freundschaften sind es nicht, aber erprobte Ge­schäftspartner werden nicht fallengelassen, nur weil irgendwo irgendwer eine Handvoll Dollars mehr verspricht. Und viele Bienenhalter sind nicht nur wert-, sondern stockkonserva­ tiv. John Miller gehört zwar nicht dazu, er hat sich aber trotzdem erheblich über eine Wählerinitiative »Imker für Obama« aufgeregt. Ein bee guy ist Republikaner, punktum! Was Miller nicht davon ab­ hält, dem Demokraten Obama vorzuschlagen, Bienen­stöcke aufs Weiße Haus zu setzen. Miller ist groß im Wanderimkergeschäft, jedoch nicht der Größte in der Branche. Das ist sein Kollege Richard Adee aus dem Nachbar­staat South Dakota, der 23.000 Völker besitzt und sie ähnlich wie Miller über die Highways bewegt. Wenn die Mandelblüte sich dem Ende zuneigt, rollt ein Teil der Miller‘schen Trucks vom Südwesten der USA ganz in den Norden an

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die kanadische Grenze zur Honigproduktion. Ein anderer Teil derer, die die Mandelbestäubung überlebt haben, bleibt vorerst in Kalifor­ nien, um »gesplittet«, also geteilt zu werden. Teilen ist das, was Imker rund um die Welt machen, wenn aus einem Volk zwei oder gar mehrere werden sollen. Aber Teilen ist nicht gleich Teilen; die Idee zum »Splitting unter Einsatz eines Förderbandes« kam Miller beim Fitnesstraining auf dem Laufband. Der Eingriff findet im Maßstab industrieller Tierhaltung statt, und es handelt sich dabei wohl um die größtmögliche Belastung, die Bienenvölkern zustoßen kann. Die Bienenkästen werden auf ein För­ ­derband gestellt, eine automatische Bürste wischt die Bienen weg, und eine Klinge kratzt Wachs ab, damit die Wabenrahmen leichter entnommen werden können. Dann separieren südafrikanische Gast­ arbeiter, die in ihrer Schutzkleidung aussehen wie Michelin-Männ­ chen, die Rahmen und sortieren sie je nach Art: Rähmchen mit Eiern, Rähmchen mit Arbei­terinnenbrut und Rähm­chen, die eingelagerten Nektar und Pollen enthalten. Andere Arbeiter verteilen die Rah­men – und zwar so, dass jeweils von »allem« etwas dabei ist – am Ende der Förderbandstraße in neue Kästen, die ansonsten leere Rahmen enthalten. Die sollen die Bienen jetzt neu bevölkern. Dann werden jeweils eimerweise Bienen darübergeschüttet. Meist handelt es sich dabei um Bienen, die sich zu Beginn vor den Schabern in Sicherheit gebracht haben und in Klumpen unter der Decke der Überdachung oder in den Bäumen kleben. So werden aus einem Volk im Handumdrehen vier. Lebensfähig ist so ein neues Kunstvolk aber erst, wenn ihm nach zirka drei Tagen eine noch unbefruchtete Königin implantiert wird. Miller kauft sie bei einem Züchter. Die »alte« Königin überlebt die Separierungstor­ tur in aller Regel nicht. Falls sie sich doch noch in einem der vier Bie­ nenhaufen befindet, bekämpft sie sich mit der neuen Königin, bis nur noch eine der beiden übrigbleibt. Diese gewaltsame Art der Völkervermehrung – etwa, als würde man das Haus einer Großfamilie oben aufreißen, die Menschen heraus­ greifen und wahllos mit Fremden auf neue Wohnungen verteilen, auf dass sie dort als neue »Familien« weiterleben – unterbindet auch

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den Drang der Bienen, zu schwärmen. Nach dieser Tortur gönnt Mil­ ler ihnen einen kurzen Erholungsurlaub inmitten kaliforni­scher Berg­ blumen, wo dann die neuen Königinnen auf Hochzeits­flug fliegen. Aber sobald sie Eier legen, müssen die Völker auf den 2.700 Kilome­ ter langen Rückweg nach Gackle, North Dako­ta, wo sie Honig für eine Marke namens »Dutch Gold Honey« sammeln. Ein Geschäfts­ partner von Miller ist der Ex-Radsportprofi Lance Armstrong, derzeit Triathlon-Athlet, der pikanterweise für gesundes Doping per HonigEnergizer wirbt, wenn er nicht gerade zu Dopingvorwürfen ganz anderer Art Stellung nehmen muss. Die Honigproduktion in den Som­mermonaten ist sozusagen der Zweitjob der Bienen – das große Geld fliegen sie in ihrer Hauptbeschäftigung als Bestäuber ein. In seinem Heimatort ist Miller nicht der Überflieger des US-Bienen­ geschäftes, nicht der TV-Plauderer und pointensichere Kommenta­ tor der Bienen- und Imkerwelt, sondern ein normaler Mitbürger. Ein hochgeschätzter allerdings, dazu noch ein Wohltäter, der sich für Jugendsport und eine lebendige Nachbarschaft engagiert. Das Land um sich herum nennt Miller »widow land«, es gehört zu gro­ ßen Teilen den Witwen von Farmern, die in der Mehrzahl deutsche Namen tragen. Bechtle, Bader, Müller, Dewald, Kaiser, Schüler heißen die Familien. Ihre Vorfahren haben vor einigen Generatio­nen die Imkerei und die Bienenfreundlichkeit aus der europäischen Heimat mit­gebracht. Seine Völker bei »den Deutschen« einzustellen ist für Miller naheliegend, aber wegen der Weite des Landes auch nicht ganz unkompliziert – ein logistisches Puzzlespiel. Und auch hier, fernab von den großen Monokulturen, sind die Bie­ nen Bedrohungen ausgesetzt, den »drei Ps«. Gemeint sind damit pestici­des, parasites and pasture loss – Insektengift, Parasiten und fehlen­des Blütenangebot durch Weidelandverlust. Pestizide und ihre Nebenwirkungen nehmen die meisten US-Bürger als gottgegeben hin, etwa wie die Erdanziehungskraft oder den Kapi­ talismus. Im Land der bis zum Horizont reichenden Anbauflächen gilt Landwirtschaft ohne Agrochemie als fast so unmöglich wie Wach­s­­tum ohne Sonne und Wasser. Big ist immer noch best – und big geht nun mal nur mit chemischem Flankenschutz. Das mag schon

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In Europa ist die Honigbiene die einzige von rund tausend Bienen­ arten, die die außergewöhnliche Form einer ausdifferenzierten Ge­ sell­schaft entwickelt hat, einschließlich Vorratswirtschaft und perfekt vorbereiteter Überwinterung im Volk. Anders als zum Beispiel bei den Echten Wespen (Vespinae), wo lediglich die befruchtete Königin gut versteckt die Winterkälte überlebt und im Frühjahr ganz von Neuem und auf sich gestellt einen Hofstaat aufbauen muss, hängt bei Honigbienen in der kalten Jahreszeit der Überlebensfaden nicht an einem einzelnen Tier. Da bei Apis mellifera das ganze Volk durch den Winter kommt (genauer: eine reduzierte Anzahl sogenannter »Winterbienen«), sind sie schon im zeitigen Frühjahr zur Stelle, wenn es gilt, unsere früh blühenden Obstsorten zu bestäuben. Mit ihrer Fähigkeit, massenhaft im kühlen Vorfrühling zu starten, neh­men die Honigbienen eine Ausnahmestellung ein. Sie fliegen, wenn es sein muss, bei 8 bis 10 Grad Celsius Außentemperatur, ihr Optimum liegt bei 20 bis 25 Grad. Hummeln können selbst bei Tem­ peraturen um den Gefrierpunkt auf den Flügeln sein, was ihnen zum Beispiel im Hochgebirge erhebliche Startvorteile im Tagesverlauf ver­ schafft. Später im Jahr sind Bienen nur eine von mehreren Insektengruppen, die sich die Bestäubungsarbeit teilen – mit Käfern, Schmetterlingen, Fliegen und einigen anderen Spezialisten. Bienen sind zwar Bestäu­ bungsgeneralisten, also nicht auf nur einige wenige Blütenarten und -for­men angewiesen, aber sie sammeln »blütenstetig«. Wenn eine Biene zum Beispiel einen blühenden Apfelbaum ent­ deckt und mit dem Sammeln begonnen hat, bleibt sie dort und erntet die Ressource ab. Gleichgültig, wie strahlend oder duftig sich eine andere Blütensorte präsentiert: Sie wechselt ihre Futterquelle erst, wenn die, an der sie sammelt, nicht mehr genug zu bie­ten hat. Dass das der Fall ist, merkt sie unter anderem, wenn sie ihren gesam­

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Die Biene im Labor

Der Bienenflug | Bekannte und unbekannte Sinne | Der Schwänzeltanz | Navigation nach Landkarte | Das Berufsleben der Biene

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melten Nektar nur noch schwer an die Empfangsbienen am Stock­ eingang loswird. Die Blütenstetigkeit der Bienen ist eine wesentli­ che Voraussetzung dafür, dass auch außerhalb reiner Monokultu­ren sortenreiner Honig entstehen kann. Hummeln »lernen« ebenfalls die jeweilige Blütensorte, sammeln jedoch mit einer Strategie, die trotzdem zu Abwechs­lung führt: Jedes Tier prüft regelmäßig, ob es noch optimal sammelt, indem es zwischendurch immer wieder eine andere Blütensorte an­fliegt. Jedes Insekt hat meist eine bestimmte »Zuständigkeit« und kümmert sich um ganz bestimmte Pflanzen. Von »Käferblütigkeit« spricht die Botanik bei vielen Doldenblüten, Holunder, Liguster und diversen Gewürzsträuchern. »Fliegenblütig« sind zum Beispiel der Weiße und der Schwarze Germer, und »bienenblütig« sind die meisten Lippen­ blütler und Rosengewächse, zu denen Apfel und Birne gehören, ferner Brombeere, Kirsche, Pflaume und Mandel. Diese Auftei­lung quer durch die Flora könnte nicht funktionieren, wenn die In­sekten die Blüten ihrer Wahl nicht erkennen könnten und sozusagen aufs Geratewohl auf Futter- und Bestäubungstour gingen. Tatsächlich aber können sie über ein bestimmtes Lichtspektrum Far­ ben sehen. Nur sind es andere Farben als die, die wir wahrnehmen. So wie farbenblinde Menschen Normalsichtigen kaum vermitteln kön­nen, wie sie sehen, können wir uns schlecht vorstellen, wie Bie­ nen und andere Insek­ten Farben sehen. Unsere Netzhaut hat blau-, grün- und rotempfind­liche Zellen. Bienen dagegen haben Grün-, Blau- und Ultraviolettrezeptoren; Rot ist für sie nichts als dunkel. Als Ultraviolett-Sichtige können Bienen auf einigen Blüten dafür Linien, Farbmuster und Farb­mischungen erkennen, die für uns nicht erkennbar sind. Eine Blüte, die uns reinweiß erscheint, ist für sie nur dann weiß, wenn UV-Licht­anteile beigemischt sind und Rotan­ teile fehlen; und gelbe Blüten mit UV-Reflexion sehen sie als kräfti­ ges »Bienenpurpur«. Ihr Farbempfinden ist nicht weniger ausgeprägt als unseres, nur anders. Und unsere Honigbienen reagieren auf Signalfarben, lassen sich aber nicht grundsätzlich von den jeweils farbkräftigsten Ange­ boten verlocken.

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Stärken wie ein volkreicher Start in die Blütensaison, der dank der Überwinterung im Kollektiv möglich ist, ihre Blütenstetigkeit und die ausgeprägte Farbsichtigkeit würden nicht reichen, um die Honig­ bienen zu den sprichwörtlich fleißigen Sammlern zu machen, als die sie uns lieb und teuer sind. Bienen lernen vor allem schnell und effek­tiv und optimieren ihre »Arbeit« anhand des Gelernten. Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist ihr außergewöhnliches Naviga­ tionsvermögen. Um sich davon eine Vorstellung zu verschaffen, schaut Professor Randolf Menzel von der Freien Universität Berlin ihnen seit dreißig Jahren auf die Flügel und ins Gehirn. Der 72-jährige kennt seine wis­ senschaftlichen Haustiere wie kaum ein anderer, und er liebt sie. Menzel bezieht sich auf den Übervater aller Bienenforscher, Karl von Frisch (1886-1982), der gesagt haben soll, Bienen seien ein Wun­ derbrunnen, aus dem man ohne Ende schöpft: Wenn sich nach dem Schöpfen die Oberfläche wieder glätte, erkenne man, dass der Brun­ nen unendlich tief sei. Genau so hat Menzel seine Jahrzehnte wäh­ rende Forschung an Bienen erlebt. Es liegt in der Natur der Wissenschaft, Wunder zu portionieren und jeden Bestandteil einzeln zu betrachten: wie Bienen fliegen; wie sie da ankommen, wo sie ankommen wollen und sollen; welche ganz unterschiedlichen Signale sie aufnehmen und verarbeiten, um erfolgreich zu navigieren. Der Flug der Honigbiene ist alltäglich und doch ungeheuerlich. Die Bienen eines Volkes fliegen – addiert man die Einzelstrecken – für ein Kilogramm Honig rund dreimal um die Erde. Eine Einzelbiene sam­melt in den rund zweieinhalb Wochen ihrer Zeit als Flugbiene und Sammlerin einen Teelöffel des begehrten Süßstoffs. Dabei bringt es das Insekt auf eine Reisegeschwindigkeit von 25 Kilometern pro Stunde, und sogar Spitzengeschwindigkeiten von 50 Stundenkilome­ tern, bei bis zu 280 Flügelschlägen pro Sekunde, sind belegt. Wie ist das möglich? Das Brustsegment des Bienenkörpers ist über­ wiegend mit Flugmuskulatur gefüllt. Doch das allein kann nicht er­klären, wie sie hundert Meter im Geradeausflug schneller zu­rück­ le­gen kann als ein Weltrekordsprinter. Der Vergleich mit einer an­de­

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r­ en Leistungssportart macht deutlich, wie außergewöhnlich die Schwirrleistung der Biene ist. Auch der stärkste Ruderer – einerlei, wieviel Druck er pro Zug auf die Ruderblätter legen kann – bekäme keine vergleichbare Bewegung zustande, und schon gar nicht in der erforderlichen Frequenz. Die reine Kraftumsetzung nach dem Hebel­ gesetz genügt dafür nicht. Bei Hautflüglern (Bienen und Wespen), Fliegen und Mücken funk­ tioniert der Vortrieb grundsätzlich anders. Sie müssen nicht für jeden Flügelstreich zwei Muskeln arbeiten lassen, einen, der nach oben und einen, der nach unten zieht. Sie setzen ihre Muskelkraft dafür ein, einen Resonanzboden aus Chitin – ihren ganzen mittleren Körper­ abschnitt – in Schwingungen zu versetzen, wie eine Gitarrensaite. Diese Schwingung wird über ein raffiniertes Koppelgelenk auf die Flügel übertragen, was sie in schnellere Bewegungen versetzt, als das menschliche Auge erfassen kann. Bioniker, also Techniker und Wissenschaftler, die erkunden, welche Erfindungen der Natur technisch adaptierbar sind, interessieren sich angesichts solcher Leis­tungen für diverse Details der Hautflügel. Wie lässt sich mit so wenig Material etwas konstruieren, das verblüf­ fend wenig Verschleißerscheinungen zeigt? Wie genau funktioniert das »Patent« aus Haken und einer dachrinnenartig gewölbten Haft­ falte, die es den Bienen erlaubt, Hinter- und Vorderflügel zu verkop­ peln? Auch das Verhältnis von Energie und Leistung bei diesem effi­ zienten Einsatz von Muskelkraft ist bemerkenswert. Eine Biene muss dennoch vor Abflug zu den Blüten intelligent »tanken«: Sie sollte mit ausreichend Energie starten, aber zugleich mit möglichst wenig Gewicht belastet sein, um in ihre Honigblase viel Nektar einfüllen zu können. Außerdem muss die Möglichkeit eines erfolglosen Aus­ flugs »einkalkuliert« sein, damit auch in diesem Fall immer noch ge­nügend Energie für den Rückflug vorhanden ist. Womöglich noch faszinierender als die reine Flugmechanik und die Energieleistung ist die Navigation der Tiere, die Frage also, wie Bie­ nen sich zurecht finden, wie sie insbesondere ihren Weg zu einer oder mehreren Futterquellen finden und vor allem, wie sie anschlie­ ßend wieder sicher zu ihrem Volk zurückkommen.

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Ein winziges Hirn mit nur rund einer Million Zellen emp­fängt, sen­ det, lenkt und schaltet von einem Informationssystem auf ein ande­ res um. Wie geht das? Funktioniert alles nur nach fest vorprogram­ mierten Automatismen? Gibt es nur sogenannte Reiz-ReaktionsMuster, also eingespielte Abläufe, die bei entsprechen­den Auslösern ablaufen? Nein, sagt Professor Randolf Menzel, mit absolut starren Programmen sei das nicht möglich; die Biene müsse in gewissem Umfang fle­xibel sein. Menzel hat systematisch untersucht, wo es Spielräume und Optio­ nen gibt, die Bienen »handlungskompetent« machen – besonders beim wiederholten Aufsuchen von Blüten. Bei seinen Forschungen zur Navigation und zum Lernvermögen von Bienen musste er nicht bei Null anfangen. Schon 1910 hatte Karl von Frisch gezeigt, dass Bienen eine Farbe oder einen Duft »lernen«, wenn man sie im Zu­ sam­menhang mit einem solchen Merkmal jeweils mit Zuckerlösung be­lohnt. In den 1950er-Jahren übertrug dann ein Mitarbeiter von Karl von Frisch diese Futterdressur auf einzelne Bienen, die jeweils in ein Röhrchen eingeklemmt waren, so dass sich ihr Verhalten bei der Sti­mulation ganz genau beobachten ließ – eine Art »BienenPawlow-Test«. (Zur Erinnerung: Der russische Physiologe Iwan Petro­ witsch Pawlow hatte Anfang des 20. Jahrhunderts ein empirisches Experiment gemacht, bei dem er jede Fütterung seines Hundes mit Glöckchenläuten begleitete. Das Tier reagierte daraufhin nach eini­ ger Zeit mit vermehrter Speichelbildung auf den Glockenton, auch wenn Futter weder zu sehen noch zu riechen war. Das Phänomen der klassischen Konditionierung war entdeckt: Ein an sich neutrales Signal wird zum Schlüsselreiz, wenn es regelmäßig mit bestimmten Ereignissen verknüpft wird.) Auch Professor Menzel setzt bei seinen Lernstudien Bienen ein, die er in kleinen Röhrchen fixiert, und lässt sie abwechselnd Geranienund Rosenduft riechen. Auf einen der beiden Düfte folgt eine Beloh­ nung mit Zuckerlösung, was zur Folge hat, dass die Bienen auf die­ sen Duft hin ihren Rüssel ausstrecken, auch wenn es anschließend keine Belohnung gibt. Menzel öffnete die Kopfplatte der Bienen und machte mit einer Spezialkamera Aufnahmen. So konnten er und

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weise steckt in dem klebrigen Stoff auch ein klei­nes Stück Erklärung für ein Klangwunder, das so ganz noch immer nicht gelüftet ist. Berühmte Instrumentenbauer wie Stradivari und Amati mixten in ihre Geigenlacke Propolis – welches, wie genau und in welcher Mi­ schung mit anderen Substanzen, blieb ihr Geheimnis. Auch die Singers im österreichischen Purgstall an der Erlauf verkau­ fen nicht nur Zuchtköniginnen, sondern auch Bienenprodukte. Schließlich stammt ihr Honig aus einem von Pestiziden wie von Auto­ abgasen unberührten Naturschutzgebiet. Seine Lagerung spie­gelt auf schöne Weise den Wert dieses kostbaren Naturerzeugnisses wi­ der: Fassweise steht er im Keller unter dem Schleuderraum, wie flüssiges Gold in einem Tresor.

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1 Ruedi Ritter, Königinnenzucht und Genetik der Honigbiene, in: Verein deutschschweizerischer und rätoromanischer Bienenfreunde (Hrsg.), Der Schweizerische Bienenvater, Bd. 3, Winikon, 18. Aufl. 2003, S. 73 2 Bruder Adam, Auf der Suche nach den besten Bienenstämmen, Oppenau 1983 3 A. Matzke, S. Bogdanov, Bienenprodukte und Apitherapie, in: Verein deutschschweizerischer und rätoromanischer Bienenfreunde (Hrsg.), Das Schweizerische Bienenbuch, Bd. 4, Appenzell, Neuauflage 2012, S. 60

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Naturwabe.


»Zitat ...«

John Millers Bienen bekommen Zuckerwasser – mit Antibiotika versetzt.

Zitierter/Bildzuschrift



Pollenhändlerin Zhang Zhao Su erklärt ihr Geschäft: In Südchina Apfelblüten kaufen ...

... den Pollen herauslösen ...

... abwiegen ...

... und in Tütchen verpacken, die dann im Norden verkauft werden.


Best채ubung von Menschenhand in Nordchina.


»Zitat ...« Zitierter/Bildzuschrift


ÂťKillerbienenÂŤ in Arizona.


Arbeiterinnen helfen der Königin beim Schlüpfen.

Hochzeitsflug. Nach der Begattung ...

... hat die Drohne ihre Aufgabe erfüllt und stirbt.


Arbeiterinnenlarven in den Brutwaben.

Schon als Larve von der Varroa befallene Bienen schl端pfen mit verkr端ppelten Fl端geln.

Die Varroamilbe am Bienenk旦rper.


Honigwaben von ÂťKillerbienenÂŤ.


Während in den Vereinigten Staaten von Amerika der Großeinsatz von Millionen und Abermillionen von Bienen beeindruckt, die von einer Plantage zur nächsten gefahren werden, gibt es in der Volksre­ publik China eine ganz andere Bestäubungsmethode zu bestaunen. In manchen Teilen des Landes sind zweibeinige Bestäuber unter­ wegs – mit Wattebäuschchen, Pinseln oder anderem, selbst gemach­ tem Werkzeug und alten, mit Pollen gefüllten Medikamentenfläsch­ chen. Was uns undenkbar erscheint, ist im Reich der Mitte mancher­ orts Rea­lität: Obstbäume werden von Menschen­hand be­stäubt. Dabei verhält es sich nicht etwa so, dass die Biene – weil man wo­ mög­lich einen besseren Weg gefunden hät­te, ihre Arbeit zu erledi­ gen – wegrationalisiert worden wäre. Stellenweise gibt es ein­fach keine Bienen mehr, die die Apfelbäume bestäuben könn­ten. Wer dennoch ernten will, muss sich etwas anderes ausdenken. Um die menschlichen Bestäuber bei der Arbeit zu sehen, reiste Markus Imhoof mit seinem Filmteam während der Apfelblüte ins Mao-Chien-Tal. Das ist kein ganz einfaches Unterfangen, schon gar nicht für Besucher aus dem Westen: Die Straßen und Brücken, die in das Gebirgstal führen, durch das sich der Weg nach Tibet schlän­ gelt, wurden 2008 von einem verheerenden Erdbeben verwüstet; Ausländern ist der Aufenthalt eigentlich verboten. Das Filmteam von More Than Honey gelangte dennoch ins Hochtal und ließ sich vor Ort zeigen, wie der Mensch mit seinen Mitteln einen Vorgang nachahmt, für den die Natur eigentlich Insekten vorgesehen und perfekt ausgestattet hat. Die Technik ist so simpel wie mühsam: In einem ersten Schritt wird Blütenstaub gesammelt, indem jeweils zwei Blüten gegeneinander gerieben werden und der dabei herabrieselnde Pollen auf einer Zeitung aufgefangen wird, um ihn dann vorsichtig auf jede einzelne Blüte zu tupfen. Dafür werden provisorische Werkzeuge benutzt,

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Der Mensch als Biene

Menschen als Ersatzbestäuber | Die Varroamilbe erobert die Welt | Gelée Royale | Bienen in der Stadt | Die neuen Imker

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Der Mensch als Biene

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meist an Bleistifte geklebte Zigarettenfilter oder ein Büschelchen von Hühnerflaum an einem Stöckchen. Jeder Baum muss mehrfach be­ sucht und betupft werden, denn die Blüten eines Baumes sind nie­ mals alle zur gleichen Zeit aufnahmefähig. Diese Ungleichzeitigkeit ist naturbedingt und hat ihren Sinn: Weil männliche und weibliche Geschlechtsteile in ein und derselben Blüte in der Regel dicht beisammen sitzen, könnte es sonst zur Selbstbe­ stäubung und damit zu einer geringeren genetischen Variabilität der nachfolgenden Generationen kommen. Um der Gefahr der soge­ nannten Inzuchtdepression und der damit einhergehenden Abnah­ me von Widerstandsfähigkeit oder Fertilität vorzubeugen, sind Pollen und die aufnehmenden Narben zu unterschiedlichen Zeiten entwickelt. So kann, wenn eine Biene reifen Pollen in einer Blüte ab­streift, davon folgenlos etwas auf die Narbe derselben Blüte ge­ raten – eben weil deren Narbe noch nicht empfangsbereit ist. Emp­ fänglich ist aber ein Großteil der weiblichen Blütennarben in der Nachbar­schaft. Dass im Sichuan-Tal nicht Arbeitsbienen, sondern Arbeiter Blüte um Blüte bestäuben, wirkt auf den Betrachter wie ein erschreckender Ausblick auf künftige Zeiten, in denen Honigbienen uns vielleicht nicht mehr zur Verfügung stehen. Dabei ist die mühselige Feinar­ beit der chinesischen Obstbauern erst einmal Folge einer Ausgangs­ situation, die nichts mit dem Bienensterben oder dergleichen zu tun hat. Die Praxis, Menschen als Bestäuber einzusetzen, war in China schon vorher bekannt und verbreitet – weil die Anatomie der kleinen, in ganz China verbreiteten Asia­tischen Honigbiene, Apis ce­ rana, nicht zu der Blüte jener Apfelsorte passt, die in Mao Chien von altersher angebaut wird. Schon unter Mao Zedong wurde daher der Pollen von Menschen­ hand auf die Blüten übertragen – angeblich dokumentiert in einer Filmszene aus dieser Zeit, die ein junges Paar zeigt, das in den Ästen zweier einander gegenüberstehender blühender Obstbäume steht und dabei ein Liebeslied singt, während es hingebungsvoll weiße Blüten vor blauem Himmel betupft. Mittlerweile hat das Landwirt­ schaftsministerium angeordnet, alle diese nur so zu bestäubenden

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Bäume auf den Apfelplantagen durch die japani­sche Sorte Fuji zu ersetzen. Deren Blüte hat einen kürzeren Stempel und kann deshalb von den heimischen Asiatischen Honigbienen problem­los bestäubt werden. Markus Imhoof traf auf einige chinesische Experten, die der Bestäu­ bung von Hand sogar mehr zutrauen als der durch Insekten. Wie sieht es tatsächlich damit aus? An der Landwirtschaftsuniversität in Peking untersucht und vergleicht Professorin Shi Wei, die vorher auch schon in Kenia und Schweden geforscht hat, in staatlichem Auftrag die Bestäubungsleistung von Biene, Hummel und Mensch. Der Mensch landet abgeschlagen auf dem dritten Platz. Nummer zwei ist die Hummel, sie ist der Biene bei gewissen Pflan­ zen sogar überlegen: Wer im gro­ßen Stil Tomaten in Gewächshäu­ sern anbaut, besorgt sich meist Hummelnester aus industrieller Produktion und hängt sie ins Treibhaus. Unternehmen bieten da­ für Kästen an, die bis zu drei Hummelvölker beherbergen. Schieber an den Einfluglöchern machen die Behausungen verschließbar, wenn die Arbeiterinnen zeitweise aufgrund von Insektizid­einsätzen in ihrem Stock in Sicherheit gehalten werden sollen. Im Vergleich mit Honigbienen schneiden die Hummeln jedoch bei der Befruchtung der meisten Blüten schlechter ab. Etwa bei Erdbeeren, wo jede einzel­ ne Blüte sechsmal besucht werden muss, und das mit einer ausge­ sucht durchchoreografierten Kreisbewegung. »Hummel-Erdbeeren« sehen häufig verkrüppelt aus, und auch Äpfel und Birnen aus Hum­ melbestäubung neigen zur Unförmigkeit. Im Großen und Ganzen hält die Honigbiene in Sachen Bestäubungs­ leistung den ersten Platz. Doch ob es in Zukunft noch genug gesun­ de Bienenvölker gibt, um ihre Aufgabe als Spitzenbestäuber auf­ rechtzuerhalten, ist auch in China nicht gesichert. Wissenschaftler, mit denen Markus Imhoof dort bei abgeschalteter Kamera sprach, machten den massiven Einsatz von Pestiziden dafür verantwortlich, dass sich in vielen Obstanbaugebieten des Riesenreiches keine Biene mehr halten kann. Handbestäubung hat sich in einzelnen Regionen Chinas so weit pro­ fessionalisiert, dass aus dem wachsenden Bedarf an Blütenpollen ein

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eige­nes Kleingewerbe entstanden ist: der Pollenhandel. Menschen wie Zhang Zhao Su aus Wa Fang Dian, westlich von Nordkorea, be­ streiten ihren Lebensunterhalt mit Ernte, Ankauf, Transport und Ver­kauf von Blütenstaub. In ihrer Heimat im Norden Chinas gibt es traditionell große Apfel­ plantagen, aber keine Bienen mehr. Die meis­ten sind Pestiziden zum Opfer gefallen oder vor ihnen geflohen. Wegen des rauen Klimas im Norden und der sehr kurzen Apfelblüte von lediglich fünf Tagen setzen die Obstbauern auf Pollen aus einer 2.000 Kilometer weiter im Süden liegenden Provinz, wo die Bäume eineinhalb Monate frü­ her blühen. Dieser Pollen wird allerdings nicht von Bienen gebracht, sondern von Frau Zhang Zhao Su: Mit einem kleinen Team fährt sie im Frühjahr nach Ta Yuan in der Provinz Shanxi, um den Bauern dort im großen Stil Apfelblüten abzukaufen. »Wir brauchen zwei Tage und zwei Nächte für die Autofahrt in den Süden, zwei Fahrer wech­ seln sich ab. Sobald wir ankommen, mieten wir einen großen Raum, in dem wir die Blüten trocknen. Sobald wir genug beisammen ha­ ben, fangen wir an, sie zu verarbeiten. Wir schneiden die Pollen ab, die einzelnen Verarbeitungsschritte sind natürlich Geschäftsgeheim­ nis. Dann geht es wieder nach Norden. Wir nehmen einen Kühl­ schrank im Auto mit, den wir auf dem Rückweg jedes Mal ans Strom­ ­netz anschließen, wenn wir Rast machen. Auf diese Weise stellen wir sicher, dass der Pollen fruchtbar bleibt. Wenn dann hier im Nor­ den die Blütezeit anfängt, verkaufen wir ihn an die Bauern.« Weil es nur ein Spermium braucht, um einen Apfelkern zu erzeu­ gen, wäre der konzentrierte Pollen, wie er von den Bienen aufgetra­ gen wird, für die groben menschlichen Pollentupfer Verschwendung. Darum wird er mit Maismehl gestreckt, das die Händlerin eben­­falls in abgewogenen Dosen feilbietet. Abgepackt in kleinen Tütchen von fünf Gramm, verkauft Frau Zhang Zhao Su ihre Ware an eine Zwischenhändlerin. In deren Laden werden sie dann für 5 Yuan (etwa 0,64 Euro) angeboten – gleich neben den aggressiven Agrargiften, die den Bienen den Garaus gemacht haben. Pestizide sind für die Bienenwelt im Osten wie im Westen eine mas­ sive Bedrohung. Mit einem anderen großen Feind der Honigbiene

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da­gegen kommt die asiatische Apis cerana im Gegensatz zur west­ lichen Apis mellifera gut zurecht: mit der berüchtigten Varroamilbe. Der kleinen Verwandten unserer Europäischen Honigbiene, die sich seit der letzten Eiszeit unabhängig von dieser entwickelt hat, ste­ hen einige Abwehrmechanismen gegen den Milbenbefall zur Ver­ fügung. Anders als ihre europäischen Artgenossen kön­nen die Bie­ nen aus Fernost riechen, wenn ihre Brut mit den Eiern der Milbe in­ fiziert ist. Sie verdeckeln dann den befallenen Nachwuchs so dick, dass die junge Biene nicht schlüpfen kann und mit dem Varroa­ nachwuchs stirbt. Im Laufe der Evolution haben sie eine Art »Abtrei­ bung« zugunsten der kollektiven Gesundheit erfunden. In Europa ist die Varroa erst vor wenigen Jahrzehnten in Erscheinung getreten. Wer herausfinden möchte, wie die Milbe beinahe den ge­ samten Erdball erobern konnte, muss den Spuren der Europäi­schen Honigbiene folgen, die sich im Gefolge europäischer Auswanderer in den letzten Jahrhunderten welt­weit ausgebreitet hat. Es begann Ende des 18. Jahrhunderts, als sich der zaristische Oberst Arshenewskij von seiner Schwester aus Kiew 24 ukrainische Bienen­ völker an seinen damaligen Standort in den Osten Kasachstans lie­ fern ließ. Sie überstanden den viermonatigen Transport, vor dem zentralasiatischen Klima jedoch mussten sie kapitulieren. Der Bienen­ freund in Uniform besorgte sich darauf­hin Völker aus dem Ural. Diese Ansiedlung gelang, und die Bienen – eine Rasse der Europäi­ schen Honigbiene – breite­ten sich in den folgenden Jah­ren ostwärts, über die Baikalregion (1851) bis schließlich zum Pazifi­schen Ozean, aus. Der Anschluss des Fernen Ostens an den westli­chen Teil des rus­ sischen Riesenrei­ches per Eisenbahn (1904) brachte viele ukrai­ nische Auswanderer in den Osten Russlands – und mit ihnen ihre Honigbienen. Die Euro­pä­erinnen kamen natürlich mit der vor Ort verbreiteten Asiatischen Honigbiene in Berührung, die es im Laufe der vorangegangenen Jahr­tausende geschafft hatte, mit der hart­ näcki­gen parasitischen Milbe zu leben. Apis mellifera dagegen hatte keine Chance – sie traf un­vorbereitet auf die Varroa. Die Europäi­sche Honigbiene hatte keine Zeit, Strategien gegen den für sie unbekann­ ten Parasiten zu entwickeln.

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Aber es gab noch einen zweiten wichtigen Verbreitungsweg – aus der entgegengesetzten Richtung. Nachdem europäische Siedler Apis mellifera im 15. Jahr­hundert in Amerika etabliert hatten, ge­ lang­te sie 1876 von den USA nach Japan, wo sie auf eine dortige Unterart der Asiatischen Honigbiene traf, die ihrerseits eine beson­ dere Unterart der Varroamilbe mit sich herumtrug. Und natürlich infizierten sich die amerikani­schen Neuankömmlinge ebenso bei ihren asiatischen Verwandten. Anfang der 1970er-Jahre brachten japanische Auswanderer wiederum die nun mit Varroa infizierten Bienen zurück nach Amerika. Über Paraguay verbreite­te sich die Infektion über den gesamten südamerikani­schen Konti­nent und innerhalb weniger Jahre sogar bis an die West­­küste der Vereinig­ten Staaten. Nach Westeuropa kam die Milbe in den 1960er-Jahren, als europäi­ sche Imker sibirische Bienen importierten. Ihre Honigproduk­tion sei der Leistung der Europäischen Honigbiene weit überlegen, hatte es geheißen. Das stellte sich zwar schnell als unzutreffend heraus, aber das florierende Geschäft mit der sibirischen Biene war nicht mehr aufzuhalten. Die importierte Biene hatte, zusammen mit ihrem Para­ siten, längst ihren Weg zu den europäischen Imkern gefun­den. Die Milbe wurde in Europa das erste Mal 1967 in Bulgarien beschrie­ ben, vier Jahre später tauchte die Varroa in Tschechien auf, 1976 im damaligen Jugoslawien, ein Jahr später in Deutschland und abermals zehn Jahre später gelangte sie 1987 auf dem Luftweg in die USA, wo sie kurze Zeit später mit ihren infizierten Verwandten aus Japan zusammentraf.1 Inzwischen gilt die Varroa als eine der Hauptursachen für die immer wieder auftretenden Massensterben von Hongbienen in Europa und Amerika. Und wie das Filmteam von More Than Honey erfahren hat, sehen sich heute auch die chinesischen Imker, die mit Cerana arbei­ ten – also mit der Biene, die eigentlich mit der Var­roa in Koexis­tenz leben kann –, genötigt, die Milbe mit Hilfe von Ameisensäure von ihren Stöcken fernzuhalten. Cerana ist zwar in der Lage, sie selbststän­ dig zu bekämpfen, aber mit Ameisensäure, finden chinesische Bienen­ züchter, ist der Stock einfach schneller wieder parasitenfrei.

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Bei seinen Filmrecherchen im Süden von Sechuan traf Markus Imhoof auch auf Wanderimker, die an einer dicht befahrenen Straße Wald­ honig feilboten. Sie bekannten freimütig, dass sie ihre Tiere in die Gegenden mit Intensivlandwirtschaft auf der Südseite des Berges nicht mehr fliegen ließen. Die Verluste, hervorgerufen durch Un­ mengen an versprühten Pesti­ziden, seien einfach zu hoch. Eine Art Imker- und Bienenstreik, wenn man so will – mit der Konsequenz, dass mittlerweile in solchen Re­gionen die Bäume von Menschen be­ stäubt werden müssen. Als Imhoof ein paar Honig-Kostproben der Wanderimker kaufen wollte, warnte ihn sein chinesischer Fahrer: Man dürfe sich vom idyl­ lischen Verkaufsplatz vor der Wald­kulis­se nicht täuschen lassen – chinesischer Honig enthalte fast generell zu viele Schadstof­fe, und der hier sei darüber hinaus sicher mit Zuckersirup gestreckt. Die Einfuhr von Honig made in China in die EU wurde 2002 verbo­ ten. Er enthielt zu hohe Konzentrationen an Chloramphenicol, was darauf schließen ließ, dass sehr hohe Dosen von Antibiotika gegen die Amerikanische Faulbrut verabreicht worden waren. Das Verbot wur­de allerdings schon 2004 wieder aufgehoben, nachdem China seinen Produzenten den Einsatz des Antibiotikums untersagt hatte. Doch das schlechte Image des Honigs aus Fernost blieb und stellt ein gewisses Vermarktungshemmnis dar. Es gab und gibt Wege, auf denen die Produkte der chinesischen Ho­nig­exporteure dennoch in die europäischen Supermarktregale gelangen. Die Standardmethode heißt »Verschneiden«, das heißt be­las­teter Honig wird mit anderen Honigsor­ten vermischt. Das Ver­mi­ schen selbst ist legal und steht sogar auf den Etiketten: »Mischung von Honig aus EG-Ländern und Nicht-EG-Ländern«. Um Honig zweifelhafter Qualität oder von (zu Recht oder zu Un­ recht) verdächtiger Herkunft durch die EU-Sicherheitssperren zu schleusen, müssen die Lieferanten vor allem Spuren beseitigen, wie Pollen oder Pollenbestandteile, die normalerweise im End­produkt erhalten bleiben. Deren jeweils spezifische Zusammensetzung gibt Aufschluss darüber, ob ein Honig (bzw. seine diversen Verschnitt­ bestandteile) aus Argentinien, Südafrika, der Lüneburger Heide oder

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Im Jahr 1956 holte der schottische Zoologe und Bienenforscher Warwick Estavam Kerr 120 Bienenköniginnen der Art Apis mellifera scutellata aus Südafrika nach Brasilien, wo bis dato überwie­gend die Italienische Honigbiene Apis mellifera ligustica vertreten war. In einem Labor 130 Kilometer westlich von Rio de Janeiro begannen er und sein Team mit Kreuzungsversuchen von Scutellata mit Ligus­ ti­ca. Dass deren Ergebnisse eines Tages als »Killerbienen«-Zucht weltweit zu zweifelhaftem Ruhm gelangen würden, war zu dem Zeit­punkt nicht absehbar. Hintergrund für Kerrs Experimente war ein Auftrag der Brasiliani­ schen Regierung: Man suchte eine Biene, die mit den lokalen Klima­ verhältnissen besser zurechtkommen sollte als die importierte Rasse der Europäischen Honigbiene. Apis mellifera ligustica war bis ins 15. Jahrhundert weder in Nordnoch in Südamerika bekannt. Erst europäische Auswanderer und Siedler brachten das Insekt auf ihren Schiffen mit in die Neue Welt. Die abendländischen Honigbienenrassen, gewöhnt an milde konti­ nentale oder mediterrane Bedingungen, »funktionierten« auch in der Neuen Welt, zeigten sich aber im tropischen bis subtropischen Klima deutlich leistungsschwächer als in ihrer Heimat. Und so suchte Warwick Kerr knapp fünfhundert Jahre später nach einer Lösung, um dieses Manko zu beseitigen, indem er eine weniger hitzeanfällige afrikanische Biene mit europäischen Stämmen kreuzte. Er hoffte, die positiven Eigenschaften beider Rassen in einer Biene zu vereinen – die Sanftmut der europäischen und die Wärme­to­le­ ranz der afrikanischen Bienen. Das Ziel war eine leistungsfähige Biene, die dem Klima Südamerikas trotzen sollte. Kerr war durchaus darauf bedacht, seine Bienen nicht in die freie Wild­bahn entwischen zu lassen. Aber auch ein Test-Bienenvolk kann nicht in vollkommener Isolation gehalten werden. Bienen sind da­

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Die Biene als ungezähmte Kraft

Mythos »Killerbiene« | Honig von Killerbienen | Imkern im Kampf mit der Milbe | Ein Gegner für Varroa destructor?

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rauf angewiesen, dass die Arbeiterinnen Nahrung in Form von Nek­ tar und Pollen heranschaffen. Um zu verhindern, dass sich die neuen Hybridbienen ausbreiten, ließ Kerr spezielle Gitter vor den Fluglö­ chern anbringen – gerade weitmaschig genug, dass sich Arbei­ter­ bienen noch hindurchzwängen konnten, nicht aber die etwas grö­ ßeren Drohnen und Königinnen. Das schien sicher genug: Da sich nur diese Geschlechtstiere vermehren können, hätte die Absperr­ maßnahme normalerweise verhindert, dass dieses Bienenexperi­ ment unkontrolliert in die Freiheit gelangt – wenn nicht eines Tages ein besonders tierfreundlicher Mitarbeiter Kerrs das Gitter entfernt hätte. Ihm hatte es leid getan, dass die kleine Öffnung den Samm­ lerinnen bei der Heimkehr die Pollenhöschen auszog! 36 Königin­nen schwärmten aus und bauten eigene Völker auf. Und kurz danach begatteten deren Drohnen wiederum die ortsansäs­ sigen Ligustica – die unkontrollierte Kreuzung der beiden Rassen war eröffnet. Die Nachkommen kamen mit dem tropischen Klima hervorragend zurecht. Doch zum allgemeinen Entsetzen zeigten sie und ihre Nach­ folgegenerationen nicht die relative Sanftmut der afrikanischen Scutellata und schon gar nicht die ausgeprägte Sanftmut der euro­ päischen Ligustica-Drohnen, aus deren Erbgut sie hervorgegangen waren. Paradoxes Resultat war vielmehr: Mild + mild = wild. Die Afrikanisierten Honigbienen (AHB), wie der neue Mix bald genannt wurde, verteidigten ihren Stock mit einer Heftigkeit, die überraschte. Und erschreckte! Während bei den europäischen Tie­ ren meist nur wenige Wächterbienen den potenziellen Feind an­ greifen – Menschen oder Bären, die es auf die Lebensversicherung des Stocks, auf die Honigvorräte, abgesehen haben –, attackieren die Afrikanisierten Bienen zu Hunderten und verfolgen den An­ greifer über einen Kilometer und mehr. Tausende von Jahren der Domestizierung schienen wie weggeblasen. Es war ein wenig, als hätte man eine phlegmatische europäische Schoßkatze mit einer sanften ägyptischen gekreuzt und eine Wildkatze erhalten, die nicht einfach nur buckelt und faucht, sondern sofort mit ausgefah­ renen Krallen zuschlägt und beißt.

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Kerr und seine Kollegen versuchten, der Ausbrecher habhaft zu werden und sie zu vergiften. Aber die Geschwindigkeit, mit der sich ihre Züchtung ausbreitete, ließ ihnen keine Chance. Mit 300 bis 500 Kilometer pro Jahr eroberten die Afrikanisierten Honigbie­ nen den Kontinent, enterten die mittelamerikanische Landbrücke und nahmen von den 1980er-Jahren an die südlichen Staaten der USA ein. Im Jahr 2005 hatten sich die killer bees auf durchschnitt­ lich 700 Kilometer Breite, von Südkalifornien bis fast zum Mississip­ pi und mittlerweile auch in Florida, angesiedelt. Die hohe Ausbreitungsgeschwindigkeit hat wesentlich mit der Flug­ leistung der afrikanisierten Drohnen zu tun. Sie starten früher am Nachmittag und bleiben mehrere Stunden länger in der Luft als ihre europäische Konkurrenz. Außerdem fliegen sie schneller und sind so eher am Ziel, wenn sich eine paarungsbereite Königin zeigt. Kerr war ein junger Wissenschaftler von dreißig Jahren, als er ver­ sehentlich zum Vater des »Bienendesasters« wurde. Und er ver­ brachte bis ins hohe Alter einen Großteil seiner Zeit damit, die Hintergründe des Vorfalls zu erklären und Imker, Wissenschaftler und die Öffentlichkeit zu beschwichtigen. Aber er versuchte auch, in Brasilien wieder Sanftmut einzukreuzen. In einem Interview zum fünfzigsten Jahrestag des Killerbienen-Ur­ knalls im Jahr 2005 erklärte Kerr, warum diese Bemühungen schei­ terten: Die brasilianischen Imker machten nicht mit. Sie hatten sich schnell daran gewöhnt, dass die Afrikanisierten mit sechzig bis achtzig Kilogramm pro Jahr und Volk deutlich mehr Honig eintru­ gen als die Europäerinnen, bei denen fünfzig Kilogramm schon als sehr gute Leistung gelten.1 Die zusätzlichen Ausgaben für bessere Schutzkleidung und effektivere Räucherapparate, um gegebenen­ falls angreifende Bienen abzuwehren, fallen demgegenüber nicht wirklich ins Gewicht. Brasilien katapultierte sich in Kürze von nirgendwo zum sechst­ größten Honigexporteur der Welt, nach China, USA, Argentinien, Mexiko und Kanada (Stand von 2012). Besonders im Nordosten des riesigen Landes wurde Imkerei zu einem wichtigen volkswirtschaft­ lichen Faktor – in einer Region, in der zuvor die Europäerinnen nur

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schmale Erträge eingeflogen hatten. Und so erscheinen sogar die gesamtgesellschaftlichen Kosten im größten Flächenstaat Südame­ rikas plötzlich relativiert: »Früher«, so Kerr, »kamen in Brasilien im Schnitt 125 Menschen jährlich durch Insekten ums Leben, 25 davon durch Bienen. Durch unsere Bienenzüchtung stieg die Zahl auf 195 Bienentote. […] Wir haben allein in São Paolo an einer bestimmten Straße fünfmal so viel Verkehrstote jährlich.«2 Kerr erinnert sich noch lebhaft an den Umschwung von seinem »Frankenstein-Bienenzüchter-Image« zum Nimbus des Wohltäters: »Bis Anfang der 1970er-Jahre passierte es mir oft, dass auf Kon­ gressen die Ehefrauen von Imkern mit den Finger auf mich zeigten und ihren Kindern sagten: ›Das ist der böse Mann, der die Killer­ bienen gezüchtet hat!‹ So um 1974/75 kippte das dann plötzlich, und die Frauen sagten: ›Das ist der Mann, der unsere Landwirt­ schaft gerettet hat. Papi konnte sich wegen ihm einen neuen Trak­ tor kaufen, geh hin zu ihm und sag danke schön!‹«3 In den US-Südstaaten, die in den 1980-Jahren von Mexiko aus »kolo­ nisiert« wurden, gewannen die Killerbienen schnell den Status staats­ feindlicher Armeen. Ob mit oder ohne politischen Subtext – Furcht, Hysterie und Grusel versprechen allemal gute Geschäfte, und so wurde das Genre der Horrorfilme um die Unterabteilung Killerbie­ nen-Filme erweitert. Der japanische Film Genocide – Die Killerbie­ nen greifen an war 1968 ein früher Vertreter, etwas später folgten Terror aus den Wolken (1978) und Der tödliche Schwarm (1978), der mit beeindruckender Starbesetzung aufwarten konnte: Neben den Bienen wurden Michael Caine und Henry Fonda aufs Publikum losgelassen. Das Kinoplakat zeigte einen überdimensionierten Bie­ nenschwarm in Form und Größe eines Monster-Wirbelsturms, der bedrohlich über einer typischen amerikanischen Skyline schwebt. Es war die Zeit des Kalten Krieges und kein Klischee platt genug, um die Landsleute auf den Angriff aus dem Reich des Bösen (Killerbie­ nen bzw. UdSSR) auf die Helden des Guten (USA) vorzubereiten. Auch Jahre später taugte das Motiv noch für Variationen, mit An­ griff der Killerbienen (1995), Mörderischer Schwarm (2002) oder dem deutschen Film Die Bienen – Tödliche Bedrohung (2008).

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Auch in den Nachrichten stechen Killerbienen-Attacken – in Groß­ aufnahme zur besten Sendezeit einem Millionenpublikum vorge­ flimmert – noch mehr in die öffentliche Wahrnehmung als etwa Flächenwaldbrände oder herabfallende Kokosnüsse, die jeweils mehr Todesopfer in den USA fordern als Bienenattacken. Doch zugleich bremst das alles nicht die Nachfrage nach den leis­ tungsfähigen Honigproduzenten. »Jedes Jahr«, so Kerr, »kommen Imker aus den USA [nach Brasilien] und wollen unsere Bienen kau­ fen. Das machen wir aber nicht; die Einfuhr ist sowieso verboten.« Von diesem Widerspruch – einerseits panische Furcht vor den »Killern«, andererseits kaum verhohlene Begehrlichkeiten, wenn es um ihre Leistungen geht – hatte auch Regisseur Markus Imhoof erfah­ ren. Er beschloss, für sein eigenes »Bee Movie« die Kamera auch auf die Afrikanisierten zu richten. Konnte nicht in dem, was fast durch­gängig als Bedrohung wahrgenommen wurde, sogar ein Stück­ chen Rettung stecken – etwa für das Problem des weltweiten Bienen­ sterbens? In Fred Terry fand der Regisseur einen Südstaaten-Imker, zu dessen Lebensgeschichte die killer bees die Titelmelodie summen. Terry stammt aus dem südlichen Arizona und sieht aus, als sei er der Zwil­ lingsbruder von Burt Lancaster. Er ist ein charismatischer, guter Er­ zähler, geschult durch zahlreiche Vorträge und mehr noch durch seine Auftritte als Countrysänger – ein Glücksfall für einen Filme­ macher auf der Suche nach Protagonisten, die unangestrengt und präzise auf den Punkt erzählen können. Terrys Geschichte mit den sogenannten Killerbienen hat viele Poin­ ten. Es begann damit, dass er Anfang der 1990er-Jahre mitansehen musste, wie seine »guten«, zahmen Europäischen Bienen im heimi­ schen Oracle, Arizona, von Bienenkrankheiten und vor allem von Attacken der Varroamilbe arg gebeutelt wurden. Und weil er zur selben Zeit von »bösen« Bienen, tief im Süden, in Brasilien hörte – Bienen, die zwar wild, aber erstaunlich widerstandsfähig gegen Milben und andere Bienenquälgeister sein sollten –, wurde er hell­ hörig. Wie böse konnten Bienen sein, die sich gut gegen Epidemien aller Art hielten?

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