Michael Glawogger - Whores’ Glory

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MICHAEL

G L AWOG G E R

WHORES’

GLORY

EIN

TRIPTYCHON

Z U R P RO S T I T U T I O N



INHALT V O R W O R T von Olaf Möller

PREDELLA

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Linker Flügel: R E C H E R C H E Drei Erlebnisberichte aus Thailand, Bangladesch und Mexiko. Die Reise beginnt und nimmt Fahrt auf. ab Seite 16

Mitte: D I A L O G E Gespräche zwischen Mann und Frau. Durch Glasscheiben, Vorhänge und Autofenster entwickelt sich ein Hier und ein Dort. ab Seite 80

Rechter Flügel: P O R T R A I T S »Dort, wo die Blume blüht, dort stirbt sie auch«, sagt Rotna aus Bangladesch und meint damit ihr eigenes Leben. ab Seite 172



GOD IS INDEED A JEALOUS GOD HE CANNOT BEAR TO SEE THAT WE HAD RATHER NOT WITH HIM

BUT WITH EACH OTHER PLAY. Emily Dickinson


VORWORT Wenn man in eine wienweit bekannte Peepshow nah’ der U1-Haltestelle Keplergasse geht, findet man am Ende des Etablissements, noch hinter den die Drehbühne zu drei Viertel umgebenden Guck-Verschlägen, ein ikeahübsch gerahmtes Gespräch mit der Geschäftsbetreiberin. Ob sie auch die Inhaberin ist, die das Geld kassiert, das tagtäglich in die diversen Münzschlitze plumpst? Wer weiß, dito, wie sie wirklich heißt – hier in diesem Milieu hat ja jeder einen anderen Namen; im Intro dieses Gesprächs klingt ihr Name vage südosteuropäisch, auf der Website der Peepshow frontal deutsch oder österreichisch oder wo man halt sonst noch diese Sprache kultiviert. In dem Interview spricht sie flüssig-oberflächlich über alles Mögliche, was mit dem Gewerbe zu tun hat. Wenig steht da, was man so oder so ähnlich nicht schon anderswo gelesen hätte, die Branche versichert sich ihrer selbst. Steht man schauend in einem der Verschläge, grad, wenn sich die Performerinnen abwechseln (alle vier Minuten), dann kann man sehen – so man nicht zu tief versunken ist in seine Sehnsucht –, wie sie miteinander umgehen: der anderen den Vorhang aufhalten, sich kurz etwas zuflüstern, manchmal giggeln; man kann beobachten, wie sich ihre Bewegungen ändern, wie die kodifizierte Theatralik ihrer Performances sich auflöst, die persona fällt, die Frau sicht-, ihr Arbeitsalltag spürbar wird. Vielleicht beginnt man darüber nachzudenken, was da noch so dazugehört, zum Beispiel der ganze Körperpflegewahnsinn: Sonnen- und Fitnessstudio, Friseurbesuche, dieser Tage auch penible Intimrasuren etc., das alles zusätzlich zu den acht, neun, zehn Stunden im Laden; und wäre man des Tschechischen oder Slowakischen, Russischen oder Ukrainischen mächtig, dann könnte man ihnen manchmal auch zuhören, wie sie miteinander reden da hinter der Holzwand, die den Kundenraum trennt von ihrer Ruhe-, genauer: Wartezone. Denn das Geld machen sie ja nicht wirklich dadurch, dass sie sich als Lebendwichsvorlage auf der Bühne darbieten, sondern durch wohlfeile happy endings ... Michael Glawogger weiß mittlerweile ziemlich genau, worüber sie da zwischen Ab- und Auftritt, in der Wartezeit, wahrscheinlich sprechen, seit er sich dem Alltag ihrer Kolleginnen in Thailand, Bangladesch und Mexiko genähert hat. Er war auch in anderen Ländern und hat dort Gewöhnliches wie Außerordentliches gesehen und gehört und sicherlich auch aufgezeichnet – ein Bordell im hintersten Sibirien, im tiefsten Gulagland, wo Nutten mit eigentlich unmöglichen Plateaustiefeln durch den Tiefschnee staksen – Huren in Kano, Nigeria, im Durchschnitt zwei Meter groß, die sich über den kleinen Europäer amüsieren, ihn als Mann nicht so recht ernst nehmen können – (und so vieles, VIELES mehr, das man nie hören und sehen, nie 8


erfahren wird) –, doch am Ende sind es eben diese Orte geworden: Bangkok, Faridpur und Tangail sowie Reynosa. Er suchte dort die Liebe, ihre Rituale, hochverdichtet, und damit Leben, die ihr gewidmet sind, also unser aller irgendwie. Er suchte das Normale, Ordinäre des Begehrens, das Alltägliche der Arbeit an einer Vorspiegelung von Gefühlen, in der – oder doch: denen? – man sich schnell selbst verlieren kann; und er suchte darin eine Ahnung der Illusionen, die wir uns von den anderen machen ob der Art, wie wir uns selber sehen. Vielleicht konnte er mit Nok, Lhookwaa und Nutch, Putul, Pia und Shilpi, Juana Liliana, Mr. Chucky und La Cubana so reden, wie er es tat, sie aufnehmen, wie er es tat, über sie schreiben, wie er es tat, aus ihren Bildern und Worten sein Triptychon gestalten, weil er sich selbst genug liebt, um seinen Nächsten mit einem wahrhaftigen Interesse, einer guten Neugier begegnen zu können. Sicher ist, dass Glawogger die Liebe ernst genug nimmt, um sie nicht irgendwelchen Klischees preiszugeben. Es ist die Wahrheit der Oberflächen, der sichtbaren Welt, von der Whores' Glory erzählt. Es sind die Gesichter der Nutten und Freier, ihre Posen, ihre Geschichten. Ob diese »wahr« sind im Sinne von faktisch korrekt oder »wahr« im Sinne von: Bilder, Erzählungen aus der Innenwelt des jeweiligen Gegenüber – egal. Sie erzählen etwas über den Menschen, der sich da der Kamera gerade hingibt. Es sind die Geschäftsräume, in denen so viele der Nutten auch leben, die fundamentalen Gefühle, die sich andeuten in dem Nippes, den Stofftieren, Globalkonsenspopikonenpostern, Heiligenbildern, Dildos, die herumliegen wie in anderen Apartments Feuerzeuge. Glawogger weiß, dass es in dieser Welt keine Wahrheit gibt, nur Erzählungen, und die Herzensbewegung in diesen Geschichten; er weiß auch, dass die Gefühle, die man für seine Plüsch-Micky-Maus hat, genauso ernst und richtig sind wie die für einen anderen Menschen; und er weiß, wie wenig da ist jenseits des Hier und Jetzt – wie man ganze Leben verbringen kann, gefangen im Augenblick. Auf Seite 104, links unten, lacht eine Thai in die Kamera. Was sie ausstrahlt, ist eine selbstgewiss-wissende Reinheit. Was sich offenbart, wenn man lang genug in dieses Gesicht starrt und schaut und versucht, darin zu lesen, ist die Unmöglichkeit, einen anderen Menschen wirklich zu verstehen. Aber auch das ist allein eine Lesung, inspiriert von Jahren mit den Werken Michael Glawoggers, deren feiner Traurigkeit, Nacktheit. Olaf Möller, Sodankylä, 2011 9


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PREDELLA

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Ich habe mich oft gefragt, ob es ein Bild der Prostitution gibt. Und wie würde es aussehen, das eine Foto – oder die eine filmische Einstellung, die Prostitution beschreibt? Was ist darauf zu sehen? Sind es Frauen, die an einem Auto stehen und durch ein Seitenfenster sprechen? Frauen, die in offenen Türen warten? Frauen hinter Glasscheiben? Solche, die an Stangen tanzen und um Männer werben? Oder sind es Männer? Männer, die schauen? Männer, die warten, die wählen, die Frauen Geld geben? Oder ist es doch ein Bild, wo es zwischen Frau und Mann knistert – ein Bild voll sexuell und emotional aufgeladener Spannung? Mit dem vorliegenden Buch will ich die Suche nach diesem Bild dokumentieren. Sie begann 2006 mit der Recherche zu meinem gleichnamigen Film Whores’ Glory, für den ich unterschiedliche Strukturen und Organisationsformen von Prostitution an verschiedenen Orten erforschte, und der die Rituale beschreiben sollte, die dort das tägliche Geschäft begleiten. Ich versuchte, mir den Blick für alles Mögliche offen zu halten. Ich wollte nicht von vornherein die Frauen als Opfer und die Männer als Täter sehen. Ich wollte mich dem auch nicht verschließen, falls es so wäre. Ich brauchte aber doch eine Prämisse. So ging ich davon aus, dass sich in einem gegebenen Gesellschaftssystem das Verhältnis zwischen Mann und Frau gerade im Rahmen der Prostitution gut darstellen lassen müsste. Die kommunikativen Vorgänge wären im Grunde die gleichen, nur gingen die über Jahrhunderte eingespielten Worte, Gesten und Handlungen dort schneller und konzentrierter vonstatten, weil ja weniger Zeit ist. Was ich fand, deckte sich mit dieser Annahme, und gleichzeitig widerlegte es sie auch. Das habe ich beim dokumentarischen Arbeiten immer wieder erfahren: Zum einen werden die eigenen Erwartungen gar nicht so selten bestätigt, und zum anderen begegnet einem eine unglaubliche Fülle an Wirklichkeit, wie man sie sich nie hätte träumen lassen. Das macht die Schönheit des Beobachtens aus: sich selbst und alle, die zuvor etwas beschrieben hatten, zu widerlegen. Man kann sich nur schwer vorstellen, was in einem »Fishtank« in Bangkok tatsächlich vor sich geht, was achthundert Bewohnerinnen eines Bordellghettos in Faridpur denken und tun, und was Frauen im Norden Mexikos, die tagaus, tagein von Autos umkreist und aus diesen beobachtet und begutachtet werden, für Geschichten in sich tragen. 12


Der Titel »Whores’ Glory« hat eine religiöse Konnotation. Zuerst wollte ich damit nur meine Verbeugung vor den Frauen ausdrücken. Wie sich aber im Verlauf der Recherche und der Dreharbeiten herausstellte, würde das Triptychon, das mehr teilige Altarbild, zur großen, formalen Klammer werden. Im Film wollte ich den klassischen Aufbau eines Triptychons, wie er in den Gemälden von Hieronymus Bosch oder Jan van Eyck zu finden ist, wahren. Er thematisiert, von links nach rechts gelesen, meist das Paradies, die irdische Welt und die Hölle. Im Fall von Whores’ Glory geht die Reise vom buddhistischen Thailand über das islamische Bangladesch ins katholisch-christliche Mexiko. Das galt für den Film, und das gilt auch für dieses Buch. Und so nenne ich das Vorwort »Predella«, was soviel bedeutet wie ein Sockel oder eine Stufe, auf der der Altar steht. Auf diesen Sockel will ich die anderen Teile bauen. Der erste Teil berichtet von der Suche nach den Orten; der zweite Teil von fiktiven Dialogen zwischen den Geschlechtern an eben diesen Orten; und der dritte Teil führt zu Por traits von einzelnen Prostituierten, zu Geschichten und Bildern aus ihren persönlichen Lebenserinnerungen. Ich beginne, ungeachtet seiner Qualität, mit dem ersten Foto, das ich für dieses Unterfangen überhaupt gemacht habe. Es ist mein erstes Bild zur Prostitution. Michael Glawogger, Pitten, 2011

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Linker Fl端gel:

RECHERCHE

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HINTER DEN VORHÄNGEN, Bangladesch, Tangail Tangail unterscheidet sich kaum von anderen Städten in Bangladesch. Klingelnde Rikschas, lebendige Betriebsamkeit und mehrmals täglich die Stimme des Muezzins über den Straßen und Dächern. Nur die Hotelzimmer sind teurer als anderswo im Land. Das hat Tangail mit Faridpur und Daulodia, zwei anderen Städten im Umkreis von Dhaka, der Hauptstadt, gemeinsam. Die Hotelzimmer sind teurer, weil es hier Prostitution gibt und deshalb mehr Reisende Halt machen oder überhaupt nur aus diesem Grund hierher kommen. In Tangail war es die Obrigkeit selbst, die vor hundertfünfzig Jahren die Verwaltung einer anderen Stadt bestach, die Prostituierten hierher zu übersiedeln, um ihre Stadt um eine Einnahmequelle zu bereichern. Es ist Ramadan 2006, und in 24 Stunden wird der Vollmond hoch am Nachthimmel stehen. Die Straßen rund um das »Kandapotte Potitalow«, das Bordell in der Kandapottestraße, sehen nicht anders aus als anderswo in Tangail: unasphaltierte Gassen, durch die unendlich viele Rikschas fahren und in denen viele kleine Läden rechts und links Lebensmittel, Tee und Haushaltswaren anbieten. Männer säumen redend, Zähne putzend oder schlafend den Straßenrand. Einziger Unterschied: Einige Hauseingänge sind mit Vorhängen versehen. Vorhänge gibt es in Bangladesch nur dann, wenn man etwas nicht sehen oder vor einem bestimmten Anblick geschützt werden soll. So haben während der Fastenzeit alle Gasthäuser und Teestuben Vorhänge, weil dahinter auch tagsüber gegessen, getrunken und geraucht wird. Die Vorhänge in der Kandapottestraße öffnen sich manchmal einen Spalt, und schön zurechtgemachte Mädchen und Frauen schauen neugierig, auffordernd oder gelangweilt heraus. Oft heben sie den Stoff auch nur ein wenig, um ihre Anwesenheit zu signalisieren. Ihre Saris sind bunt und auffällig drapiert, ihre Gesichter oft deckend weiß geschminkt, ihre Lider mit kräftigen Farben hervorgehoben, und manchmal zieren handgemalte Muster ihre Stirn oder billig funkelnde Steine ihre Nasenflügel. Wenn es Nacht wird, gibt es keine bunten Lichter an diesen Häuserreihen. Keine einladenden Leuchtschriften oder lasziven Fotos von halbnackten Frauen künden von der Lust, die es hier zu erfahren gäbe. Aber die Schwärme von jonaki okas, von Glühwürmchen, die in den Bäumen über den Häusern aufleuchten, verleihen dem 43


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Ort einen gewissen Glanz. In den ersten Momenten der zahlreichen Stromausfälle, die den Ort in tiefes Dunkel hüllen und die Freier wie ihre eigenen Schatten durch die engen Gassen huschen lassen, strahlen nur die Glühwürmchen am Nachthimmel. Dann flackern Kerzen auf. Hat man die Schwelle erst einmal überschritten und ist hinter einen Vorhang getreten, betritt man eine andere Welt, ein Labyrinth von eigenwillig düsterer Schönheit. Hier reiht sich Gasse an Gasse, Hof an Hof, Hütte an Hütte. Die Gassen sind oft so eng, dass sich die Freier aneinander vorbeiquetschen müssen. Die Prostituier ten stehen an Mauern gelehnt oder sitzen am Eingang ihrer Hütte und warten. Manchmal sind sie fordernd, ziehen die Männer an den Armen oder kneifen sie in die Seite, manchmal warten sie nur, ohne jeden Ausdruck am Boden hockend, auf wen auch immer, der da kommen mag. Hier leben nicht nur die Prostituierten, die schnörkellos sexworker genannt werden, sondern auch ihre Familien, bestehend aus der Mutter, etwaigen Schwestern, Brüdern und Großmüttern. Außer den Verwandten und vielleicht noch Zuhältern leben hier jedoch nur wenige Männer, denn die Väter der Kinder sind die Freier, und die lassen sich nur solange blicken, bis sie Väter geworden sind. Ist eine Frau zu alt geworden für die Arbeit als Prostituierte, wird sie zur Zuhälterin der eigenen Kinder und verwaltet dann oft ein, zwei Häuser oder einen ganzen Hof. Ist sie auch dafür zu alt, wird sie zur Bediensteten – sie kehrt den Hof, macht die Hütte sauber oder kocht. Das tägliche Leben und die Arbeit sind kaum voneinander getrennt, die Wohn- und Arbeitsräume sind die gleichen. Die Einrichtung besteht aus einem Bett, einem Regal und einem Ventilator, manchmal gibt es einen Fernseher oder ein Radio. Meistens sind die Wände mit indischen Filmpostern oder farbenprächtigen Hindugottheiten beklebt. Obwohl alle hier muslimischen Glaubens sind, werden diese Gottheiten ihrer Buntheit wegen geliebt. In anderen Räumen steht vielleicht auch nur ein einfaches Bett. Gekocht, gegessen, zusammen gesessen und sich schön gemacht wird in den Innenhöfen. Hier spielt sich der Alltag ab. Gegen Abend kommen mehr und mehr Freier, und die Frauen sammeln sich in den zentralen Gassen. Sie lehnen an den Wänden, rauchen, trinken Tee und kauen Pan. Die Männer gehen, die für sie Schönste der Schönen suchend, diese labyrinthischen Gässchen auf und ab. Finden sie, was sie gesucht haben, dann setzen sie sich mit der Frau ihrer Wahl zusammen, scherzen und plaudern. Erst dann zieht man sich in eine der Hütten zurück. 45


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Dort ist es dann wie bei einer Familie. Man ist zu Gast, aber man bezahlt für die Gastfreundschaft. Sex ohne sich auszuziehen und ohne einander näher zu kommen kostet hundert Taka. Will man etwas Ausgefalleneres, muss man mit bis zu dreihundertfünfzig Taka rechnen, und für eine ganze Nacht sind fünfhundert Taka zu bezahlen. Männer, die die ganze Nacht bleiben, werden von den Zuhälterinnen mit der Frau ihrer Wahl eingesperrt und erst am Morgen wieder herausgelassen. Es kommt einfach zu oft vor, dass der Freier am Morgen verschwunden ist, ohne bezahlt zu haben. Die meisten Mädchen, die hier arbeiten, werden entweder hier geboren, sind hierher geflüchtet oder wurden von ihren Verwandten im Alter von acht bis zehn Jahren verkauft. Das macht den Ort zu einer Art Ghetto – einem Ghetto der Lust, aus dem es für die Frauen kein Entkommen gibt. Wenn sie hier aufgewachsen sind, können sie in der Welt außerhalb der Vorhänge nur noch sehr selten Fuß fassen. Das Ghetto hat unsichtbare Grenzen, die Vorhänge sind deren Balken. Ihre einzige Chance, doch wegzukommen, wäre die Liebe. Wenn sie einen Freier fänden, der sie liebte, dem sie Kinder gebären würden, und der sie mit in die so genannte »normale« Welt nähme, dann könnten sie dem Leben hier entfliehen. 52


Doch von der Liebe bleibt meistens nur ein Kind, und das bindet sie erst recht an diesen Ort. Die Männer, die hier Kinder gezeugt haben, finden nur selten hinter die Vorhänge zurück. Oft zahlen die Frauen, sind sie erst einmal verliebt, sogar für den Unterhalt ihrer Freier oder verrichten ihre Dienste zumindest umsonst. Sie brennen oder tätowieren sich dann seinen Namen in den Unterarm, denn sie sind verrückt nach Liebe. Und so mancher in die Haut gebrannte Name wird mit hunderten Rasierklingenschnitten wieder notdürftig entfernt. Die Art von Liebe, mit der sie aufwachsen und von der sie leben, ist nicht die, von der sie träumen. Auf den zwei- bis dreitausend Quadratmetern von Kandapotte Potitalow leben 1.500 Prostituierte mit ihren Angehörigen. Sie kennen kaum etwas anderes als diesen Ort und haben hier ihre eigene kleine Infrastruktur aus Lebensmittelhändlern, Teestuben, Friseuren, Ärzten und einer Organisation, die sie nach außen hin vertritt. Sie selbst kennen die Welt draußen nur durch die Männer, die hereinkommen; sie kennen Rikscha- und Lastwagenfahrer, Geschäftsleute, Händler, Polizisten und Priester – und Gläubige. Für die Gläubigen ist das, was sich hier hinter den Vorhängen abspielt, die Sünde per se – egal, ob sie es selbst in Anspruch nehmen oder nicht. Und so wird dieser 53


Ort immer wieder angefeindet und bedroht. Im Ramadan diesen Jahres eskaliert die Situation. In der Moschee der Stadt wird ein Rat abgehalten und die Situation als untragbar erachtet. Es soll eine große Demonstration geben. Tausende Fundamentalisten kündigen an, die Siedlung im Namen Allahs räumen zu lassen, wenn nötig, mit Gewalt. Als schließlich nach innen dringt, was geschehen soll, ist das Entsetzen groß. Von hier, wo man seit Generationen lebt und arbeitet, soll man nun vertrieben werden? Hier, wo gerade Kinder geboren werden, wo gerade ein halbwegs gesicherter Lebenszustand herrscht, wo man eben über Aids aufgeklärt wurde, soll alles niedergerissen werden? Hier, wo ungewöhnliche, aber funktionierende Familienstrukturen aufgebaut wurden und alte Frauen auch ihre letzten Tage verleben wollen und könnten, hier soll im Namen Gottes aufgeräumt werden? Ja, denn hier soll im Namen Gottes und des Geldes die Siedlung einem Supermarkt weichen. Die Frauen weinen, schreien und wenden sich in verständnisloser Wut gegen einen noch unsichtbaren Feind. Die Organisation versucht, das Ihre zu tun – eine emotionale Pressekonferenz wird abgehalten, eine Versammlung organisiert, und ein Teil der Frauen demonstriert kurz, aber heftig auf der Straße vor der Bordellsiedlung. 54


An diesem Abend sieht man aber auch die ersten flüchten. Mitten durch die herausgeputzten Frauen werden die ersten Regale, Töpfe, Wäschebündel, Küchengeräte und Bilder abtransportiert. Die schmalen Gassen sind noch voller als sonst. Die Stimmung erinnert an eine Stadt in vergangener Zeit, vor deren Toren die feindlichen Truppen stehen – wären da nicht Radios, Fernseher und Mobiltelefone unter den Habseligkeiten, die einen an die Gegenwart erinnern. Aber es sind nur die angehörigen Männer, die da flüchten. Die Frauen bleiben und halten die Stellung. Der 24-Stunden-Betrieb im Kandapotte Potitalow ist zugleich in vollem Gang. Am nächsten Morgen bietet sich ein seltsames Bild: Die Männer, Angehörige wie Freier, sind allesamt verschwunden – vielleicht mit Ausnahme des Besitzers der Teestube und eines alten Mannes, der Zigaretten und Kekse verkauft. Die Gassen und Höfe sind voller Frauen, die in ruhig gefasster Anspannung auf das, was da kommen soll, warten. Ein paar schön geschminkte junge Mädchen sind an den Vorhängen postiert, als hielten sie Ausschau nach Kunden. Doch die Kunden haben heute anderes im Sinn, und so haben sie eher Wachposten bezogen, als dass sie zum Hereinkommen animieren wollten. Die Frauen haben drei Dinge in ihren Büstenhaltern: Geld, Kondome und Mobiltelefone. Immer wieder greifen sie an diesem Tag unter ihre Saris nach den Telefonen, 55


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die in allen Neonfarben leuchten, wenn sie benutzt werden. Da und dort erklingt auch die Melodie eines Bollywood-Hits, von »Star Wars«, der »Schönen blauen Donau« oder »Mission Impossible«. Man will wissen, was los ist, ob die Fundamentalisten sich schon versammelt haben, ob sie bewaffnet sind und ob die Polizei sie beschützen wird. Die Polizei marschiert schließlich auf und riegelt den Häuserblock ab. So ruhig war es hier schon lange nicht mehr. Keine Rikscha, kein Lastwagen, kein Taxi, kein Mensch. Die Rollläden werden zugezogen, als die schwer bewaffneten und mit kugelsicheren Westen und Beinschützern bekleideten Männer vor den Vorhängen Aufstellung nehmen. Auch dahinter greift man zur Waffe. Jedes Mädchen und jede Frau nimmt sich einen Holzprügel, eine Stange oder ein boti – ein sichelförmiges Küchenmesser, das man sonst hockend zwischen die Füße geklemmt hält, um damit Zwiebel, Chili, Ingwer, Kartoffeln, Fisch oder Fleisch zu schneiden. Heute will keine damit kochen. Als die Nachricht kommt, dass die Fundamentalisten sich sammeln, wird es laut in Kandapotte Potitalow. Wild schwingen die aufgebrachten Prostituierten ihre Waffen und schwören einander, kämpfen zu wollen bis zum Tod. Man werde sich von hier nicht vertreiben lassen, aus seinem Zuhause, man werde das Feld nicht räumen. Irgendwo in einer Hütte liegt eine Frau mit ihrem neu geborenen Kind und weint leise vor sich hin. Wie soll es weitergehen? Die Fundamentalisten rennen inzwischen zu Tausenden durch die Straßen der Stadt, aufgebracht schreiend und Slogans skandierend. Ein Mann auf einer mit einem Lautsprecher bestückten Rikscha fährt mitten in der Menge und heizt die Stimmung an. Eine Versammlung, die versucht, gegen die Aussiedlung der Prostituierten Stimmung zu machen, wird niedergeknüppelt. Dies geschieht in rasender Geschwindigkeit und mit brutaler Gewalt. Die Männer klettern über Zäune und zerschlagen Sessel und Tische, um die Beine als Waffen zu benutzen. Sie prügeln auf Menschen ein. Die größte Strafe Gottes für den Menschen ist die Religion. Und im Haus Gottes, der Moschee, versuchen einige Politiker und Journalisten, die Verantwortlichen Muslime zur Vernunft zu bewegen. Es wird diskutiert und geschrien, argumentiert und gebetet. Draußen tobt noch immer die Demonstration. In der Bordellsiedlung ist es ruhig geworden. Die Frauen sitzen mit angespannten Gesichtern und mit ihren einfachen Waffen in der Hand dort, wo sie sonst die Freier locken, und warten. Erst als die ersten geschlagenen und verwundeten 59


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Ein Bild, das Prostitution repräsentieren soll, zeigt kaum je einen Mann und eine Frau. Meistens sehen wir auf dem Bild, sei es ein Foto, ein Gemälde oder die Einstellung in einem Film, eine wartende Frau. Aufwändig geschminkt, aufreizend gekleidet – und wartend. Oder sie sitzt alleine auf einem Bett – und der Akt ist schon vorbei. Ich habe mich oft gefragt, worüber ein Freier und eine Frau reden, nachdem der Preis verhandelt und besprochen ist, was der Mann für das Geld bekommt. Das erste Mal, als ich filmen durfte, nachdem die Türen hinter einem Paar zugegangen waren, fragte der Freier die junge Frau während des Beischlafs nach ihrem Namen. Sie antwortete ihm sinngemäß, dass man das hier, in einem Bordell, nicht fragen dürfe. Auch auf sein Insistieren bekam der junge Mann keine Antwort. Vielleicht deshalb, weil die junge Frau ein großes »Brenda« auf ihr linkes Schulterblatt tätowiert hatte. In Bangkok sind Männer und Frauen durch eine Glasscheibe voneinander getrennt. Man sieht einander, hört aber auf keiner der beiden Seiten, was auf der jeweils anderen gesagt wird. Erst wenn ein Mann eine Frau ausgewählt hat – über ihre äußere Erscheinung, ihre Nummer oder über die Beratung des vom Etablissement dazu Angestellten –, kann er zum ersten Mal mit ihr sprechen. Vorausgesetzt, er spricht die gleiche Sprache wie sie. Dann erst beginnt die »Anbahnung«, das Scherzen oder auch ein gemeinsames Singen vor einem Fernseher mit Karaoke-Anlage. Ob man sich mag? Ob man sich etwas zu sagen hat? Man weiß es nicht – und man weiß auch nicht, ob das wirklich wichtig ist. Der Mann ist ja nicht zum Sprechen gekommen. Obwohl: Da erzählen einem viele der Prostituierten etwas anderes. Als ich im Massagesalon »Hi-Class« recherchierte, fragte ich mich, wie ihn die Anwesenden beschreiben würden – die vor der Glasscheibe und die dahinter. Ich habe über Interviews, Erfahrungsberichte und die vielen Stunden, die ich vor dem »Fishtank« gesessen bin, die verschiedenen Sichtweisen herauszufiltern versucht. Mir war langweilig und ich war aufgeregt, ich habe beobachtet, getrunken und ferngesehen, ohne zu verstehen, was ich da sah. Ich bin mit in die Suiten in den oberen Stockwerken gegangen, war bei Partys dabei und habe Karaoke gesungen zu Liedern, die ich nicht singen konnte. Und ich habe dieses System der Beobachtung auf andere Länder und andere Orte übertragen. Das Ergebnis ist ein Zwiegespräch, visuell und verbal, zwischen Mann und Frau, zwischen Prostituierter und Freier, aber auch zwischen mir und mir selbst. 86


Ich dachte, dass auch der Film Whores’ Glory ein solches Zwiegespräch werden könnte, aber ich irrte. Die Frauen und ihre Arbeit nahmen mit ihrer Kraft und Ausstrahlung den ganzen Raum ein, und die Kunden blieben nur flüchtige Gäste in einem Reich der Frauen. Auch ich blieb so ein flüchtiger Gast, und meine Form des imaginierten Dialoges blieb eine Behauptung. Aber ich liebe diese Behauptung. Sie gibt mehr wieder von der Gedankenwelt, in die ich während des Recherchierens und Filmens eingedrungen bin, als alles andere. Ich habe immer wieder versucht, meine Fotografen und mich selbst dorthin zu bringen, genau jene Momente festzuhalten, in denen sich das Kommende entscheidet. Ich wollte mehr darüber erfahren, was während der Anbahnung zwischen Mann und Frau vor sich geht, in welchen Blicken, welchen Gesten und welchen Worten sich das gegenseitige Abwägen und Taxieren ausdrückt. Das Herzstück dieses Buches nenne ich deshalb »Dialoge«. Der »Fishtank« in Bangkok, die »Stadt der Freude« in Faridpur und die »Zona« in Reynosa werden durch meine Augen aus Sicht der Frau und aus Sicht des Mannes gesehen und beschrieben. Und manchmal geraten sie eben in einen Dialog. Und ich mit ihnen.

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DER FISHTANK, Thailand, Bangkok SIE: Die Stadt teilt sich in day time people und night time people. Die einen leben nur am Tag, die anderen nur in der Nacht. Wir Frauen, die hier arbeiten, leben eigentlich am Tag, tun aber so, als lebten wir in der Nacht. Wir machen uns am Vormittag schön, um die Illusion zu erzeugen, es wäre schon Abend. So wie die Stadt selbst im gnadenlosen Tageslicht oft hart und traurig wirkt, während sie in der Nacht, beleuchtet von den vielen weichen Neonlichtern, ein geheimnisvoll freundliches Gesicht zeigt. Viele Männer können in der Nacht nicht ausgehen, da sind sie bei ihren Familien. Sie essen dort zu Abend und sehen fern. Sie sehen immer wiederkehrende Geschichten von einem Leben, das sie gerne leben würden, das es aber nur im Fernsehen gibt und in Wirklichkeit niemand lebt. Aber die Sehnsucht bleibt – nach etwas Glamourösem, nach etwas Besonderem und Tiefem. Nach großen Gefühlen und groß gewachsenen, hellhäutigen Frauen mit großen Augen und großen Tränen – und im Moment am besten mit großzügigen Locken im Hollywoodstil der Vierzigerjahre. Also gehen sie in eines der vielen Etablissements entlang der Petchaburi Road, ins »Emmanuelle«, »Nathalie«, »Prestige«, »La Belle«, »Cleopatra«, »Amsterdam« oder »Hi-Class« und starren uns an, die wir für ein paar Stunden suggerieren, der Tag sei die Nacht und ihr Leben ein anderes. Nachdem sie lange genug geschaut haben, nehmen sie eine oder mehrere von uns mit auf ein Zimmer, und wenn sie wieder nach draußen auf die Straße und zurück in ihren Alltag treten, ist es vielleicht schon Abend geworden. Wenn wir nach Hause kommen, sehen wir die gleichen Geschichten im gleichen Fernsehsender und träumen auch den Traum von dem Leben, das niemand lebt und in dem sich doch alle gerne wiederfänden. In vielen Zoos gibt es einen Raum, in dem für die Tiere, die nur in der Nacht aktiv sind, der Zyklus umgekehrt wird. Sonst könnten die Besucher des Zoos diese Tiere ja nie sehen. So geht man eine Stiege hinunter und durch einen lichtdichten Vorhang, also vom Tag in die Nacht, und dort kann man dann die fremd anmutenden Nachtwesen bestaunen. Wenn der Zoo am Abend geschlossen wird, wird es in diesen Räumen hell, und die Tiere gehen schlafen. Doch das sieht dann niemand mehr. 89


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ER: Bangkok ist eine Stadt der Frauen. Hier fühlt sich alles irgendwie weiblich an. Selbst wir Männer, und zwar nicht nur die Männer, die keine Männer sein wollen, sondern Frauen. Die, die vorgeben, Frauen zu sein, und die, die dann wirklich kathoeys, wirklich Frauen werden. Frauen prägen das Straßenbild, die Märkte, Geschäfte und jede andere Form von Öffentlichkeit. Selbst wenn man Kinder einer Schulklasse in ihren Uniformen sieht, hat man immer den Eindruck, es seien alles Mädchen. Wir Männer haben selten einen Bart oder andere Attribute, die unsere Männlichkeit besonders zur Schau stellen würden. Der Thai-Mann ist als Mann diskret. Diskret in seinem Anzug, diskret in seinen Jeans und seinem T-Shirt, diskret in seinem ganzen Sein. Nur in den Massagesalons eröffnet sich eine Welt der klaren Trennung. Die Frauen sitzen hinter Glas. Wir Männer davor. Dort schauen wir einander an, ohne wirklich zu schauen. Wir schauen mit dem Blick der schamlosen Gier. Die Frauen tun so, als wären sie gar nicht da, oder vielmehr: die Männer wären gar nicht da. Da gibt es Blicke, die so versteckt sind, dass sie keiner sieht, und so offen, dass sie keiner sehen will. Da gibt es Blicke, die versuchen, die eigene Anwesenheit zu verstecken, und Blicke, die versuchen, auf sich aufmerksam zu machen. Ich sehe, dass du mich siehst, aber ich zeige dir nicht, dass ich dich sehe. Haben Blicke eine Nationalität? Schaut ein Ausländer, ein farang, anders als ein Thai-Mann? Schaut ein Amerikaner, Niederländer, Japaner, Koreaner oder Araber anders als der Europäer? Hier jedenfalls schauen zuerst die Einheimischen. Die anderen – obwohl sie sich gerne vordrängen – dürfen nur mitschauen. Sie kennen die Regeln nicht so gut wie die Einheimischen. Sie wissen nicht, dass sie hier ungeniert schauen, zeigen und wählen dürfen und ohne Rückhalt sagen, was sie wollen. Wählen und gewählt werden, beobachten und beobachtet werden, bezahlen und bezahlt werden. Hell und dunkel. Lautes Reden und Flüstern. Alltag und Feiertag. Vor und hinter dem Glas. Was ist innen, was ist außen?

SIE: Seltsam, dass Licht müde machen kann. Es ist so hell hier, damit wir schöner wirken und damit wir schlechter sehen, wer uns anschaut. Auf halber Höhe der 97


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Scheibe ist ein noch hellerer Streifen im Glas, damit nicht soviel Licht nach draußen fallen kann. Die einen sind im Dunkeln, und die anderen sind im Licht. Oft sieht man sich nur selbst, weil draußen gar niemand sitzt. Dann ist das eigene Spiegelbild das einzige Gegenüber. Das eigene Gesicht, die eigene Frisur, das eigene Kleid und das Kleid von Lhookwaa neben mir. Lhookwaa erzählt gerade zum hundertsten Mal die Geschichte von einem Kunden, der sich ihren BH um den Kopf gebunden hat, damit er wie die japanische Comicfigur Ultraman aussieht. Da draußen sehen alle aus wie von einem anderen Planeten, und dafür brauchen sie sich gar keine Unterwäsche um die Schädel binden. Egal, woher sie kommen. Alle tun eigentlich so, als wären sie nicht da. Obwohl manche nicht aufhören zu grinsen oder strahlen wie kleine Buben, wenn sie uns sehen. Ob es das Licht ist? Oder weil wir so viele sind, aus denen sie wählen können? Oder weil sie da draußen das Sagen haben? Mir ist egal, ob ich sehe, wer mich sieht. Sonst würde ich die ganze Zeit Dinge denken wie: Du da mit dem gestreiften T-Shirt, wähl mich. Oder: Mein Gott, der Dicke dort schläft ja fast ein. Den will ich nicht. Aber hier drinnen ist es so langweilig, dass man hofft, gewählt zu werden, die eigene Nummer über den Lautsprecher zu hören – einfach nur, um herauszukommen. Nummer 233! Das bin ich. Aufstehen, das Polster zurücklegen, und hinaus geht es aus dem »Fishtank«! Im Übrigen fühle ich mich nicht wie ein Fisch. Fische würden ja auch sterben, wenn man sie aus dem Aquarium nimmt. Wir gehen einfach nur nach draußen, ziehen die Stöckelschuhe wieder an, verbeugen uns höflich, gehen mit aufs Zimmer und kommen wieder. Der ganz hinten schaut her – schwer zu sagen, ob er Lhookwaa meint oder mich. Wie er wohl heißt?

ER: 233, wie heißt du wohl? Koi, Orn, Joob, Nutch, Nok, Fai, Pecky, Beer, Joy, Oy, Aom oder Nhoo? Bist du Spezial Blau oder einfach Rot? O6, S50, 207 Blau, 203 Rot, 205 Rot, 214 Rot, 219 Rot, 231 Rot, 232 Rot, 255 Rot, 243 Rot, 268 Rot, 287 Rot, 290 Rot, 293 Rot. Wer teilt ein, wer blaue Buttons hat und wer rote? Wer teilt ein, wer teuer ist und wer billig? Egal, wie viele »Fishtanks« man besucht, es ist nie nachvollziehbar, wer 99


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Rechter Fl端gel:

PORTRAITS

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MORJINA, ein Kind des Krieges Morjina ist eine Mutter im doppelten Sinn. Sie hat eigene Kinder und dazu zwei Mädchen, die für sie arbeiten. Sie hat ihre Eltern im Alter von vier Jahren verloren. An ihren Vater kann sie sich kaum erinnern, wohl aber an seine letzten Worte. Die Familie saß damals, zur Zeit des Separationskrieges, versteckt in einer Höhle, und er sagte zu ihr: »Pst, sei leise!« Das war das Letzte, was sie von ihren Eltern gehört hat. Seitdem ist sie auf sich alleine gestellt, und da es unter pakistanischen Soldaten üblich war, Schießübungen auf verwaiste Kinder zu veranstalten, ist ihr Überleben reines Glück. Nach dem Krieg findet sie ein Freund ihres Vaters und bringt sie nach Rangpur. Er nimmt sie in seine Familie auf, wo sie dann vier oder fünf Jahre lebt, genau weiß sie das nicht mehr. Einer seiner vier Söhne will Sex mit ihr haben, und als sie sich wehrt, verprügelt er sie heftig. Sie ist zu diesem Zeitpunkt etwa neun Jahre alt, läuft davon und findet Arbeit im Haus eines Blinden. Auch der hat zwei Söhne, und auch hier will einer mit ihr schlafen. Wieder flieht sie und beginnt in den Straßen der Stadt zu betteln. Hin und wieder bekommt sie einen Job als Haushaltshilfe. Sie ist sehr hübsch, und die Männer stellen ihr nach. So beschließt sie, als Hure zu arbeiten, denn wenn schon alle hinter ihr her sind, dann sollen sie wenigstens dafür bezahlen. Sie geht nach Dinazpur in ein Bordell und wird sofort aufgenommen. Dort arbeitet sie mehr als zehn Jahre lang. In dieser Zeit heiratet sie auch, aber die Ehe hält nicht länger als zwei Monate. Der Bazar in Dinazbur wird geschlossen, und sie schlägt sich nach Faridpur durch – hier lebt sie nun seit sechzehn Jahren. Seit acht Jahren arbeitet sie nicht mehr selbst und hat jetzt zwei Mädchen unter sich: Shima und Keya. Keya ist hübsch und hat Kunden, Shima hingegen ist ein wenig verrückt. Morjina hat sie auf der Straße aufgelesen, wo sie bettelnd im Dreck lag. Fünfzehn Kübel Wasser sind nötig, um sie sauber zu kriegen, und sie bekommt zu essen und ein Kleid. Seit diesem Tag arbeitet Shima für Morjina. Morjinas eigene Kinder sind eine Tochter und zwei Söhne. Der ältere Sohn hat einen Gemüseladen, und der jüngste wächst bei ihr im Bordell auf. Die Tochter ist mit einem Mann »draußen« verheiratet – sie war nie eine Hure. Morjina hat ein gutes Verhältnis zu ihrem Schwiegersohn. Der wusste von Anfang an, dass Morjina eine Hure ist – trotzdem hat er ihre Tochter geheiratet und keine Mitgift verlangt. Ihr Leben fasst Morjina so zusammen: »Ich habe meine Mädchen und meine Kinder. Mehr ist für mich nicht drin.« 223


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MOY, JOHANNA & ESMERALDA, tätowierte Geschichten »Ich heiße Moises Palma Navarro. Ich lebe in der ›Zona de la tolerancia‹ in Reynosa Tamaulipas. Ich bin hier geboren, und ich liebe meine Heimat. Ich bin euch stets gerne zu Diensten und beschreibe euch gerne jede Tätowierung auf meinem Körper. Da gibt es zum einen den Namen meines Neffen, Angel Genesis. Das habe ich aus Liebe zu ihm machen lassen. Dann gibt es eine Mond- und eine Sonnenfinsternis. Die habe ich, weil es Naturphänomene sind und ich mich der Natur sehr verbunden fühle. Ich war sehr jung, als ich mir Sonne und Mond tätowieren ließ, ungefähr fünfzehn. Jetzt bin ich schon 43 Jahre alt. Dann habe ich einen Playboy, ein wenig Stacheldraht, Micky Maus, einen Blitz und einen Skorpion. Den Skorpion habe ich, weil ich im Sternzeichen Skorpion bin. Ich bin Ende Oktober geboren, am Tag des Heiligen Judas Tadeo. Trotzdem glaube ich an Gott mehr als ich an Judas Tadeo glaube. Gott ist wichtiger für mich. Dann habe ich hier noch den Namen meiner Mutter und eine Rose, die ihr gewidmet ist. Es ist die Blume der Freiheit, eine chuparosa. Dann habe ich noch betende Hände auf meiner Brust, die den Herrn um Vergebung bitten, und darüber das Antlitz Jesu. Außerdem die »Santísima Muerte«, den heiligen Tod, und – dafür muss ich mich bei meiner Mutter entschul231


digen – einen kleinen Teufel. Dieser Teufel steht für mich selbst. Weil ich immer ein Rebell war und noch bin. Dann gibt es noch einen Tiger, weil ich mich stark zu Tieren hingezogen fühle. Denn eigentlich bin ich ein friedliebender Mensch. Nur wenn mich etwas aus dem Gleichgewicht bringt, neige ich zur Gewalttätigkeit. Ach ja, Tiere! Da habe ich noch diesen Kakadu, hier neben dem kleinen Teufel. Der Kakadu ist ein ganz normaler Vogel, ein ganz entspannter Vogel, wie ein Hahn oder eine Henne – nur kann er bis zu fünfzig Jahre alt werden. Einen Panther habe ich auch und eine Geisha. Ich habe eine chinesische Geisha tätowiert! Da ist sie. Die Geisha ist sehr bedeutsam, eine große Kriegerin, obwohl sie eine Frau ist. Diese Frauen leben schon seit dreihundert Jahren unter uns. Ich habe übrigens auch einmal mit einer Frau zusammengelebt, die wirklich sehr, sehr schön war. Die Tätowierung über meinem Bauchnabel habe ich zum Andenken an sie. Das ist schon acht Jahre her, und sie war es, die mich ins Gefängnis brachte. Es war wohl mein Fehler, denn ich sah sie mit einigen Kunden, und die haben an ihr herumgemacht und sie auch geschlagen. Da habe ich die Nerven verloren und sie ganz fürchterlich verdroschen. Dafür war ich dann zweieinhalb Jahre im Gefängnis. Das war nicht so schlimm – schlimm war nur, dass sie mich verlassen hat. Ich habe sie nie wiedergesehen. Sie war so schön. Was kann ich noch erzählen? – Ich führe jetzt diese Bar hier, ›El gato negro‹, die schwarze Katze. Aber jeder nennt die Bar nur ›das Tier‹. Es gibt vier Zimmer und auch Frauen. Also was immer ihr braucht, ich bin zu Diensten. Mehr weiß ich nicht zu erzählen.« So spricht Moy. Moy ist der Historiker von Boystown. Er ist hier geboren, und seitdem lebt er hier. Er bewegt sich fahrig und wild. Schnell und ungefragt erzählt er von seinen Tätowierungen, den Tagen, als die Autos noch Pferde waren und die Bauern die Mädchen mit den Lassos einfingen. Er erzählt von Zeiten, als noch alle Etablissements geöffnet waren, und von Zeiten, als die ganze Zone eine Geisterstadt war. Er spuckt seine Geschichten in rasender Geschwindigkeit aus, als gälte es, nur ja keine Zeit zu verlieren. Dafür führt er uns immer in den Hinterhof seiner Bar, wo es stockdunkel ist und amerikanische Popmusik erdröhnt. Boystown sei eigentlich ein Massengrab, meint er. Hier habe es so viele Fehden, Eifersuchtsdramen und Bandenkriege gegeben, und nie hätten sich die Behörden darum gekümmert – also habe man die Leichen einfach irgendwo verscharrt. Als sie hier vor wenigen Jahren einen Parkplatz für den neuen Nobelstripklub »The Lipstick« bauten, seien ihnen die Knochen nur so um die Ohren geflogen. Moy war viele Male im Gefängnis, und jede seiner Tätowierungen erzählt auf die eine oder andere Weise davon. Auf einer ist – und er wird nicht müde, immer wie232


der darauf hinzuweisen – eine Frau mit großen Brüsten und hinter ihr der Wachturm eines Gefängnisses abgebildet. »Das ist das Luder, das mich ins Gefängnis gebracht hat.« Ein anderes Mal spricht er von ihr als der einzigen Frau, die er je geliebt hat. Tätowiert sind hier alle, und sie sind stolz auf die Zeichnungen und Symbole, die in ihre Haut gebrannt wurden, sei es mit einem Nagel in irgendeinem Gefängnis oder mit einer Nadel in einem professionellen Laden. Sie erzählen von verflossenen Lieben, Religion oder symbolischen Tieren und anderen Wesen, die für das innere Gleichgewicht wichtig sind. Und fast alle haben ihre »Santa Muerte«, die einem – wie Brenda sagt – hilft, gut zu sterben. Johanna hat das Gesicht ihres Bruders gleich unter ihrem Nabel tätowiert. Sie erzählt, wie ein Kunde einmal lange mit ihr um den Preis verhandelt habe. Er wollte blasen, ficken, von vorne, von hinten, Arsch ficken, schlecken, küssen, einfach alles. Sie trieb den Preis in die Höhe, und er zahlte. Sie zog ihn aus, verpasste ihm ein Kondom und zog sich dann selbst aus. Beim Anblick ihres nackten Körpers und der Tätowierung ist es ihm dann gleich gekommen, und er ging sofort wieder, wie ein geschlagener Hund. Johanna meinte, sie wisse nicht, ob die reine Vorstellung, das alles mit ihr tun zu dürfen, ihn schon so aufgeregt hatte, oder ob ihr Bruder ihn so eingeschüchtert hatte. Egal – es war ein gutes Geschäft gewesen. Die beiden Flügel, die in Esmeraldas Rücken geritzt sind, haben einen viel traurigeren Anlass. Es ist nicht so, dass sie sich damit selbst zum Engel machen will. Die Flügel stehen für die Zwillinge, die sie während einer Schwangerschaft verloren hat und so immer mit sich tragen will. Esmeralda ist von einem auf den anderen Tag aus Boystown verschwunden. Ein Amerikaner hat sich Hals über Kopf in sie verliebt und sie einfach mitgenommen. Möge es ihr gut gehen, wo immer sie gerade ist.

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