Manual der schicksalanalytischen therapie seidel, jüttner ,borner

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PHILIP SEIDEL FRIEDJUNG JÜTTNER MARTIN BORNER

Manual der schicksalsanalytisehen ] Therapie


Philip Seidel • Friedjung Jüttner • Martin Borner

Manual der schicksalsanalytischen Therapie


Philip Seidel • Fried jung Jüttner • Martin Borner

Manual der schicksalsanalytischen Therapie

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S z o n d i Verlag


Alle Rechte vorbehalten Nachdruck in jeder Form sowie die Wiedergabe durch Fernsehen, Rundfunk, Film, Bild- und Tonträger, die Speicherung und Verbreitung in elektronischen Medien oder Benutzung für Vorträge, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Autoren. © 2002 Philip Seidel, Friedjung Jüttner, Martin Borner Szondi Verlag, Zürich ISBN 3-9520598-3 Printed in Germany


Inhalt

Vorwort

11

Teil I: Die Grundzüge der Schicksalsanalyse (Philip Seidel, Friedjung Jüttner, Martin Borner)

1

Die S c h i c k s a l s a n a l y s e a l s T i e f e n ps y c h o l o g i e

2

W e s e n t l i c h e A s p e k t e d e r Sc h i c k s a l s p s y c h o l o g i e

15 ....

16

2.1 Das Trieb-oder Bedürfnissystem

16

2.2 Die Ich-Lehre

I7

2.3 Das familiäre Unbewußte

17

3

Schicksalsanalytische Praxis

18

3.1 Voruntersuchung 3.2 Psychoanalytische Phase 3.3 Schicksalsanalytische Phase

T8 x8 18

Teil II: Die Triebpathologie der Schicksalsanalyse (Philip Seidel) 1

G e d a n k e n z u r a k t u e l l e n P s y c ho t h e r a p i e s i t u a t i o n

2.2

aus schicksalsanalytischer Sicht

5


Inhalt

2

D i e E i n h e i t v o n Ä t io l o g i e , P a t h o g e n e s e , D i a g n o s t i k u n d Therapie

25

2.1 Ätiologie und der kausaltherapeutische Ansatz 2.2 Spaltungslehre versus Abwehrlehre

25 26

2.3 Die Schicksalsanalyse und der systemische Ansatz . . .

29

3

29

Diagnostik und Differentialdiagnostik

3 .1 Die klinisch-phänomenologische Diagnostik

3.2 Funktionale, triebdynamische Diagnostik 4

.

29 30

B e d e u t u n g u n d S t e l l e nw e r t d e r S c h i c k sa l s a n a l y s e f ü r

die Psychopathologie

31

5

Der Triebbegriff

32

6

T r i e b p a t h o l o g i e - A l l g e m e i n e P s y ch o p a t h o l o g i e

6.1 Phänomen und Funktion

33 33

7

Triebdynamik-Pathodynamik

36

8

P s y c h o l o g i e u n d P at h o l o g i e d e r e i n z e l n e n T r i e b e

....

39

8.1 Der Kontakttrieb (Vektor C) 8.2 Der Sexualtrieb (Vektor S)

39 50

8.3 Der Affekttrieb oder Paroxysmaltrieb (Vektor P) . . . . 8.4 Der Ichtrieb (Vektor Sch)

61 76

Teil III: Behandlung 1

V o r u n t e r s u c h u n g ( M a rt i n B o r n e r )

1.1 Anmeldung - Erstkontakt 1.2 Persönliche Anamnese 6

91 93 99


Inhalt

1.3

Familienanamnese (Genogramm)

100

1.4 1.5 1.6

Szondi-Test Probleme, Konflikte Ressourcen

103 104 108

1.7 1.8

Diagnose Indikation, Prognose

113 116

1.9 Zielformulierungen 1.10 Informationen

118 12.0

2

P s y c h o a n a l y t i s c h e s V o r g eh e n ( M a r t i n B o r n e r )

2.1 2.2

Vorbemerkungen Freie Assoziation

. . . 113

2.3

Zuhören und Verstehen (gleichschwebende Aufmerksamkeit)

127

2.4

Interventionen

129

2.5 2.6

Deuten im engeren Sinne Rekonstruieren und Konstruieren

130 135

2.7 2.8

Handhabung der Übertragung Handhabung der Gegen Übertragung

124 126

137 . . . . . . . 141

2.9 Widerstandsanalyse 2.10 Traumdeutung 3

144 146

D a s s c h i ck s a l s a n a l y t i s c h e V o rg e h e n ( F r i e d j u n g J ü t t ne r )

150

3.1 3.2

Einleitung Beginn der schicksalsanalytischen Phase

150 152

3.3 3.4

Das Erkennen der Ahnenansprüche J53 Das Hervorholen und Erlebenlassen der Ahnen . . 158

3.5

Konfrontation mit den Ahnenansprüchen

3.6

Die Ich-Analyse oder die Analyse des Freiheits­

3.7

161

schicksals

162

Zum Ende einer Schicksalsanalyse

174 7


Inhalt

Teil IV: Anwendung des Manuals in Ausbildung und Therapieforschung 1

177 177

Kontextuelle Faktoren (Martin Borner)

1.1 Vorbemerkungen

1.2 Liste der wichtigsten kontextuellen Faktoren . . . . 178 1.3 Situationen, in denen kontextuelle Faktoren eine besondere Rolle spielen können 179 1.4 Einige Hinweise für den Therapeuten 180 2

S c h i c k s a l s a n a l y t i s c h e T h e o ri e d er t h er a p e u t i s c h e n V e r ä n d e r u n g : D i e W i r k f ak t o r e n d er S c hi c k s a l s a n a l y s e (Friedjung Jüttner)

2.1 Die schicksalsanalytische Veränderungstheorie

184 . . . 184

2.2 Schicksalsanalytische Wirkfaktoren oder «Wahl macht Schicksal»

188

2.3 Der Stand der Forschung. Was wirkt denn

3

überhaupt?

193

E i n F a l l b e i s p i e l ( F r i e dj u n g J ü t t n er )

195

3.1 Die psychoanalytische Phase 3.2 Die schicksalsanalytische Phase

196 196

3.3 Die Phase der Ich-Analyse

203

4

A n w e n d u n g i n A u s bi l d u n g u nd T he r a p i e f o r s c h u n g (Martin Borner)

205

4.1 Das Manual in der Ausbildung

205

4.2 Das Manual in der Weiterbildung 4.3 Das Manual in der Forschung

207 208

8


Inhalt

Teil V: Die Bedeutung der Schicksalsanalyse heute in theoretischer und praktischer Hinsicht ( P h i l i p S e i d e l ) 1

Vorbemerkung

2

D i e S c h i c k s a l s a n a l y s e i n e p i st e m o l o g i s c h e r S i c ht

2.1

Der Geist um die Jahrhundertwende 2.2 Zur Geschichte der Psychopathologieforschung

2.09 . . 211

213 . . 214

2.3 Zur Werkgeschichte Szondis 2.4 Dialektische Beziehung zwischen endogenen und

217

exogenen Faktoren 2.5 Der Konflikt zwischen der Schicksalsanalyse und

2.19

der psychoanalytischen Tradition 2.6 Der integrative Denkansatz in der Schicksals­

220

analyse 2.7 Allgemeine Gesundheits- und Krankheitstheorie

2.21 . . 222

2.8 Zur Ichtheorie der Schicksalsanalyse 3

225

D i e R e l e v a n z d er t h eo r e t i s c h e n Vo r a u s s e t z u n g e n f ür

2.29 229

d i e t h er a p e u t i s c h e P r a x i s

3.1 Ätiologie und therapeutische Indikation 3.2 Der Ausdruck der Persönlichkeit Szondis in s einem

2.31 therapeutischen Konzept 3.3 Zur Frage der Aktivität in der schicksalsanalytischen 3.4

Therapie Zur Frage der therapeutischen Beeinflußbarkeit

3.5

Praxis der Experimentellen Triebdiagnostik (ETD)

2.32 . . 235 . 236

3.6

Genotypus, Triebstruktur und Psychotherapie . . . 236 3.7 Zur Partizipationsfunktion als Wirkfaktor in der 2.37

Therapie

9


^2^

^


Vorwort

« Wenn wir bewahren wollen, was wir haben, werden wir vieles ändern müssen.»

G oethe

Viele Kolleginnen und Kollegen mag es verwundern, daß wir uns die Mühe gemacht haben, ein Manual der schicksalsanalytischen Therapie zu schreiben. Sie mögen denken, so ein «Kochbuch» ver­ dirbt doch jegliche The rapie oder sie könnten skeptisch fragen: Was soll heute noch so ein Buch, eingeschränkt auf die Schicksals­ analyse, wo gerade in gewissen Kreisen immer mehr eine allgemei­ ne Therapie propagiert wird ? Wir sind nicht dieser Meinung. Warum ein Manual ? Um nur eine gewichtige Stimme aus der heutigen Psychotherapie­ forschung zu Worte kommen zu lassen, verweisen wir auf Horst Kachele, der 1997 am University College London einen Vortrag hielt mit dem Titel «From Efficacy to Effectiveness». Dabei äußer­ te er die Ansicht, daß «für gültige Wirksamkeitsvergleiche ... ma­ nualbasierte Behandlungen ein Muß» seien (Lemche 1998, 400). Für uns sind vor allem zwei Gründe ausschlaggebend gewesen. Zum einen fehlt in unserer schulspezifischen Fachliteratur eine praktische, geschlossene und systematische Handlungsanweisung für die Schicksalsanalyse oder die schicksalsanalytische Therapie. Ii


Vorwort

In d en bisher veröffentlichten Darstellungen kommt die Beschrei­ bung des realen Vorgehens oft zu k urz. Zum anderen müssen wir, wenn wir die Methode weiterent­ wickeln wollen, uns zunächst auf den bisherigen Wissensstand be­ sinnen und uns mit ihm kritisch auseinandersetzen. Und wenn wir das nicht nur theoretisch, sondern möglichst empirisch tun wollen, brauchen wir das Manual. Diese beiden Gründe haben den Text insofern beeinflußt, daß dort, wo es nicht um Grundsätzliches geht, möglichst das thera­ peutische Handeln und nicht die Theorie im Vordergrund stehen. Ein Manual ist kein Lehrbuch. Bei der inhaltlichen Gestaltung des Manuals haben wir uns an Frau Eosengard (1991) orientiert, die dazu konkrete Vorschläge macht. Für wen ein Manual ? Einmal möchten wir allen Interessierten einen Einblick vermitteln in d ie Werkstatt eines Schicksalsanalytikers. (Auch wenn wir nur die männliche Form anführen, so ist d ie weibliche immer mitge­ meint.) Zum anderen brauchen wir diese Texte als Lehrmittel für unsere Therapiestudenten. Aber auch für die schon Praktizieren­ den aus unseren Reihen dürfte diese Handlungsanweisung dien­ lich sein. Beispielsweise dann, wenn Schwierigkeiten im Thera­ pieprozeß auftreten, oder dann, wenn man sich selber einmal hin­ terfragen will, warum man etwas macht oder nicht macht. Und schließlich soll das Manual gerade für Forschungprojekte und Falldarstellungen eine Ausgangsbasis darstellen. Keinesfalls darf dieses Manual als Dogmenkatalog betrachtet werden. Es ging uns nicht darum, therapeutische Wahrheiten fest­ zuschreiben, sondern den Stand unseres offiziellen Therapiewis­ sens darzulegen. Wollte jemand alle Anweisungen berücksichtigen, könnte er 12


Vorwort

kaum noch sinnvolle Therapie machen. Das Manual versteht sich als eine Summe von Regeln, die zweifellos richtig sind. Wenn man es aber «richtig» machen will, muß man diese Regeln so schnell wie möglich wieder vergessen. Danksagung Als Vorsitzender der Wissenschaftskommission (WK) möchte ich vor allem meinen beiden Kollegen Dr. med. Philip Seidel und Dr. phil. Martin Borner ganz herzlich für den großen Arbeitseinsatz meinen Dank aussprechen. Danken möchte ich a uch im Namen meiner beiden Mitauto­ ren allen Kolleginnen und Kollegen, die in zwei Arbeitsgruppen (Voruntersuchung und schicksalsanalytische Therapie) mit uns Überlegungen zu den entsprechenden Kapiteln angestellt haben. Ich n enne sie hier in alphabetischer Reihenfolge: Hedi Helg, Zula Lakner, Elisabeth Müller, Markus Rüetschi, Doris Sandmeier, Ma­ deleine Sitterding, Maria Steiner-Wanner, Hans Ziegler. Ebenfalls danken wir allen, die sich vernehmlassend geäußert haben. Das sind: Eva Alpar, Regula Baeggli, Annie Berner-Hürbin, Silvia Cavadin i-Balmer, Esther Genton-Meier, Ines Grämiger, Ma­ ria Steiner-Wanner, ^Verner und Almuth Huth, Gerhard Kürsteiner, Alain Laröme, Esther Lutz, Paul Rychner, Madeleine Sitterding, Annelies Wiget, Hans Ziegler. Schließlich gebührt Frau Jeannette Friedli entsprechender Dank, weil sie mit einer großzügigen Spende das Erscheinen dieses Buches mitfinanziert hat. Zürich, im Frühjahr 1 00 z

Dr. phil. Friedjung Jüttner

13



Teil I

Die G rundzüge der Schicksalsanalyse ( P h i l i p S e i d e l , F r i e d ju n g J ü t t n e r , M a r t i n B o r n e r )

In diesem einleitenden Kapitel geben wir einen Überblick über die «Grundzüge der Schicksalsanalyse», d. h. darüber, wo sich diese Therapierichtung in d er heutigen Psychoszene einordnet und was ihre wichtigsten Konzepte sind. Bis auf kl eine Änderungen ist die­ ser Text identisch mit dem bereits früher in der Szondiana veröf­ fentlichten (Borner 1995/1, 65-67). Das Wort Schicksalsanalyse wird hier als Oberbegriff verstan­ den und umfaßt einmal die Schicksalspsychologie (Theorie) und zum anderen ihre Anwendung in der Praxis, nämlich die Schick­ salstherapie bzw. die Schicksalsanalyse im engeren Sinn.

1

Die S c hi c k s a l s a n a l y s e al s T ie f e n p s y c ho l o g i e

Die Schicksalsanalyse (im weiten Sinn) versteht sich als ein Zweig der Tiefenpsychologie. Sie baut auf der Psychoanalyse S. Fr euds auf und schlägt eine Brücke zur komplexen Psychologie C. G. Jungs. Das Verhältnis wird dabei durch eine Gewichtung in der eben genannten Reihenfolge bestimmt. Das heißt, in der Praxis liegt zunächst der Schwerpunkt auf der Bearbeitung des persönli­ chen Unbewußten, das sich in den Symptomen und Charakterzü­ gen eines Menschen zeigt. Erst dann rückt das familiäre Unbe­ wußte, das sich in den verschiedenen Wahlformen eines Menschen auswirkt, ins Zentrum der Aufmerksamkeit und schließlich kann 15


Die G rundzüge der Schicksalsanalyse

auch noch das kollektive Unbewußte, dessen Sprache die Symbole sind, bearbeitet werden. Neben dieser integrativen, die drei Richtungen überbrücken­ den Intention hat die Schicksalsanalyse die Tiefenpsychologie b e­ sonders um eigene Entwicklungen ergänzt, die sozusagen zu ihrem Grundgerüst zu zählen sind und die im folgenden beschrieben werden.

2

W e s e n t l ic h e A sp e k t e d er S c hi c k s a l s p s y c h o l o g i e 2.1 Das Trieb- oder Bedürfnissystem

Der Trieb wird als e in biopsychisches Phänomen verstanden, der auf Radikale, also menschliches Dasein bedingende und erhalten­ de Wurzeln zurückgeht. Diese W urzelfaktoren sind unhistorisch, in allem menschlichen Erleben und Verhalten gegenwärtig und funktional spezifisch, aber inhaltlich unspezifisch, d. h. in ihren Manifestationen veränderlich ( Szondi i960, 25). Die Bedeutung des Triebsystems liegt in der Möglichkeit, see­ lische Phänomene (auch Urphantasien) • • • •

von biologisch bis human, von gesund bis pathologisch einzel­ nen Radikalen und Triebkreisen zuordnen zu können; in ihrer Dynamik besser verstehen zu k önnen; dialektisch, d. h. als Spaltungen bzw. als Entmischungen und komplementäre Ergänzungen zu betrachten; als austauschbare Inhalte mit bestimmten, jeweils gleichble i­ benden Funktionen in Verbindung zu bringen und zwischen beiden (Inhalt und Funktion) unterscheiden zu können.

16


Wesentliche Aspekte der Schicksalspsychologie

2.2 Die Ich-Lehre Die Schicksalspsychologie unterscheidet zwischen dem Trieb- u nd dem Pontifex-Ich. D as Trieb-Ich mit seinen vier Funktionen Pro­ jektion, Inflation, Introjektion und Negation ist kollektiv gegeben, aber erblich-familiär modifiziert und auch individuell durch die In­ teraktion mit der Umwelt bestimmt. Es repräsentiert den unbe­ wußten, emotional-dynamischen Teil des Ichs. Das Pontif ex-Ich ist durch drei weitere Funktionen definiert, nämlich Transzendieren, Integrieren und Partizipieren und steht für den eher kognitiv-wertenden Teil des Ichs. Diese drei Pontifex-Ich-Funktionen umschrei­ ben die wesentlichen Schritte eines therapeutischen Prozesses und damit auch dessen Wirkfaktoren. Das therapeutische Durcharbei­ ten ist angewandte Ich-Psychologie. 2.3 Das familiäre Unbewußte Die Schicksalsanalyse ergänzte die Entdeckung des persönlichen Unbewußten der Psychoanalyse um das familiäre Unbewußte. Die Inhalte dieses familiären Unbewußten nannte Szondi zunächst Ah­ nen, die als «Muster und Figur» im Leben eines Nachkommen wie­ der Gestalt annehmen möchten. Die Ahnen sind also gleichbedeu­ tend mit den Existenzmöglichkeiten eines Menschen, die sich auch als Triebsyndrome definieren lassen. Bei der Bearbeitung des familiären Unbewußten spielt die Fi­ gur des «Kain» eine ähnlich bedeutsame Rolle w ie die des «Ödipus» bei der Bearbeitung des persönlichen Unbewußten. Die dialektische Struktur der Psyche bzw. die Triebgegensätze erfordern eine integrative Leistung. Das Gelingen oder Mißlingen der Lösung der Triebgegensätzlichkeiten hat einen Einfluß auf das seelische Gleichgewicht oder dessen Störungen. Auch wenn gewis­ se Neigungen familiär gegeben sind, sind sie trotzdem durch be­ wußte Stellungnahme persönlich umstellbar (Szondi 1952, 28; 1956a, 105). 17


Die Grundzüge der Schicksalsanalyse

Die Wirkung des familiären Unbewußten zeigt sich in den ver­ schiedenen Wahlformen eines Menschen (Genotropismus). Dabei handelt es sich hauptsächlich um die Wahl in Liebe und Freund­ schaft sowie um die Wahl des Berufes, der Krankheiten und even­ tuell auch des Todes. Die Theorie von den Ahnen und ihren Ansprüchen führte zur Annahme eines Zwangsschicksals, das aber durch die relative Frei­ heit des Ichs zum Wahlschicksal werden kann.

3

S c h i c k s a l s a n a l y t i s c he Pr a xi s

Die folgende Aufzählung bezieht sich auf die Schicksalsanalyse im engeren Sinn, nämlich auf d as Heilverfahren. 3.1 Voruntersuchung Sie dient der Diagnose- und Indikationsstellung und umfaßt in der Regel das Interview, einen Lebenslauf, Angaben zum Stammbaum und den Szondi-Test. 3.2 Psychoanalytische Phase Sie bearbeitet das persönliche Unbewußte auf der Basis d er Psy­ choanalyse unter Einbezug von Übertragung und Gegenübertra­ gung, Widerstand, Deutung, Durcharbeiten und unter Wahrung der Abstinenz. 3.3 Schicksalsanalytische Phase Im Anschluß an die psychoanalytische Phase erfolgt je nach Erfor­ dernis die Bearbeitung des familiären Unbewußten (2.3) durch pas­ sive Assoziationsmethoden und Traumarbeit (Szondi 1963a, 137138) unter Einbezug von Übertragung, Gegenübertragung, Wider­ stand, Deutung und Durcharbeiten. Wenn die Inhalte des fami­ 18


Schicksalsanalytische Praxis

liären Unbewußten nicht oder wenig in der Beziehung zu einem Du (Übertragung) erlebbar werden, symptomatologisch aber re­ levant sind, provoziert die Therapie dieses Erleben der familiären Triebgegensätzlichkeiten oder der Ahnenansprüche durch aktive Methoden. Sie lasse n sich durch den Begriff Konfrontation - als Ergänzung zur Deutung - zusammenfassen und können je na ch Situation und Therapeutenpersönlichkeit verschieden stark und intensiv eingesetzt werden. Sie umfassen die echolalischen, iter­ ativen und schockartigen Assoziationstechniken (Szondi 1963a, 149-190; Kürsteiner 1987, 195-225) und die Konfrontationen mit den Existenzmöglichkeiten aus dem Stammbaum und dem Szondi-Test. Dem schließt sich die Ich-Analyse mit dem Ziel der «Menschwerdung» an (Szondi 1963a, 96).

19



Teil II

Die T riebpathologie der Schicksalsanalyse (Philip Seidel)

Jeder Psychotherapeut begegnet in seiner Praxis Menschen mit ei­ ner Problematik, die nicht nur eine Hilfe schlechthin erheischt, sondern auch spezifiziert un d in ihrem Schweregrad beurteilt wer­ den muß; dies hat große Bedeutung für das therapeutische Vorge­ hen (vgl. Teil V, 3.1). In solchen Situationen ist die Schicksalsana­ lyse ein e unschätzbare Hilfe. Ihre Theorie verbindet Psychologie und Psychopathologie in e iner einheitlichen Sicht. Das ist beson­ ders wichtig für die Praxis, denn psychologische und pathologische Zustände können fließend ineinander übergehen und sind deshalb häufig nur schwer zu beurteilen, sowohl qualitativ diagnostisch als auch in Bezug au f ihren Schweregrad. Während uns hier die rein klinische Diagnostik oft im Stich läßt, so ist die Experimentelle Triebdiagnostik (ETD) meist eine große Hilfe. Aber auch diese lie­ fert nicht immer schlüssige Resultate, so daß man immer wieder auf die Kenntnis der klinischen Psychopathologie und der phäno­ menologischen Diagnostik angewiesen ist. Es ist deshalb besonders wichtig, auch die ausgeprägten, schweren klinischen Krankheits­ bilder zu kennen. Die Diskussion über die Effizienz psychotherapeutischer Me­ thoden macht es notwendig, deren theoretische Grundlagen und praktische Bedeutung darzustellen. Voraussetzung für die Wirk­ samkeitsprüfung einer speziellen Psychotherapiemethode ist einer­ seits die Kenntnis der ihr zugrunde liegenden T heorie und ande­ rerseits das Wissen um die Persönlichkeit des Patienten, die genaue 21


Die Triebpathologie der Schicksalsanalyse

Art seiner Störung und deren Verursachung. Aufgrund von Ätiopathogenese und Pathodynamik sollte dann ein kausaltherapeuti­ sches Vorgehen ermöglicht werden. Dieses rationale Vorgehen soll­ te aber begleitet sein durch Intuition, Erfahrung,Vorstellungskraft und Einfühlung/Teilweise entzieht sich die Psyche der objektivie­ renden Rationalisierung, teils lassen sich Pathomechanismen deut­ lich feststellen und beschreiben.

1

G e d a n k e n zu r a kt u e ll e n P s y c h o t h e r a p i e s i t u a t i o n a u s s ch i c k s a l s a n a l y t i s c h e r S ic ht

Beim Versuch, die aktuelle Psychotherapieszene zu überblicken, sehen wir uns einem unüberschaubaren Feld von z.T. völlig dispa­ raten Anschauungen, Theorien, Lehren, Forschungsweisen und Therapiemethoden und neuerdings auch einer Aufspaltung der Psychiatrie in eine biologische und eine psychologische gegenüber. Das Fatale an dieser Entwicklung ist, daß sich die verschiedenen Richtungen nicht nur theoretisch, sondern auch weltanschaulich grundsätzlich widersprechen; dabei geht es nicht nur um das Menschenbild, sondern um divergierende V orstellungen über das Menschsein überhaupt, um die Frage von Krankhaftigkeit und Ge­ sundheit und um das, was in einer Therapie, mit welchen Mitteln auch immer, zu verändern oder zu erreichen sei (vgl.Teil V, 2.7). Es scheint, daß im Fortschritt v. a. der psychologischen Grundlagen­ wissenschaften ein Hang zur Abkehr von allem, was nicht wissen­ schaftlich objektivierbar ist, festgestellt werden muß. Jede Rich­ tung bestätigt sich selber im Rahmen ihrer Teilerkenntnisse. In der akademischen Psychologie herrscht zum Teil e ine extreme nomo­ thetische, nomografische und statistische Denkweise vor, als müß­ te man, um überhaupt kreditfähig zu sein, den positivistischen Na­ turwissenschaften nacheifern. Dabei wird der triebpsycbologische 12


Gedanken zur aktuellen Psychotherapiesituation aus schicksalanalytischer Sicht

Ansatz mit seiner Möglichkeit, psychodynamisch zu objektivieren und mit seiner vernünftigen Art zu quantifizieren, mißachtet. In dieser Situation nimmt es sich besonders eigenartig aus, daß keine allgemeine Persönlichkeitstheorie existiert, weder eine psychologi­ sche, noch eine solche, die - jenseits der Unterscheidung in gesund und krank stehend - Psychologie und Psychiatrie miteinander ver­ einen würde, so wie die schicksalsanalytische Theorie Szondis. Sie verbindet nämlich Biologie, Triebpsychologie, Tiefenpsychologie und Psychiatrie (Szondi 1952.). Auf der Basis des schicksalsana­ lytischen und triebpsychologischen Denkens wurde eine ganzheit­ liche t herapeutische Philosophie konzipiert. Für diesen Therapie­ ansatz ist di e Fähigkeit zum Sowohl-als-auch-Denken Vorausset­ zung, ganz besonders bei Störungen, die nachweislich endogen-somatogene und gleichzeitig exogene Verursachungen haben wie z.B. die verschiedenen Depressionsformen. Unabhängig vom pathologischen ist auch ein persönlichkeitsspezifischer, charakterologischer Aspekt zu berücksichtigen. Damit schafft die Schicksals­ analyse eine allgemeine Persönlichkeitstheorie, die die Dimensio­ nen des Gesunden und des Krankhaften, der Somatogenese und der Psychogenese miteinander verbindet und den Menschen als psycho-biologischen Organismus erkennt. Demgegenüber ist die Tendenz zum Entweder-oder-Denken, zur Dichotomierung in «psychisch» und «somatisch», in exogen und endogen bzw. traumatisch und konstitutionell in der Frage der Ätiologie seelischer Störungen noch weitgehend ein Problem, wo­ durch die psychophysische Einheit des Menschen in einzelne, iso­ lierte Aspekte zerrissen wird. Doch endogene und exogene Fakto­ ren gehören zusammen - es handelt sich um zwei Aspekte eines Ganzen, die beide synoptisch gesehen und in der Behandlung be­ rücksichtigt iverden müssen. Basis für eine ganzheitliche Schau ist das triebpsychologische Denken, vorausgesetzt, es geht von der Einsicht in die Doppelnatur der Triebfunktion aus: diese zeigt von 23


Die Triebpathologie der Schicksalsanalyse

der physischen Seite her ihre biochemische Natur, von der Gegen­ seite her gesehen stellt sie sich als psychische Funktion dar (Seidel 1996 und 1999). Es gibt eine Analogie d azu in d er Physik: 1920 hatte Louis de Broglie die Doppelnatur des Lichts erkannt und nachgewiesen: Das Licht hat gleichzeitig Wellen- und Korpusku­ larcharakter (Seidel 1963). Die echte Erkenntnis der Natur der Triebfunktion allgemein - sie ist eine ganzheitliche biopsychologi­ sche Kraft, die auf neurobiochemischen Prozessen beruht - und die Erfassung des Wesens der einzelnen Triebqualitäten ist notwendig, um Dimensionen übergreifende biopsychologische Modelle zu ent­ wickeln, mit Hilfe derer psychologische und psychopathologische, ätiologische und pathogenetische Probleme ganzheitlich angegan­ gen w erden können (Seidel 1996). Wenn man heute von «Ganzheit» spricht, läuft man Gefahr, falsch interpretiert zu w erden. Der Ganzheitsbegriff wurde zu Be­ ginn des letzten Jahrhunderts von Hans Driesch, ausgehend von der aristotelischen Vorstellung der Entelechie und aufgrund der entwicklungsphysiologischen und embryologischen Forschungser­ gebnisse in die Biologie u nd in di e Philosophie eingeführt. Dieses ganzheitliche Denken wurde von der Gestaltpsychologie übernom­ men und spielt im teleologisch-finalen Denken C. G. Jungs eine zentrale Rolle. Smuts führte den Begriff de s «Holismus» ein. Das Werk Szondis ist in mehrfacher Hinsicht repräsentativ für ein ganzheitliches Denken: die Triebgrundlage, das Triebsystem, die ganzmachende, integrierende Kraft der Pontifex-Funktion des Ichs. In den zwanziger Jahren entwickelten sich die Ganzheitsme­ dizin (von Weizsäcker 1947) und die psychosomatische Medizin, später das ökologische und systemische Denken. In den USA war bekanntlich Fritjof Capra Promotor der Idee des Paradigmen­ wechsels (Capra 1983, 1987). Was die Psychotherapie betrifft, so besteht die Gefahr, in einer Pseudoganzheitsvorstellung die Akku­ mulierung verschiedener Techniken im e klektischen Sinne mit ei­ 24


Die Einheit v on Ätiologie, Pathogenese, Diagnostik und Therapie

nem echt ganzheitlichen Denken zu verwechseln (Seidel 1999). Ein solches aber ist org anismisch, es berücksichtigt das integrale We­ sen des Menschen im psychoneurobiologischen Sinn (vgl. Teil V).

2

Die E i n he i t v on Ä t i ol o g i e , Pa t h o g e n e s e , D i a g n o s t ik un d Th e r a p i e

Wenn das vorliegende Buch zum Zweck hat, Methode und Tech­ nik der Schicksalstherapie darzustellen, so soll dies die Sicht auf größere Zusammenhänge, in die die Psychotherapiefrage eingebet­ tet ist, nicht vernachlässigen lassen. Dementsprechend wird dieses Kapitel über die Psychopathologie der Schicksalsanalyse bewußt in den Gesamtkomplex von Ätiologie, Pathogenese, Diagnostik und Therapie hineingestellt. Es geht hier um Grundsätzliches: In Psy­ chotherapiekontrollen begegnet m an oft der Vorstellung, Psycho­ therapie sei quasi eine Disziplin an sich, in der es wesentlich um Fragen der Methodik und der Technik allein gehe, darum also, «wie man es mache, ob man sich in d er einen oder andern Situati­ on so oder anders verhalten soll» usw. Die Bedeutung solcher tech­ nischer Fragen wird aber oft überschätzt gegenüber dem primären Problem des diagnostischen Verständnisses und der darauf bauen­ den Frage, was denn überhaupt behandelt werden müsse, d. h.wel­ cher Art eine Störung, ein Leiden oder eine Problematik und von welcher Natur die betroffene Persönlichkeit sei (Seidel 1976). Dar­ in sind grundsätzliche Fragestellungen impliziert (vgl. nächster Ab­ schnitt).

2.1 Ätiologie und der kausaltherapeutische Ansatz Ätiopathogenetische Frage: Welches ist die rational analytisch erfaß- und objektivierbare Begründung einer Störung, ihre Verursachung? Diese Fragestellung sollte der Psychotherapie 2-5


Die Triebpathologie der Schicksalsanalyse

zugrunde liegen, wenn man versucht, ein Leiden nicht nur

• •

symptomatisch zu behandeln, sondern es an der Wurzel zu fas­ sen; damit ist das Prinzip der Kausaltherapie angesprochen. Systemische Frage: Welcher Art ist das Beziehungsnetz, in dem dieser Mensch lebt? Indikationsfrage: Welche (spezifisch-) therapeutischen Mög­ lichkeiten sollen eingesetzt werden? 2.2 Spaltungslehre versus Abwehrlehre

In der ätiopathogenetischen Frage nimmt die Spaltungslehre Szondis eine besondere Stellung ein. Während Szondi sich anfangs ganz an die Abwehrtheorie Freuds gehalten und dieses Konzept in seine Psychopathologie eingebracht hatte, so maß er in der weiteren Entwicklung seiner Theorie - nicht zuletzt aufgrund praktisch­ therapeutischer Erfahrung - der Spaltungslehre immer größere Be­ deutung zu (vgl. Teil V, 2.3). Er kritisierte Freuds Tendenz zur Ver­ wischung der Grenzen zwischen Krankheitsentwicklung und Krankheitsursache, die Überschätzung der Bedeutung der «seeli­ schen Situation», das heißt des verdrängten Triebanspruchs als pa­ thogenetischem Moment, sowie die Vernachlässigung der geneti­ schen Ätiologie (Szondi 1963a). Während Freud allerdings diese einseitige exogen-traumatische Auffassung in seinem späten Werk noch revidierte und dabei auch den erbgenetischen Aspekt - wenn auch summarisch - einbezog (Freud 1937), so blieb die weitere psychoanalytische Entwicklung im wesentlichen doch am trauma­ tischen Konzept h ängen. Erst Szondi stellte die hereditäre Ätiolo­ gie ins Zentrum und maß den familiären pathogenen Genotypen als ursächlichen Faktoren ihre große Bedeutung zu. Er faßte diese auf als Ahnenansprüche, das heißt als ganzheitliche familiärspezi­ fische E xistenzformen, welche nach ihrer Manifestation drängen und sah in ihnen die eigentlichen s pezifischen Ursachen der seeli­ schen Erkrankungen. Dies kommt einer Verschiebung der Bedeu26


Die Einheit v on Ätiologie, Pathogenese, Diagnostik und Therapie

tung vom Abwehrkonzept zur Spaltungstheorie gleich, indem die meisten pathogenen Genotypen auf Spaltungsphänomenen beru­ hen, was schwerwiegende Konsequenzen für die Therapie hat. Während in der Medizin die ätiologische Grundlagenfor­ schung ein kausaltherapeutisches Vorgehen bei sehr vielen Krank­ heiten ermöglicht, stecken Psychotherapie und Psychiatrie dies­ bezüglich noch in den Anfängen. Dies ist vor allem darauf zurück­ zuführen, daß die psychische Situation noch weit komplexer ist als die somatische und daß sie nur teilweise rational zu verstehen ist, was aber nicht heißt, daß jeder Versuch z um rationalen Verständ­ nis der Psyche verworfen werden darf. In diesem Sinne bietet die Schicksalsanalyse die M öglichkeit, in einem integrierten Denkan­ satz ein rational kausalanalytisches Verständnis mit dem irrationa­ len zu vereinigen. Wir müssen uns also bemühen, die Ursachen und Dynamismen, die den seelischen Störungen zugrunde liegen, so weitgehend wie möglich zu eru ieren und mit entsprechenden Me­ thoden therapeutisch anzugehen (kausaltherapeutischer Ansatz). Therapie, Diagnostik und Ätiologie sind als Einheit zu verstehen, und zwar während der ganzen Dauer einer Psychotherapie, denn bei ein u nd demselben Patienten können unauffällige Zustandsbilder mit krankhaften wechseln. Letztere können allgemein psychopathologisch und triebpathologisch von ganz verschiedener Natur sein, Manifestationen aus allen Triebgebieten, die miteinander ab­ wechseln oder sich kombinieren, sich gegenseitig bedingen. Einen besonderen Stellenwert nimmt hier die Vordergrund-Hintergrund­ theorie der Schicksalsanalyse ein, welche im Zusammenhang mit der Latenz oder Dominanz von Genotypen und mit dem Phäno­ men des Dominanzwechsels im Verlaufe des Lebens einer Person steht. Hinzu kommt die Tatsache, daß der Einzelne multiple Exi­ stenzmöglichkeiten hat, die spontan oder lebenssituativ bedingt aktiviert werden können. Hierin erkennen wir den systemischen Denkansatz. Er läßt sich mit der Schicksalsanalyse zu einer Einheit 2-7


Die Triebpathologie der Schicksalsanalyse

verbinden (Seidel 1978). Wenn wir die acht Triebfunktionen als Elemente der Beziehung erkennen, dann wird uns auch selbstver­ ständlich, daß die Psyche ein mehrfach offenes System ist, in dem sieben elementare physische Bezugsformen die Person mit der rea­ len Welt verbinden, während eine, die Projektions- bzw. Partizipa­ tionsfunktion, die irreal-irrationale Beziehung ermöglicht (Seidel 1979). Alle diese acht Radikale sind Elemente der Beziehung und verbinden Individuum und Umwelt miteinander in wechselseitiger Beeinflußung. Unter diesem systemischen Aspekt im elementarsten Sinn sollte es evident sein, daß die Person weder diagnostisch noch therapeutisch ganz losgelöst vom psychosozialen Kontext verstan­ den werden kann. Von der Praxis her gesehen ist kausaltherapeutisches Vorgehen jedoch nichr so einfach und oft auch gar nicht möglich. Das hat verschiedene Begründungen: Nur in einem Teil der Fälle ist die Verursachung einer Störung monokausal, und selbst eine solche ist nicht immer ohne weiteres erkennbar. Zumeist aber überlagern sich ätiologische und pathogenetische Elemente, die - sich kumu­ lierend - schließlich zu einer Dekompensation führen. Weil solche Entwicklungen Jahre dauern können, bis sie s ichtbar werden, ist eine genaue Lebensgeschichte, bis in die Anfänge zurückgehend, notwendig, denn eine Anlage kann sich schon in frühen Lebensab­ schnitten auf irgendeine Weise manifestiert haben, ohne eigentlich krankhafte Formen anzunehmen. Dennoch aber läßt sie sich durch die spezifisch schicksalsanalytische Art des Erhebens der Vorge­ schichte erkennen. - Gerade solche diskrete Manifestationen an der Grenze der Norm werden aber oft durch eine konventionelle klinische Diagnostik, die nur die krankhaften Voll formen berück­ sichtigt, nicht erfaßt.

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Diagnostik und Differentialdiagnostik

2.3 Die Schicksalsanalyse und der systemische Ansatz Aus der heutigen S icht ist au ch der systemische Aspekt miteinzubeziehen und mit der schicksalsanalytischen Denkweise in Verbin­ dung zu bringen. Viele menschliche Problemsituationen können nur durch Berücksichtigung der psychosozialen Interaktionen und lebenssituativer Aspekte verstanden und therapeutisch angegangen werden.

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D ia g n o s t i k u nd D i f f e r e n ti a ld i a g n o s t i k

3A Die klinisch-phänomenologische Diagnostik Basis der Diagnostik ist im mer noch die klinisch phänomenologi­ sche Diagnostik der klassischen Psychiatrie: die Idee der Krank­ heitseinheiten von Kraepelin und Kretschmer wurde - trotz vieler kritischer Versuche - nicht widerlegt. Ihre Ablehnung kam u. a. von psychoanalytischer Seite, die sich ja mit ihrer einseitig exogenpsychotraumatischen Theorie ganz gegen die - als veraltet apo­ strophierte - klassische Psychiatrie stellte und gleichzeitig alles Konstitutionelle und Erbgenetische in Abrede stellte. Dazu kam noch eine allgemeine, wohl mehr emotionale und nicht rational begründete Ablehnung von allem, w as nach Determinierung und Systematisierung der Psyche aussah. Doch kein Geringerer als Ludwig Binswanger — er war eben ein großer Kliniker — spricht im Zusammenhang mit dem manisch-depressiven Irresein von der «in meinen Augen auch heute noch unerschüttert dastehenden Be­ griffsbestimmung und Darstellung Kraepelins» ( Binswanger i960, 10; Kuhn 1987). Szondi hat die Kraepelin-Kretschmersche Theo­ rie der Krankheitseinheiten und Erbkreise bestätigt - zum schizoformen und zyklischen hatte Kretschmer den paroxysmalen Erb­ kreis hinzugefügt — und ergänzte diese Dreiheit um den Sexualkreis zu einer Vierheit; überdies taufte er die Erbkreise zu Triebkreisen 29


Die T riebpathologie der Schicksalsanalyse

um (Szondi 1952). Für die Richtigkeit dieser Auffassung sprechen nicht nur die theoretischen Grundlagen, sondern auch die Empirie, d.h. also die experimentelle Triebdiagnostik (ETD) und die klini­ sche Erfahrung. Auch in neuerer Zeit wurde dies durch Roland Kuhn am Beispiel des Paroxysmalkreises wieder bestätigt (Kuhn 1987). Und auch die moderne Neurobiochemie scheint die alten klinischen Beobachtungen mehr und mehr zu bestätigen. Wichtig ist nun aber, daß Szondi die Systematik der Krankheitseinheiten noch verfeinerte durch die Einführung der acht Triebradikale. Sie sind nicht nur Elemente der Triebdiagnostik, sondern die funktio­ nalen Grundlagen der klinischen P hänomene, welche sich so noch viel besser artikulieren lassen, denn oft ist die klinische Phänome­ nologie nicht eindeutig. In der Praxis begegnet man immer wieder Patienten, die dia­ gnostisch nur schwer zu verstehen sind. Dies ist von großer Bedeu­ tung, nicht nur als Problem an sich, sondern auch ganz direkt für die Therapie, welche je nach der diagnostischen Entscheidung völ­ lig vers chiedenartig sein kann, was von größter Relevanz für den Therapieerfolg ist (vgl. oben). Was die Schwierigkeiten der klinischen Diagnostik betrifft, so wurde von kompetenter Seite die Bedeutung der Intuition hervor­ gehoben (Wyrsch 1946, für die Psychiatrie; Nager 1999 a und b, für die Medizin). Diese A nsicht tei len wir durchaus, ergänzen sie aber durch die schicksalsanalytische Perspektive. Es ist auch hier in Erinnerung zu rufen, daß Intuition immer nur voll z ur Entfaltung gelangen kann, wenn sie a uf solidem berufsspezifischem Wissen, Erfahrung und auf der genauen Kenntnis des Patienten basiert. 3.2 Funktionale, triebdynamische Diagnostik Drei Gesichtspunkte sind hier wichtig: 1. Durch das triebpsycho­ logische Denken wird eine neue Dimension in das Menschenver­ ständnis eingeführt; es bereichert die klinische Beobachtung um 30


Bedeutung und Stellenwert der Schicksalsanalyse für die Psychopathologie

Daten von relativ hohem Objektivitätsgrad. 2. Die genaue, schick­ salsanalytische Aufnahme des Stammbaumes sowie die in der glei­ chen Weise erforschte Lebensgeschichte des Patienten können den diagnostischen Entscheid wesentlich mitbestimmen. 3. Das Ein­ bringen d es triebpsychologischen Wissens in das klinisch psycho­ logische Denken und vor allem die Wesensschau der Triebelemen­ te lassen Persönlichkeit und Pathologie eines Menschen besser verstehen und artikulieren. Die Triebdiagnostik ist von wesentlicher Bedeutung für die Er­ kennung der Persönlichkeit und ihrer Störungsanfälligkeiten. Eine Triebdiagnose ist aber nicht identisch mit der klinischen Diagnose, und beide lassen noch nicht die individuelle Gesamtpersönlichkeit eines Menschen erfassen. Die Diagnostik darf nicht auf statische, quasi repräsentative Etiketten begrenzt werden; vielmehr sollte sie eine mehrdimensionale sein, indem sie funktionale Kriterien eben­ so berücksichtigt wie klinisch-phänomenologische, innere und äu­ ßere Lebensgeschichte, beobachtete Vorgänge, Geschehnisse und Reaktionen während des therapeutischen Prozesses, ausführliche schicksalsanalytische Stammbaumforschung und experimentelle Triebdiagnostik. Die beiden letzteren sind immer gemeinsam zu berücksichtigen.

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B e d e u t u n g u n d St e l l e n w e r t d er S ch i c k s a l s a na l y s e f ü r di e P s y c h o p a t h o l o g i e

Die schicksalsanalytische Theorie stellt eine Basis für die neuartige ätio-pathogenetische Sicht psychopathologischer und psychoso­ matischer Störungen dar. Die Einsicht i n Psychodynamik und Pathodynamik mit Hilfe der Triebpsychologie, zusammen mit der klinischen Phänomenolo­ gie, wird Grundlage für eine mehrdimensionale Diagnostik. 31


Die Triebpathologie der Schicksalsanalyse

Die Schicksalsanalyse eignet sich für verschiedenartiges the­ rapeutisches Vorgehen, indem sie uns, auch jenseits der Unter­ scheidung «analytisch - nicht analytisch», Möglichkeiten bietet, Störungen anzugehen, die ohne diese Grundlagen kaum behandelt werden könnten. Die profunde Kenntnis der Schicksalsanalyse und speziell der Triebpsychologie verschafft nicht nur tiefere Einsichten in psychodynamische und pathodynamische Situationen - Basis für einen kausaltherapeutischen Ansatz -, sondern sie sollte auch fällig andersartige Theorien und therapeutische Vorgehensweisen einschließen wie z. B. die Systemtheorie. Das systemische Denken laßt sich besonders gut mit dem triebpsychologischen vereinen. Auch die Verhaltenstherapie sollte auf eine schicksalsanalytische Basis ges tellt werden. Eingeschlossen sind selbstverständlich im­ mer die bekannten unspezifischen Wirkmöglichkeiten - ohne je­ doch diesen Begriff kritiklos zu dilatieren -, die wohl letztlich etwas vom Wichtigsten in der Psychotherapie sind.

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Der Triebbegriff

Zum Verständnis der schicksalsanalytischen Triebpathologie ist die Kenntnis der Natur der Triebfunktion Voraussetzung: Trieb­ funktionen sind Radikale, bedingende und erhaltende Wurzeln des menschlichen Daseins, deren Energiequelle unerschöpflich ist (Jas­ pers 1959). Es g ehört zum Wesen der Triebfunktion, daß sie die Tendenz hat, sich nach jeder Entladung spontan wieder neu aufzu­ laden und ebenso, sich aus einer inneren Notwendigkeit heraus bei jeder passenden Gelegenheit wieder zu entladen. Die Triebfunk­ tion ist eine ganzheitliche biopsychologische Kraft, die auf neurobiochemischen Prozessen beruht. Sie hat eine psychophysische Doppelnatur (Seidel 1996). Ich fasse die Triebfunktion als das noch nicht genügend beachtete, verbindende Glied (missing link) 32-


Triebpathologie - Allgemeine Psychopathologie

zwischen der somatischen und der psychischen Seite auf (Seidel 1996). In ihrem Wesen ist sie eine psychophysische Ganzheit. Dementsprechend muß auch das Denken ein biopsychologischganzheitliches sein, egal ob man den Triebaspekt des Psychischen oder den psychischen Aspekt des Triebhaften beobachtet, be­ schreibt, quantifiziert und dynamisiert (Seidel 1999). Diese Denk­ weise läßt gesunde und krankhafte Phänomene besser verstehen und behandeln. Sie wird durch die Zwischenhirnforschungen von W.R.Hess (1954) und durch die aktuelle Neuropsychobiologie mehr und mehr bestätigt, nachdem der Zürcher Neurophysiologe W. R. Hess schon in den frühen fünfziger Jahren in seinen Zwischenhirnforschungen experimentelle Ergebnisse lieferte. Die Stärke der einzelnen Triebelemente bestimmt weitgehend, ob ein Individuum in seiner Erkrankungsart und Symptomatik z. B. para­ noide, depressive, narzisstische, orale Frustrations- oder Suchtphä­ nomene usw. zeigt.

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T r i e b p a t h o l o g i e - A l l g e m e i ne Ps y c h o p a t h o l o g ie

6.1 Phänomen und Funktion Die klinische Phänomenologie ist Korrelat und Ausdruck der funk­ tionalen Triebpathologie. Triebstörungen (Schwäche, Überdruck, Spaltungen) können als solche symptomatisch werden oder sich auf andere Systeme auswirken: die kognitive Sphäre (Einfluß auf die höherpsychischen Funktionen) oder die neuronale Sphäre (Auslösung von Reflexen und Instinktbewegungen) sowie auf das Neurovegetativum. Diese Aufgliederung läßt psychische Störun­ gen und Krankheitsbilder genauer differenzieren: • Durch klinisch-phänomenologische Beobachtung

werden

Symptome und Symptomverbände, Verhaltens- und Reakti­ onsweisen, verbale oder andersartige Äußerungen von Patien33


Die Triebpathologie der Schicksalsanalyse

ten sowie typische Krankheitsverlaufsformen beschrieben •

(Psychopathologie und Nosologie der klassischen Psychiatrie). Die funktional-triebdynamische Basis eröffnet tiefere Ein­ sichten in das krankhafte Geschehen und ist für ein kausal­ therapeutisches Vorgehen unabdingbar. Jedes Phänomen und Symptom, jede Äußerung und Verhaltensweise hat eine funk­ tionale Grundlage, durch die sie bedingt wird: teils elementa­ re, teils komplexe Funktionsabläufe. Von Pathodynamik spre­ chen wir dann, wenn die psychischen Funktionen quantitativ oder qualitativ, d.h. interaktionell aus dem physiologischen Bereich ausbrechen, wenn sie nicht aufeinander abgestimmt sind im Sinne der Integration oder Legierung - oder sich nicht gegenseitig steuern (Spaltung, Desintegration). Sie werden dann in Form von auffälligen Verhaltens- und Reaktionswei­ sen, von Störungen, krankhaften Symptomen oder Syndromen als klinische Phänomene sichtbar.

Das psychodynamische Denken wurde bekanntlich durch Freud, Pierre Janet, Jung und andere in Psychologie und Psy­ chopathologie eingeführt; von der Psychiatrie wurde es jedoch nur bedingt aufgenommen. Szondi v ervollständigte und syste­ matisierte es, so daß wir heute, bezugnehmend auf das Trieb­ system und die Triebdialektik, nicht mehr von Psychodynamik schlechthin, sondern von Triebdynamik, Triebdialektik und Triebpathologie sprechen. Damit konnte Szondi die Tiefen­ psychologie mit der Psychiatrie verbinden und die klinische Psychopathologie mit der Psychologie auf eine funktionale triebdynamische Grundlage stellen.

Zur neurophysiologiscben Ebene gehören Reflexe und In­ stinktbewegungen. Ihnen liegen neurale Strukturen zugrunde. Solche Mechanismen sind von anderer Natur als die Trieb­ funktionen; letztere sind nur der Motor, der andere Funkti­ onsabläufe in Gang setzt. Diese prinzipielle Unterscheidung ist 34


Triebpathologie - Allgemeine Psychopathologie

sehr wichtig, weil bei pathologischen Erscheinungen ganz ver­ schiedene Systeme involviert sein können. Das gilt ganz be­ sonders für den paroxysmalen Formenkreis. In der Triebsphä­ re w ird bestimmt, ob das Individuum offensiv-aggressiv oder defensiv-passiv reagiert. Die Ausführungsorgane aber, die die Triebimpulse in die Tat umsetzen, sind neuronaler Art, z. B. Flucht- oder Totstellreflex usw. Diese Reflex- und Instinkter­ scheinungen sind archaischer Natur und werden beim gesun­ den Menschen durch höhere Hemmmechanismen unterdrückt (Kretschmer 1974). Unter bestimmten Bedingungen können sie sic h jedoch emanzipieren und werden so symptomatisch: Hysterische Phänomene, Tics, Torticollis spasmodicus usw. •

Die autonomen vegetativen Funktionen (vgl. 8.3.4): Das vege­ tative N ervensystem. Jede Affektregung, jede Stimmung wird regelmäßig von neurovegetativen Erscheinungen sympathikotoner oder parasympathikotoner Art begleitet. Im krankhaften Fall können diese Begleiterscheinungen als Symptome auftre­ ten, wobei der auslösende Affekt verdrängt wurde. Beispiele:

Ein Patient hat Handschweiß, der im Moment der Begrü ßung ganz plötzlich auftritt. Die Analyse zeigt, daß dieses vegetative Symptom nur Begleiterscheinung einer unbewußten Kontaktangst ist. Eine Patientin hat immer wieder plötzlich auftretendes rasendes Herzklopfen (sog. paroxysmale Tachykardie) und Beklemmungs­ gefühle auf der Brust. I n der Therapie werden ihr die unbewußten Angstaffekte, die hin ter den neurov egetativen Be gleiterscheinungen versteckt sind, bewußt. •

Basale, neuro-biochemische Prozesse: Sie liegen de n neurona­ len und psychischen Funktionen allgemein und den Triebfunk­ tionen speziell zu grunde (Neurotransmitter und Rezeptoren). 35


Die Triebpathologie der Schicksalsanalyse

Zum transpersonalen Bereich gehören i. Das Aneinander-An­ teil-Haben kraft der spirituellen oder Partizipationsfunktion (—p). i . Das Transzendieren aus der physischen Dimension in die metaphysische. 3. Systemische Beziehungen. Entsprechend dem Triebsystem gibt es s ieben Arten des realen, physischen Bezugs zur Welt, nämlich sämtliche Triebstrebungen, ausge­ nommen die p-Funktion. Diese ist Teil der transzendenten Beziehung und stellt einerseits über die Partizipation und Pro­ jektion die Beziehung zwischen den einzelnen Personen her, andererseits zur metaphysischen Dimension schlechthin (Szondi 1956a). Die systemischen Beziehungen ergeben sich u. a. aus der Totalität aller erwähnten Bezüge.

In der Psychopathologie sind zusätzlich immer zeitliche Verlaufs­ kriterien mitzuberücksichtigen: Das statische muß zum dynami­ schen Denken werden, auch in der Diagnostik (triebpsychologisch funktionale Aspekte und klinisch-phänomenologische Beobach­ tung im Rahmen einer Längsschnitt-Betrachtung: Lebensgeschich­ te, Krankheitsverlauf).

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Triebdynamik - Pathodynamik

Das normale Triebleben zeichnet sich durch ein ständiges Oszillie­ ren aus, d. h. durch dynamischen Wechsel von Aufladung und Ent­ ladung der elementaren Triebkräfte. Je nach äußeren oder inneren Bedingungen und Bedürfnissen müssen verschiedene Triebfunktio­ nen aktiv werden. •

Eine Triebfunktion ist nicht verfügbar bei Triebunterdruck (anlagebedingte Triebschwäche, z. B. sO; vgl. asthenisches Syn­ drom: sO kO [Seidel 1959]) oder bei kurz vorangegangener Entladung oder bei Fixierung in einem Faktorenverband 36


Triebdynamik - Pathodynamik

(Triebsyndrom). Letzeres kann überhaupt die psychodynami­ •

sche Flexibilität einschränken. Triebüberdruck (+!! und -!!) kann eine mangelnde Triebentla­

dungsmöglichkeit anzeigen. Solche Situationen müssen nicht unbedingt von einer entsprechen­ den Krankheit oder Störung begleitet sein. • Triebdialektik ist das Kräftespiel zwischen den einzelnen Triebstrebungen, Triebbedürfnissen und Trieben, indem die Komponenten gemeinsam das gleiche Triebziel verfolgen und gleichzeitig einander steuern und bremsen. Diese Dialektik im Sinne von synergistisch-antagonistischen Gegenspieler­ funktionen ist das biopsychologische Organisationsprinzip überhaupt. Paradigma: die Organisation des vegetativen Ner­ vensystems: Sympathikus und Parasympathikus. - Wenn das Kräftespiel zwischen den einzelnen Triebstrebungen, Triebbe­ dürfnissen und Ganztrieben sowie den vordergründigen und hintergründigen Teilen der Triebpersönlichkeit gestört ist, können Probleme auftreten. Die Triebspaltungen, v. a. die dia­ gonale Spaltungsart und die bei dieser entstehende maximale Spannung, bedingen die schwersten klinischen K rankheitsbil­ der (z. B. Sch+- oder das vollständige paranoide Spaltungssyn•

drom). Triebvermischung und Triebentmischung (vgl. 8.2 Der Sexual­ trieb)

Für den Psychotherapeuten sind folgende Gesichtspunkte wichtig: • Ist e inem Menschen seine Triebsituation überhaupt bewußt? •

Wie löst er das Problem der Triebgegensätzlichkeiten?

Wie wehrt er seine Triebgefahren ab: durch Verdrängung, Ent­

• •

fremdung, Projektion oder Zwang? Bezieht er Stellung gegenüber einer Triebgefahr? Welche Möglichkeiten findet er im Alltagsleben, welche Ar37


Die Triebpathologie der Schicksalsanalyse

rangements kann er treffen, um mit seiner s chwierigen seeli­ schen Struktur eine möglichst günstige Existenzweise zu re ali­ sieren? •

Wie kann er sozialisieren oder sublimieren?

Die Gültigkeit der psychiatrischen Pathologie und Nosologie wird durch die Triebpathologie anhand der ETD im wesentlichen be­ stätigt. Die Idee der Krankheitseinheiten ist immer noch als gül­ tiges Modell zu verstehen (Binswanger 1957; Kuhn 1987), das einerseits Schwerpunkte setzt und andererseits eine große Vielfalt von Zwischen- und Übergangsformen erkennen und artikulieren läßt. Für den triebpsychologisch Denkenden ist d ie Gruppierung der verschiedenen psychischen Störungsformen nach den vier Erb- oder Triebkreisen ohne weiteres versteh bar. Jeder Triebkreis ist quasi das Leitelement für die entsprechenden, je zwei zusam­ mengehörenden Krankheitsformen. Eine Differenzierung dieser Vierheit der Krankheitsformen liegt darin, daß jeder der ihnen ent­ sprechenden Erb- oder Triebkreise zwei komplementäre Störungs­ formen umfaßt, wodurch acht faktorspezifische Krankheitsmög­ lichkeiten unterschieden werden können. Triebdiagnostisch ist schon aufgrund des Triebüberdrucks einer einzelnen Str ebung oder aber gehäufter O-Reaktionen eine entsprechende Problematik oder Störung anzunehmen («Faktorspezifische Krankheiten», vgl. Szondi 1980, 49). Es gilt dabei allerdings, daß eine Auffälligkeit in der Triebstruktur nicht mit einer klinischen Krankheit gleichzuset­ zen ist. Um so bedeutungsvoller aber ist ihr Ausdruck in bestimm­ ten Verhaltens- und Reaktionsweisen, Lebensformen und Lebens­ verläufen eines Menschen - Störungen also, die nicht einfach mit einer klinischen Diagnose erfaßt, jedoch im funktionalen Sinne verstanden werden können. Dementsprechend ist eine Diagnose vorerst auch nur eine funktionale und nicht eine klinische. Zum monofaktoriellen Aspekt der Triebstörungen hinzu kommt die 38


Psychologie und Pathologie der einzelnen Triebe

syndromatische Verbindung zweier oder mehrerer Faktoren zu ei­ nem typischen Faktorenverband. In diesem muß ein spezifischer Faktor mehr als Kernstück oder Leitfaktor betrachtet werden, zu dem meistens eine typische Ichstruktur hinzukommt.

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P s y ch o l o g i e un d P a t h o l o g i e de r e i nz el n e n Tr i e be

8.1 Der Kontakttrieb (Vektor C) Der Kontakttrieb wird in dieser Darstellung als erster behandelt, denn er ist die Basis des realen B ezuges zur Welt un d die Voraus­ setzung des physischen Kontaktes des Individuums zu ihr. Ohne diesen Bezug könnte kein anderes Triebbedürfnis überhaupt zu sei­ ner Realisierung gelangen. Die Erfahrung zeigt, daß mit der nega­ tiven Kontaktsituation (-m) jede an dere psychische Problematik einer Person verschärft wird (vgl. Beispiele in 8.3.11 und 8.4.6). Dies ist ganz einfach erklärbar durch das Fehlen jeglicher konkre­ ten Verankerung in der realen Dimension, der tragenden, konkret­ physischen Beziehungsfähigkeit zu Personen und Umwelt. Der Kontakttrieb bestimmt wesentlich den psychosozialen Bezug des Individuums und seine Stimmung. Problematische Vektorbilder im Kontakttrieb bringen Störungen in Stimmung, Sozialbezug und Ar­ beitsfähigkeit mit sich. Mit der Möglichkeit, die Triebbedürfnisse des Kontakttriebes zu befriedigen, hängt direkt die Stimmungslage des Einzelnen zu­ sammen. «Das Gefühl des Gelingens o der Mißlingens, des Glükkens oder Mißglückens, des Zuteilwerdens oder des Verlierens des Objektes ist der Quell aller Stimmungen von Glück und Unglück» (Szondi i960,176). «Von der Annahme oder Nichtannahme hängt die gehobene oder bedrückte Stimmung des Menschen ab» und kann beim Einzelnen, im Rahmen des Normalen, situations-adäquat starken Schwankungen unterliegen (Ernst Kretschmer, zitiert 39


Die Triebpathologie der Schicksalsanalyse

nach Szondi i960, 176). Wir kennen Stimmungsstörungen, die mehr in den Bereich des d-Faktors gehören (Objektverlust) und solche, die eher auf eine orale Frustration zurückgehen (vgl. dazu auch die frühen oralen Traumatisierungen, die anaklitische De­ pression nach R. Spitz). Im Gegensatz zu Freud nimmt Szondi, ausgehend von der Theorie von Imre Hermann, einen speziellen Kontakttrieb an, «dessen besonderes Triebziel es ist,ein Außenobjekt zu suchen und sich daran zu binden, es für sich, für seine Befriedigung zu sichern» (Szondi i960, 175). Szondi schuf in sei ner Konzeption des Kon­ takttriebes den physiologischen Sozialtrieb der zwischenmenschli­ chen Kommunikation. Das lateinische Verb tangere, contangere (berühren), von dem das Wort «Kontakt» abgeleitet ist, erfaßt alle Bedeutungen, die den psychischen Modalitäten des Kontakttriebes entsprechen. Stimmungsstörungen: Sie liegen an der Basis einer Reihe ver­ schiedenartiger Phänomene, welche von der All tagspsychologie bis zu schweren klinischen Erkrankungen führen. Allgemein wird unter dem Titel der Depressionen ein breites Spektrum von Stim­ mungsschwankungen im Alltag über Formen verstärkter Stim­ mungsbaissen und Trauer bis hin zur schweren, psychotischen Depression subsummiert. Im Bereich de r maniformen Bilder s ind es Bindungsunfähigkeit, Euphorie, Unruhe, hypomanische bis ma­ nische Betriebsamkeit. Aus schicksalsanalytischer Sicht werden Depressionen von der Psychiatrie zu Unrecht als affektive Störungen bezeichnet, sie sind jedoch Stimmungsstörungen. Affekte spielen hier höchstens eine sekundäre Rolle, ganz im G egensatz zu paroxysmalen Störungen, bei welch en Affektstörungen im Z entrum stehen (vgl. 8.3 Der Paroxysmaltrieb). Wenn heute Panikstörungen als Teil depressiver Syndrome verstanden und dementsprechend mit Antidepressiva behandelt w erden, so sind dies triebpathologisch gesehen Kombi­ 40


Psychologie und Pathologie der einzelnen Triebe

nationen von Kontaktstörungen mit paroxysmalen Elementen, was auch unterstützt wird durch die Psychopharmakologie: Das Antiepileptikum Carbamazepin (Tegretol) wirkt oft auch bei zir­ kulären Störungen. 8.1.1 Das Urmodell des Kontakttriebes Es «ist die Bewegungskette, mit der das Neugeborene die Brust der Mutter sucht, ergreift und saugt. Kurz: die Oralität. Die Brust der Mutter bleibt für das ganze Leben das Urobjekt allen triebhaften Auf-Suche-Gehens und allen Sich-Anklammerns» (Szondi i960, 175). Dieses Beispiel repräsentiert eine typische Verschränkung der beiden Komponenten m und d. Von den Triebfunktionen sind aber grundsätzlich die neuralen Reflex- und Instinktbewegungen zu unterscheiden. Diese, z. B. de r Saugakt des Säuglings als solcher, werden durch die Triebfunktionen in Gang gesetzt; sie sind die ausführenden Organe der Antriebe. Szondi unterscheidet aber un­ richtigerweise nicht den rein triebhaften vom neuralen Teil, den Reflexen und Instinktbewegungen (vgl. 8.3.8 Reflexe und Instinkt­ bewegungen). 8.1.2 Die nichtobjekthafte Umweltbeziehung: Faktor m Die Strebung +m bedeutet physische Umweltbeziehung im Sinne des Berührens und des Sich-Anklammerns, des Akzeptationsbedürfnisses und der Sicherungstendenz, des Urvertrauens. Dieser Bezug ist nicht ein objekthafter, im Gegensatz zur +d-Funktion. In Bildern veranschaulicht: Weidetiere, die einfach (Gras-) Masse aufnehmen; ein Nest junger Hunde oder Katzen, die sich eng aneinander drängen; das Kleinkind, das den Kontakt und Schutz bei der Mutter sucht; viele Menschen haben das Bedürfnis, dauernd zu kuscheln, oder sie sind überhaupt unfähig, allein zu sein. Klar zu unterscheiden ist zwischen dem Kontaktbedürfnis 41


Die Triebpathologie der Schicksalsanalyse

(+m-Strebung), dem Eros-Bedürfnis (+h) und dem Partizipations­ bedürfnis (-p); diese drei Funktionen sind völlig verschiedene Ele­ mente der Beziehung, die allerdings - mit je verschiedenem Akzent - meist zusammenwirken. Die Strebung -m ist die triebpsychologische Basis für das SichAbtrennen aus einer bestehenden Bindung: der Drang, völlig frei zu sein, in der Vereinsamung z u leben oder stets nach Neuem zu haschen, ohne sich je binden zu können. Das orale Triebbedürfnis «m» stellt d en Kontakt zur Materie schlechthin her: vorerst die erdhafte Beziehung, Boden unter den Füßen haben, verwurzelt sein; in der physischen Welt stehen; sie mit Pfänden greifen und mit ihr in Berührung sein; sodann der kontaktmäßige Bezug z um Mitmenschen und zur lebenden Krea­ tur. Das neurale Korrelat dieser triebhaften Funktion ist der taktile ode r Berührungssinn, die Sensibilität u nd, auf der motorischen Seite, der Greifakt bzw. der Greifreflex. Das Tasterlebnis ist das Urgefühl des «In-der-Welt-Seins», mit einem Evidenzcharakter, der stärker ist als der durch die Sinnesorgane - das Auge und das Ohr - vermittelte, sensorische. Wird eine Person im Wahrnehmungsbe­ reich von einer Unsicherheit befallen, so überprüft sie die Situatio n über den Tastsinn: Beispiel:

Eine Analysandin p flegte immer wieder mit bei den Pfä nden auf den Analysencouch zu schl agen, um s ich, während eines Entfremdungs­ erlebnisses, über den Tastsinn der Realität zu vergewissern.

8.1.3 Fehlender physischer Weltkontakt und die Psychosen Das Fehlen des taktilen und oralen Kontaktes ist vo n essenzieller Bedeutung auch bei d er Psychosenentstehung. Voraussetzung für diese ist n icht nur der Ausfall der Introjektionsfunktion (Ok od er -k), also die Schwächung des sensorischen Wahrnehmungskontak42


Psychologie und Pathologie der einzelnen Triebe

tes, welche zur Entfremdung der Wahrnehmungswelt führt, son­ dern wesentlich auch die vorherrschende Abtrennung im konkre­ ten physischen Weltbezug (-m). Liegt eine Abtrennungsstrebung (CO-, C— oder C+-) neben einer paranoiden Ichstruktur (SchO-) vor, verdichtet sich der diagnostische Verdacht auf eine paranoide Psychose. Dies ist evident, denn erst durch die Loslösung aus der Urbeziehung zur physischen Welt kann der in der Ichstörung be­ gründete Realitätsverlust so recht zur vollen Auswirkung gelangen und sich die Neigung zur Irrealität und Irrationalität, zum Wahn­ haften verstärken. 8.1.4 Akzeptationsproblematik und Suchtverhalten im Alltag Im Alltagsleben ebenso wie in der psychotherapeutischen Praxis können wir bezüglich des Kontaktlebens große konstitutionelle Unterschiede feststellen: Menschen mit einer starken Oralität (+!m) sind auf Akzeptation besonders angewiesen und fühlen sich rasch frustriert. Szondi spricht von Akzeptationsneurose. Das Es­ sen bedeutet ihnen alles, sie müssen ständig etwas im Munde ha­ ben und neigen zu oralem Suchtverhalten: rauchen, trinken, reden. Diese konstitutionellen Eigenheiten können in gesteigerter Form den so häufigen Alltagssüchten zugrunde liegen. Hier ist eine Befriedigung des gesteigerten oralen Bedürfnisses noch möglich, wenn auch nur durch einen massiven Konsum. Dies ganz im Ge­ gensatz zu den schweren Suchtkrankheiten. 8.1.5 Die eigentlichen Suchtkrankheiten Bei diesen kann eine Befriedigung niemals gelingen, denn es hat ein Umschlag von der +m in eine -m-Strebung stattgefunden, begleitet von einer -!k-Funktion, Basis d er Tendenz zur Entwertung aller Werte. Das Suchtobjekt wird entwertet, ist w ie eine inflationierte Währung ohne Zahlungskraft.

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Die Triebpathologie der Schicksalsanalyse

Beispiel: Eine schwer oral süchtige Patientin - aus einer Hoteliersfamilie stam­ mend und i m elterlichen Hotelrestaurant aufgewachsen -, trinkt auf ihrem Zimmer den Whisky aus dem Zahnputzglas. Als die Patientin Säugling war, pflegte die Mutter, während sie sie stillte, zu rauchen, und zwar gleichzeitig zwei Zigare tten, in je dem Mundwinkel eine. 8.1.6 Zum manischen Syndrom Klinisch reine Manien sind relativ selten. Meistens stehen sie den inflativen Psychosen nahe und werden dann in der Psychiatrie Schizomanien genannt. Dem entsprechen ichdynamisch gesehen die starke destruktive Negation und die inflative Tendenz: —! ! k +!p. Das Leitbild ist CO-!, das Kontaktbild der Loslösung aus allen Bin­ dungen zur Welt und damit auch die totale Vereinsamung des Pa­ tienten. Das Ichbild ist ge kennzeichnet durch die Hypernegation (—!! k) : die Tendenz zur Entwertung aller Werte. Hier zeigt sich die nahe Verwandtschaft der Manie zu den schweren Süchten. Die Stimmung des manischen Patienten ist nur eine pseudoeuphorische - direkt dahinter ist die tiefe T rauer spürbar. Für den Patienten kann die maniforme Abtrennungstendenz in eine tragische, totale Vereinsamung münden (Suizidgefahr!). 8.1.y Der objekthafte Weltbezug: Faktor d Im Gegensatz zum Faktor m stellt der Faktor d den objekthaften Weltbezug her. Er regelt die Beziehung des Individuums zur Ob­ jektwelt. Die Strebung +d ist die Funktion des Auf-Suche-Gehens und der Veränderung, des Sammeins und Besitzens, der Neugierde im Sinne des Sehens und des Eroberns neuer Welten. Die polare Gegenstrebung -d ist die Grundlage des Beharrens, des Nicht-Loslassens, des Nicht-verlieren-Könnens, des Hortens. Dies gilt eben­ so für personale wie für rein materielle Objekte. Aber es geht auch um ideelle W erte wie Freiheit, E hre, Anerkennung usw. Ich fasse auch die Zeit als ein «Wertobjekt» auf (vgl. 8.1.8 Das depressive 44


Psychologie und Pathologie der einzelnen Triebe

Syndrom). Im Charakter zeichnet sich der Faktor «d» durch die Ei­ genschaft der Treue zu Partner, Familie, Gruppe usw., aber auch durch Habgier, Sammelsucht und Geiz aus. Im Unterschied zum erwähnten Bild des Nestes junger Hunde für die +m-Strebung steht für die +d-Strebung hier das Beispiel des Eichhörnchens, das Objekte sammelt, sie hortet oder sie unter Zuhilfenahme der «Hände» als Objekte hält, schält und frißt. Das erste ist ein Beispiel für den physischen Kontakt (m) s chlechthin, das zweite zeigt den objekthaften Bezug (d), der bereits mit der Fähigkeit zur Handhabung verknüpft sein kann. Störungen im Rahmen der d-Funktion sind depressive Ver­ stimmung, Depression, Sammelsucht, Kleptomanie, Zwangsstö­ rungen, analer Charakter. 8.1.8 Das depressive Syndrom Die in der klinischen Psychiatrie verwendeten Termini wie Trauer, reaktive Depression, depressive Entwicklung, endogene bzw. exo­ gene oder endoreaktive Depression sowie zyklische Störung ent­ sprechen rein klinisch-phänomenologischen Kriterien bzw. Ver­ laufsformen. E ine Beschränkung auf diese Aspekte genügt heute als Grundlage für das diagnostische Verständnis und die Therapie depressiver Störungen nicht mehr. Das klinische Denken muß durch ein funktionales ergänzt werden. Doch nicht nur durch die Vernachlässigung tiefenpsychologischer Aspekte wird die Psychia­ trie zunehmend einseitig, sondern auch durch die gleichzeitige Übergewichtung und Isolierung der biochemischen Grundlagen, was zur Abspaltung einer biologischen Psychiatrie aus der Ge­ samtpsychiatrie geführt hat. Diese Entwicklung würde sich durch den Einbezug der Triebpsychologie verhindern lassen. Zwar hat die psychiatrische Grundlagenforschung Zusammenhänge zwi­ schen neurobiochemischen Vorgängen (Neurotransmittersyste­ men) und klinischen Phänomenen aufgedeckt, aber es fehlt das 45


Die T riebpathologie der Schicksalsanalyse

Verständnis des direkten funktionalen Konnexes zu d en einzelnen psychischen Funktionen. Dies wird jedoch a ufgrund des triebpsy­ chologischen Denkens erklärbar, dann nämlich, wenn wir die Doppelnatur der Triebfunktion erkennen (vgl. 5). Subjektives depressives Erleben und objektive Symptome lassen sieb, von der biochemischen S eite h er gesehen, großenteils als Folge der Nichtverfügbarkeit von Neurotransmittern (Serotonin und Noradre­ nalin) erklären und durch entsprechende Psychopharmaka beein­ flussen (MAO-Hemmer und Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, SSRI). Auf dieser Ebene wird biochemisches und psychisches Geschehen als Ausdruck einer einheitlichen somatopsychischen Matrix verstehbar (Seidel 1996). Durch die Kenntnis der Triebstrebungen +k und +d, deren verstärktes Wirken an der Basis jeder D epressionsentstehung liegen, wird das Krankheitsver­ ständnis des Depressiven vertieft und die Dichotomierung in ein e rein somatogene und eine rein psychogene Verursachung vermeid­ bar, w as für die Indikation der Therapie relevant ist: analytische oder Gesprächstherapie, allein oder kombiniert mit Antidepres­ siva? Nie jedoch Psychopharmaka ohne gleichzeitige Psychothe­ rapie. 8.1.9 Depression in Triebpsychologie und Psychoanalyse Das Testsyndrom der Depression: -s +!k +!d +m, entspricht der Freud'schen Hypothese der Depressionsentstehung (Freud 1913I9I7)-

Seine Kernelemente sind eindeutig und werden sowohl

durch die ETD als auch durch die klinisch-psychologischen Erhe­ bungen bestätigt; sie weisen auf eine starke konstitutionelle Basis hin. Das psychoanalytische Modell berücksichtigt aber vielmehr den exogen-traumatischen und psychogenetischen Aspekt als den konstitutionellen. Daß letzterer jedoch von größter Bedeutung ist, wird triebpsychologisch erhärtet und durch die psychopharmakotherapeutischen Effekte bestätigt. 46


Psychologie und Pathologie der einzelnen Triebe

8.1.10 Die Zeit als Wertobjekt - Die typische Veränderung des Zeitgefühls bei den Stimmungsstörungen Sowohl in der Depression als auch in d er Manie spielt die Bezie­ hung zur Zeit eine fundamentale Rolle: während der Depressive an ihr hängt, sie zurückhalten will (retentio), verschleudert der Mani­ sche sie, so wie die Objekte, u nd strebt sinnlos nach vorn, wie er nach neuen Objekten hascht (protentio). Keiner der beiden Patien­ ten ist p räsent (vgl. pra esentatio; Husserl; Binswanger i960; vgl. auch Dürckheim: Die Ü bung der Präsenz - Das Sein im Hier und Jetzt; Dürckheim 1954). Der Depressive lebt nicht in d er Gegen­ wart und noch weniger in der Zukunft, sondern nur in der Ver­ gangenheit. Seine O bjektverlustintoleranz ist jedoch nicht auf die Verstärkung des d-Faktors und damit auf den faktischen Objekt­ verlust begrenzt, sondern sie bezieht sich auch auf den introjektiven Objektbezug (+!k). Die ausgesprochen starke Introjektionstendenz, das große nuancierte Erinnerungsvermögen solcher depressiver - meist hochdifferenzierter - Menschen lassen sie n ie vergessen und zwingen sie, dauernd und schmerzerfüllt in der Retrospektive zu leben, am Verlorenen zu hängen, wissend, daß es nie je ersetzt werden kann. Beispiel: Eine ältere depressive Patientin hat vor einigen Jahren ihre sehr alte Mutter verloren, die sie bei sich gepflegt hatte. Die Trauerphase ging in eine schwere depressive Reaktion über, in der sich die Patientin während langer Zeit - und in der aktuellen Therapie nach mehreren Jahren wieder erneut - mit allen Details des Sterbeprozesses ihrer Mutter beschäftigte. Die trockene Reaktion einer ersten Therapeu­ tin, «sie müsse halt den Tod als Teilaspekt des Lebens akzeptieren», ist an sich nicht unrichtig, war aber bei der Patientin in diesem Mo­ ment nicht angebracht und veranlaßte sie - verstehbar - zum sofor­ tigen Abbruch jener Therapie. Erst das lange dauernde, einfühlende Mitgehen in der neuen Therapie mit dem Bedürfnis der Patientin, al­ le diese introjizierten Bilder ihrer Mutter immer wieder zu evozieren,

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Die Triebpathologie der Schicksalsanalyse

brachte Hilfe. In einer spateren Phase der Therapie begann die Pati­ entin, sich intensiv mit ihrem während des zweiten Weltkrieges in Rußland gefallenen Vater zu beschäftigen. Sie wollte unbedingt sein Grab in Rußland auffinden und machte zu diesem Zweck mehrere Reisen an mögliche Orte. Auch dies mußte mit der Patientin bis ins Detail miterlebt werden. Dadurch wurde erst die Verarbeitung ihrer chronischen Depression möglich (ohne Antidepressiva). Mehr und mehr wurde die Patientin nun, bei gleichzeitiger Aufnahme von spi­ rituellen Aspekten in das Gespräch, befreit und offen für Neues. Von sich aus fing sie an, der Gemeindeschwester in der Betreuung alter Menschen zu helfen und gestaltete so ihre Leidenstendenz um zum Mitleiden (Operotropismus). Bei dieser Patientin ist charakterologisch ein passiophiler Wesenszug nicht zu übersehen.

Das exogene Verlustelement muß aber nicht ein Objektverlust im eigentlichen Sinn, es kann auch ideeller Natur sein: Nichterfüllung eines großen Wunsches, Nichterreichen eines Ideals oder Ziels, Verlust von Freiheit, Ehre, Anerkennung, Karriere, kurz: eine to­ tale Desillusionierung (vgl. Beispiel in 8.4.6). 8.1.11 Die enge Beziehung zwischen den Triebbedürfnissen «d» und «k» An dieser Stelle dr ängt es sich auf, die nahe Beziehung zwischen dem Faktor d und dem Faktor k z u zeigen. Sie sind nicht v onein­ ander zu trennen, auch wenn sie theoretisch klar voneinander unterschieden werden. Während die d-Funktion den faktischen Objektbezug herstellt, so entsteht über die +k-Strebung ein introjehtiver Wahrnehmungsbezug zur Objektwelt (Introjekte, Wahr­ nehmungsbewußtsein, Orientierung in Raum und Zeit, Zeitgefühl, Wertbewußtsein). 8.1.12 Zum Phänomen der Entfremdung (vgl. auch 8.4 Der idnrieb) Ein besonderes Ichphänomen, das auch im Rahmen der Depressi­ on erwähnt werden muß, ist das der Entfremdung. Ich interpretie48


Psychologie und Pathologie der einzelnen Triebe

re es als einen unglücklichen «Selbstheilungsversuch» im Sinne ei­ nes Vergessenwollens, einer Ausschaltung des Verlustbewußtseins und des Schmerzes, eine Distanzierung vom äußeren und inneren Leiden. Dieser Vorgang ist aber als solcher problematisch und kann selber pathogen werden, denn mit der Entfremdung des Schmerzerlebnisses kann auch die ganze Wahrnehmungswelt aus­ geschaltet werden. In der Ichanalyse hat Szondi das komplemen­ täre Ichbild Sch + 0/Sch-± (depressive Introjektion/Entfremdung) beschrieben, was klinisch mit manisch-depressiven Zuständen ver­ wechselt werden könnte. Dabei wird die ichhafte «Kapitalisie­ rungstendenz» des Depressiven mit einem manischen Zustand gleichgestellt, während die Entfremdungsphase mit dem typischen Sich-Verstecken und Im-Bett-Bleiben, der Inaktivität und Distan­ zierung von der Welt mit einer depressiven Phase verwechselt wird (Entfremdungsbild Sch-±). 8.1.13 Die Spiritualität als Ressource Letztlich sind wohl spirituelle Ressourcen die einzige verbleibende Möglichkeit des Menschen, die unfaßbar bleibende Tatsache eines schweren Verlustes zu ertragen (Seidel 1979). Bei dieser Thematik wird die Begrenztheit der rein mechanistisch-materialistischen Denkweise der klassischen Psychoanalyse und großenteils auch der modernen akademischen Psychologie sowie einer auf die Psychopharmakologie eingeschränkten Psychiatrie deutlich. All d em ge­ genüber hat Szondi die spirituelle Dimension in sein Menschenver­ ständnis und in sein therapeutisches Denken einbezogen (vgl. Teil

v, 3.7).

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Die T riebpathologie der Schicksalsanalyse

8.2 Der Sexualtrieb (Vektor S) 8.2.1 Triebvermischung Ein «normales» Sexualleben im engeren Sinn ist nur möglich, wenn die beiden konstituierenden Faktoren des S-Triebes, das Eros- o der Zärtlichkeitsbedürfnis (h) und das Triebbedürfnis der Aktivität (s), a ufeinander abgestimmt sind, d.h. sich gegenseitig steuern und bremsen (Triebvermischung nach Szondi) und mitein­ ander legiert sind als lebensschaffendes und lebenserhaltendes Funktionspaar (Szondi 195z und 1984). Eros ist die Triebkraft jeg­ licher Anziehung und Bindung zum Lebenden, sowohl der indivi­ duellen Personenliebe (+h) als auch der kollektiven Menschheits­ liebe (-h). Das Wesen des Faktors s ist A ktivität und Aggression (lat. aggredi = an etwas herangehen), aber auch das Bemächtigungsbedürfnis und das Bedürfnis einzudringen, zu trennen oder zu spalten (+s). Die Kehrseite davon ist die Passivität bzw. die Wen­ dung der Aktivität und Aggressivität gegen sich selbst, die Hinga­ be, die Unterwerfung und das Gewährenlassen (-s). Beide Tenden­ zen beziehen sich nicht nur auf das Geschlechtsleben (sexuelle Aktivität oder Passivität), sondern auf das Leben überhaupt, auf alle Tätigkeiten und auf den Beruf. Das +s-Bedürfnis ist die trieb­ hafte Grundlage für die Aktivität und als solche notwendiger Be­ gleiter des Eros, der sich ohne Faktor s niemals realisieren könnte. Ohne die gleichzeitige mildernde Wirkung des Erosfaktors aber würde die Aktivitätsfunktion destruktiv. Durch die Triebvermi­ schung werden beide Komponenten zusammen zu e twas Neuem, so wie die Legierung zweier Metalle etwas Neuartiges ist. Liebes­ gefühl und Liebesbedürfnis werden durch den Triebgegensatzpart­ ner +s realisiert; ohne diesen bliebe die Liebe eine romantische Sehnsucht. Die Triebvermischung ist die Voraussetzung für die Er­ füllung des biologischen Zwecks der Fortpflanzung. Schon Freud hatte die N otwendigkeit der Triebvermischung erkannt: die «prä50


Psychologie un d Pathologie der einzelnen Triebe

genitalen Partialtriebe», wie er die elementaren Triebstrebungen nannte, sollten vermischt und unter den Primat der Genitalität ge­ stellt werden. Doch wie ist dies heute, in Kenntnis der Triebpsy­ chologie Szondis, zu verstehen? Diese Sexualität i.e. S., d er sog. «Sex», sollte in die Gesamt­ persönlichkeit integriert und damit humanisiert werden: Vorerst die Einbettung in ein gesundes, selektives Kontaktleben als Vor­ aussetzung für die Bindungsfähigkeit. Dann die partizipative Ver­ einigung, d. h. die geistige Kommunikation sowie die gesunde Objektbindungsfunktion, die persönliche Wertschätzung und An­ erkennung des Partners. Die Aggressivität kann direkte Manifestation einer elemen­ taren gesteigerten +s-Strebung (+!!s) sein; sie kann situativ oder durch andere Triebelemente ausgelöst werden, wie durch gestaute grobe Affekte (-e; Neid, Eifersucht, «Kain der Totschläger») sowie durch Frustration und Enttäuschung (+!!m). Im Zusammenhang mit der ichhaften Destruktionstendenz im Sinne der Entwertung aller Werte, des Negativismus (—! k) besteht oft die Gefahr der Selbstzerstörung, des Suizids. Alle elementaren Funktionen des Triebsystems sind theore­ tisch und definitorisch klar voneinander zu unterscheiden. Das Erosbedürfnis (+h) darf nicht mit dem Partizipations- (-p) oder dem Kontaktbedürfnis (+m) verwechselt werden. D as Eros- o der Zärtlichkeitsbedürfnis ist ganz von dieser Welt, b ezieht sich kon­ kret auf ein physisches Wesen oder auf einen ästhetischen Wert. Das Partizipationsbedürfnis hingegen ist die Grundlage des «draht­ losen», rein geistigen Kommunizierens, der Verschmelzung im grenzenlos adualen Zustand. Die Sublimationsform des Eros ist die kollektive Menschenliebe, die des Partizipationsbedürfnisses ist die Religiosität, der Glaube.

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Die Triebpathologie der Schicksalsanalyse

8.2.2 Sexualprobleme Sexualprobleme, die nicht unbedingt in den Bereich der Psychopa­ thologie im engeren Sinn gehören, kann man in einem breiten Spektrum zwischen Psychopathien, Neurosen (neurotische Impo­ tenz, Frigidität) und Hypersexualität o der suchtartiger Sexualität (Satyriasis und Nymphomanie) unterbringen; sie s ollten psycho­ dynamisch differenziert werden. Hypersexuelles Verhalten kann auf eine reine Hypertension im S-Trieb zurückzuführen sein, ohne daß eine eigentliche Suchtstruktur vorliegt (S +!! +!; bei Frauen S -! -!!). Die suchtartige Sexualität dagegen hat ihre triebpsycho­ logische Grundlage in Haltlosigkeit und Haschen nach neuen Objekten (Kontaktbild CO-!). Hinzu kommt, im Rahmen eines hypomanischen oder manischen Syndroms, die Tendenz zur Ent­ wertung aller Werte (—!k). N icht selten ist hypersexuelles Verhal­ ten a uch ganz einfach Ausdruck eines großen, unbefriedigten Akzeptationswunsches (+!m). Es kommt auch im Zusammenhang mit einer schizoformen Ichstörung oder Debilität vor. Gewisse Störungen können auch sekundär sein, so Impotenz und Frigidität bei D epressionen und Psychosen, bei sc hweren or­ ganischen Erkrankungen und Alkoholismus oder, als Nebener­ scheinung, bei P sychopharmakotherapien, vor allem mit antipsy­ chotisch wirkenden Neuroleptika und Antidepressiva. 8.2.3 Triebentmischung Dieser an sich allgemeine Begriff k ann am besten im Rahmen des Sexualtriebes erläutert werden; er wurde durch Freud auch in die­ sem Sinn und Zusammenhang gefunden. D urch die Entmischung der Triebfaktoren h und s ist die angreifende, destruierende, quä­ lende und zertrennende, die tötende Wirkung des Aggressionsfak­ tors losgelöst von ihrem Gegenpart, dem verbindenden, abrunden­ den und abschwächenden Einfluß des Faktors h. Analoges gilt von der -s-Strebung. Bei der Triebentmischung manifestieren sich die 52-


Psychologie und Pathologie der einzelnen Triebe

liberierten Strebungen in verschiedener Weise: von Persönlichkeits­ varianten und Verhaltensweisen des Alltagsmenschen bis in den Bereich der Pathologie hinein; also in Unterdrückung, Ausnüt­ zung, Erniedrigung und Mobbing sowie in (psychisch-)sadistischem Verhalten im R ahmen der sadomasochistischen Dualunion, einer häufigen, abwegigen Beziehungsform (vgl. 8.2.5 Die Sexual­ psychopathien). 8.2.4 Gewalttätigkeit und Kriminalität aus psychopathologischer Perspektive Die kriminelle Gewalttätigkeit im Alltagsleben gehört meist zu den Sexualpsychopathien und damit in den psychopathologischen Bereich/Den Gewaltverbrechern fehlt oft die Fähigkeit zur ethisch­ moralischen Zensur, so wie wenn ein Organ nicht vorhanden wäre, weshalb hier weder Einsichtsfähigkeit noch Reue zu erwar­ ten und Vorstellungen von therapeutischer Beeinflußbarkeit, von «Besserungsfähigkeit» als naiv zu bezeichnen sind. Man nannte sie früher «gemütlose Psychopathen» (Kurt Schneider) und ihre Krankheit «moral insanity1». Man muß sich, angesichts der häu­ figen G ewalttaten, vor allem an Frauen und Kindern, fragen, ob Psychiatrie und Rechtsprechung weiterhin Triebpsychologie und Triebpathologie beiseite lassen d ürfen. Ganz im Gegensatz zu den sadistischen Gewaltverbrechen steht der Affekttotschlag. Hier ist das primum movens weder eine Hypertonie im Faktor s noch eine krankhafte Unfähigkeit zur Sexualbeziehung, sondern eine Nei­ gung zur massiven, paroxysmalen Affekterregung und -entladung, wobei die Ichfunktionen kurzdauernd außer Aktion gesetzt wer­ den. Im Unterschied zum skrupellosen Gewaltverbrechen aber folgen bei diesen Affekttaten die Schuldgefühle und Gutmachungstendenzen auf dem Fuß, eine typische Manifestation der überstar1 «moral» im englischen Sprachgebrauch entspricht unserem Wort «ethisch» 53


Die Triebpathologie der Schicksalsanalyse

ken ethischen Zensur beim paroxysmalen Menschen und ein wich­ tiges Kriterium in der Differenzialdiagnostik. 8.2.s Die Sexualpsychopathien (Inversion und Perversionen) Unter diesem Begriff werden die Inversion und die Perversionen zusammengefaßt - sowohl klinisch als auch psychodynamisch völ­ lig ve rschiedenartige Störungen, die sich aber oft überlagern und deshalb auch oft miteinander verwechselt werden. Die Ursachen von Sexualstörungen sind vorerst in der individuell spezifischen Triebkonstitution zu suchen, also in der erbgenetischen Determi­ nierung. Doch diese konstitutionelle Basis wird durch exogene Faktoren wie Prägungen, Introjektions- oder Identifikationsme­ chanismen und traumatische Erlebnisse a usgelöst, verstärkt oder geformt. Letztere werden aber oft durch Verdrängung abgewehrt. Die Inversion Inversion ist ein psychodynamischer Begriff, der nicht mit dem einer manifesten Homosexualität gleichzusetzen ist. Auch hier muß wieder auf die grundsätzliche Verschiedenheit der funktio­ nal-triebpsychologischen und der klinisch-phänomenologischen Denkweise hingewiesen werden. Ist das Zärtlichkeitsbedürfnis nicht vom Aktivitätsfaktor (diagonale Spaltung; S+-) begleitet oder ist es unverhältnismäßig gesteigert (S+! 0), so liegt beim Mann eine Inversion vor, Grundlage für eine mögliche, manifeste Ho­ mosexualität. Die Persönlichkeit wird weich und unmännlich, und das Verhalten zeichnet sich durch Inaktivität, Mangel an Initiative und Durchschlagskraft aus, was ebenso für das Alltagsleben allge­ mein wie für die Sexualsphäre im speziellen gilt. Diese Dynamik wird verstärkt durch ein weiches, feminines Ich (Sch0± oder Sch++). So spricht Szondi beim Mann von einer «homosexuellen Spaltung», das heißt von einer Triebzielinversion, bei der Frau von «übertriebener Passivität in der Liebe» (Szondi 1972, 92). Es darf 54


Psychologie und Pathologie der einzelnen Triebe

nie übersehen w erden, daß Homosexuelle nicht selten im Hinter­ grund triebpsychologische Zeichen einer kainitisch-sadistischen Veranlagung haben. Die relativ häufigen Tötungsdelikte im ho­ mosexuellen Milieu - die auch der Kriminologie bestens bekannt sind -, lassen sich so triebpsychologisch erklären. Eine ausgepräg­ te homosexuelle Veranlagung ist dem Betreffenden meistens be­ wußt und wird in der Regel auch ohne Hemmungen gelebt. Sie kann indessen auch abgewehrt und deshalb unbewußt sein. Als solche kann sie die Lebensqualität ihres Trägers beeinträchtigen oder andere seelische S törungen bedingen. Das folgende Beispiel soll d ie Fragwürdigkeit einer rein klinisch-phänomenologisch ori­ entierten Diagnosestellung zeigen und ebenso die N otwendigkeit, quer durch die Triebpsychologie bzw. die Psychopathologie zu denken. Beispiel: Einer unsere r Patienten kam wegen ein er schweren Verkehrsphobie in Behandlung: Die Benützung eines öffentli chen Verkeh rsmittels war für ihn absolut unmö glich, so daß er gezwungen war, s ich täg­ lich nach Büroschluß mit dem Taxi nach Hause fahren zu lassen. Die dadurch verursachten Kosten ließen ihn in große Schulden kommen. Bei großen Personenansammlungen fühlte er sich besonders unwohl und reagierte mit starken phobischen Symptomen. Immer wieder mußte er sich für eine Zeit abwenden und pro forma in ein Schau­ fenster hine in schauen. Die analytisch orientierte Psychotherapie in Kombination mit Psychopharmaka brachte vorerst keine Besserung. Die Idee, es könnte si ch um eine völl ig unbewußte , homoerotisc he Gefahr handeln, wurde durch die ETD bestärkt: hier verriet sich die Inversion. Erst diese Kenntnis und die langsame und sorgfältige Hin­ führung des Pati enten zur Bewußtw erdung und Akzeptat ion seiner abgewehrten homosexuellen Problematik brachte eine Besserung: die Phobie verschwand - als solche unbehandelt -, weil sie eben nur Folgeerscheinung und Symptom der besagten Triebproblematik war. Im zweiten Teil der Therapie mußte dem Patienten geholfen werden, 55


Die Triebpathologie der Schicksalsanalyse

seine Ve ranlagung zu akzeptiere n, um nunmehr auch menschliche Beziehungen herstellen zu können - heterosexuelle wie homosexuel­ le, was ihm zuvor unmög lich gewesen war. An diesem Fallbeispiel kann die Bedeutung der triebdynamischen Diagnose gezeigt werden. Sie verriet hier die eigentliche S törung, welche kaschiert war durch das vordergründige Symptom einer Pseudophobie. Nur dieses kurieren zu wollen - z. B. durch eine kognitive Verhaltenstherapie - wäre sinnlos gewesen. Die Perversionen Zur gesunden Entwicklung der Persönlichkeit gehört die reife Befriedigungsmöglichkeit des urmenschlichen Bedürfnisses nach Ergänzung, Ganzheit und Vollkommenheit im Rahmen einer partizipativ-dyadischen Verbindung mit Einschluß von Eros und Se­ xualität (vgl. 8.2.1). Dies ist tra gischerweise dem perversen Men­ schen n icht möglich. Freud hatte das Wesen der Perversion darin gesehen, daß «die prägeniralen Partialtriebe» nicht unter den Primat der Genitalität gestellt werden können und vom eigentlichen Sexualziel abwei­ chen; dies sowohl im Sinne von «anatomischen Überschreitungen» der für die Geschlechtsvereinigung bestimmten Körpergebiete als auch im Sinne eines Verweilens auf vorübergehenden Teilabläufen, die normalerweise auf dem Weg zum endgültigen Sexualziel rasch durchschritten werden sollten. Diese Feststellung Freuds ist un be­ stritten, doch ist sie ke ine eigentliche Erklärung, denn sie läßt die Frage offen, warum keine Triebvermischung zustande kommt. Aus schicksalsanalytischer Sicht läßt sich dazu folgendes sagen: die psy­ choanalytische Theorie vernachlässigt den Aspekt der spezifischen Stärke der einzelnen Triebelemente. Diese ist em pirisch, d.h. mit der ETD nachweisbar. Sowohl der spezifische erhöhte Triebdruck als auch die Unfähigkeit zur Legierung sind konstitutionell vorge­ 56


Psychologie und Pathologie der einzelnen Triebe

geben, aber sie werden durch exogene Momente verstärkt. Zwar ist ein starker Triebdruck in der Aggressionsfunktion (+!!!s) ein wichtiges Element an der Basis einer sadistischen Veranlagung, aber dies ist noch kein Sadismus im Sinne der Perversion, sondern stellt erst die Tendenz zum «Alleingang» dieser Triebfunktion, al­ so zur Triebentmischung fest. Doch erst die spezifische Ichstörung der Unfähigkeit zur normalen Inbesitznahme des Liebesobjektes und damit die Unmöglichkeit, im Liebeserlebnis zu Ruhe und Be­ friedigung zu kommen, macht die Kernproblematik der Perversion aus. Ich sehe jedoch unter dieser Introjektionsstörung die noch tie­ fer liegende Partizipationsunfähigkeit und damit die eigentliche Störung des Perversen darin, daß der Schwerpunkt in s einem Ich auf der introjektiven Seite liegt, die Schwäche aber primär auf der partizipativen Ebene, die ja letztlich an der Basis all er seelischen Störungen liegt. Die entwicklungspsychologische Theorie Lreuds ist u nbestrit­ ten, nur sollte sie durch die Berücksichtigung der höheren Ich­ funktionen ergänzt werden. In diesem Sinne gehen auch die Daseinsanalytiker über die Lreudsche Theorie hinaus. Oswald Schwarz sieht in der Perversion eine « qualitative Deformation der Partnerschaft» und meint: «es sei nicht nur der Sexualtrieb der Per­ versen pervertiert, sondern die ganze Art des In-der-Welt-Seins» (Szondi 195z, 365 f.). Hier, wo also die Problematik in der Ge­ samtpersönlichkeit des pervers Kranken gesehen wird, finden wir den Anschluß an die schicksalsanalytischen Theorie der Perversio­ nen. Nach Szondi sind Perversionen «schwere Ichstörungen von ganz spezifischer Natur» (Szondi 1952, 367). Er stellt zwei Krite­ rien auf: i. Der pervertierte Mensch kann nur auf dem Weg der Sexualität versuchen, sein Ergänzungsbedürfnis zu befriedigen, m. a.W. er ist nicht fähig, die ursprünglichen und allmenschlichen 57


Die Triebpathologie der Schicksalsanalyse

Macht-, Besitz- un d Ergänzungsbedürfnisse in ein er ichhaften Beziehung zu leben. 2.

Er ist unfähig zur ichhaften Inbesitznahme des «Sexualob­ jekts»: Störung der Objektidealfunktion des Ichs.

Der perverse Fetischist ist zu einer ganzheitlichen Vereinigung mit einem Sexualpartner unfähig und muß sich mit einem Teilersatz zufrieden geben. Ihm genügt die psychische Introjektion allein nicht, um das Gefühl der Sicherheit der Besitznahme zu erlangen. Er braucht noch einen «materiellen» Teil des Sexualobjekts, um es in concreto zu besitzen und über diese Bseudo-Beziehung orgas­ musfähig zu s ein. Diese Veranlagung ist i nsofern tragisch, als ein solcher Mensch nie zur Ruhe kommt, immer allein ist u nd nie die beglückende Beruhigung einer personalen Beziehung erfährt. Ein Kranker kann auch auf indirektem Weg straffällig werden, weil er die für seine perverse Praxis notwendigen Ersatzobjekte entwendet. Beispiel: Ein Patient hatte als Knabe seine Pflegemutter geliebt und während langer Zeit die von ihr zum T rocknen aufgehängte Unterwäsche als Onaniephantasie gebraucht. Später hatte er als Handwerker Zugang zu Waschküchen un d Trocknungsräumen, wo er anfing, Damenwä­ sche zu entwenden. An die Stelle der früheren Liebe zur Pflegemutter stellte sich die pe rverse Fixation an die neuen Fet ische. Sein ganzes Sexual- bzw. Liebesleben blieb auf die fetischistische Sphäre be­ grenzt. Schlie ßlich wurde er straffällig wegen Diebstahls. In der anschließenden Psychoth erapie konn ten diese Zusammenhänge be­ wußt gemacht und auch im Gerichtsgutachten dargestellt werden, so daß das Strafmaß sehr gering ausfiel. Zwischen einem solchen, harm­ losen Perversen und einem schwer kriminellen Gewaltverbrecher be­ steht natürlich in mehrfacher Hinsicht ein großer Unterschied. Weit gravierender und hochpathologisch ist die Ichstörung beim Sadisten: er hat die Objektidealfunktion völlig verloren und de58


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struiert das Liebesobjekt, weil er es nur nach dessen Zerstückelung in Besitz zu nehmen vermag. Eine andere Art der Perversion ist der Exhibitionismus. Auch hier ist die Inbesitznahmefähigkeit gestört. Als Ersatz für eine nor­ male Orgasmusfähigkeit versucht der perverse Exhibitionist, Frau­ en durch Überraschung in Schreck und Panik zu versetzen, Vor­ aussetzung für ihn, zum Orgasmus zu kommen. Auf gleiche Weise pflegte im Mythos Pan durch sein überraschendes Auftreten F rau­ en, Nymphen, in Panik zu versetzen - ein Beispiel auch für die nahe Beziehung zwischen dem Paroxysmal-, d.h. dem Überra­ schungstrieb und der Sexualität. Sowohl die Theorie von Freud als auch diejenige von Szondi können nur verstanden werden, wenn man sie auf eine biopsycho­ logische Grundlage stellt und sich immer wieder vergegenwärtigt, daß diese Basis beim Menschen in fast allen Bereichen noch stark durchscheint. Die Tierbeobachtung zeigt, daß die Bemächtigungstendenz, ja das Unterwerfen und das Gefügigmachen des Weib­ chens durch das Männchen, ein offensichtlich biologisches Faktum ist. Beim M enschen wird dies durch den höherpsychischen Über­ bau kulturell und individuell in verschieden starkem Ausmaß über­ lagert. Von dieser Perspektive Szondis aus ist die Verwendung des Begriffes «Bemächtigungsbedürfnis» zu verstehen: Es g ehört, ne­ ben vielen anderen Modalitäten des Objektbeziehungslebens, in den Bereich der k-Funktion. Beim perversen Menschen liegt offen­ sichtlich auch in der Ichorganisation eine so schwere Störung vor, daß nicht nur das integrative Funktionieren sämtlicher p rägenita­ ler Elementarfunktionen und deren Stellung unter dem Primat der Genitalität gestört ist (Freud), sondern auch die Integration der ge­ nitalen Sexualität in die ganze Persönlichkeit. Die Unfähigkeit zur reifen, ichhaft-partizipativen Beziehung zwingt ihn zur Überbe­ wertung des ichhaften Besitzdenkens und Isolierung der sexuellen Dimension. Das ist es, was Szondi mit der «sexuellen Ausschließ­ 59


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lichkeit» des Ergänzungs- und Bemächtigungsbedürfnisses meint. Es ist an zunehmen, daß die Ätiologie der Perversionen wesentlich durch die problematische Ich- o der Persönlichkeitsstruktur gege­ ben ist. Zweifellos aber können auch traumatische Elemente hinzu kommen und diese zur Manifestation bringen. In diesem Sinne hat Szondi eine Theorie entwickelt: die ad-hoc-Introjektion einer trau­ matischen Situation in d er Entstehung von Perversionen. Im Zen­ trum steht die in derJugend erfolgte Introjektion einer Verführung. Die gesamte Verführungssituation wurde hyperintrojektiv (+!!k), «mit Stumpf und Stiel» einv erleibt und mit allen, auch synästhetischen Eindrücken, internalisiert wie in einer photographischen Momentaufnahme: Ad hoc-Introjektion (Szondi 1963a). Doch wie immer in d er psychopathologischen und diagnosti­ schen Beurteilung sollten nicht nur die pathologischen Extremfäl­ le gesehen werden, sondern auch die weniger krankhaften, die «minor»-Formen (vgl. Teil V). Beispiel: Ein Patie nt wurde wegen Exhibierens straffällig und zur Psy chothe­ rapie überw iesen. Seine Störung ist nic ht eine id ealtypische i.S . des szondischen Perversionsverständnisses, sondern eine Art banaler, un­ tauglicher Versuch der Werbung. Wenn er z. B. in einem Res taurant glaubte, eine Frau schau e ihn an und se i an ihm inter essiert, pf legte er ihr «mehr» zu zeige n, genau gesa gt zu exhibieren - dies in der Meinung, er könne sie im Sinne der Werbung «anmachen». D ies ist ein ganz anderer Modus als der vorher erwähnte, von Szondi be­ schriebene, eigentliche Exhibitionismus, bei dem das Überraschungs­ moment mit dem Ziel, die Frau in Panik zu versetzen, die zentrale Be­ deutung hat. In der Gesprächsthe rapie (es handelte sich nicht um eine Psychoanalyse) konnte ihm dann leicht Untauglichkeit und Kontraproduktivität seines Verhaltens aufgezeigt werden - jetzt hat er eine sehr gute Partnerschaft. Perversionen spielen in der Forensik eine sehr große Rolle. Bedau­ 60


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erlicherweise wird auch heute noch die Bedeutung d er anlagebe­ dingten Trieb- und Persönlichkeitsanomalie gegenüber den exoge­ nen Momenten stark vernachlässigt. Demgegenüber werden die exogenen Faktoren und die therapeutischen Möglichkeiten auf un­ realistische (naive) Art weit überschätzt. 8.3 Der Affekttrieb oder Paroxysmaltrieb (Vektor P) Mit der Konzeption des Affekttriebes schuf Szondi die Grundlage für das Verständnis des Affektlebens und für die funktionale Arti­ kulierung ihrer vielfältigen Erscheinungsformen im menschlichen Alltagsverhalten und in der Psychopathologie. Die Doppelbezeich­ nung «Affekttrieb» und «Paroxysmaltrieb» erklärt sich durch fol­ gende Charakteristika, die diesem Trieb eignen: i. Die Affekte äußern sich als solche im normalen Alltagsleben kontinuierlich und begleiten sämtliche psychischen Akte und z. 3.

4.

Reaktionen. Die Affekte werden ihrerseits regelmäßig von neurovegetativen Erscheinungen begleitet. Die groben Affekte haben die Neigung, sich aufzustauen (Paroxysmus), um sich, wenn notwendig, bei situativer Auslösung plötzlich zu entladen. Dabei können neurale Reflexe und Instinktbewegungen aus­ gelöst werden.

8.3.1 Ethik und Moral Die beiden elementaren Affektbedürfnisse e und hy regeln das Af­ fektleben des Einzelnen und finden Ausdruck in den groben und zarten Gefühlsäußerungen, welche das Verhalten und Reagieren begleiten und jeder H andlung einen Gefühlston, Wärme und Le­ bendigkeit verleihen. In ihrer wesentlichen Bedeutung für die psy­ chosozialen Beziehungen können sie einen sowohl menschenver­ bindenden als auch menschentrennenden Effekt haben. 61


Die Triebpathologie d er Schicksalsanalyse

Die Triebstrebung +e bildet - zusammen mit der Bewußtseins­ fähigkeit des Menschen - die Grundlage für das ethische Verhalten im Sinne des «Du sollst nicht töten» der mosaischen Gesetze. Die Triebstrebung -e liegt den groben «kainitischen» Affekten, wie Wut, Haß, Zorn, Rache, Neid, Eifersucht zugrunde. Kain ist d er Archetypus des Affekttäters, des Totschlägers. Neben der psycho­ logischen hat die Triebstrebung -e auch eine psychobiologische Be­ deutung im Sinne des individuellen Selbstschutzes. Der Mensch kommt aufgrund der Bewußtwerdung seiner ethischen Doppelna­ tur in das Dilemma zwischen dem Guten und dem Bösen (Szondi 1969 und 1973a). Er wird zur bewußten Stellungnahme veranlaßt, denn das soziale Zusammenleben macht Verhaltensregeln und -normen notwendig, wie sie schon bei im S ozialverband lebenden Tierarten vorkommen: die Sekundärtriebe nach R. Brun (1954). Die ethischen Schranken scheinen heute allgemein immer mehr an Bedeutung zu verlieren. In der schicksalsanalytischen Auffassung ist die Moral das Ge­ genstück zur Ethik (Szondi 1969 und i960). Der Faktor hy ist die triebhafte Grundlage der zarten Affekte, welche, sofern sie maß­ voll und adäquat sind, verbindend wirken, in übertriebener oder unechter Weise aber abstoßen. Der Faktor hy bezieht sich sowohl auf einzelne Gefühlsinhalte als auch auf die gesamte Gefühlswelt eines Individuums. Gefühle und Phantasien können neurotisch ab­ gewehrt und als solche unsichtbar werden, sich aber indirekt über Körpersymptome verraten (Konversion nach Freud). Beispiel: Bei einer Patientin wird jedes Mal, wenn das therapeutische Ge­ spräch in die Nähe der von ihr abgewehrten erotischen Seite des Ehe­ lebens kommt, ein kreisrunder, roter Fleck direkt unterhalb des Kehl­ kopfes sichtbar. Der Faktor hy steht auch im Zusammenhang mit dem Schutz- und 6z


Psychologie und Pathologie der einzelnen Triebe

Abwehrverhalten sowie mit dem Sexualleben, wo durch das Zei­ gen der Gefühle und Emotionen (+hy) das Gegenüber aufmerksam gemacht, gereizt, herausgefordert oder durch Demonstration der eigenen Schönheit und Größe beeindruckt werden soll - sprich­ wörtlich ist das Werbe verhalten des Auerhahns (vgl. Beispiel 2 in 8.2.5, Ab sehn. Perversionen). In karikierter Form erscheint solches Verhalten beim Menschen als manieriert, exhibitionistisch, hyste­ risch oder heboid und ist, wenn es persistiert, Zeichen von Unreife oder Krankhaftigkeit, im pathologischen Extremfall Teil des hebephrenen Syndroms. Verhaltenheit der Gefühle (PO-!), die Tendenz, sich zu verstecken, Scham oder schamhafte Ängstlichkeit zeigt sich auch in Unoffenheit, Verlogenheit oder, im Extremfall, in der Pseu­ dologia phantastica. Eine übertriebene affektive Entäußerungsten­ denz empfinden wir als unangenehm, das Fehlen von Resonanz aber befremdlich, unverbindlich, vielleicht sogar als unmenschlich. Eine Maske mit unbeweglichen Gesichtszügen bewirkt beim Klein­ kind Angst. Die klinische Psychiatrie kennt den Ausdruck der affektiven Steifheit oder der Affektarmut bei schizophrenen Perso­ nen. Eugen Bleuler sprach hier vom Fehlen des affektiven Rappor­ tes. 8.3.2 Schuldproblematik Weit mehr als der Alltagsmensch leidet der Paroxysmale unter der Schuldproblematik, wobei Schuldgefühle und Gutmachungstendenzen als Reaktion auf die tötende Gesinnung zu verstehen sind. Es kann sich eine eigentliche «Schuldneurose» mit notorischen Gutmachungstendenzen, Zwangszügen, Korrektheitsfimmel und förmlicher Umständlichkeit entwickeln. Eine übertriebene Gut­ mütigkeit, gutmachendes Verhalten und HyperSozialität wird von der Umgebung meist als unecht erkannt und als unglaubwürdig oder abstoßend empfunden. Diese Verhaltensweise der «Verkeh­ rung ins Gegenteil» ist typis ch für epileptoide Persönlichkeiten und 63


Die Triebpathologie de r Schicksalsanalyse

im Alltag sehr häufig («abelitische Haltung»), Bei ihnen wirkt triebdynamisch dasselbe Prinzip wie bei den schweren Epilepti­ kern. Szondi unterscheidet aber diese abelitische klar von der mo­ saischen Haltung, welch letztere eine bewußte, reife Verarbeitung des Bösen ist (S zondi 1973a). Eine ungelöste Schuldproblematik ist häufige Ursache für ver­ schiedenste seelische Störungen, wie Schuldneurosen und Schuld­ gefühle im Rahmen des depressiven Syndroms sowie Schuldgefüh­ le, die zu S elbstbestrafungstendenzen führen oder die - projektiv abgewehrt - zu Beschuldigungstendenzen werden. Die Schuldpro­ blematik steht an der Wurzel der meisten Phobien. Nach Szondi ist Schuld- und Strafangst die psychodynamische Grundlage der Hy­ pochondrie: die Furcht, durch Krankheit und Tod gestraft zu wer­ den. Schuldgefühle hängen eng mit Angst zusammen (vgl. 8.3.7 Angst). 8.3.3 Erscheinungsformen der Affekte im Alltag Unproblematisch im Alltag sind direkt ausgelebte feine Affekte, so­ lange sie nicht übertrieben und inadäquat sind oder zur Schau ge­ stellt werden, was durch die Umgebung abgelehnt wird und zur Isolation des Betreffenden führen kann. Entlastung und Befriedi­ gung bringen d ie bejahten, groben Affekte, wenn sie als Reaktion auf einen offensiven äußeren Anlaß — bei ind ividuell verschieden hoher Reizschwelle - ausgelebt werden. Bei gewiss en Menschen (dem homo paroxysmalis) stehen Affektreaktionen aber nicht un­ bedingt in einem direkten, erklärbaren Zusammenhang mit auslö­ senden Ursachen, sondern zeichnen sich durch eine große Autono­ mie aus. Umgekehrt kann eine Person, unfähig zur Entladung ihrer groben Affekte, in affektiven Spannungszuständen ihre Umgebung provozieren, um sich nach deren Reaktion für einen eigenen Af­ fektausbruch zu legitimieren. In solchen Situationen ist oft eine starke Projektionstendenz am Werk. Dieser Verhaltensmodus wird 64


Psychologie u nd Pathologie der einzelnen Triebe

bei schwer epileptoiden Patienten und Epileptikern, aber auch in Alltagsbeziehungen angetroffen. 8.3.4 Neurovegetative Begleiterscheinungen der Affekte Jeder Affekt wird von Reaktionen des vegetativen Nervensystems begleitet. Oft werden nur diese sichtbar; nicht aber die ihnen zu­ grundeliegenden Affekte, z. B. der Angstaffekt, was Bedeutung hat für die Pathologie psychosomatischer bzw. h ysteriformer Erschei­ nungen (vgl. Beispiele in 6.x ). Bei den ersteren zeigen sich in allen Organgebieten und in der Haut neurovegetative Erscheinungen, speziell als Gefäßerweiterung oder -Verengung. Die hysteriforme Symptomatik aber zeigt sich vor allem in Sensibilität, Sensorik und Psychomotorik. An der Basis bei be iden liegt aber eine Affektpro­ blematik, ein paroxysmaler Genotypus, der lebensgeschichtlich oder situativ ausgelöst wird. 8.3.5 Die Abwehr der Affekte Bei der neurotischen Abwehr spielt sich das Geschehen im Indivi­ duum selber ab. Wir wissen seit Freud, daß durch Verdrängung von nicht tolerierten Triebansprüchen, vor allem erotisch-sexuel­ len - und seit Szondi auch speziell von groben Affekten - neuroti­ sche Symptome entstehen. Den Abwehrmechanismen (Hemmung Sch -+, Verdrängung Sch -0, Entfremdung Sch -± und Zwang Sch +0) gemeinsam ist die —k-Funktion, also die Negation; sie wird unbewußt eingesetzt. Demgegenüber führt die bewußte Vernei­ nung nicht zu neurotischen Symptomen. Die Abwehr grober Af­ fekte bringt hystero-epileptiforme Störungen mit sich, während die Abwehr zarter Affekte im Zentrum der Konversionshysterie i. e. S. der Psychoanalyse steht. Als spezielle epileptiforme Abwehr hat Szondi zusätzlich die zwei projektiven Abivehrformen erwähnt: 1. das Ichbild Sch± -, auch Ausreißer-Ich genannt. Die Person «flieht den Ort ihrer Projektionen» (Szondi). z. Projektionsbilder, vor al­ 65


Die Triebpathologie der Schicksalsanalyse

lern Sch 0- oder 0-!. Dabei werden die groben Affekte in die Um­ gebungspersonen projiziert. Hier wird die interpersonale Bezie­ hung zum Austragungsfeld der Dynamik, und die spaltende Kraft der Projektionsfunktion zerstört die z wischenmenschlichen Bezie­ hungen (zunehmende Desozialisierung). Demgegenüber ist die Abwehrform bei schweren Epileptikern nicht nur durch eine Hyperprojektion charakterisiert, sondern auch durch eine vorherr­ schende und verstärkte Negationstendenz (Seidel 1962), was zu einer intrapersonalen Abfuhr der Affekte führt, d. h. zu einer I m­ plosion. 8.3.6 Die Paroxysmalität (Paroxysmus: griech. Stau) Der Paroxysmaltrieb zeichnet sich durch die Besonderheit aus, im aufgeladenen Zustand zu verharren, um jederzeit zu einer allfälli­ gen, situativ bedingten, Auslösung bereit zu sein. Er ist wie eine ge­ spannte Feder, die ihr Potenzial nur bei ei nem gezielten, spezifi­ schen Reiz freigibt. Mit diesem Verhalten unterscheidet er sich von allen andern Triebbedürfnissen, welche sich bei jeder nächsten Ge­ legenheit entladen - es sei denn, sie würden durch eine ichhafte Hemmung daran gehindert. Bei den zwei Triebbedürfnissen des Paroxysmaltriebes handelt es sich also, biologisch gesehen, um ausgesprochen diskontinuierliche, nur situativ, das heißt bei be­ sonderem Bedarf, ausgelöste Funktionen, die ihrerseits wiederum komplexe reflektorische und instinkthafte Mechanismen im Rah­ men von Schutz und Abwehr (vgl. 8.3.9 Biologie des Schutz- und Abwehrverhaltens) in Gang bringen oder mit dem Werbeverhalten im Sexualleben im Zusammenhang stehen. 8.3.7 Angst Angst gehört zum Leben wie die Gefahren, denen jedes Indi vidu­ um fortdauernd ausgesetzt ist. In diesem Sinne ist Angst ein nor­ males biologisches Alarmsignal. Angst ist jedoch nicht nur eine 66


Psychologie und Pathologie der einzelnen Triebe

Reaktion auf äußere, sondern auch auf innere Gefahren; ein wich­ tiges Symptom in der Allgemeinpraxis - der ärztlichen und der psy­ chotherapeutischen. Damit hängt die häufige Verschreibung (oder Selbstmedikation) von angsthemmenden und beruhigenden Psy­ chopharmaka (Anxiolytica und Tranquillizers) zusammen; diese sind meist wirksam, aber auf recht unspezifische Weise. Triebdy­ namische Unterschiede und psychopathologische Zusammenhän­ ge sollten in d er Therapie berücksichtigt werden. Die elementarste Angst im Sinne der Psychobiologie ist die Lebensangst. «Oberflächlichere», d.h. bewußtseinsnähere Angst­ formen können situativ bedingt sein und besonders asthenische, weniger resistente und sensible Personen betreffen: Angst um Be­ stehen in der Kompetition, im Berufsleben, Existenzangst usw. Die endogen bedingten Angstformen sind Verlustangst, an de­ ren Basis die Verlustintoleranz der Menschen mit depressiver Kon­ stitution liegt; phobische und hypochondrische Ängste, die mit dem Affektleben und der Schuldproblematik zusammenhängen: Angst vor den eigenen kainitischen Tötungswünschen, den groben Affekten überhaupt sowie vor der eigenen Aggressivität; sensitive oder paranoide (projektive) Angst: Sie kann lange Zeit das einzige Symptom einer latenten oder beginnenden Psychose oder einer Grenzpsychose sein. Nicht selten ist p hobische Furcht primär pa­ ranoid bedingt, z. B. Bakteriophobie. Schwer inflative Personen können durch andrängende Inhalte aus dem kollektiven Unbewußten bedrängt werden. Drohender Ichverlust löst Panik aus. Klinisch unterscheiden wir zwischen frei flottierender Angst und phobischer Angst (eigentlich «Furcht»). Es versteht sich ganz von selbst, daß bei Berücksichtigung der Vielfalt von ätiologisch völlig verschiedenartigen Angstformen eine nicht differenzierte Psychopharmakotherapie oder eine rein symptombekämpfende kognitive Verhaltenstherapie unsinnig wären. 67


Die Triebpathologie der Schicksalsanalyse

8.3.8 Reflexe und Instinktbewegungen Von den paroxysmalen Triebfunktionen als solchen sowie ihren neurovegetativen Begleiterscheinungen sind die neuralen Reflexe und sensomotorischen Instinktbewegungen klar abzugrenzen; es handelt sich u m völlig verschiedenartige neuropsychologische Ab­ läufe. Diese Unterscheidung ist auch wichtig zur Auseinanderhal­ tung der psychosomatischen und hysterischen Störungen. Schutzund Abwehrreflexe und Instinktbewegungen sind komplexe neurophysiologische Phänomene archaischer A rt. Sie stellen artspezi­ fische, festgefügte sensomotorische Reaktionen und Verhaltens­ weisen dar, die, einmal ausgelöst, unbewußt und schemenhaft ablaufen. Selbst von nicht triebhafter Natur, werden sie durch die Triebfunktionen ausgelöst. Beim M enschen sind sie du rch höhere Funktionen wie Wahr­ nehmung, Bewußtheit, Stellungnahme, Intentionalität sowie Wil­ lens- und Willkürfunktion überlagert und gehemmt, so daß sie un­ ter normalen Bedingungen als solche nicht in Erscheinung treten (Kraepelin; Kretschmer 1950, 1958, 1974). 8.3.9 Biologie des Schutz- und Abwehrverhaltens Die Reaktion eines Tieres auf Gefahrensituationen bzw. Bedro­ hung kann offensiv o der defensiv sein. Es ist wic htig, diese biolo­ gischen Phänomene zu kennen, weil sie beim Menschen dann, wenn sie aus dem hierarchischen Hemmungszusammenhang her­ ausgelöst werden, praktisch in identischer Weise als neurotische Symptome auftreten. Die offensive Reaktion: Die Entladung der Triebstrebung -e ist zumeist mit einem Überspringen der Erregung auf die Aggressionsstrebung (+!s) verbunden, die der Motorik zugrundeliegt. Die­ se offensive Grundhaltung ist eine ergotrope Reaktion mit allen Zeichen des Sympathikotonus (Hess 1948). Die defensive Reaktion: Sie wird durch eine -hy-Reaktion in68


Psychologie und Pathologie der einzelnen Triebe

duziert; damit verbunden ist m it größter Wahrscheinlichkeit eine -s oder Os-Reaktion. Dem entspricht phänomenologisch die passi­ ve Angstreaktion: das Tier verkriecht und versteckt sich oder verfällt in den Totstellreflex (Kretschmer 1958). Andere Formen sind Bewegungssturm, Farbwechsel usw., alles phylogenetisch alte Schutz- und Abwehrreflexe, die, wie g esagt, beim Menschen nur unter besonderen Belastungen zum Vorschein kommen und als krankhafte Erscheinungen symptomatisch werden können. Beispiele: In der Psychopa thologie treffe n wir relativ häu fig Angs treaktionen an, bei denen der Angstaffekt jedoch al s solch er gar nicht bewußt wird: Patienten verkriechen und verstecken sich, z.B. in einem Schrank, oder sie bleiben stunden- bis tagelang im Bett liegen. Wich­ tig ist hier die differenzialdiagnostische Unterscheidung zur soge­ nannten «morgend lichen Versc hlimmerung» bei endog en Depres si­ ven. B ei dies en ist es eine Fol ge der Hemmung und Verstimm ung, beim Sich-Verstecken aber ist das Symptom eine Angstreaktion (—!hy; vgl. auch Beispiel in 8.4.6). 8.3.10 Psychopathologie der Affektstörungen Der Unterschied zwischen epileptiformen und hysteriformen Stö­ rungen ist durch die Eigenheiten des Paroxysmaltriebes nicht voll­ ständig erklärbar; es kommen noch andere Triebelemente hinzu, vor allem der Ich- und der Sexualtrieb sowie unterschiedliche Phä­ nomene auf der Ebene der Reflexe und Instinkte bzw. der Sensorik und der Motorik. Für den Psychotherapeuten sind die epileptiform-paroxysmalen und hysteriform-paroxysmalen Störungen im weiteren Sinn viel wich tiger als die entsprechenden «großen» kli­ nischen Manifestationsformen. Eine zusammenhängende Schau somatogener und psychogener Aspekte auf triebpsychologischer Basis läßt epileptiforme, hysteriforme und auch psychosomatische Störungen in ihrer Genese, Funktionalität und Symptomatologie verstehen und ist Voraussetzung für deren Behandlung. 69


Die Triebpathologie der Schicksalsanalyse

8.3.11 Die epileptiformen Störungen Klinisch gehören zu den epileptiformen Störungen im engeren Sinn Syndrome, die mit Bewußtseinsveränderungen oder Bewußtseins­ verlust und einem Anfallsgeschehen oder anderen psychomotori­ schen und sensorischen Manifestationen einhergehen, z. B. die Temporallappenepilepsie mit Dämmerattacken (Landolt i960). Für die psychotherapeutische Praxis ist bedeutend, daß nach Szondi zu den epileptiformen Störungen im weiteren Sinne auch Mi­ gräne, Stottern und Enuresis gehören sowie nach neueren Erfah­ rungen eine große Zahl von Syndromen mit einem wesentlichen paroxysmalen Kern (Szondi 1952). Oft ist das paroxysmal-epileptiforme mit dem paranoiden Element verknüpft, z. B. ein Para­ noid auf epileptischer Basis (Seidel 1962). Beispiel: Der 25jährige ausländische Pat ient hat zwei psych iatrische Klin ik­ aufenthalte hinter sich sowie eine 2 Jahre dauernde Phase mit häufi­ gem Gebrauch von P hantastica aller Art und Ecst asy. Das klinische Bild zeigt geordnete unauffällige Phasen im Wechsel mit akut auftre­ tenden episodischen Störungen, die ba ld mehr paroxy smal-epileptiforme, bald ausge sprochen sensitiv-projektive Züge aufweisen. Der verbalen Entladung aufgestauter grober Affekte mit Schimpfen, Dro­ hen und Anklagen geht eine ausgesprochen sensitiv-p aranoide Pro­ jektionstendenz voraus. I n der anschließ enden Phase da gegen zeigt sich immer wieder ein liebens würdiges, gutm ütiges, normali siertes Verhalten, so daß die ursprüngliche Diagnose einer paranoiden Grenzpsychose relativiert wird. Die erst längere Zeit nach dem The­ rapiebeginn von den Eltern erhaltene Familiengeschichte zeigt: Großvater vs empfindlicher, explosiver Tyrann, der die ganze Fa­ milie drangsalierte. Erfolgreicher Geschäftsmann. Ein Onkel vs mit 16 Jahren Sturz aus dem Fenster; mit 20 Jahren Hirnoperation mit nachfolge nden epileptischen Anfällen, steht seit­ her dauernd unter Antiepileptika. Zwei Onkel vs be i Autounfällen ums Leben gekommen. Der Patient hat selber mehrere Autounfälle verursacht. 70


Psychologie und Pathologie der einzelnen Triebe

Die Mutter der Mutter hat starke hysterische Züge. Die diagnostische Vorstellung einer paroxysmal-paranoiden Grenzpsychose wird erhärtet und das epileptoide Element durch die familienanamnestische Auskunft höher bewerte t. Die immer w ieder so auffälligen Phasen korrekten und liebenswürdigen Verhaltens stel­ len sich deutlich als epilepto ide Korrekthe its- und Gutmachungsphasen dar. Die paranoiden Episoden sind, wenn auch kurzdauernd, so doch klinisch ganz eindeutig. Sie kommen jedoch testol ogisch nicht deutlich zum Ausdr uck. Sie sind vielmehr als sekundär, durch die groben epileptiformen Affekte ausgelöst, zu verstehen: diese drängen gege n das Ich und bringen es zum vorübergehenden Kol­ laps, wobei allerding s keine Bewußtlosigkeit, sondern eine ausg e­ sprochene Akt ivierung der latente n paranoiden Tend enzen eint ritt. Die Therapie ist eine schicksalsanalytische Gesprächstherapie, kom­ biniert mit einem psychotropen Antiepileptikum (Rivotril) und einer kleinen Dosis eines Antips ychotikums. Tes tologisch ausgeprägt ist die starke Abwehrstruktur. Wo eine starke Abwehr, da ist auch eine große Gefahr! Dies zeigt sich deutlich im Profil Nr. VI, in dem auch ein schlech­ tes Kontaktbild vorlieg t: + !+ 0 —! -0 — Im Profil IV zeigt sich das Bild des Ichverlusts im Zusammenhang mit dem irrealen Kontaktbild : +!!+ +- 00 — Triebdynamisch gesehen ist der Kern der epileptiform-paroxysmalen Störungen eine abnorme Tendenz zur Aufladung und Stauung grober Affekte (= Paroxysmus). Sie drückt sich anfallsartig, affekt­ mäßig, motorisch oder sensorisch aus (letzteres bei d er Temporal­ lappenepilepsie). Die innere Gefahr liegt im ka initischen Tötungs­ anspruch, der abgewehrt und gegen die eigene Person gerichtet wird. Aufstauung und plötzliche Entladung der groben Affekte (-e) ist da s zentrale und initiale Element in d er Psychogenese der Epilepsie. Durch die Einführung der groben Affekte modifiziert Szondi die psychoanalytische T heorie der Epilepsieentstehung von Stekel und Freud, welche diese Triebgefahr noch nicht erkannt hatten, 7i


Die Triebpathologie der Schicksalsanalyse

sondern sich lediglich auf die s-Triebgefahr beschränkten und dem­ gemäß nur von «sadistischer und krimineller Triebgefahr» spra­ chen (Freud, 1913-1917). Was die Abwehrfunktionen betrifft, so bestätigt die Triebpathologie die Hypothese Freuds, in der die Epi­ lepsie als eine hysterische Neurose gesehen wird, die den epilepti­ schen Anfall als einen vorgeformten Mechanismus in ihren Dienst stellt (vgl. 8.3.12 Die hysteriformen Störungen). Damit gleicht sich Freud, zusammen mit Szondi, der Auffassung Kretschmers an (Kretschmer 1950). Szondi hat diese Zusammenhänge nicht nur testologisch, sondern auch mit Stammbaumuntersuchungen und Therapieerfolgen erhärtet. Die Ergebnisse der Neurobiochemie und der modernen Neurophysiologie stehen nicht im Widerspruch zur triebpsycholo­ gischen Hypothese. Es ergeben sich Evidenzen in der Psychopharmakotherapie, insofern, als psychotrope Antiepileptika wie Te­ gretol und Rivotril auch bei andern Störungen des erwähnten For­ menkreises mit gutem Effekt angewendet werden, z. B. bei M igrä­ nepatienten, bei klinischen Syndromen mit deutlich paroxysmalem Einschlag, bei kind lichen Verhaltensstörungen auf wahrscheinlich paroxysmaler Basis sowie bei Enuresi s nocturna. In der psychotherapeutischen Praxis sind schwer epileptoide Persönlichkeiten häufig anzutreffen. Es können Personen ohne Anfälle sein, die dementsprechend auch nicht als Epileptiker gel­ ten, die aber die unverkennbar epileptoiden Züge zeigen: Zähflüs­ sigkeit der psychischen Abläufe, besonders des Gedankenganges (Haftsyndrom), übertriebene Gutmütigkeit, Gutmachungstendenz, Überkorrektheit und Förmlichkeit, Umständlichkeit in sämt­ lichen Äußerungen und Wiederholungen derselben. Die Inhalte drehen sich einerseits um das Gute und die Gutmachung, um die Klagen über Unrecht, sei es um selbst Erfahrenes oder um das Un­ recht in der Welt überhaupt. Bei epileptoiden Persönlichkeiten können zerebrale und kardiovaskuläre Anfallsereignisse vorkom72.


Psychologie und Pathologie der einzelnen Triebe

men mit vorübergehender, ev. auch längerdauernder Mangel­ durchblutung. Das klinische Bild k ann einen Herzinfarkt v ortäu­ schen, doch das EKG ergibt keinen Befund, der auf eine organische Ursache hinweisen würde. Zahlreich aber sind auch Fälle von An­ gina pectoris und Herzinfarkten bei Pat ienten mit entsprechenden epileptoiden Wesenszügen. Beispiel: Ein Patien t kam nach einem vorg ängigen Herzinfarkt zur Psycho­ therapie. An seinem Arbeitsort war er immer sehr unglücklich gewe­ sen, teils, weil seine Leistungsfähigkeit infolge ausgesprochener Zwanghaftigkeit beeint rächtigt war, tei ls we il ihm tägli ch Situ atio­ nen begeg neten, die seinem Gere chtigkeitsgefühl widerspra chen. In der Gesprächst herapie - die positi v ver lief - zeigte si ch bald seine ausgesprochen epilepto ide Natur (deutliche Verlang samung, Über­ korrektheit, Zwangshaltung, Förmlichkeit und Umständlichkeit), und es stellte sich immer mehr auch ein starker Hang zum Religiösen heraus, wie er bei epileptoiden Persönlichkeiten ty pisch ist. Zwei in den epileptiformen Kreis gehörende schwere Störungen sind wegen ihrer Allgemeingefährlichkeit und forensischen Bedeu­ tung separat zu erwähnen: der Amoklauf, dessen triebpsychologi­ sche Basis in einem totalen Ichverlust mit paranoider Projekti­ onstendenz und Thanatomanie liegt, sowie die noch weit häufiger auftretende Pyromanie. 8.3.12 Die hysteriformen Störungen Nach den Vorstellungen Freuds liegt hier das Problem in einer Abwehrhaltung gegenüber nicht tolerierbaren sexuellen Trieban­ sprüchen und kann zurückgeführt werden auf die biologischen Zu­ sammenhänge zwischen der Triebsphäre (Sexualtrieb) und vorge­ bildeten, allgemein bekannten Instinktmechanismen im Rahmen des Sexualverhaltens. 73


Die Triebpathologie d er Schicksalsanalyse

Sowohl die Phänomenologie der großen hysterischen Anfälle (arc en cercle usw.) und die situativ ausgelösten Ohnmächten als auch die psychoanalytische Interpretation der Hysterie als Kon­ versionsneurose wurden schon damals im Sinne des Zusammen­ hangs mit der Sexualität gedeutet. Freud setzte den Akzent auf die Abwehr, d. h. die Verdrängung innerer Gefahren oder sah im hy­ sterischen Symptom einen Krankheitszweck im Sinne der Flucht in die Krankheit. Nach der Theorie von Kraepelin und Kretschmer sind die hysteriformen Reaktionen als Manifestwerden entwicklungsge­ schichtlich vorgebildeter Reaktionsweisen zu verstehen (Kraepe­ lin; Kretschmer 1958). Diese alten Schutz- und Abwehrreflexe sind beim gesunden Menschen zwar durch höherpsychische Funktio­ nen gehemmt, können aber bei äußerer oder innerer Gefahr im Sin­ ne der Abwehr benutzt und dadurch symptomatisch werden. Kretschmer modifizierte später diese archaistische Theorie Kraepelins und vereinigte sie mit der freudschen Krankheitszweck­ theorie: «Die hysterischen Symptome sind entwicklungsgeschicht­ lich vorgebildete Reaktionsweisen des triebhaften seelischen Un­ tergrundes. Sie liegen a n sich in jedem Menschen bereit.» - «Der vorgebildete hysterische, biologische Mechanismus ist persönlich ausgelöst und zweckvoll.» (Kretschmer 1958; Szondi 1952.) Beispiel: Eine Mittelschülerin und ihr Freu nd haben ei ne intensive, aber pro­ blematische Beziehung. Er teilt ihr seinen Entschluß mit, sich von ihr trennen zu wollen. Kurz darauf - in der Schule - fällt das Mädchen in Ohnmacht und wird per Bla ulicht in die Un i-Klinik ei ngeliefert. Dort bringen sämtliche Untersuchungen keine n Befund. - Das Bei­ spiel steht für die Kretschmersche Auffassung der Auslösung archai­ scher Schu tz- und Abwehrreflexe und auch der Krankheitszweck­ theorie. Das Ich des Mädchens war nicht stark genug, um diese Mitteilung des Freundes zu vera rbeiten. Mit dem Ichverl ust fiel die 74


Psychologie und Pathologie der einzelnen Triebe

Hemmung des archaischen neuralen Mechanismus (des archaischen Totstellreflexes) weg, was sich in einer Ohnmacht äußerte. Zu den unter dem Sammelbegriff «hysterische Manifestationen» zusammengefaßten Mechanismen reflexartiger Natur gehören ver­ schiedenste Symptome motorischer, sensorischer und sensibler Art wie Zittern, Schüttelbewegungen, Tics, Um-sich-Schlagen, Krämp­ fe oder Bewegungssturm - oder Bewegungslosigkeit, Lähmungen, hypnoider Dämmer- oder Schlafzustand; im sensiblen Bereich Anästhesien und Analgesien; neurovegetativ: vaskuläre Störungen, z.B. Erröten oder anfallsweise auftretender Handschweiß usw. (vgl. Beispiel in 6.1). In neuerer Zeit wurden die hysterischen Störungen weitgehend mit den psychosomatischen gleichgesetzt, w as in dem Ausspruch gipfelt, «was früher Hysterie war, ist heute psychosomatisch». Dem ist entschieden zu widersprechen. Der Hysteriebegriff wird oft in pejorativem Sinne gebraucht. Demgegenüber werden Angst­ und Panikphänomene sowie Tics und andere sensorische und mo­ torische Symptome, ja sogar schwere Lähmungserscheinungen, Paraplegien, die eindeutig von hysteriform-paroxysmaler Natur sind, nicht als solche erkannt (z.B. Ehrbar und Waespe 1992.). Analog dazu werden klinische Bilder m it neurovegetativen Symptomen in den großen Topf der psychosomatischen Störungen geworfen. Im Rahmen hysteriformer Störungen kommen auch Däm­ mer- und Entfremdungszustände vor. Diese treten weniger akut, sondern eher episodisch auf. Die Verminderung des Wahrneh­ mungskontaktes zur inneren und äußeren Realität (Entfremdung, Sch - ±) ist tr iebdynamisch durch eine Abspaltung der Introjektionsfunktion (+k) zu erklären, wodurch die Empfmdungs- und Wahrnehmungswelt allgemein oder sektoriell ausgeschaltet wird. Überdies ist anzunehmen, daß die +k-Funktion die triebhafte Grundlage aller höherpsychischen Hemm- und Kontrollmechanis75


Die Triebpathologie de r Schicksalsanalyse

men ist, w elche ja die archaischen Reflex- und Instinktmechanis­ men hemmen. 8.4 Der Ichtrieb (Vektor Sch) Im engen Rahmen dieses Handbuches können leider nur wenige Aspekte der Ichpsychologie und Ichpathologie dargestellt werden. 8.4.1 Zur Frage der triebhaften Grundlage des Ichs Szondi hat mit seinem Ichbegriff Klarheit in die sonst unüber­ sichtliche, uneinheitliche Welt verschiedenster psychologischer Anschauungen und Theorien über Ich, Überich, Selbst und Per­ sönlichkeit gebracht. Es mag paradox erscheinen, wenn in der Tiefenpsychologie von einem Ichtrieb gesprochen wird, da doch im allgemeinen Sprachgebrauch das Ich a ls etwas den Trieben völlig Entgegengesetztes empfunden wird. Ähnlich könnte es mißver­ standen werden, wenn Freud die Konflikte, w elche die Neurosen bedingen, auf den «Kampf zwischen dem Ich und den Trieben» zurückführte (Szondi 1972, 126). Im Grunde war Freud jedoch der Ansicht, das Ich sei triebhaften Ursprungs, stamme aus einer ur­ sprünglichen Ich-Es-Matrix des Unbewußten und habe eine here­ ditäre Grundlage. D ie scheinbare Paradoxic läßt sich ohne weite­ res erklären, wenn man sich i mmer wieder das Wesen des Triebes vor Augen hält (vgl. 5 Der Triebbegriff): Nur diejenigen psychi­ schen Funktionen können aus sich selbst heraus und jederzeit wirksam sein, deren Natur triebhaft ist. Zum Wesen der Trieb­ funktion gehört die Tendenz, sich nach jeder Entladung spontan wieder aufzuladen und ebenso, sich aus einer inneren Notwendig­ keit heraus bei jeder passenden Gelegenheit wieder zu entladen. Die dabei frei w erdende Energie wird in d en Dienst einer spezifi­ schen Aufgabe gestellt, die von außen an ein Indiviuum herange­ tragen wird; in diesem Sinne ist sie reaktiv. Völlig unabhängig da­ von haben aber die Triebfunktionen einen individuellen, genetisch 76


Psychologie und Pathologie der einzelnen Triebe

determinierten, mehr oder weniger autarken Charakter, der sie veranlaßt, aus sich heraus und durch endogene Bestimmung nach Realisierung zu streben. Hierin liegt die Begründung (um nicht zu sagen die Ursache) auch der schweren Ichstörungen klinisch­ psychiatrischen Ausmaßes. An dieser Stelle muß der zweite, in der allgemeinen Triebdefinition betonte Wesenszug der Triebfunktio­ nen wiederholt werden: ihre somatopsychiscbe Doppelnatur (vgl. oben). Die biochemische Grundlage der Ichfunktionen bedingt in hohem Maße die Funktionsweise des Ichs und ganz besonders die Stärke der einzelnen Ichstrebungen. Die elementaren Ichfunktio­ nen müssen von triebhafter Natur sein, denn nur so wird die Kon­ tinuität des Ichlebens sowie des psychischen Lebens überhaupt garantiert. Und doch fällt es, zugegebenermaßen, nicht leicht, die Ichfunktionen als von primär triebhafter Natur anzuerkennen. Szondi schreibt in der Ichanalyse wörtlich: «Die ursprüngliche Ichstrebung ist der Partizipationsdrang. Die Ichanalyse wurde grundsätzlich und generell auf der ursprünglichen Ichstrebung, auf dem Partizipationsdrang aufgebaut: «... der Drang zu dieser ich­ haften Partizipation (Lévy-Bruhl) ist an sich schon eine Triebstrebung» (Szondi 1956a, 17 und 160). Bedeutungsvoll ist hier, daß Szondi ausgerechnet jene Ichfunktion expressis verbis als von triebhafter Natur erkannte, die er die geistige1 Funktion (p) nennt. - Aus heutiger biopsychologischer Sicht stellt sich Szondis Werk noch etwas anders dar. Szondi selbst konnte zwar im fortgeschrit­ tenen Alter die Entwicklung der Psychopharmakologie in g roßen Zügen noch mitverfolgen, d och sein Versuch, darauf einzugehen (Szondi 1980) mußte eine Skizze bleiben. Die um 1950 beginnen­ de Ära der Psychopharmakologie und Neurobiochemie entwickel­ te sich lange Zeit neben dem sich vertiefenden Werk Szondis her. 1 Wenn hie r vom « Geistigen» di e Rede ist, d ann w ird im mer das G eistige im Sinne der spirituellen D imension, also die Transzendenz, gemeint, gleich wie im englischen «spirit». 77


Die Triebpathologie der Schicksalsanalyse

Heute können wir mit Recht die Triebfunktion als Zwischenglied (missing link) z wischen der Psyche und ihrer biochemischen Basis sehen (Seidel 1 996). Die ungeheure Macht krankhaft gesteigerter Ichfunktionen begegnet un s in den akuten Psychosen. In i hrer kli­ nischen Manifestation kann die biochemische Grundlage förmlich miterlebt werden. Solche schweren paranoiden, manischen, hebephrenen Psychosen und Melancholien widersetzen sich in der Regel jedem psychotherapeutischen Versuch. Erst wenn durch Psy­ chopharmaka (Neuroleptika, Antidepressiva) ein relatives Gleich­ gewicht zwischen den Ichfunktionen wieder hergestellt ist, können selbstheilende Kräfte, psychotherapeutischer Kontakt und Hilfe möglich w erden. 8.4.2 Ich und Selbst Lange Zeit war der Ichbegriff - abgesehen von den zahlreichen philosophischen Ichtheorien — auf die psychoanalytische Theorie begrenzt, wo die Grundfunktionen der Negation (und später der Introjektion) die bedeutungsvollste Rolle in der Neurosenpatholo­ gie spielten. Die Ichtheorie der Psychoanalyse ermöglichte zwar ein Ver­ ständnis für die Verdrängungsneurosen und damit ein kausal­ rationales Vorgehen in de ren Therapie. Doch sie b eschränkte sich weitgehend auf den Teil de s Ichs, den Szondi das Real-Ich nennt. Negation und Introjektion bezogen sich hauptsächlich auf die Triebwelt (Abwehr, Verdrängung bzw. Realitätsprinzip) und auf den Aufbau der inneren Objektwelt - alles Aspekte der realen Dimension und ihrer Repräsentation im Ich. Ganz anders bei Jung, wo das «Ich» a ls das Zentrum des Be­ wußtseinsfeldes oder die bewußte Persönlichkeit und das «Selbst» als «Zentrum der Totalität des Psychischen» definiert wird (Jung 1944; Jung i960; Szondi 1956a, 143 ff.). Im Ganzen aber ist es evident, daß der wesentliche Teil des Selbst mit dem Ideal-Ich von 78


Psychologie u nd Pathologie der einzelnen Triebe

Szondi - unter Einschluß der Pontifex-Funktion - identisch ist (vgl. 8.4.3 Das «Globale Ich» nach Szondi). Hier haben die Ich­ triebfunktionen der Projektionstendenz und der Inflation ( der Be­ griff st ammt von Jung) die größte Bedeutung. Die Triebansprüche und deren Abwehr spielen jedoch eine geringere und andersartige Rolle. Dementsprechend versteht Jung den Neurosenbegriff nicht im psychoanalytischen Sinne der Verdrängungsneurose, sondern in einem ganz allgemeinen, unspezifischen und eher diffusen Sinne. Auch die Inhalte des Persönlichen Unbewußten sind in der Analy­ tischen Psychologie von geringerer Bedeutung gegenüber den In­ halten des Kollektiven Unbewußten. Diese Archetypen, Symbole, Mythologeme bevölkern das Traum- und Phantasieleben des Indi­ viduums sowie großenteils die Wahnwelt der Psychotiker. Damit hängt es zusammen, daß Jung sich in der Psychopathologie mit der Welt der Psychosen befaßte - die Dimension, welche Freud (mit einer Ausnahme: Fall Schreber) nicht beachtete. Von besonderer Bedeutung für die therapeutische Arbeit in der Analytischen Psychologie ist die integrative Tätigkeit des Unbe­ wußten, des Selbst, mit seiner final-ganzheitlichen Potenz. Diese Kräfte freizulegen und ihre heilende, ganzmachende Wirkung zur vollen Entfaltung zu bringen ist d as Ziel der Jungschen T herapie (Jung 1971). In der ichpsychologischen Therapiephase der Schick­ salsanalyse ist dieser Aspekt ebenfalls von zentraler Bedeutung. Die beiden therapeutischen Ansätze unterscheiden sich viel wen i­ ger, als es bei ober flächlicher Betrachtung erscheinen könnte. Die Psychologie G.G. Jungs ergänzt die psychoanalytische Basis und wird mit der Schicksalspsychologie zur neuen, ganzheitlichen Tie­ fenpsychologie. So vertraut Szondi mit der rationalen Denkweise der Psychoanalyse und mit den biopsychologischen Grundlagen ist, so leicht fällt es ihm, die irrationale Welt der Analytischen Psy­ chologie C.G. Jungs zu verstehen, sie anzunehmen und in seine 79


Die Triebpathologie der Schicksalsanalyse

Ichlehre einzubauen (Szondi 1956a). Er führt den Begriff de s Glo­ balen Ichs ein, das dank der deszendierenden und integrierenden Fähigkeit der geistigen Funktion p, der Integrator aller Gegensätze ist. Während Freud die geistige Funktion expressis verbis aus der Psychoanalyse und seinem ganzen Weltbild ausschloß, war es Jungs Verdienst, die Sphäre des Geistig-Irrationalen zu erschließen. Notwendig ist die integrative Vereinigung dieser unterschiedlichen Ichtheorien zu einem ganzheitlichen Ichbegriff mit seiner großen diagnostischen und therapeutischen Bedeutung. 8.4.3 Das «Globale Ich» nach Szondi Die nahe Beziehung des Selbstkonzepts von Jung zum Ideal-Ich von Szondi - der p-Dimension - scheint evident. Bei Szondi wurde der Begriff des Ichs zu einem Ganzheitsbegriff erweitert, in dem Ich und Selbst nur als Teilbegriffe eines Gesamt-Ichs aufgefaßt werden, das nun Globales Ich g enannt wird, mit Einschluß der PontifexFunktion (Szondi 1956a, 143). Das Ich ist der Knotenpunkt, die Verbindung der realen und der transzendenten Dimension, nach beiden Seiten hin offen: Wie ein Januskopf schaut das Ich - sym­ bolisch gesprochen - mit der Wahrnehmungsfunktion über die Sinnesorgane in die physische Welt hinein, über seinen geistigen Anteil, die p-Funktion, in die Transzendenz. Wenn Dürckheim vom «Menschen als Bürger zweier Welten» spricht (Dürckheim 1973), so meint er damit dessen doppelte Verwurzelung: In der physischen Welt über die Körperhaftigkeit (bei Szondi die Introjektionsfunktion bzw. die sinnliche Wahrnehmung), in d er Trans­ zendenz über sein Wesen (bei Szondi die spirituellen Wurzeln). Das Ich hat die Aufgabe, als «Pontifex oppositorum» diese beiden Ich­ bereiche und die diesen entsprechenden Dimensionen der Welt mit­ einander zu integrieren, die wichtigste und auch schwierigste Auf­ gabe des Menschen. Das Problem ist hier, die denkbar größten Gegensätze zu vereinigen: die reale Dimension und die transzen­ 80


Psychologie u nd Pathologie de r einzelnen Triebe

dental-irrationale sowie die Repräsentation beider im Ich. Im Un­ terschied zu den übrigen Triebgegensatzpaaren, welche alle der gleichen Dimension angehören und von physischer Natur sind, ist die Vereinigung der Gegensätze im Ich, als Vertreter zweier ver­ schiedenartiger Dimensionen, besonders schwierig. Sie ist nur dank der transzendierenden und integrierenden Fähigkeit des Ichs, des Pontifex oppositorum, möglich. 8.4.4 Die Ichdynamik Die schicksalsanalytische Ichlehre baut das Ich auf zwei gegensätz­ lichen Triebfaktoren auf: der Realitätsfaktor k bewirkt die IchEinengung (Egosystole), der Idealfaktor p ist die triebhafte Grund­ lage der Ich-Erweiterung (Egodiastole). Die icheinengende Funk­ tion k hat die Aufgabe, der ausdehnenden Tendenz des Gegenfak­ tors p entgegenzuwirken, damit diese nicht grenzenlos wird. Zu Störungen kommt es dann, wenn sich die beiden Funktionen von­ einander abkoppeln, z. B. bei extremem «Partialdruck» einzelner Ichstrebungen und Unitendenzen - beide bringen ein Ungleichge­ wicht mit sich -, bei Starrheit immer gleich bleibender Triebkon­ stellationen oder bei der Spaltung der Ichfunktionen. • Die Ichspaltung Folgenschwerer als Unitendenzen und Strebungshypertonien k ön­ nen sich Spaltungen der Ichfunktionen auswirken, v. a. die diago­ nale Spaltungsform wegen ihres besonders großen Spannungspo­ tenzials. Das kommt bei der projektiv-paranoiden Spaltungsart (Sch+-) zum Ausdruck. Diese Ichdynamik kann, aber braucht sich nicht als paranoide Störung im kl inischen Sinne zu m anifestieren, doch bleibt sie im Leben ihres Trägers nicht ohne Folgen.

81


Die Triebpathologie der Schicksalsanalyse

Die komplementären Ichbilder und die komplementären Ichschicksale

Sie e ntstehen durch Spaltung der vier elementaren Ichtriebfunk­ tionen in je zwei kom plementäre Hälften, deren eine in die vorder­ gründige Psyche drängt und deren andere im Hintergrund ver­ bleibt. Durch diese Spaltung sind komplementäre Ichzustände repräsentiert, die alternierend das klinische Bild bestimmen kön­ nen, z.B. die Ichbilder Sch+0/— + (Depressionsphase/Entfrem­ dungsphase). Das klinische Bild der ersten ist charakterisiert durch starke Aktivität im Sinne einer ichhaften Kapitalisierungstendenz, d. h. eines Erw erbungsdrangs, dem zweiten entspricht der Zustand der Entfremdung und des passiven Rückzuges von der äußeren Welt. Rein klinisch gesehen könnte das Bild mit einer manisch­ depressiven Störung verwechselt werden (vgl. 8.1.12 Zum Phäno­ men der Entfremdung). Die Kenntnis dieser Formen der Ichdynamik ist für die psy­ chotherapeutische Praxis unverzichtbar im Sinne einer auf Kau­ salverständnis

beruhenden

Einflußmöglichkeit, eingeschlossen

Gesprächstherapie, adjuvante Maßnahmen und evtl. gezielter Ein­ bezug von Psychopharmaka. 8.4.5 Funktion und Inhalt Als Eugen Bleuler in s einem Schizophreniekonzept den Begriff der Spaltung einführte (Bleuler 1937), ging er von den Inhalten aus, nicht von den Funktionen. Die von ihm im Denken der Schizo­ phrenen festgestellte Lockerung des Assoziationsgefüges fester konkreter Begriffe (pri märe Spaltung) sowie die Tendenz der Ab­ spaltung und Abgrenzung affektiver Ideenkomplexe (sekundäre Spaltung) sind Folgen einer dieser Denkstörung zugrundeliegenden funktionalen Spaltung. Was E. Bleuler also als klinisches Phäno­ men beobachtete, war das äußerlich sichtbare Korrelat eines pri­ mären, inneren Geschehens, nämlich der funktionalen Spaltung 82


Psychologie u nd Pathologie der einzelnen Triebe

des Ichs, die mit dem Szondi-Test dargestellt wird: Projektiv-paranoide Spaltung im Ich: Sch +-(!) oder O-(ü) oder das durchgehen­ de projektiv-paranoide Spaltungssyndrom: +- 0- +- +-. Hinzu kommen die Inhalte, die diese Struktur füllen. Sie w erden durch andere Testverfahren wie katathymes Bilderleben, das Assoziati­ onsexperiment von C.G. Jung, den Rorschachtest oder den TAT usw., v. a. aber durch freies Assoziieren und in der Traumbear­ beitung erfaßt; in letzteren erscheinen Inhalte des Kollektiven, des Familiären sowie des Persönlichen Unbewußten. 8.4.6 Das Seins-Ich (p) und das Hab-Ich (k); Seinsmacht und Habmacht Die vier Ichstrebungen - ihre Psychologie und Pathologie Die Projektionsfunktion (-p) stellt in ihrer primären Form, d. h.als primordiale Projektion, die Beziehung zur übersinnlichen Dimen­ sion her - sie ist nach C. G. Jung die transzendierende Funktion und nach Szondi der Vermittler zwischen der Seele und dem Geist. Die -p-Funktion ist, als urförmige Projektion, die Grundlage der Partizipation, des tiefen Dranges des Menschen, eins und gleich zu sein mit dem andern und den Objekten und ebenso mit der geisti­ gen Dimension (participation mystique; archaische Identität, To­ tem [Lévy-Bruhl], unio mystica [C.G. Jung], partizipative Dual­ union [Szondi]). Nach Jung beruhen alle diese Manifestationen auf der primären Projektion. - Von einer sekundären Projektion kann man erst dann sprechen, wenn eine Subjekt-Objektspaltung statt­ gefunden hat. Die Ich-Ausdehnung, Egodiastole, ist die ursprüngliche Stre­ bung des entstehenden Ichs. Nach dem Zustand des totalen Eins­ seins mit der Transzendenz - primordiale Partizipation - folgt die Partizipation mit der Mutter. Der individuelle Stärkegrad dieser Funktion ist we itgehend genetisch d eterminiert, während äußeres Angebot und Qualität der partizipativen Entsprechnung anfäng­ 83


Die Triebpathologie der Schicksalsanalyse

lieh müt terlicherseits bestimmt werden. Die realitätsbedingte, not­ wendige Reduktion der partizipativen Verschmelzung und der gleichzeitigen oralen Bedürfnisse im Sinne einer dem Individuum und ebenso der Realität gerecht werdenden Lösung ist Vor ausset­ zung für eine gesunde Entwicklung des Individuums oder aber der Keim f ür eine potenzielle Krankhaftigkeit. Bei der primordialen Projektion, das heißt bei d er Partizipa­ tion, löst das Ich das Gegensatzproblem dadurch, daß es beide Teile des Gegensatzpaares nach außen verlegt, so daß das äußere Objekt die beiden projizierten Qualitäten übernimmt und dadurch «beides», das heißt «alles», m.a.W. allmächtig wird. In diesem Vorgang werden jedoch nicht nur Triebgegensätze oder Inhalte hinaus projiziert, sondern auch seelische Energie, sog. Seinsmacbt. Durch diese Verschiebung der seelischen Energie wird das äußere Objekt mit einem beträchtlichen Energie-Quantum ausgestattet und wird dadurch allmächtig, während gleichzeitig das Ich an En­ ergie verarmt und ohnmächtig wird. Diese projektive Ichdynamik liegt dem Krankheitsbild des Verfolgungswahns (dem projektiven Paranoid) zugrunde, eine unkontrollierte sekundäre Projekti­ onstendenz: Das betroffene Individuum übergibt der Umgebung, speziell d em «Verfolger», p rojektiv seine eigene Macht, wodurch es selbst ohnmächtig wird und sich verfolgt glaubt. Das Weltbild solcher Personen ist extrem egozentrisch, alles wird auf sich bezo­ gen: sensitive Beziehungs- und Bedeutungserlebnisse (vgl. dazu die «Unfähigkeit zum Vollzug der kopernikanischen Wende», Klaus Conrad 1966). Eine quantitativ verstärkte Partizipationstendenz kann sich in einem alle Maße übersteigenden Verschmelzungsbedürfnis äußern und, da zumeist nicht erfüllbar, auf verschiedenartige Weise pa­ thogen werden. Daß eine solche Entwicklung jedoch nicht sein muß, zeigt Percy, ein Sc hüler Szondis, mit seinen Untersuchungen an nicht akkulturierten gesunden Afrikanern: Ihre Ichbilder im 84


Psychologie und Pathologie der einzelnen Triebe

Triebtest zeichnen sich durch extremes Überwiegen der Projekti­ onsfunktion aus, so wie man es sonst nur bei paranoid-psychoti­ schen Menschen sieht (Sch 0—! ! !) (Szondi 1956). Die Erklärung dafür im Sinn einer Psychosenentstehungstheorie durch Szondi unter Bezugnahme auf die Forschungen von Lévy-Bruhl - ist ein­ leuchtend: Jenen extremen projektiven Ichbildern entspricht nicht eine sekundäre, sondern eine primäre Projektionstendenz, die als Partizipation zu verstehen ist. Dieses immense Bedürfnis kann je­ doch in der noch adualen Lebensweise dieser Menschen, charakte­ risiert durch das «eins und gleich sein» mit dem anderen, dem Clan und dem Totem, noch voll befriedigt werden, was in einer späte­ ren, zivilisierten Entwicklungsstufe nicht mehr möglich ist, son­ dern auf krankhafte Weise erfo lgen muß durch Partizipation des Patienten an seinen eigenen psychotischen Wahnbildungen. Die Inflationsfunktion (+p) ist die Grundlage für die Bewußtwerdung von Inhalten aus dem Unbewußten im phantasmatischen und ideativen oder ahnungsmäßigen Sinn. Die hier aufsteigenden Inhalte stammen aus allen drei Dimensionen des Unbewußten in Form von elementaren Triebphantasmen, Ahnenansprüchen, Ar­ chetypen, Symbolen und Mythologemen, welche in individuell ver­ schieden starkem Maße als Ideen, Phantasien, Träume oder Wahn­ inhalte bewußt werden. Eine gesteigerte bzw. enthemmte Inflationsfunktion (+!!!p) liegt den inflativ-schizoformen Ichstörungen zugrunde. Das Be­ wußtsein wird überschwemmt durch archaische Inhalte, die der äußeren Realität entgegenstehen. Klinisch entsprechen dem inflativ-psychotische Z ustände: Bald angstvoll erlebt wegen der Ohn­ macht des Real-Ichs (0k), bald sich als Allmachts- oder Größen­ wahn mit überbordendem Selbstbewußtsein manifestierend, was auf die Aufblähung des Ichs (extreme Egodiastole) zurückzuführen ist (+! !p). Eine solche Ichdynamik kann auch im Rahmen einer hy­ pomanischen oder manischen Psychose auftreten. 85


Die Triebpathologie der Schicksalsanalyse

Nicht immer ist die inflative Ichdynamik direkt und ohne wei­ teres sichtbar. Dennoch kann sie das Leben eines Menschen nach­ haltig bestimmen. Dies läßt sich in dem folgenden Patientenbei­ spiel darstellen, wo sich eine schwere inflative Ichdynamik indirekt und erst nach Jahren über Folgeerscheinungen bemerkbar machte, indem der inflative Lebensentwurf des Alles-sein-Wollens nach vie­ len Jahren schließlich zur Dekompensation führte. Das Beispiel soll aber auch die Bedeutung differentialdiagnostischen Unterschei­ dens aufgrund funktionaler Gegebenheiten aufzeigen und die Not­ wendigkeit, die klinisch-phänomenologische Diagnostik mit der ETD zu korrelieren: Beispiel: Die Patientin war von kompetenter Seite während vieler Monate un­ ter der Diagnose «endo gene Depression» mit einer Rei he von Ant i­ depressiva in sehr hoher Dosierung erfolglos behandelt worden. Beim Neuanfang der Therapie wurde vorerst die Diagnose revidiert: nicht nur der klinische Gesamteindruck, sondern die Zahl der kör­ perlichen Beschwerden und die Art ihrer Wiedergabe sprachen gegen eine typische Depression, aber um so deutlicher für stark hysteriforme und appellative Züge. Die Patientin klagte nicht nur über ihre de­ pressive Verfassung mit gelegentlicher Verzweiflung und Hoffnungs­ losigkeit, über totale Erschöpfung, Kraftlo sigkeit, Schwächeanfälle und Arbeitsunfähigkeit sowie Schlaflosigkeit und di e Tendenz, tags­ über jed erzeit in Schlaf zu v erfallen, sondern auch über Körp ersym­ ptome und Beschwerden wie Brechreiz, Appetitmangel, Magen­ schmerzen, Bauchweh, Durchfall, Kopfschmerzen. Die internistische und die neu rologische Abklärung ergaben keine schweren Befun de, die die Sy mptome erklärt hätten. Folgen de Symptom e ließen dann den Verdacht auf eine psychotische Komponente aufkommen: Gele­ gentliches Abgehobensein von der äußeren Realität, frühere Phasen, in denen sie sich plötzlich in den Zug setzte, viele Stunden lang fuhr, um in ei ner fremd en Großstadt kurz ein Museum zu besuche n und wieder zurückzukehren. Sie selbst empfand diese Phasen als zwang­ haft und auch als «nicht ganz normal». Diagnostisch mü ssen sie als 86


Psychologie und Pathologie der einzelnen Triebe

hypomanische Episoden mit einer Tendenz zur psychotischen Derea­ lisation interpretiert werden. Aus der Triebdiagnostik wird mit einem Blick evident, daß es sich psychodynamisch nicht um eine Depression, sondern um eine inflative Persönlichkeitsstörung mit Tendenz zur Abtrennung von der Realität und hysteriformer Angst handelt. I. VI.

-+

--

±0 - -

0+!

+

-

0 +ü

0

-

In den Testprofilen zeigt sich deutlich die inflative Ichstruktur (0+ !!), das maniforme Kontaktbild (0 -) und das Paroxysmalbild der inneren Panik (P —). Unter gleichzeitiger genauer Erhebung der persönlichen Entwick­ ln ngs- und Krankengeschichte ergab sich folgende diagnostische Re­ konstruktion: Als «hochbegabtes» Kind stark gefördert, hatte die Patientin schon damals große und ambitiöse Pläne. Zwar war sie in Schule und Studium sehr erfolgreich, aber durch den inflativen Le­ bensentwurf wurde die Lebensgestaltung in mehrfachem Sinne, vor allem aber durch unrealistische Dispositionen negativ determiniert, so daß die Patientin schließlich in einer sachlichen und menschlichen Einwegsituation landete. Die Karrierewünsche wurden enttäuscht und die Frau sah sich nun während der Dauer von Jahren in eine Mehrfachbelastung mit Zwang zum Broterwerb unter ungünstigen Bedingungen hineingedrängt. Chronische Überarbeitung und seeli­ sche Dauerbelastung führten zur Dekompensation, zu Hoffnungslo­ sigkeit und Verzweiflung. Zusammenfassend ist der Zustand der Patientin als komplette Desillusionierung nach Unmöglichkeit der Realisierung eines inflativ-irrationalen Lebensentwurfs mit übermäßiger Dauerbelastung und schließlicher Dekompensation zu sehen - zur Deflation mit Er­ schöpfungsdepression. An der Basis liegt e ine schwere inflative Ich­ struktur mit hypomanischem Kontakt und hysteriformen Angstbil­ dern. Ein Cousin vs ist in einer psychiatrischen Klinik hospitalisiert, höchst wahrscheinlich wegen einer schizophrenen Psychose. Die Therapie war Entlastung und Ruhigstellung und Ersatz des Antidepressivums durch ein Antipsychotikum und Tegretol, kombi-

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Die Triebpathologie der Schicksalsanalyse

niert mit Gesprächstherapie. Nach wenigen Wochen verschwanden die vielen Symptome, fast von einem Tag auf den andern.

Die Ambivalenz und Ambitendenz (E. Bleuler) entspricht der inflativen Ich-Einstellung (SchO + !ü), dem «Beides-Sein-Wollen», d.h. der Besetzung des Bewußtseins mit gegensätzlichen Inhalten und Seinsmacht, im Extremfall dem Größenwahn, dem Seins-Nar­ zißmus. Die Introjektionsfunktion (+k) ist die triebhafte Basis für die Wahrnehmung der Welt, der inneren und der äußeren; sie er­ schließt diese und macht sie bewußt. Ist sie schwach, so wird der Wahrnehmungskontakt zur Realität vermindert. Das führt zu Stö­ rungen des Wahrnehmungsbewußtseins (Verminderung der Orien­ tierungsfähigkeit, der Realitätskontrolle, der Aufmerksamkeit, der Kognition). Hypertonie der Egosystole äußert sich in einer Steigerung der Habmacht, des Egoismus, des Narzißmus. Sie kann auch - vor al­ lem bei Perversen, Fetischisten und Sadisten, kriminelle Formen annehmen. Die verstärkte Introjektionstendenz ist jedoch häufiger bei D epressiven und Melancholikern anzutreffen; sie kann durch Umschlagen der Introjektionsfunktion in die Negation (+k -> —! k) in eine chronische Melancholie oder Manie übergehen, eine Ent­ wicklung mit zunehmendem Negativismus, Entwertung und Selbstdestruktionsgefahr. Wenn die Introjektionsfunktion ausfällt bzw. abgespalten wird, fehlt der Realitätsbezug und die Präsenz: Mangelnde Be­ wußtseinsklarheit und Realitätskontrolle, im Extremfall einge­ trübtes Bewußtsein bis zum Bewußtseinsverlust, Absence, Däm­ merzustand (epileptiforme Störungen). Eine Abspaltung der +kFunktion, d.h. das Ichbild der Entfremdung (Sch -±) äußert sich phänomenologisch in Entfremdungszuständen, Desorientierung, Erlebnis der Verfremdung der Umwelt sowie Derealisation und, bei Schwächung der nach innen gerichteten Wahrnehmungsfunk­ tion, in Depersonalisationszuständen. Sie geh ören in d en Bereich 88


Psychologie und Pathologie der einzelnen Triebe

der hysteriformen bzw. psy chotischen, seltener der epileptiformen Störungen. Die Negationsfunktion (-k) ist die triebhafte Grundlage nicht nur der Fähigkeit zum Neinsagen, sondern auch der Fähigkeit, sich zu distanzieren und abzugrenzen (gegenüber Personen wie der ge­ samten Umwelt) und zu unterscheiden zwischen dem Ich und dem Nicht-Ich. Die Negationsfunktion kann sich - wie die Wahrneh­ mung - ebenso nach innen wie nach außen richten. Nach innen gerichtet hemmt sie zu starke oder verpönte Triebansprüche (Mo­ dell der Verdrängungsneurosen) oder gesteigerte Aggressivität und die Tendenz zur vorwiegend projektiven Ichausdehnung, wie z. B. beim Morbus Parkinson (Seidel 1966). Sie bremst auch den An­ drang archaischer, angsterregender Inhalte aus dem Bereich des Kollektiven Unbewußten zum Bewußtsein und ist somit ein Boll­ werk gegen psychotische Einbrüche. Die ursprünglich von Szondi aufgestellte, im Gegenuhrzeiger­ sinn gerichtete Umlaufbahn der Ichfunktionen manifestiert sich in kleinen episodischen ebenso wie in größeren Zyklen, in der frühen Ichentwicklung wie auch im ganzen Lebensverlauf des Individu­ ums. Die Theorie der Umlaufbahn im Ich w urde durch J. Schotte modifiziert, weiterentwickelt und auch auf die übrigen Triebvekto­ ren angewandt. Auch in der Ichpathologie können sich ähnliche Verlaufsformen zeigen, die der physiologischen Umlaufbahn ent­ sprechen, so der von Szondi be schriebene Übergang vom projekti­ ven Paranoid in die Katatonie: Solch chronischer Krankheitsver­ lauf zeigt ein definitives Umkippen einer expansiven p-Erkrankung (extreme Egodiastole) in eine eingeengte k-Störung (extreme Ego­ systole). Es ist anzunehmen, daß es sich hier u m allgemeine Funk­ tionsweisen im Sinn der ichhaften Abwehr handelt, wobei der Umschlag von den expansiven, paranoiden Ichstörungen in die eingeengt-versteinerten, katatoniformen Negationsstörungen nur ein Extrembeispiel ist. 89


Die Triebpathologie der Schicksalsanalyse

Analoges können wir bei chronifizierten Epilepsie-Patienten und Parkinsonkranken beobachten, die alle eine Zunahme der Hypernegation zeigen, mit Bildern wie z.B. Sch—!!!—(!) (Seidel 1962; Seidel 1966). Als Voraussetzung für ein gesundes Ichleben sollten die vier Ichradikale auf integrierte Weise in dynamischem Wechsel aufein­ ander bezogen sein. Sie sollte n sowohl den innerpsychischen Be­ dürfnissen gerecht werden als auch den Bezug zur Realität und zur Transzendenz regeln. Ansätze zu den erwähnten Ichstörungen finden sich häufig im Alltag: Weltfremdheit, Irrealität, Phantasterei und Schwärmerei, Neigung zu Sektiererei, Pseudoesoterik, Ideologien usw. oder um­ gekehrt steriler Materialismus, Bürokratismus, Zwanghaftigkeit, Phantasielosigkeit, Desillusionierung, Negativismus usw. Solche Zustände können in einem sehr weit gefaßten Spektrum psycholo­ gischer Phänomene noch knapp Platz finden, gehen jedoch fließend über in Ausprägungsformen, die eindeutig als krankhaft zu bewer­ ten sind. Ichstörungen im Alltag werden oft Gegenstand der Ichanalyse in der praktischen Psychotherapie. Szondi hat mit der Ichanalyse auf höchster Ebene das geleistet, was uns allen im A lltag aufgege­ ben ist: die Überbrückung des größtmöglichen Gegensatzes näm­ lich, dem zwischen der Realität und der Irrealität, zwischen der Ratio und dem Geist. Die Frage ist: Wie löst das Ich dieses Problem seiner Gegensatzstruktur?

90


Teil III

Behandlung

1

V o r u n t e r s u c h u n g (Martin Borner)

Wegen der Berücksichtigung hereditärer Faktoren kommt der Voruntersuchung in der schicksalsanalytischen Therapie eine große Bedeutung zu. Die Voruntersuchung beinhaltet: 1. 2.

Wahrnehmungen bei der Anmeldung und beim Erstkontakt, Anamnese,

3. 4.

Familienanamnese einschließlich Genogramm, Szondi-Test u nd evtl. andere Untersuchungsverfahren,

5.

Probleme und Konflikte,

6.

Ressourcen.

Die Voruntersuchung wird als Teil der Behandlung betrachtet, soll aber in der Regel zu deren Beginn, innerhalb der ersten fünf Sit­ zungen, stattfinden. Abweichungen von dieser Regel sind zu be­ gründen. Die Haltung des Therapeuten in dieser Anfangsphase soll sein: «Ehe ich Ihnen etwas sagen kann, muß ich viel üb er Sie er­ fahren haben; bitte teilen Sie mir mit, was Sie vo n sich wissen.» (Freud 1913, 468) Die Voruntersuchung erfüllt mehrere Funktionen: 1.

Aufnahme des Psychostatus,

2.

Diagnose, 91


Behandlung

3. 4.

Indikation, Prognose,

5.

Anknüpfen der therapeutischen Beziehung.

Durch die Art der Voruntersuchung und die spezifischen Fragestel­ lungen erhält der Patient eine Vorstellung von der schicksalsanaly­ tischen Denk -und Arbeitsweise. Ob eine Voruntersuchung stattfinden soll, ist innerhalb der Psychoanalyse umstritten. Die eine Gruppe behauptet, die Indika­ tion zu einer psychoanalytischen Therapie müsse auf der Trias von Anamnese, Status und Diagnose aufbauen (Maria Pfister-Ammende 1952.). Die andere Gruppe bezweifelt den Wert solcher Angaben und befürchtet, daß eine Voruntersuchung die Übertragung verfäl­ sche (Parin 1958). Szondi rechnete sich der ersten Gruppe zu. Er war der Ansicht, daß das analytische Heilverfahren eine medizinische Note tragen müsse, damit es nicht dem Dilettantismus verfalle (Szondi 1963, 107). Die Angst vor Verfälschung der Übertragung hielt er für übertrieben. Angesichts der von den Krankenkassen heute geforderten des­ kriptiven Diagnosen nach ICD oder DSM sind Anamnese und Psy­ chostatus unumgänglich. Zur Analyse des familiären Zwangs -und Freiheitsschicksals ist die Erstellung eines Genogramms notwen­ dig. Für die Triebdiagnostik ist der Szondi-Test das Instrument der Wahl. Aus schicksalsanalytischer Sicht ist es möglich, den Gegensatz von medizinischer und analytischer Einstellung zur Voruntersu­ chung zu überbrücken. Das am Wissen orientierte medizinische Vorgehen berücksichtigt vorwiegend die k-Funktionen, das nach dem Bewußtsein fragende analytische die p-Funktionen. Damit diagnostische und prognostische Aussagen g emacht werden kön­ nen, ist es notwendig, daß sowohl die egosystolische als auch die 92.


Voruntersuchung

egodiastolische Seite des Ich in die Voruntersuchung miteinbezo­ gen werden. Ein i8jähriger Patient erzählt zu Beginn der Therapie ausführlich von seinen Phantasien und Wünschen. Der Therapeut merkt nach ei­ niger Zeit, daß es ihm schwerfällt, sich ein Bild von den konkreten Lebensumständen des Patienten zu machen. So scheint der Patient viele Leute zu kennen und von diesen auch Vieles zu wissen. Den­ noch gelingt es dem Therapeuten kaum, diese Personen anders als durch ihre Namen auseinanderzuhalten. Er fragt sich, ob dies etwas damit zu tun haben könnte, daß der Patient sich und andere nicht wahrnehmen kann. Es würde sich somit um eine Störung der kFunktionen handeln.

l.i Anmeldung - Erstkontakt Bereits der Anmeldung respektive dem Erstkontakt zu einem psy­ chotherapeutischen Erstgespräch kommt große Bedeutung zu, weil dabei ein komplexer wechselseitiger Prozeß beginnt, d er sich bei beiden Personen auf g anz verschiedenen bewußten und unbewuß­ ten Ebenen abspielt. Zugleich ist dieser Anfang als Ganzheit überblickbar und somit als diagnostisches Instrument außeror­ dentlich nützlich. Der Therapeut achtet darauf, wie sich jemand anmeldet. Ist es eine Überweisung oder eine Selbstanmeldung? Erfolgt diese münd­ lich oder schriftlich? Welche Vorinformationen sind bereits be­ kannt? Der Therapeut ist sich dessen bewußt, daß der Moment, in welchem ein Mensch Hilfe sucht, emotionell hoch besetzt ist. Dies ungeachtet, ob jemand aus einer akuten Notsituation heraus an­ ruft oder ob der Anrufende diesen folgeschweren Augenblick in Gedanken schon oft durchgespielt und gute Gründe gefunden hat, den Anruf doch lieber auf einen späteren Zeitpunkt zu verschie­ ben. Der Therapeut soll auch darauf achten, in welchem Kontext 93


Behandlung

und in welcher Gefühlsverfassung er sich selbst befindet, wenn der Anruf ihn erreicht. Der Therapeut geht den bewußt wahrnehmbaren Phänome­ nen entlang, welche beim Erstkontakt auftauchen: Stimme, Schrift, Gefühle von Sympathie und Antipathie, Verhalten im Gespräch, Reihenfolge der angesprochenen Themen (Grund des Anrufes, Ter­ minvereinbarung, Wegbeschreibung, Finanzen, anderes). Er achtet darauf, ob der Anrufende auf Fragen antworten kann oder ob er anderes thematisiert (Dialogfähigkeit, Autonomie- und Macht­ fragen). Gibt es ein Thema, welches überwertig viel R aum bean­ sprucht? Der Therapeut achtet auch auf die Übertragungsange­ bote, die er herauszuhören glaubt, und darauf, mit welchen Gegenübertragungsgefühlen er reagiert. Die um ein Jahr jüngere Schwester einer 52jährigen Frau ruft an und teilt der Therapeutin mit, daß ihre Schwester sich in einer schweren Krise befin de und unmittelbar Hilfe und vorsich tige Betre uung be­ nötige. Die Therapeutin ist bereit, die Schwester zu sehen und erklärt der Anrufenden, daß sich die Sch wester direkt für eine Termin ab­ sprache melden möge. - Nach diesem Gespräch fragt sich die Thera­ peutin als erstes: Warum ruft die Sc hwester und nicht die Pa tientin selbst an? Ist die Patie ntin auf diese Hilf e tatsächli ch angewies en? Oder versteht sie es, andere für sich aktiv werden zu lassen ? Herrscht in der Herkunftsfamilie eine über-beschützende Atmosphäre? - War­ um wird eine Drittperson eingeschaltet? - Als die 52jährige Frau dann selbst teleph oniert, gibt sie an, sie möchte wege n Eheproble­ men in Therapie kommen. Ihr Mann habe nie Zeit für sie . Haupt­ thema während des Telefongesprächs ist aber das Finanzielle: ob die Krankenkasse die Therapie bezah le, ob die Therape utin ihre Kran­ kenkasse kontaktiere n könne, um das abzuklären usw. Die Thera­ peutin ermuntert die Patientin dazu, diese Fragen bis zum ersten Ter­ min zu klä ren. - Nach dem Gespräch stellt die Therapeutin fest, daß das Ubertragungsgeschehen jenem beim Telefongespräch mit der jüngeren Schwe ster gleich t: Die Patientin versucht durch das Ein­ führen von etwa s Drittem die Therapeutin für sich aktiv wer den zu 94


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lassen. Als Gegenübertragung spürt die Therapeutin Ärg er über die Ansprüche der Patientin, und sie realis iert, wie sie sic h emotio nell von ihr zur ückzieht, so wie dies möglicherweise auch der Ehemann tut, dessen Rückzu g die Patientin ja als Thera piegrund angege ben hat. Diese Wahrnehmungen aus dem Erstkontakt sind eine erste «Gra­ vur», auf Grund welcher die Therapeutin erste Hypothesen bildet und sich mögliche Übertragungs-Interventionen oder Probedeu­ tungen für das Erstgespräch überlegt. Die Therapeutin kann im Erstinterview beim Thema «Kranke nkasse und Finanzen » mittels einer Übertra gungs-Intervention versu chen, die Motivation zum Anspru chsverhalten der Pati entin hera uszufin­ den. Sie entwickelt ver schiedene Deutungsphantasien und entsche i­ det sich dann, welche davon sie der Patientin vermittelt. Ihre Probe­ deutungen kleidet sie in Form von Anfragen . Eine solch e Anfrage könnte lauten: < Sie haben am Tele fon ge sagt, dal? Ihr Mann wenig Zeit für Sie hat, und Sie haben mich gebeten, für Sie b ei Ihrer Kran­ kenkasse anzurufen. Könnte es sein, daß es für Sie wichtig ist zu er­ fahren, ob ich mir Zeit für Sie nehme, da schon Ihr Mann wenig Zeit für Sie hat? Was denken Sie darüber?> (zur Übertragungsdeutung sie­ he auch Kapitel 2.-7.3 ) Solche Interventionen sind aus folgenden Gründen wichtig: Er­ stens wird dem Patienten von Anfang an deutlich gemacht, daß in der Therapie die Analyse des Übertragungsgeschehens eine wichti­ ge Rolle spielt, und es wird ihm an einem einfachen Beispiel ge­ zeigt, w ie d as konkret aussehen kann. Zweitens sieht d er Thera­ peut, ob und wie der Patient imstande ist, auf solche D eutungen einzugehen. Er ist sich dabei bewußt, daß Übertragungsdeutungen, vor allem zu Beginn der Therapie, vom Patienten als feindlich emp­ funden werden können, so daß sie d as Arbeitsbündnis eher bela­ sten. Während die Bezugspersonen des Patienten außerhalb der Therapie ihre Gefühle - im obigen Beispiel ihren Arger über das 95


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Anspruchsverhalten der Patientin - agieren, benutzt der Therapeut drittens seine Gegen Übertragung, um den Patienten auf konstruk­ tive Weise mit der Realität zu konfrontieren. Mit der Erwartung des ersten Gesprächs ist auch ein Moment der Spannung, der Aufregung, ja sog ar der Angst verbunden. «So­ wohl für den Analytiker wie auch für den Patienten rührt die Ge­ fahr für das erste Treffen zu ei nem Großteil von der Aussicht auf eine neue Begegnung mit der eigenen Innenwelt und der einer an­ deren Person her. Von Therapeuten, die ihren Beruf noch nicht lan­ ge ausüben, wird diese Angst häufig mißverstanden. Sie halte n sie für ihre Furcht, daß der Patient die Behandlung wieder abbrechen würde; tatsächlich fürchtet sich der Therapeut davor, daß der Pa­ tient bleiben will.» (Ogden 1995, 174) Aufgrund seiner Wahrnehmungen beim Erstkontakt läßt der Therapeut seine Phantasien und Vorstellungen über den Patienten auftauchen. Wenn Patient und Therapeut sich in R ealität zum er­ sten Mal gegenüberstehen, hält der Therapeut den ersten Eindruck fest, aber auch das Divergierende und Übereinstimmende zwischen Phantasierten! und Realem. Was ihm auffällt, registriert er, ohne es schon zu deuten. Dazu gehören der erste Blickkontakt, die Ge­ pflegtheit der Erscheinung, altersentsprechendes Aussehen, Gang, Gerüche, Händedruck, sprachlicher und gestisch-mimischer Aus­ druck, Kleidung, Körperhaltung und emotionale Verfassung. Der Therapeut beachtet, was äußerlich geschieht und was dieses Geschehen innerlich bei ihm auslöst. Eine Leitfrage kann lauten: Wie se tzt sieb der Patient in Szene ? - Zur Inszenierung gehören: Wie gestaltet er die erste Begegnung? Wie bewegt er sich im Behandlungsraum? Welche Gefühle, Fragen und Irritationen steigen beim Therapeuten als Betrachter dieser Szene auf? Die Art und Weise, w ie Patienten ihr Erscheinen ankündigen, weist auf ihre Durchsetzungsfähigkeit im Leben hin: Lautes Klopfen oder

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energisches Läuten (s+), geduldiges Warten, bis der Therapeut die Tür öffnet (auch als Test: Hat der Therapeut mich nicht vergessen?).

Therapeuten in Ausbildung haben oft den Impuls, den Patienten die Befangenheit zu nehmen, indem sie ihre eigene Befangenheit durch eine gesellschaftsgängige Bemerkung aufzulockern suchen. Das ist aus drei Gründen nicht angebracht: Erstens kann eine sol­ che Bemerkung den Patienten in d ie Schuld der «Freundlichkeit» bringen und ihn unter Druck setzen, die «Freundlichkeit» zu erwi­ dern, indem er dem Therapeuten hilft, Gefühle des Unbehagens zu vermeiden. Zweitens nimmt sie dem Patienten die Möglichkeit, sich dem Therapeuten in der Art vorzustellen, die er bewußt oder unbewußt wählt, um die ersten Augenblicke seiner eigenen Ge­ schichte zu gestalten und darzustellen. Schließlich soll sich der Therapeut bei d er ersten Begegnung durchaus auf seine Intuition verlassen. Er wird sich dann einem schizoiden Patienten gegenüber ganz anders verhalten als gegenüber einem depressiven. Nicht konventionell ist die Frage, ob der Patient den Weg zur Praxis des Therapeuten gut gefunden habe. Die Antworten zeigen, wie sich der Patient im Leben überhaupt zurechtfindet. Alle Wahrnehmungen aus der Erstbegegnung werden zunächst gesammelt und aufbewahrt. Das so gewonnene Material soll spä­ ter in ei nen Zusammenhang gestellt und zu einem Bild verd ichtet werden, wobei uns die Frage begleitet: Wo finden wir Bestätigung, Übereinstimmung, wo Widersprüche? Zurück zu unserem Beispiel: Von den vielen Eindrücken bei der ersten Begegnung blieb d er Therapeutin inhaltlich besonders die Tatsache, daß die Patientin nur von gut funktionierenden, in­ takten Aspekten ihres Lebens berichtete, und formal-szenisch, daß die Patientin der Therapeutin räumlich sofort sehr nahe stand, ohne daß die Therapeutin hätte feststellen können, wie die Patien­ tin diese Nähe konstellierte. Die Therapeutin versuchte verschie97


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deutlich durch kleine Schritte etwas mehr Distanz zu schaffen, was ihr nicht gelang. Das Gleiche spielte sich auch im Therapiezimmer ab: Es war für die Therapeutin unmöglich, zwischen ihr und der Patientin mehr Raum zu schaffen. Diese Auffälligkeit wiederholte sich ebenfalls am Schluß des Erstgesprächs: Beide h atten sich be­ reits von ihren Sesseln erhoben, und wiederum konstatierte die Therapeutin, daß die Patientin ganz nah und gleichzeitig inaktiv neben ihr stand, ohne Anstalten zu treffen, den Raum zu verlassen. Schließlich wurde die Therapeutin aktiv, d. h. sie öffnete die Tür. Erst als die Therapeutin die wenigen Schritte der Patientin beob­ achten konnte, welche diese von der Praxistür zur Treppe machte, sah sie, daß die Frau hinkte (sie hatte im Erstgespräch beiläufig eine gut verlaufene Kinderlähmungs-Erkrankung im Alter von 13 Jahren erwähnt). Durch das ununterbrochene Nahestehen war es der Therapeutin nicht möglich gewesen, die Gesamterscheinung der Frau und somit ihre körperliche Behinderung wahrzunehmen. - Die Phantasie der Therapeutin lautet somit: Die Nähe respektive der fehlende Abstand der Patientin hat den Sinn, die Behinderung unsichtbar zu machen. Das Bedürfnis der Mitmenschen, in Distanz zu gehen, bedeutete für die Patientin jedesmal eine Konfrontation mit ihrer Behinderung. Es ist jedoch diese Nähe respektive der feh­ lende Raum oder genauer der durch die Patientin noch nicht e r­ laubte Raum, welcher die tatsächliche Behinderung bewirkt. Und insofern war das Einführen des Dritten (Schwester, Krankenkasse) ein kreativer Selbstheilungsversuch der Patientin, zwischen ihr und der Therapeutin Raum zu schaffen, wobei es sich noch um abwe­ sende, unsichtbare Räume handelte. Eine zweite Arbeitshypothese lautet: Sichtbarer Raum muß nicht nur Behinderung bedeuten, sondern zeigt neue Möglichkeiten auf, wie z wei Menschen sich — innerhalb abgesteckter Grenzen - bewegen und gleichzeitig aufein­ ander bezogen bleiben können.

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Voruntersuchung

1.2 Persönliche Anamnese Das allgemeine Vorgehen bei der persönlichen Anamnese orientiert sich an der psychoanalytischen Technik des Erstinterviews (Argelander u. a.), ergänzt durch spezielle schicksalspsychologische Fra­ gestellungen nach den verschiedenen Ebenen des Zwangs- und Wahlschicksals (Szondi 1956, 515): •

Berufs-, Freundschafts-, Liebes- und Krankheitswahlen,

Unfälle,

Dominanz bestimmter Triebfaktoren,

gelungene Sozialisation von Triebbedürfnissen,

• • •

soziales Umfeld, mentale Einflüsse, ethische und religiöse Werte (vgl. 1.6 Ressourcen).

Im Sinne einer Hypothesenbildung können die gewonnenen Daten faktoriell signiert werden. Ein 43jähriger Bankbeamter (d < Geld) meldet sich wegen immer häufiger auftretender depressiver Verstimmungen (d < Depression) zur Therapie an. Vor zwei Jahren ist er wegen eines Darm-Ca (d < Analität) operiert worden. Er möchte nur alle 2 Wochen in die The­ rapie kommen (d < Geiz).

Eine allgemeinverbindliche Technik der Anamneseerhebung gibt es nicht. Die aktuellen Probleme des Patienten haben, besonders im Erstinterview, Vorrang. Der Therapeut soll von diesen ausgehen und so viele biographische Angaben erfragen, als für das Ver­ ständnis der aktuellen Situation förderlich sein können. Er soll sich dabei der Spannung bewußt sein zwischen der Struktur, ohne wel­ che eine sinnvolle Therapie nicht möglich ist, und der Offenheit für das Unerwartete, damit er nicht in die Falle der eigenen Voreinge­ nommenheit gerät. In den folgenden Stunden kann er das Fehlen99


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de ergänzen. Er soll m öglichst nicht schematisch erfragen, sich je­ doch bewußt sein, was er wissen möchte. Indem er dem Patienten zu verstehen gibt, daß er zuerst Einiges von ihm wissen muß, da­ mit er ihm helfen k ann, schürzt er ihn davor, Vorstellungen magi­ scher Heilkraft auf ihn zu projizieren. Je mehr Freiheit der Thera­ peut dem Patienten bei der Erzählung seiner Lebensgeschichte jedoch geben kann, desto mehr erfährt er darüber, wie der Patient zu sich und seiner Geschichte steht. Zur Erhebung der Anamnese kann der Therapeut den Patien­ ten auch um einen ausführlichen schriftlichen Lebenslauf bitten. Ein Patient überrascht den Therapeuten mit einem ausführlichen schriftlichen Lebenslauf, den er ihm vor der ersten Stunde schickt. Später erweist sich, daß diese Art der Beziehungsaufnahme typisch ist für das Kontaktverhalten des Patienten.

1.3 Familienanamnese (Genogramm) Mit Hilfe des Genogrammes können sowohl krankmachende Ah­ nenansprüche als auch bisher ungelebte Existenzmöglichkeiten entdeckt werden (Szondi 1963, 109). 1.3.1 Aufnahme Das Genogramm kann während der Sitzung aufgenommen oder als Hausarbeit aufgegeben werden. Im ersten Fall ist die Genogrammaufnahme ein Stück Therapie. Im zweiten Fall kann dem Patienten ein Merkblatt mit den gewünschten Angaben mitgege­ ben werden. In jedem Fall soll der Patient Gelegenheit haben, über Erfahrungen bei der Befragung von Familienangehörigen und Ver­ wandten zu berichten. Zeitpunkt und Vollständigkeit der Genogrammaufnahme hän­ gen von der therapeutischen Situation ab. Bei Pati enten in Kris en­ situationen wird sich der Therapeut auf solche Angaben beschrän100


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ken, die für das Verständnis der aktuellen Situation erforderlich sind. Anderen Patienten fällt der Einstieg in die persönliche Le­ bensgeschichte über die Familiengeschichte leichter. Der Patient hat zu Beginn der ersten Stunde Mühe zu sprechen. Er gibt der Therapeutin zu verstehen, daß es ihm lieber wäre, wenn sie ihm Fragen stellen würde, auf die er antworten könnte. Als Grund für seine Schwierigkeit gibt er an, daß er auch sonst nur wenig spre­ che. Das sei schon immer so gewesen. Auch als Kind habe er nur das Notwendigste gesprochen. Seine Mutter hingegen sei sehr gesprächig gewesen. Die Therapeutin fordert ihn auf, mehr über seine Kindheit zu erzählen, und der Patient berichtet ausführlich über seinen Le­ benslauf. Am Ende der Stunde sagt er, andere Leute wüßten wohl viel mehr über sich und ihre Familie zu erzählen als er. Er interessiere sich sehr für die Biographien berühmter Leute und die Familiengeschich­ ten von Herrscher-Dynastien.

Inhalt Das Genogramm erfaßt idealerweise drei bis vier Generationen 1.3.2

und bezieht auch die Personen mit ein, die durch Heirat oder Le­ bensgemeinschaft mit den Blutsverwandten verbunden sind, sowie die Kinder der Verwandten, die eigenen Geschwister, deren even­ tuelle Partner und Kinder. Zu den einzelnen Personen werden notiert: Geburts- und evtl. Todesdatum, Geschlecht, Beruf, Charakterzüge, besondere Bega­ bungen, somatische und psychische Anfälligkeiten oder Krankhei­ ten, Unfälle und Todesursachen, religiös-weltanschauliche Hal­ tung und Erziehung. Weiter soll das Genogramm Angaben über Beziehungen enthalten. Von Personen, die der Patient selber kennt, soll er angeben, in welchem Verhältnis er zu ihnen steht (Sympa­ thie oder Antipathie, Nähe oder Distanz, Ähnlichkeiten oder Dif­ ferenzen, Vorbildfunktion usw.). Der Therapeut unterscheidet objektive Daten vom subjektiven Bild des Patienten von seiner Familie. Zur Reihenfolge gelten fol­ 101


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gende Faustregeln: Objektives vor Subjektivem, Angaben über Einzelpersonen vor Einschätzung von Beziehungen, einfachere vor schwierigeren und emotional belastenderen Themen. Es empfiehlt sich, die Einleitungsfrage möglichst offen zu stel­ len: «Können Sie m ir etwas über Ihre Familie erzählen?» - Man­ chen Patienten gelingt es, ein zusammenhängendes Bild ih rer Fa­ milie zu vermitteln. Andere sind auf Fragen angewiesen. 1.3.3 Signierung Die Signierung richtet sich nach den für Genogramme heute übli­ chen Kodierungen (Mc Goldrick 8c II. Gerson 1990). 1.3.4 Fehlendes im Genogramm Aus äußeren (uneheliche, Scheidtmgs- oder Adoptivkinder, Kinder aus Patchwork-Familien, Emigration, Krieg u.a.) oder inneren Gründen (fehlendes Zeitgefühl, mangelndes Interesse an eigener Vergangenheit, mangelndes familiäres Bewußtsein, Ausschluß von Familienteilen, Verdrängung bestimmter Themen u. a.) können die Angaben zum Genogramm Lücken aufweisen. In solchen Fällen versucht der Therapeut gemeinsam mit dem Patienten das Fehlen­ de als solches zu deuten. Ein Klient mit Sucht- und Abhängigkeitsproblemen wird sich bei der Genogramm-Aufnahme bewußt, daß er von der Familie seiner Mut­ ter sehr viel, von der Familie seines Vaters hingegen kaum etwas weiß. Er erinnert sich daran, daß die Mutter den Vater und dessen Familie, in der es einige Alkoholiker gegeben habe, als Versager be­ zeichnete und den Kontakt zu ihr abgebrochen hatte. So durfte er als Kind auch nicht zu seinen Großeltern väterlicherseits in die Ferien gehen. Das in seinem Genogramm Fehlende ist das Symptom, des­ sentwegen er sich in Therapie begeben hat.

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Voruntersuchung

1.3.5 Erste Bemerkungen zum Genogramm Eine erste Stellungnahme zum Genogramm kann unmittelbar nach dessen Aufnahme erfolgen, falls sich bereits ein Bezug zur Sympto­ matik des Klienten herstellen läßt. Die ausführliche Besprechung des Genogramms erfolgt in der Regel bei der Konfrontation mit den unbewußten Ahnenan­ sprüchen in der spezifisch schicksalsanalytischen Phase der Thera­ pie (siehe Teil III, Kap. 3.5). 1.4 Szondi-Test Im Verlauf der Voruntersuchung erfolgt in d er Regel die vollstän­ dige Aufnahme des Szondi-Tests mit den 10 Profilen. Die quanti­ tative und qualitative Auswertung dient vorerst als eine der Grund­ lagen für die Beantwortung der Fragen nach der Indikation und der Prognose. Wenn möglich führt der Therapeut den Test selber durch. Unter Umständen kann der Test dem Patienten zur Auf­ nahme mitgegeben werden. Das erste und wenn möglich auch das letzte Profil sol lten jedoch durch den Therapeuten aufgenommen werden. Wird der Szondi-Test nicht aufgenommen, so ist dies nach Möglichkeit zu begründen. Die Testaufnahme kann auch zu einem späteren Zeitpunkt sinnvoll sein. Ein 5ojähriger Mann, der sich seit vielen Jahren in psychiatrischer Behandlung befindet, warnt den Untersucher gleich zu Beginn, zu viele Informationen einzuholen. Er wolle zuerst Vertrauen fassen und sich auf sein mitmenschliches Gespür verlassen. Er sei eben sehr, sehr mißtrauisch, aber davon zu reden sei unsinnig, das gehöre zur Vergangenheit und solle vergessen werden. Der Untersucher zeigt ihm Verständnis für seinen Wunsch, über sich selber verfügen zu müssen, und willigt ein mit dem Hinweis, daß Zeit oft Rat bringe. Um ihn optimal verstehen zu können, möchte er aber auch mit einem Testverfahren arbeiten. Wie der Damm in der 6. Stunde bricht, wird die Aufnahme des Szondi-Testes möglich.

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Ein Patient äußert immer wieder die Vermutung, ein Jahre zurück­ liegender Unfall könnte eine bleibende Hirnschädigung verursacht haben. Er beruft sich auf die Untersuchungsergebnisse bildgebender Verfahren, welche eine leichte Anomalie festgestellt hätten. Der The­ rapeut verzichtet auf eine Szondi-Testaufnahme, weil er den Phanta­ sien des Patienten keine neue Nahrung liefern möchte.

1.5 Probleme, Konflikte Am Anfang der Begegnung zwischen Patient und Therapeut steht

- explizit oder implizit - die Frage im Mittelpunkt: «Was ist I hr Problem?» - Patient und Therapeut sollen sich auf eine Antwort auf diese Frage einigen. Diese Antwort ist eine vorläufige. Sie gibt das wider, was der Patient im M oment versteht und was dem The­ rapeuten aufgrund seiner konzeptuellen Überlegungen möglich scheint. Die Problemformulierung dient dem Therapeuten einer­ seits als Baustein für die Diagnose. Als gemeinsam erarbeitete Problemdefinition ist sie anderseits der Grundstein für das Ar­ beitsbündnis und Orientierungspunkt der Therapie. Wegen des Widerstandes empfiehlt es sich, das Problem in Form eines Kon­ fliktes - statt eines unbewußten Wunsches - zu formulieren. Nennt der Patient mehrere Probleme, fordert der Therapeut ihn dazu auf, eine Rangfolge zu erstellen. Eine 40jährige Frau meldet sich zur Therapie an. Als Anlaß nennt sie in der ersten Stunde eine Auseinandersetzung mit ihrem ältesten Sohn, in deren Verlauf ihr bewußt geworden sei, daß sie sich in be­ stimmten Situationen genau so verhalte wie er. Wenn sie sich über­ fordert fühle, drohe sie wegzulaufen, ihre Familie zu verlassen oder sich das Leben zu nehmen, obwohl das nie ernsthaft ihre Absicht ge­ wesen sei. Die Anamnese ergibt unter anderem, daß die Patientin ihren Mann schon als Fünfzehnjährige kennenlernte, seinetwegen das elterliche Haus verließ und früh heiratete. Deswegen habe sie auch keinen Beruf erlernt. Die Erziehung der drei Kinder habe sie

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meist als schwierig erlebt. Ihr Mann habe sie dabei mehr kritisiert als unterstützt. Schamhaft gesteht sie, daß sie manchmal Jähzornsanfäl­ le habe und hie und da heimlich größere Mengen Alkohol konsu­ miere. Andeutungsweise erwähnt sie auch sexuelle Schwierigkeiten zwischen ihr und ihrem Mann. Der Therapeutin fällt ihre Neigung zum Erröten auf. Am Ende des Erstgesprächs formulieren Patientin und Therapeu­ tin als Hauptproblem das Gefühl der Patientin, allein gelassen zu werden. Dahinter verbirgt sich der Konflikt zwischen zwei ge­ gensätzlichen Bedürfnissen: Einerseits sehnt sich die Patientin nach Nähe, Geborgenheit und Akzeptation (m+); anderseits möchte sie sich auch einmal zurückziehen können und nur für sich alleine sein (m-). Die Therapeutin hält für sich zusätzlich die paroxysmale Ab­ wehrform (hy) fest, wobei sie noch offen läßt, ob die Patientin damit mehr das frühe Anklammerungsbedürfnis (m+) abwehrt oder das Be­ dürfnis sich zu lösen (m-) und sich auf den Weg zur Autonomie (d) zu machen. Später reißt die Patientin mehrmals aus der Therapie aus, und es erweist sich, daß sie sich mit dieser Flucht die Gewißheit zu verschaffen sucht, sie sei unabhängig.

3.5.1 Verbalisierung Der Patient soll sein Problem verbalisieren, ihm einen Namen ge­

ben. Die Beschreibung und Benennung d es Problems soll so weit als möglich eine Leistung des Patienten sein. Der Patient soll in sei­ ner Sprache sagen können, was sein Problem ist. Der Therapeut akzeptiert die Ausdrucksweise des Patienten als die im Augenblick bestmögliche. Er achtet auf besondere sprachliche Wendungen, welche ein Ausdruck der Eigenwelt des Patienten sein können. Im Verlaufe der Therapie kann er diese Wendungen wieder aufgreifen. Eine Patientin sagt von sich in der ersten Stunde, sie habe oft das Ge­ fühl, für andere eine Zumutung zu sein. Am Ende der Stunde wie­ derholt die Therapeutin diese Formulierung in der 1. Person Singu­ lar: dch (Name der Patientin) bin eine Zumutung.» Sie gibt damit zu erkennen, daß sie die Äußerung der Patientin als Ausdruck eines all­

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gemeinen Lebensgefühls versteht, welchem in der Therapie Raum ge­ geben werden darf.

1.5.2

Thematisierung

Der Therapeut achtet darauf, welche schicksalspsychologischen Funktionskreise vom Patienten angesprochen werden und welche nicht. In dem unter 3.5 genannten Beispiel berührt die Schilderung der Patientin die Funktionskreise C, S und P. Nich t angesprochen bleibt der Ich-Bereich. In der zweiten Stunde fordert die Therapeu­ tin die Patientin auf sich vorzustellen, was ihren Sohn dazu bewe­ gen könnte, sie zu beschimpfen. 1.5.3

Gewichtung

Gibt der Patient mehrere Probleme an, so soll er versuchen, eine Beziehung zwischen ihnen herzustellen oder sie in einer Hierarchie zu ordnen. Fällt es ihm schwer zu sagen, was überhaupt sein Pro­ blem sei, könnte sich gerade darin ein Problem manifestieren. 1.5.4 Akzeptation Der Therapeut vermittelt dem Patienten das Gefühl, daß er ihn so, wie er ist, akzeptie re. Falls er nicht versteht, worin das Problem des Patienten besteht, stellt er dies ohne zu kritisieren fest u nd fordert den Patienten auf, zu wiederholen oder sich genauer auszu­ drücken. Gewinnt er den Eindruck, daß der Patient ihm ein Pro­ blem präsentiere, um von ihm als Patient akzeptiert zu werden, kann er dies nach dem Prinzip der Vorläufigkeit (siehe unten) ge­ statten. Die Patientin erzählt von zahlreichen Schwierigkeiten an ihrem Ar­ beitsplatz. Sie fühlt sich von ihren Mitarbeiterinnen nicht recht ernst genommen, weiß nicht, was ihre Vorgesetzte eigentlich von ihr hält und ob die Firma ihre Arbeit überhaupt als sinnvoll betrachtet. Sie befürchtet, daß ihre Stelle im Zuge von Sparmaßnahmen gestrichen

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werden könnte. Sie möchte beweisen, wie wichtig ihre Arbeit sei, fühlt sich aber durch die Gleichgültigkeit um sie herum selber zu­ nehmend apathischer. Sie leidet an Schlaflosigkeit lind hat verschie­ dener somatischer Beschwerden wegen in letzter Zeit häufig ihren Hausarzt konsultiert.

Die Therapeutin: «Ich verstehe, daß die Situation an Ihrem Ar­ beitsplatz Ihnen Mühe macht, und ich spüre auch, wie Sie darun­ ter leiden. Im Verlaufe der Therapien könnten wir gemeinsam ver­ suchen herauszufinden, was diese Schwierig keiten mit Ihnen zu tun haben.» Nennt der Patient ein Problem, das in einer Therapie nicht gelöst werden kann, weist der Therapeut ihn darauf hin. Durch sei­ ne Stellungnahme versucht er sich dem Patienten auch als Vertre­ ter des Realitätsprinzips darzustellen, der ihm hilft, besser mit der äußeren Welt zurecht zu kommen. Eine fünfzigjährige ledige Patientin mit depressiven Verstimmungen, die bis zum Tode der Eltern in deren Haus gelebt hat, nennt dem The­ rapeuten als Ziel, einen Freund zu finden. Der Therapeut: «Wir kön­ nen versuchen herauszufinden, warum es Ihnen bisher nicht gelun­ gen ist, Ihren langgehegten Wunsch nach einer Freundschaft zu verwirklichen.»

1.5.5 Vorläufigkeit Der Therapeut würdigt die Beschreibung und Benennung von Pro­ blemen von Seiten des Patienten als Ausdruck dessen, was diesem im Augenblick bewußt ist und was er zu diesem Zeitpunkt fähig ist zu sagen. Dies ist ein erster Schritt. Er drückt damit die Zuversicht aus, daß der Patient im Verlaufe der Therapie weitere Schritte tun wird und daß sich die Probleme verlagern können. Der Patient drückt in der ersten Stunde seine Unzufriedenheit mit sei­ nem bisherigen Beruf aus. Er hat sich verschiedene andere berufliche

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Tätigkeiten überlegt, aber jede dieser Möglichkeiten mit ihm zwin­ gend scheinenden Argumenten widerlegt. Der Therapeut: «Sie fühlen sich unzufrieden mit dem, was Sie in Ihrem bisherigen Berufsleben gemacht haben, und Sie sind deshalb auf der Suche nach einer grundsätzlich neuen Tätigkeit. Aber Sie wissen nicht, was dies sein könnte. Bei allem, was Sie gerne tun möchten, sehen Sie sich vor un­ überwindlich scheinende Schwierigkeiten gestellt. - Wir können zunächst versuchen zu verstehen, warum es für Sie keinen Ausweg aus Ihrer Situation zu geben scheint. Dann werden wir weiter sehen.»

1.6 Ressourcen 1.6.1 Wahl der Therapie als Ressource Während des Erstgesprächs achtet der Therapeut auch auf die Res­ sourcen (Fähigkeiten, Begabungen, Fertigkeiten, Stärken) des Pati­ enten. In der therapeutischen Arbeit kann er auf diese Ressourcen zurückgreifen. Die ersten Ressourcen sind jene, wel che es d em Patienten er­ möglichen, sich zu einer Therapie zu entschließen. Der Therapeut fragt sich, welche Bedürfnisse den Patienten veranlassen, eine The­ rapie zu wählen: i.

das Bedürfnis nach Akzeptation (m+) oder nach Befreiung ( m-) ?

z.

das Bedürfnis nach Veränderung (d+) oder nach Bewahrung (d-)?

3.

das Bedürfnis nach persönlicher (h+) oder nach kollektiver Zärtlichkeit (h—) ?

4. 5.

das Bedürfnis nach Aktivität (s+) oder nach Hingabe (s—) ? das Bedürfnis, gut und gerecht (e+) ode r böse und ungerecht (e-) zu sein? das Bedürfnis, sich zu zeigen (hy+) oder sich zu verbergen (hy-)?

6.

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Voruntersuchung

7. 8.

das Bedürfnis nach Partizipation und Verschmelzung (p—) oder nach Bewußtwerdung und Selbständigkeit (p+)? das Bedürfnis, etwas zu haben (k+) oder nicht zu haben (k-)? Eine Patientin äußert im Erstgespräch Zweifel daran, ob sie mit ihrem Problem ein Anrecht darauf habe, eine Therapie in Anspruch zu nehmen. Darin kann sich das Bedürfnis nach Akzeptation oder das Bedürfnis nach Wiedergutmachung (Schuldgefühle) ausdrücken.

1.6.2 Weitere Ressourcen Im Verlaufe der Anamnese achtet der Therapeut auf weitere Res­ sourcen, entsprechend dem Schema der schicksalsbedingenden Faktoren (Szondi 1956, 515). Konstitutionelle Ressourcen Das kollektive und familiäre Erbe, das sich in Form von Berufen, Begabungen, Interessen, Leistungen, allgemein als «Muster und Fi­ gur» (Rilke) der Ahnen äußert. In der Familie eines Exhibitionisten kommen zahlreiche bildende Künstler vor. Der Therapeut fragt sich, ob die Verwandten des Pa­ tienten das exhibitionistische Bedürfnis operotrop im Schaffen und Ausstellen von Plastiken und Gemälden befriedigt haben und welche Lösungen für den Patienten in Frage kämen. Es stellt sich dann her­ aus, daß der Patient Talent zum Zeichnen besitzt, davon aber bisher nie Gebrauch gemacht hat.

Ressourcen aus dem persönlichen Trieb -und Affektleben Sie können aus der Anamnese, dem Verhalten und dem Szondi-Test erschlossen werden. Der Therapeut achtet insbesondere darauf, welche Sozialisierungen von Triebbedürfnissen dem Patienten in seinem bisherigen Leben gelungen sind.

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Ein depressiver Patient, der einer unehelichen Beziehung entstammt und der seinen Vater nicht kennt, leidet zusätzlich unter der Un­ fähigkeit, sich für etwas entscheiden zu können. Die Anamnese er­ gibt, daß er vor einigen Jahren in einem Archiv gearbeitet hat. Der Therapeut stellt bei sich die Vermutung auf, daß der Patient bei die­ ser Beschäftigung zugleich zwei Bedürfnisse hat sozialisieren können: seine Zwanghaftigkeit, die sich auch in einem peinlichen Ordnungs­ bedürfnis äußert, sowie das Bedürfnis nach Beschäftigung mit dem Alten (auf die Suche gehen nach dem unbekannten Vater).

Ressourcen aus der sozialen Umwelt (k-Funktion) Inwiefern können soziale Herkunft und soziale Umwelt dem Pati­ enten bei der Lösung seiner Probleme oder Konflikte behilflich sein? - Über welche erzieherischen und bildungsmäßigen Voraus­ setzungen verfügt der Patient? - Ist er verbalisationsfähig? - Wel­ chen Beruf o der welche Berufe h at er erlernt? - In welcher beruf­ lichen Position befand oder befindet er sich? - Wie ist seine materielle Situation? - Verfügt er über ein funktionierendes sozia­ les Netzwerk (Partnerschaft, Familie, Verwandtschaft, Bekannt­ schaft, berufliche Kontakte)? Eine Patientin aus einer wohlhabenden und angesehenen Anwaltsfa­ milie, jahrelang in einer psychiatrischen Klinik hospitalisiert, hat die Erinnerungen an ihr früheres Leben und ihre «gesunde» Persönlich­ keit bewahrt. Als junges Mädchen spielte sie Tennis und fuhr Ski, er­ lernte eine Reihe von Fremdsprachen, reiste viel, besuchte Konzerte und spielte Klavier. Sie genoß eine sorgfältige kaufmännische Aus­ bildung und hätte die Möglichkeit sowohl zu einer beruflichen Kar­ riere als auch zu einer guten Partie gehabt. - Ihre persönlichen An­ sprüche und die Erwartungen ihrer Familie haben sie bisher davor bewahrt, in einem Pflegeheim für Chronischkranke versorgt zu wer­ den. Der Therapeut überlegt sich, wie sie trotz ihrer Behinderung im Einklang mit ihrer sozialen Herkunft leben könnte. Eine depressive Patientin hat schon als Kind Geigenunterricht ge­ nossen. In Phasen depressiver Verstimmung beklagt sie sich darüber, no


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daß sie nichts mehr fühlen könne. Das Geigenspielen gibt ihr dann die Gewißheit, daß ihr Gefühlsleben noch nicht verarmt ist.

Ressourcen aus der mentalen Umwelt (p) Inwiefern können Erziehung und Bildung, geistiges Milieu, private und berufliche Werte und Normen, Weltanschauung, Welt- und Menschenbild dem Patienten bei der Bewältigung seiner Probleme oder Konflikte behilflich sein? - Wie steht seine Umgebung zu sei­ nen Problemen oder Konflikten und zu seinen Versuchen, diese zu bewältigen? - Was bedeutete es in seiner Herkunftsfamilie, Pro­ bleme zu haben? - Bestehen in d er Familie des Patienten Muster für seine Probleme oder Konflikte und Muster für deren Bewälti­ gung? Eine agoraphobische Patientin mit zwanghaften Zügen kümmert sich trotz ihrer Behinderung um ihre Familie. Sie stammt aus einfa­ chen bäuerlichen Verhältnissen und war von Kind an schwere Arbeit gewöhnt. Der Therapeut überlegt s ich, ob sie, wegen ihrer zahlrei­ chen Verpflichtungen als Mutter und Hausfrau, nicht gute Gründe haben könnte, sich ans Haus gebunden zu fühlen und ob sie als Hausfrau nicht Gelegenheit hätte, ihre Zwanghaftigkeit in Form von Sauberkeit und Ordnungsliebe zu sozialisieren.

Ressourcen der Persönlichkeit Welche Ich-Funktionen können dem Patienten bei der Bewältigung seiner Probleme oder Konflikte behilflich sein? - Uber welche au­ toplastischen (Assimilation, k+) und alloplastischen (Adaption, k-) Fähigkeiten verfügt der Patient? - Welche Abwehrmechanis­ men setzt er ein? - Wie funktionieren die ethische (e) und die mo­ ralische (hy) Zensur? - Welche Coping- und Problemlösestrate­ gien benützt er? - Inwiefern ist er der Überzeugung, daß er seine Probleme bewältigen kann (self efficacy expectation)? - Welche Bereiche der Persönlichkeit sind problemfrei? in


Behandlung

Eine Patientin ist fähig, sich bei der Vorbereitung auf eine Prüfung in­ tellektuell anzustrengen und zu konzentrieren. Dies hilft ihr auch, Gefühle, die sie sonst belasten würden, zu rationalisieren. Den Eltern wird von der Ärztin der Klinik mitgeteilt, daß ihr Kind an Krebs erkrankt sei. Das Kind, das krank in seinem Bettchen liegt, wartet sehnsüchtig darauf, daß seine Eltern wieder kommen. In die­ ser Situation hilft es den Eltern die Fassung vor dem Kind zu bewah­ ren, wenn sie das Gehörte ungeschehen machen können. Die Thera­ peutin unterstützt die Eltern dadurch, daß sie die Krankheit nicht anspricht. Erst mit der Zeit wird es den Eltern möglich sein, sich mit der folgenschweren Tatsache auseinanderzusetzen. Auch Freizeitbeschäftigungen und die dabei verlangten Fähigkeiten können Ich-Stärken verraten (z.B. regelmäßiges Sporttraining oder geduldiges Briefmarkensammeln als Hinweise auf k-Funktionen).

Ressourcen aus dem Pontifex-Ich Die drei Kernfragen lauten: Ist der Patient fähig, Vertrautes zu ver­ lassen und sich Neuem zuzuwenden, d.h. zu transzendieren? Kann er dieses Neue in s ein Selbstbild integrieren? - Kann er an sich selber und an seiner Umwelt partizipieren und dadurch zu einer versöhnlicheren Haltung zu sich selbst und zu den anderen gelangen? Ein Patient berichtet zu Beginn der Therapie, er träume stets nur «dummes Zeugs», mit dem er nichts anfangen könne. Nach einiger Zeit gelingt es ihm, seine Träume zu erzählen, anfänglich noch mit der Frage verbunden, ob der Therapeut denke, er sei verrückt. Mit Hilfe der Traumdeutung lernt er das Verwirrende seiner Träume als Teil seiner selbst kennen und akzeptieren.

Auch wenn der Therapeut direkt oder indirekt nach Ressourcen fragt, soll der Patient das Gefühl erhalten, er werde mit seinen Pro­ blemen ernst genommen. Er soll nicht den Eindruck bekommen, uz


Voruntersuchung

der Therapeut erwarte von ihm - wie es möglicherweise seine Um­ gebung tut -, daß er «positiv» über seine Schwierigkeiten h inweg­ gehe. Der Therapeut trägt dem Umstand Rechnung, daß der Pa­ tient im Hier und Jetzt empfindet und vielleicht unsicher ist, ob es wert sei, daß der Therapeut auf seine Probleme eingehe. 1.7 Diagnose Die Diagnose umfaßt: 1)

die deskriptive Diagnose zuhanden einer Krankenkasse oder

z)

eines niedergelassenen Arztes, die psychodynamische Diagnose als Handlungsanleitung für den Therapeuten.

Die Diagnose ist in er ster Linie ein Arbeitsinstrument des Thera­ peuten, in zweiter Linie ein Mittel zur Verständigung innerhalb des psychotherapeutischen Versorgungssystems. Bei der Diagnosestellung werden sowohl Probleme oder Konflikte als auch Ressourcen berücksichtigt (vgl. K ap. 1.5 und 1.6). 1.7.1 Deskriptive Diagnose Aufgrund des Materials aus der Voruntersuchung soll die Thera­ peutin eine Diagnose nach ICD und / oder DSM stellen. Falls die Beeinträchtigung des Patienten die diagnostischen Kriterien von DSM und oder ICD nicht erfüllt, ist dies gesondert zu vermerken. Da es sich bei dieser Diagnose um eine wissenschaftliche Be­ zeichnung handelt, die für Laien nicht verständlich ist, so llte sie dem Patienten nicht mitgeteilt werden. - Sinnvoll, auch im Zu­ sammenhang mit der Frage n ach der Bezahlung, kann jedoch die Mitteilung sein, ob es si ch um eine Beeinträchtigung mit Krank­ heitswert handle oder nicht. 113


Behandlung

Ob die Therapie von der Krankenkasse übernommen oder vom Klienten selber bezahlt wird, hängt von verschiedenen Fakto­ ren ab: i) z)

Krankenkasse, Diagnose,

3) 4)

Dauer der Behandlung, finanzielle Situation des Klienten.

Falls die Leistungen einer Krankenkasse beansprucht werden, soll­ te d er Therapeut den Patienten auch über die mögliche Rolle der Bezahlung in der Therapie informieren: EigenVerantwortung, Rea­ litätsbezug, Schuldgefühle u. a. 1.7.2 Psychodynamische Diagnose: Allgemeiner Teil Bei der Formulierung der psychodynamischen Diagnose stützt sich der Therapeut nebst dem Material aus der Voruntersuchung ins­ besondere auf die Wahrnehmung des Übertragungs- und Gegen­ übertragungsgeschehens im Hier und Jetzt der therapeutischen Be­ ziehung. Die psychodynamische Diagnose kann in einen allgemein tie­ fenpsychologischen und einen speziell schicksalspsychologischen Teil ge gliedert werden. Im allgemeinen Teil soll sie A ngaben ent­ halten über: i.

das Krankheitserleben und die Behandlungserwartungen (Be­ urteilung des Schweregrades der psychischen Beeinträchti­ gung, Leidensdruck, Beeinträchtigung des Selbsterlebens, sekundärer Krankheitsgewinn, Einsichtsfähigkeit in psycho­ dynamische Zusammenhänge; Einsicht in die Ursache, Ent­ stehung

und

Bedeutung der

Probleme oder

Konflikte;

Erklärungsmuster, Einsichtsfähigkeit in somatopsychische Zu­ 114


Voruntersuchung

sammenhänge, Einschätzung der geeigneten psychotherapeu­ tischen Methode, Motivation zur Psychotherapie, Symptom­ darbietung (somatische oder psychische Symptome im Vorder­ grund); Präsentation durch den Patienten (Ich-Syntonizität, Leidensdruck, emotionale Beteiligung, Scham- oder Schuldge­ fühle, Projektionen), psychosoziale Integration, persönliche Ressourcen, soziale Unterstützung, Angemessenheit der sub­ jektiven Beeinträchtigung zum objektiv feststellbaren Ausmaß der Erkrankung). 2.

das Beziehungsverhalten habituelles Beziehungsverhalten der Patientin, typische Reak­ tionen anderer, Einstellung der Umgebung zum Problem oder Konflikt (Partner, Familie, berufliches Umfeld): Verständnis, Ablehnung, Zuwendung, Mitagieren, unbewußte intrapsychi­ sche Konflikte.

3.

Probleme oder Konflikte Abhängigkeits- oder Autonomiekonflikte, Kontroll- oder Un­ terwerfungskonflikte, Versorgungs- oder Autarkiekonflikte, Selbstwertkonflikte, Uber-Ich- und Schuldkonflikte, ödipale und sexuelle Konflikte, Identitätskonflikte, fehlende Konflikts­ oder Gefühlswahrnehmung.

4.

Struktur Selbstwahrnehmung, Selbststeuerung, Abwehr, Kommunika­ tion, Objektwahrnehmung, Bindung. 1.7.3

Psychodynamische Diagnose: Spezieller Teil

Im speziell schicksalspsychologischen Teil enthält die psychodyna­ mische Diagnose gestützt auf triebpathologische Überlegungen Hypothesen über: 115


Behandlung

1.

die Art der Probleme oder Konflikte (Kontaktprobleme, Ich­ probleme, paroxysmale Probleme, Sexualprobleme, Reaktion auf belastende Lebensereignisse),

2.

die Manifestation der Probleme oder Konflikte (auf der Sym­ ptomebene, auf der Ebene des täglichen Verhaltens, auf der Ebene der Wahlhandlungen, der symbolischen Ebene),

3. 4. 5. 6. 7.

die Dialektik von Vordergrund und Hintergrund, die Dialektik von Rand und Mitte, das Verhältnis von Wurzelfaktoren und symptomatischen Fak­ toren (Triebformel), das Verhältnis von Gefahren und Ventilen (Latenzproportionen), Existenzmöglichkeiten. 1.8 Indikation, Prognose

Die Indikation zu einer schicksalsanalytischen Therapie deckt sich weitgehend mit jener zu e iner analytischen Therapie. Ein Spezial­ gebiet der schicksalsanalytischen Therapie sind die von Szondi (1963, 106 ff.) so genannten Ich- u nd Triebstörungen. Bei der Indikationsstellung stützt sich der Therapeut auf die Ergebnisse der Voruntersuchung als Ganzes. Das Genogramm gibt Auskunft über Vorkommen und allfällige Häufung psychischer Störungen in der Herkunfts- und Wahlfamilie. Der Szondi-Test: •

gibt ein plastisches Bild der Stärkeverhältnisse zwischen Ich und Trieben,

deckt die Abwehrarten und die gefahrbringenden Ich-Verän­ derungen auf,

orientiert über präpsychotische und psychotische Spaltungs­ vorgänge im Ich,

zeigt die besondere Art der Libidoflxierung auf,

zeigt die Gefahr- und Schutzexistenzen (Szondi 1963, in). 116


Voruntersuchung

Die Validität und Reliabilität der Experimentellen Triebdiagnostik (ETD) für die Indikationsbestimmung scheint empirisch noch zu wenig untersucht (Bürli 1970). Zur Indikationsstellung in der Psy­ chotherapie hat die empirische Forschung bis heute nur wenige eindeutige Resultate erbracht (Garfield 1994). Von einer analytisch ausgerichteten Therapie scheinen am besten Menschen mit einer eher mild ausgeprägten Symptomatik, mit mindestens durch­ schnittlicher Intelligenz und guter Introspektionsfähigkeit zu pro­ fitieren. Dasselbe gilt grundsätzlich auch für die Prognose. Aussagen über Verlauf und Ausgang einer Therapie lassen sich schon früh, nach drei bis vier Sitzungen, machen, sofern die Gesamtheit der therapeutischen Interaktion berücksichtigt wird. Als relativ zuver­ lässige Faktoren haben sich die zwischen Patienten und Therapeu­ ten übereinstimmenden Erwartungen, die Motivation der Patien­ ten sowie eine gute therapeutische Beziehung erwiesen (Orlinsky et al. 1994). Beeli (1965) berichtet über gute Ergebnisse in d er Pro­ gnostik mit Hilfe des Szondi-Tests. Doch seine Untersuchungen sind nicht weitergeführt w orden. Praktizierende Psychotherapeu­ ten scheinen sich lieber auf ihre Intuition und ihre Erfahrung zu stützen als auf irgend ein Testverfahren. Aussagen über Indikation und Prognose wecken im Therapeu­ ten Erwartungen, oder sie sind Ausdruck solcher Erwartungen, de­ ren Einfluß auf die Therapie er reflektieren sollte. Daß die Therapieforschung trotz großer Anstrengungen auf diesem Gebiet bisher nur wenige Ergebnisse gezeitigt hat, hängt wohl auch damit zusammen, daß Indikation und Prognose nicht nur von einer bestimmten Form der Störung bzw. einer bestimm­ ten Behandlungstechnik abhängen, sondern auch von der Bezie­ hung zwischen Patient und Therapeut. Therapeutische Beziehungen kommen meist auch unter äuße­ ren Zwängen zustande. Doch ohne eine persönlich motivierte ge­ 11 7


Behandlung

genseitige Wahl von Patient und Therapeut gäbe es keine thera­ peutische Beziehung. Aus schicksalsanalytischer Sicht sind den un­ bewußten Motiven bei der Wahl des Therapeuten und der Thera­ pie auf Seiten des Patienten und der Wahl der Patienten auf Seiten des Therapeuten besondere Beachtung zu schenken. Der Thera­ peut fragt sich, in welchen Bereichen eine genotrope Anziehung be­ steht, und er reflektiert die Chancen, aber auch die Risiken dieser Anziehung im Verlaufe der Therapie dauernd. 1.9 Zielformulierungen Im Anschluß an die Schilderung ihrer Probleme formulieren Pati­ enten oft ihre Erwartungen an die Therapie und ihre Ziele. Wenn es dem Therapeuten nicht klar ist, was der Patient von der Thera­ pie erwartet und welche Ziele er sich vorgenommen hat, fordert er ihn auf, seine Erwartungen und Zielvorstellungen zu formulieren. Der Therapeut soll dazu Stellung n ehmen. Er unterläßt klare Ver­ sprechen, was die Therapie in einem bestimmten Zeitraum sicher zu leisten vermag. Statt dessen macht er den Patienten darauf auf­ merksam, wie wichtig die momentanen Zielsetzungen im Hinblick auf die Therapie sein können, daß sie s ich aber aus vielfältigen Gründen auch verändern können und somit stets einen vorläufigen Charakter haben. Sowohl Patienten, die an der Wirksamkeit einer Therapie zweifeln, als auch solchen, die übersteigerte Erwartungen hegen, könnte man mit einem Satz des Londoner Psychoanalytikers W. Schindler ant­ worten: «Ich habe in meinem ganzen Leben noch keinen Patienten geheilt. Aber ich habe nie erlebt, daß er nicht wesentlich weiterge­ kommen wäre, wenn er das ernsthaft, lange Zeit und mit der richti­ gen Methode versucht hat.» (Nach einer Mitteilung von W. Huth).

Patienten, denen es schwerfällt, Erwartungen und Ziele zu äußern, sollen n icht dazu gedrängt werden. Der weitere Verlauf der Thera118


Voruntersuchung

pie wird zeigen, ob der Patient sich abhängig vom Urteil anderer erlebt, ob er wenig Zugang zu s einer Wunschwelt hat oder ob es sich um einen Widerstand handelt u. a. m. Zielinhalte: Der Wunsch nach einer Veränderung der Befind­ lichkeit in positiver Richtung zeigt sich auf verschiedenen Ebenen: Partnerschaft; Familie; Berufswelt; in körperlicher Hinsicht; in Be­ zug auf das innerseelische Spannungsgeschehen wie Angst, Ver­ stimmungen, Turbulenzen im nächtlichen Traumleben, störende Gedanken und Impulse; in Bezug auf das Erleben der eigenen Iden­ tität mit dem allfälligen Wunsch nach einem Neuanfang usw. Art des Ausdrucks: Liegen die Lösungsziele nahe bei den ak­ tuell erlebten Konflikten, d. h. sind sie fest umrissen, konkret, er­ scheinen sie erreichbar? Oder handelt es sich um hochgesteckte Ziele, um «saubere Lösungen», «totales, vollständiges Verschwin­ den aller störenden Symptome», «ich muß mit allem aufräumen», «etwas in Ordnung bringen»? Dabei interessiert den Therapeuten nicht zuletzt die Wortw ahl, die Art des sprachlich en Ausdrucks, die affektive Intensität. O ft zeigen sich wichtige Hinweise für offene oder verborgene Triebbedürfnisse und die dazugehörigen Abwehr­ strategien. Die Erwartungen der Patienten beziehen sich meist auf die von ihnen geschilderten Beschwerden und bewegen sich damit auf d er Symptomebene. Mit Hilfe der Triebformel kann der Therapeut für sich bestimmte Erwartungen an die Therapie formulieren. Ein Patient begibt sich in Therapie, nachdem ihn seine Frau verlas­ sen hat. Von der Therapie erwartet er eine bessere Bewältigung der Trennung. p+ als Wurzelfaktor läßt vermuten, daß der Patient an ei­ ner Partizipationsstörung leidet und er erwartet von der Therapie auch die Analyse der -p-Funktion.

1 19


Behandlung

l.io Informationen Gestützt auf die für ihn geltenden Standesregeln infomiert der The­ rapeut den Patienten über die Regeln der Therapie, damit diese ohne äußere Störungen oder Mißverständnisse stattfinden kann. Er vergewissert sich, daß der Patient diese verstanden hat und daß er damit einverstanden ist. Der Therapeut bestimmt den Zeitpunkt für die nachfolgend genannten Informationen im Rahmen der Voruntersuchung selber. 1.

Art der Therapie

Der Therapeut informiert den Patienten darüber, daß er ein tiefen­ psychologisch orientiertes Verfahren anwende, jedoch «maß­ geschneidert» nach den Bedürfnissen des Patienten. Er kann be­ gründen, weshalb er dieses Verfahren in diesem Falle für angezeigt hält. Er informiert auch frühzeitig über Testaufnahme und Genogramm. Der Patient hat ein Recht darauf zu wissen, welches Verfahren der Therapeut anwendet. Er darf aber nicht den Eindruck gewin­ nen, daß dieses Verfahren ein standardisiertes, in jedem Fall gleich ablaufendes ist, und daß von ihm ein bestimmtes Verhalten erwar­ tet werde. Fragen des Patienten zur Therapie können auch Ausdruck ei­ nes Widerstandes sein und sollen daher möglichst neutral beant­ wortet werden. Ein Patient äußert zu Beginn der Therapie die Befürchtung, er könn­ te abhängig werden vom Therapeuten. Der Therapeut antwortet ihm: «Ich habe noch nie einen Patienten erlebt, der von mir abhän­ gig geworden wäre.»

Therapieverlauf Äußert der Patient die Erwartung, daß seine Symptome schon nach kurzer Zeit verschwinden würden, entmutigt ihn der Therapeut 2.

HO


Voruntersuchung

nicht, weist ihn aber darauf hin, daß sich seine Symptome im Ver­ laufe der Therapie vorübergehend auch verstärken können. Dauer der Therapie Falls nicht ausdrücklich eine Kurzzeittherapie vereinbart wurde,

3.

informiert der Therapeut den Patienten darüber, daß tiefenpsycho­ logisch orientierte Verfahren in der Regel eine längere Behand­ lungszeit beanspruchen. Er achtet darauf, welche Reaktionen die­ se Mitteilung beim Patienten auslöst und geht darauf ein. Eine Patientin wird durch die Mitteilung einer längeren Behand­ lungszeit irritiert. Es habe sie viel Überwindung gekostet, sich über­ haupt anzumelden, und sie habe gedacht, für ihre Probleme dürfe sie den Therapeuten nicht mehr als einige Stunden beanspruchen. Auf den Gedanken, eine «richtige» Therapie zu beginnen, sei sie noch gar nicht gekommen. Sie habe immer geglaubt, dies sei nur etwas für Menschen mit schwierigeren Problemen. Auch wisse sie nicht, was ihr Mann dazu sagen würde. Anderseits fühle sie sich beim Gedan­ ken an eine Therapie auch ein wenig stolz.

Der Therapeut lehnt es ab, sich auf eine bestimmte Dauer der The­ rapie zu verpflichten. Er weist den Patienten darauf hin, daß er das Tempo bestimme. Es ist aber möglich, eine bestimmte An­ zahl Stunden oder eine Behandlungsfrist zu vereinbaren, mit der Aussicht auf eine Fortsetzung der Behandlung. Ein Klient mit rezidivierenden manisch-depressiven Verstimmungen, Kontaktschwierigkeiten und perversen Neigungen, der seit einiger Zeit arbeitslos ist, erhofft sich einen Ausweg aus seiner Arbeitslosig­ keit, eine Überwindung seiner Einsamkeit und eine ausgeglichenere Stimmung innerhalb von etwa 10 Stunden Therapie. Der Therapeut teilt i hm mit, daß eine solche Erwartung unrealistisch ist. Er schlägt dem Klienten vor, sich innerhalb einer bestimmten Frist zunächst auf seine inneren Schwierigkeiten bei der Suche nach einer neuen Arbeit zu konzentrieren. Danach würden sie weiter sehen. Der Klient willigt ein. Dennoch bricht er nach 15 Sitzungen die Therapie ab.

m


Behandlung

4.

Honorar

Der Therapeut teilt dem Patienten unaufgefordert sein Honorar sowie den gewünschten Zahlungsmodus mit. Ist der Patient finan­ ziell nic ht in d er Lage, das übliche Honorar zu bezahlen, steht es dem Therapeuten frei, eine der Situation des Patienten angemesse­ ne Vereinbarung zu treffen. Der Therapeut handelt nach dem Grundsatz, daß eine Thera­ pie nicht aus finanziellen Gründen verhindert werden soll. Weder nützt er die finanzielle Situation seiner Patienten aus noch konkur­ renziert er seine Kollegen d urch «Billigtarife». 5.

Krankenkasse

Der Therapeut erkundigt sich nach der Krankenkasse des Patien­ ten. Er informiert ihn über deren Leistungen oder fordert ihn auf, sich selber zu informieren. Hat der Patient aufgrund seiner finan­ ziellen Situation die Wahl zwischen Kassenleistungen und eigener Bezahlung, bespricht er mit ihm die Vor -und Nachteile beider Lösungen. 6.

Versäumte Stunden

Der Therapeut informiert den Patienten über die Grundregel: Ter­ mine, die nicht spätestens 24 Stunden zum Voraus abgesagt wer­ den, werden verrechnet. Der Patient soll sich mit dieser Regelung ausdrücklich einverstanden erklären. Ausgenommen davon sind einzig Ereignisse, die einer h öheren Gewalt zugeschrieben werden müssen (Eisenbahnunglück, Naturkatastrophe o. ä.) Unfälle oder plötzliche Erkrankungen sollen von der Grundre­ gel ausdrücklich nicht ausgenommen werden. Der Patient ist über den Grund zu dieser scheinbaren Härte zu in formieren. Der Therapeut trifft mit dem Patienten eine Regelung bezüg­ lich Url aube.

1 22


Psychoanalytisches Verfahren in d er Therapie

7- Schweigepflicht Der Therapeut informiert den Patienten darüber, daß er der Schweigepflicht u ntersteht. 8. Beschwerdemöglichkeiten Tritt im Verlaufe einer Therapie ein Konflikt zwischen Patient und Therapeut auf, der sich nicht mit den Mitteln der Therapie lösen läßt, informiert der Therapeut den Patienten über seine Beschwer­ demöglichkeit bei der Standeskommission des SPV.

2

P s y c h o a n a l y t i s c h e V e r f ah r en in de r T h er a p i e (Martin Borner)

In den beiden folgenden Hauptkapiteln des Manuals wird die schicksalsanalytische Therapie beschrieben, die aus einer Gruppe von psychoanalytischen und einer Gruppe von spezifisch schick­ salsanalytischen Verfahren besteht. Di e A utoren des Manuals ha­ ben die Bezeichnung dieser beiden Verfahrensgruppen ausführlich diskutiert, ohne daß sie zu einer Entscheidung gelangt sind. Die Schwierigkeit dürfte in der Sache begründet sein. Von «Phasen» zu sprechen ist insofern gerechtfertigt, als sich in Fallberichten psy­ choanalytische und schicksalsanalytische Phasen unterscheiden lassen. In einem Therapiemanual könnte der Begriff de r «Phase» jedoch den irreführenden Eindruck erwecken, als hätte in der The­ rapie auf eine psychoanalytische eine schicksalsanalytische Phase zu folgen. Im Lehrbuch der schicksalsanalytischen Therapie (Szondi 1963) verwendet Szondi keine übergeordneten Begriffe; statt dessen trifft er eine Reihe von Unterscheidungen, angefangen mit jener von «passiver» und «aktiver analytischer Psychotherapie» bereits im Untertitel. Den «grundsätzlichen Modifikationen der Technik» (Szondi 1963,84 ff.) liegt die Unterscheidung von «Trieb­ 113


Behandlung

ansprächen» und «Ahnenansprüchen» zugrunde. Das künstliche Hervorrufen der letzteren erfordert nach Szondi ein Gegenagieren des Therapeuten. In der Ich-Analyse unterscheidet Szondi die psy­ choanalytische Bearbeitung der Abwehr von Triebansprüchen von der schicksalsanalytischen Operotropisierung gefahrdrohender Ahnenansprüche bzw. dem Aufbau ei nes Pontifex-Ich. In der Kli­ nik wiederum unterscheidet Szondi das direkte Heilverfahren der Psychoanalyse - direkt insofern, als es auf einen krankmachenden psychischen Konflikt hinzielt - vom indirekten Verfahren der Schicksalsanalyse: Umdrehung der sozialnegativen in eine sozial­ positive Existenzform, Umkehrung der Ich-Schicksale und Vertau­ schung der Krankheitsformen. Diese drei Verfahren, denen die Annahme einer multiplen Existenzstruktur der Persönlichkeit zu­ grunde liegt, wendet Szondi dann auf die einzelnen Störungsfor­ men an: Sexualstörungen, Affektstörungen (im Sinne der Schick­ salsanalyse), Ich-Störungen und Kontakt-Störungen. Nicht zuletzt in dieser störungsspezifischen Anwendungsform unterscheidet sich das schicksalsanalytische vom psychoanalytischen Verfahren. Dieser vielschichtigen - teils plakativ, teils schillernd anmuten­ den - Unterscheidung wird die hier gewählte Unterteilung keines­ falls gerecht. Für den Zweck eines Manuals mag sie genügen, so­ fern der Anwender sich bewußt bleibt, daß er es weniger mit festumschriebenen Techniken unterschiedlicher Herkunft als mit zwei durchaus unterschiedlichen Denkweisen und therapeutischen Haltungen zu tun hat, die sich in der therapeutischen Praxis er­ gänzen und erst dadurch dem Patienten in se iner schicksalhaften Dimension gerecht zu werden vermögen. 2.1 Vorbemerkungen Das psychoanalytische Verfahren bezieht sich auf das persönliche Unbewußte und seine vorbewußten und bewußten Abkömmlinge. Es bedarf eines spezifischen Settings oder Arrangements, welches 124


Psychoanalytisches Verfahren in der Therapie

man als die «psychoanalytische Situation» bezeichnet (Müller-Pozzi 1991, 49 ff.). Diese Situation bietet Raum für die unbewußten Wünsche, Affekte und Konflikte sowie für das Selbsterleben des Patienten. Die hauptsächlichen Kennzeichen der psychoanalyti­ schen Situation sind Übertragung und Gegenübertragung, freie As­ soziation und gleichschwebende Aufmerksamkeit, Abstinenz, Fre­ quenz und Regelmäßigkeit der Sitzungen sowie das Liegen des Patienten (Couch-Analyse). Das psychoanalytische Verfahren ist eine Methode der Inter­ pretation. Deren technisches Kernstück ist die Deutung, durch wel­ che sich tiefenpsychologische von anderen therapeutischen Verfah­ ren unterscheiden (Berns 2000, 131). Unter dem Einfluß von Selbstpsychologie und Objektbeziehungstheorie wird neben der Einsicht auch der korrigierenden emotionalen Beziehungserfah­ rung therapeutische Wirksamkeit zugeschrieben. Die psychoanaly­ tischen Behandlungsregeln beziehen sich somit auf den Umgang mit den Abkömmlingen des persönlichen Unbewußten und ihrer Aktualisierung in der therapeutischen Beziehung. Die nunmehr hundertjährige Geschichte der Psychoanalyse hat eine Vielfalt an theoretischen und behandlungstechnischen Konzepten hervorgebracht. Deren Differenzen untereinander sind mittlerweile oft größer als die Gemeinsamkeiten. Insbesondere in der Deutungstechnik weichen die einzelnen psychoanalytischen Schulrichtungen heute wesentlich voneinander ab. In der folgen­ den knappen Darstellung kann dieser den Anfänger eher verwir­ rende Reichtum nur angedeutet werden. Das Verhalten des Therapeuten in bestimmten therapeutischen Situationen hat weniger damit zu tun, ob er sich an behandlungs­ technische Regeln hält, als daß er fähig ist, eine analytische Hal­ tung einzunehmen. Die im folgenden mitgeteilten Handlungsan­ weisungen sollen ihn im Bemühen unterstützen, diese Haltung in konkreten therapeutischen Situationen umzusetzen. 12-5


Behandlung

2.2 Freie Assoziation Zu Beginn der therapeutischen Arbeit teilt der Therapeut dem Patienten die Grundregel mit: «Sie dürfen hier alles sagen, was Ihnen einfällt: Ihre Gedanken, Phantasien und Gefühle, Ihre Träume oder Bilder, die sich Ihnen ein­ stellen. Sie dürfen aber auch etwas für sich behalten, wenn Sie es nicht sagen wollen.»

Diese Modifikation der Freud'schen Grundregel (Freud 1913, 468) trägt einerseits den wissenschaftstheoretischen Erwägungen Rech­ nung, welche die Erkenntnismöglichkeiten der freien Assoziation hinter ihre klinische Relevanz zurücktreten lassen (Hölzer 2000, 205); anderseits wird von verschiedenen Autoren daraufhin ge­ wiesen, daß die in der Freud'schen Formulierung unerfüllbare Auf­ forderung den Widerstand verstärke und die Entstehung eines tragfähigeren Arbeitsbündnisses erschwere (Fischer 2000, 715). Der Therapeut kann den Patienten auch dazu auffordern, auf eine Wertung seiner Einfälle möglichst zu verzichten. «Das eine oder andere von dem, was Ihnen einfällt, mag Ihnen un­ sinnig erscheinen, so wie Ihnen wohl auch die meisten Träume un­ sinnig vorkommen. Versuchen Sie es dennoch auszusprechen. Es ist ja unsere Aufgabe zu verstehen, was uns beiden jetzt noch unver­ ständlich ist.»

Hat der Therapeut den Eindruck, daß der Patient etwas ver­ schweigt, kann er ihn darauf hin ansprechen: «Geht Ihnen jetzt ge­ rade etwas durch den Kopf?» Bejaht der Patient, gibt er jedoch zu verstehen, daß er jetzt nicht darüber sprechen möchte, kann der Therapeut sagen: «Da ist etwas. Aber Sie mö chten jetzt nic ht darüber sprechen. Das ist gut so. Behalten Sie es für sich. Wenn wieder einmal etwas ist, was Sie für sich behalten möchten, so sagen Sie es einfach.» 12 6


Psychoanalytisches Verfahren in de r Therapie

Die Therapeutin kann die Grundregel am Ende des Erstge­ sprächs oder zu Beginn der Therapie mitteilen. Manchmal muß die Grundregel im Verlaufe der Therapie wiederholt werden. Der Patient schweigt zu Beginn der Stunde. Dann sagt er: «Ich weiß nicht, worüber ich heute sprechen soll.» - Die Therapeutin: «Viel­ leicht versuchen Sie einfach zu sagen, was Ihnen durch den Kopf geht.»

Um sich zu Beginn jeder Stunde in die therapeutische Situa­ tion einstimmen zu können, brauchen die Patienten Zeit, die einen mehr, die anderen weniger. Die Einstellung auf die therapeutische Situation hängt auch davon ab, was der Sitzung unmittelbar vor­ ausgegangen ist. Der Therapeut achtet darauf, daß die Patienten sich diese Zeit nehmen. Beginnt ein Patient jedesmal gleich zu re­ den, kaum hat er sich hingelegt oder hingesetzt, fragt sich der The­ rapeut, was der Patient durch sein Reden abwehrt. Hat ein Patient über längere Zeit hinweg in jeder Stunde Mühe, anzufangen, soll­ te dies angesprochen werden. 2.3 Zuhören und Verstehen (gleichschwebende Aufmerksamkeit) Der Therapeut hört dem Patienten zu. Dies ist seine wichtigste und wohl schwierigste Aufgabe. Therapeutisches (professionelles) Zuhören heißt, «gleich­ schwebend» auf alles zu achten, was der Patient verbal, paraverbal (Tonfall) und nonverbal (Gestik, Mimik, Inszenierung) mitteilt (Übertragung), und gleichzeitig auf alle eigenen Einfälle, Phantasi­ en, Erinnerungen und Affekte zu achten (Gegenübertragung). Diese technische Regel ist d as Gegenstück zu jener de r freien Assoziation. Sie sch ließt die Gegenübertragung ausdrücklich mit ein und bezieht sich auf alles, was im Hier und Jetzt der therapeu­ tischen Interaktion geschieht. 1 27


Behandlung

Für die Befolgung dieser Regel gilt ein ähnlicher Vorbehalt wie bei der freien Assoziation. Der Zustand der gleichschwebenden Aufmerksamkeit dürfte sich kaum über längere Zeit aufrechter­ halten lassen. Er stellt eine hohe Ich-Leistung dar, die sich, ähnlich wie in der Meditation, jeweils nu r für kurze Momente erreichen läßt. Der Therapeut verzichtet beim Zuhören auf die Befriedigung seiner Wünsche, nicht zuletzt auf jenen, etwas zu verstehen (zwei­ te Abstinenz). In einem fortlaufenden Prozeß bildet der Therapeut einerseits aufgrund der Mitteilungen und des Verhaltens des Patienten Hy­ pothesen. Diese Hypothesen unterwirft er der Verifizierung, der Falsifizierung und allenfalls auch der Überprüfung mittels Supervi­ sion oder Intervision. Was der Therapeut glaubt verstanden zu haben, kann Gegen­ stand von Interventionen werden (siehe Kapitel 2.4). Der Prozeß des Verstehens ist auch Teil des therapeutischen Prozesses. Der Therapeut achtet darauf, daß sich der Patient an diesem Prozeß aktiv, im Sinne des Arbeitsbündnisses, beteiligt. Ein Patient mit soziophobischen Symptomen beklagt sich darüber, daß seine Ängste ihm selber unverständlich seien. «Oder können Sie mir sagen», fragt er den Therapeuten, «was das soll?» Sein Wider­ stand veranlaßt ihn, die Einsicht in sein Verhalten an den Therapeu­ ten zu delegieren, in der unbewußten Erwartung, wenn der Thera­ peut verstehe, dann dürfe er seine Ängste behalten. Der Therapeut antwortet: «Im Augenblick verstehen wir noch nicht, was Ihre Äng­ ste bedeuten. Wir müssen sie zuerst noch besser kennenlernen, um sie verstehen zu können.»

Auch die Patienten haben das Bedürfnis zu verstehen, und auch sie deuten und konstruieren ihre Welt fortlaufend gemäß unbewußten Deutungsmustern oder Konstruktionsplänen. Gewinnt der Thera­ peut d en Eindruck, daß diese Interpretationsversuche im Dienste des Widerstandes s tehen, ermutigt er die Patienten, die Befriedi1 28


Psychoanalytisches Verfahren in de r Therapie

gung des Bedürfnisses nach Sinngebung aufzuschieben (Beispiel siehe unter Konstruktionen - Rekonstruktionen). Der Therapeut versucht nicht mehr zu verstehen, als auch dem Patienten verständlich ist. Stellt er bei sich das Bedürfnis nach ei­ nen Wissensvorsprung gegenüber dem Patienten fest, sollte er die­ ses Bedürfnis als Äußerung eines Widerstandes analysieren. Eine Patientin antwortet auf eine ausführliche Deutung des Thera­ peuten: «Sie sagen mir immer nur, was ich selber schon glaube ver­ standen zu haben.»

Phantasien des Patienten, der Therapeut verstehe mehr als er, oder er sei fähig , alles, was der Patient ihm mitteile, laufend zu verste­ hen, soll der Therapeut als Äußerung eines W iderstandes behan­ deln (siehe unter Analyse von Widerständen). Interventionen Der Therapeut macht, je nach Situation, Persönlichkeit des Patien­ 2.4

ten und Schweregrad der Störung, von den verschiedenen ihm zur Verfügung stehenden Interventionsformen Gebrauch. Ihrer Intensität nach lassen sich diese in die nachstehende Rei­ henfolge bringen: •

(emphatisches) Wiederholen,

• •

(Nach-)Fragen, Exponieren (von Wörtern, Wendungen, Sätzen, Themen),

• •

Zusammenfassen, Beschreiben der Sukzession von Themen (in einer Stunde oder

über mehrere Stunden hinweg), empathisches Verstehen der emotionalen Erfahrungen aus der

Sicht des Patienten, Aussprechen von inneren Bildern oder Phantasien aus der Sicht des Therapeuten, 129


Behandlung

Deuten im engeren Sinne,

Konstruktionen und Rekonstruktionen.

Nach dem analytischen Grundsatz, daß möglichst alles verständ­ lich werden soll, kann alles, was sich in einer Therapie ereignet, Gegenstand von Interventionen sein. Der Therapeut soll dem Pati­ enten keine Ausnahmen gestatten (z. B. Briefe zwischen den thera­ peutischen Sitzungen, Geschenke, «die nichts mit der Therapie zu tun haben» usw.) Die Art der Interventionen richtet sich nach dem Patienten und nach der therapeutischen Situation. Ein Patient empfindet es als hilfreich, wenn er am Ende der Stunde den roten Faden sieht, der sich durch seine Einfälle zieht. Die Thera­ peutin fordert ihn auf zu sagen, was er selber an durchgängigen The­ men oder Motiven sieht. Erst dann ergänzt sie allenfalls, was ihr auf­ gefallen ist. Bsp. für das Aussprechen von inneren Bildern: «Sie haben mir aus­ führlich von Ihrer Mutter erzählt. Nun sehe ich zwei Figuren vor mir: Das eine ist eine sehr mächtige Mutter, von der Sie sich manchmal so­ gar bedroht fühlen; das andere ist eine kranke, schwache und hilfs­ bedürftige Mutter.»

2.5

Deuten im engeren Sinne

2.5.1 Was kann der Therapeut deuten ? Der Therapeut kann grundsätzlich alles deuten, was sich in der Therapie ereignet, also nicht nur die verbalen Mitteilungen, son­ dern das gesamte Verhalten des Patienten in der Therapie. Wohl nirgendwo treten die Unterschiede in den verschiedenen analytischen Schulrichtungen so deutlich hervor wie bei der Deu­ tungstechnik. Zeitgenössische Freudianer deuten aus einer Trieb130


Psychoanalytisches Verfahren in d er Therapie

bzw. Wunsch-, Abwehr-Perspektive, wobei sie annehmen, daß die pathologischen Prozesse weitgehend im Patienten entstanden sind. Zeitgenössische Kleinianer deuten alle Mitteilungen als Abkömm­ linge innerseelischer, trieb- oder phantasiegespeister und geronne­ ner Objektbeziehungen. Selbstpsychologen gehen von einem unbe­ friedigten Bedürfnis nach Selbstobjektfunktionen aus und deuten daher vorrangig den Unterbrechungs- und Wiederherstellungspro­ zeß der Selbst- bzw. Selbstobjektbeziehungen. Die Gruppe um Weiß und Sampson fokussiert ihre Deutungstätigkeit a uf das un­ bewußte Bedürfnis des Patienten nach Widerlegung seiner pathogenen Überzeugungen (Berns 1000, 133 h) Alle die se Unterschiede in der Technik und in d en dieser zu­ grunde liegenden theoretischen Annahmen sollen nicht darüber hinweg täuschen, daß das Deuten eine Kunst darstellt. Ein Kernstück analytischer Arbeit bilden die Übertragungs­ und die Widerstandsdeutungen. Einen Spezialfall stellen die gene­ tischen Deutungen oder Rekonstruktionen bzw. Konstruktionen dar. 2.5.2 Wie soll der Therapeut deuten ? Der Therapeut formuliert Deutungen als Vermutungen. Häufige sprachliche Formulierungen sind: «Könnte es sein, daß ... ?» - «Ich könnte mir vorstellen, daß ...»

Der Therapeut bereitet umfassende Deutungen (u.U. schriftlich) vor. Zur Förderung der Autonomie des Patienten und seiner Fähigkeit zur Selbstanalyse fordert der Therapeut den Patienten auch auf, selber zu deuten. Er kann ihm dabei mit Fragen oder mit der Wiederholung ihm bedeutsam erscheinenden Materials behilf­ lich sein. Nach jeder De utung läßt der Therapeut dem Patienten Raum 131


Behandlung

für seine R eaktionen. Häufige Reaktionen auf die Mitteilung von Deutungen sind: •

Schweigen,

eher zögernde oder eher lebhafte Zustimmung,

teilweise oder gänzliche Ablehnung («Ich habe nicht das Ge­ fühl, daß ...»)

Ratlosigkeit («Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.»)

weiterführende Assoziationen («Als Sie gesagt haben ..., ist mir eingefallen, daß ...»)

nicht eingehen auf die Mitteilung des Therapeuten («Mir ist noch etwas anderes eingefallen.»)

(unbewußte) Entwertungen («Ich finde, so einfach ist es nicht.» ) Auch Komplimente können versteckte Entwertungen sein (« Es ist spannend, was Sie da sagen.»)

Der Therapeut kann sich auch vergewissern, wie der Patient seine Deutung aufgenommen hat. Bei einer Klientin, die Mühe hat, sich ihrer Mutter gegenüber zu be­ haupten, stellt der Therapeut deutend einen Zusammenhang her zwischen zwei Äußerungen: «Bei der Begrüßung haben Sie mich ge­ fragt, ob ich erkältet sei. N un sind wir auf Ihre Phantasie gestoßen, ich könnte erkranken und Sie würden mich pflegen. Könnte es sein, daß Sie auch deshalb Mühe haben, sich Ihrer Mutter gegenüber ab­ zugrenzen, weil Sie bei sich das Bedürfnis verspüren, Ihre Mutter zu umsorgen und zu pflegen? - Was meinen Sie?» - Die Patientin bejaht und erinnert sich daran, daß sie auch gegenüber ihrem Partner ähn­ liche Bedürfnisse verspürt, die sie, weil sie nicht mit ihrem Bild von Weiblichkeit übereinstimmen, jedoch eher verurteilt.

Der Therapeut akzeptiert jegliche, insb esondere auch eine ableh­ nende, Reaktion des Patienten auf seine Deutung. Keinesfalls ver­ sucht er den Patienten von der Richtigkeit seiner Deutung zu über­ 132.


Psychoanalytisches Verfahren in d er Therapie

zeugen oder seine Deutung zu rechtfertigen. Fragt der Patient: «Wie sind Sie da rauf gekommen zu sagen, ...?» - antwortet der Therapeut: «Ich w eiß es n icht» (nur insofern er es wirklich nicht weiß!), oder: «Sie haben mir gesagt ..., und da ist mir der Gedan­ ke gekommen ...» Die Antwort soll sich möglichst auf die primärprozeßhafte Ebene beziehen; Begründungen sollen möglichst ver­ mieden werden. Widerspricht der Patient einer Deutung sehr heftig, kann der Therapeut sagen: «In diesem Falle habe ich mich getäuscht.» Wann soll der Therapeut deuten ? Der Therapeut achtet darauf, ob die Zeit reif ist für eine Deutung. Die verschiedenen analytischen Schulrichtungen stimmen dar­ in überein, daß der Zeitpunkt einer Deutung ihre Wirksamkeit we­ sentlich beeinflußt. Deutungen zum falschen Zeitpunkt (vor allem 2.5.3

zu f rühe Deutungen) sind im besten Fall w irkungslos. Sie k önnen sich aber auch negativ auf den therapeutischen Prozeß auswirken. Leider gibt es nur wenige objektive Kriterien für den richtigen Zeitpunkt einer Deutung: • •

Häufung unbewußter Mitteilungen, Gruppierung unbewußter Mitteilungen um ein bestimmtes Übertragungs- und Gegenübertragungsgeschehen,

intensive Gefühlslage,

deutliche Symptomatik,

starker Widerstand,

• •

starkes Agieren, deutlich aktivierte Übertragungs-Gegenübertragungsszene (Berns 2000, 133).

Ein Kriterium seitens des Therapeuten ist die Klarheit, mit der er eine Deutung formulieren k ann. 133


Behandlung

Grundsätzlich deutet der Therapeut etwas erst dann, wenn es wiederholt in Erscheinung getreten ist. Der Therapeut bringt weder zu Beginn noch am Ende der Stunde Deutungen an. In der letzten Stunde vor einem längeren Unterbruch soll er nur sehr zurückhaltend deuten. Nach besonders deutungsintensiven Sitzungen soll er in der nachfolgenden Sitzung nur sehr zurückhaltend deuten. 2.5.4 Wie oft soll der Therapeut deuten ? Der Therapeut richtet sich in der Häufigkeit und Intensität der Deutungen nach dem Bedürfnis des Patienten, Einsicht zu g ewin­ nen, und seiner Fähigkeit, Einsicht zu ertragen. 2.5.5 Wie können Deutungen überprüft werden ? Der Therapeut achtet darauf, wie der Patient auf eine Deutung rea­ giert. Objektive Kriterien für die Richtigkeit einer Deutung gibt es nicht, sondern es gilt das Prinzip des «self-righting» des Patienten (Lichtenberg 1996). Die Richtigkeit oder Angemessenheit einer Deutung ist eine Funktion ihrer Wirksamkeit. Wirksam kann eine Deutung erst dann sein, wenn sie vom Patienten akzeptiert wird. Der Therapeut kann die Wirksamkeit seiner Deutungen (aber auch von sämtlichen therapeutischen Interventionen) längerfristig daran messen, ob sie einen Wachstumsprozeß auslösen oder in Gang setzen, ob sie die Sympto matik des Patienten verbessern oder ob sie die Intensität des Übertragungsgeschehens mildern. Hinweise auf die unmittelbare Wirksamkeit von Deutungen ergeben sich aus der Befindlichkeit d es Patienten. Der Therapeut achtet deshalb darauf, ob sich der Patient durch eine Deutung ver­ standen, akzeptiert, aufgehoben, erleichtert, entspannt fühlt, ob er das Gefühl hat, sich nun besser zu verstehen. Am Lachen kann sich die Wirkung einer Deutung ebenfalls verraten.

I34


Psychoanalytisches Verfahren in d er Therapie

2.6 Rekonstruieren und Konstruieren Der Therapeut rekonstruiert gemeinsam mit dem Patienten lebens­ geschichtlich bedeutsame Erfahrungen, so daß sich daraus eine neue, Vergangenheit und Gegenwart, intrapsychische und zwi­ schenmenschliche Vorgänge integrierende Sichtweise ergibt. In einem weiteren Sinne unterstützt der Therapeut den Patien­ ten in seinem Bemühen, einen lebensgeschichtlichen Sinn- und Be­ deutungszusammenhang zu k onstruieren. Der Begriff Rekonstruktion wird heute weitgehend synonym mit jenem de r Deutung gebraucht. Unter Rekonstruktion versteht man den Versuch, eine zusammenhängende hypothetische Darstel­ lung eines Stückes nicht erinnerbarer Vergangenheit zusammenzu­ tragen oder herzustellen (genetische Deutung). Die Begründung liegt in der Traumatheorie. Die spätere Entdeckung der großen Be­ deutung unbewußter Phantasien bei der Entstehung von Neurosen sowie die Einsicht in den Prozeß der Nachträglichkeit in der Neu­ rosenentstehung haben die Technik der Rekonstruktion in den Hintergrund treten lassen. Maßgeblich für die Richtigkeit von Re­ konstruktionen ist, ähnlich wie für die Deutungen, nicht die «hi­ storische Wahrheit», sondern die Überzeugung des Patienten, die, wie schon Freud bemerkte, dasselbe leistet wie eine wiedergefun­ dene Erinnerung. Daher werden die Begriffe Rek onstruktion und Konstruktion seit Freud unterschiedslos nebeneinander gebraucht (Hinz 2000, 390). Rekonstruktionen dienen somit weniger dem Wiedererinnern oder Ergänzen eines Stückes vergessener Lebens­ geschichte als dem Versuch, einen Sinn zu schaffen oder eine Be­ deutung zu geben, welche unabdingbar ist für die Kohärenz des Selbst. Auch die Patienten konstruieren rekonstruierend laufend ihre Lebensgeschichte. Seitdem sexueller Mißbrauch ins Zentrum öf­ fentlichen Interesses gerückt ist , kommen auch häufiger Patienten mit der Frage in die Therapie, ob sie in ihrer Kindheit sexuell miß­ 135


Behandlung

braucht worden seien. Ohne die Möglichkeit eines tatsächlich ge­ schehenen Mißbrauchs auszuschließen, trägt der Therapeut den­ noch der Tatsache Rechnung, daß Erinnerungsspuren nachträglich aufgeladen werden und erst dadurch trauniatogen wirken können. Eine Patientin leidet darunter, daß ihre Erinnerung an die Kindheit zahlreiche Lücken aufweist. Sie fragt sich, ob sich in einer dieser Lücken nicht ein sexueller Mißbrauch verberge, welcher für sie eine plausible Erklärung wäre für sexuelle Schwierigkeiten, unter denen sie als erwachsene Frau leidet. Über entsprechende bewußte Erinne­ rungen verfügt sie nicht. Als mißbrauchende Person käme für sie am ehesten eine Tante in Frage, die sie als pervers empfindet und von der sie annimmt, daß sie als Kleinkind von ihr des öftern gepflegt wor­ den ist. In ihrer Phantasie sieht sie sich als Baby nackt auf dem Wickeltisch liegend, wie die Tante sie an ihrem Genitale berührt. Die­ se Vorstellung erweckt in ihr hauptsächlich das Gefühl der Schutzlosigkeit und des Ausgeliefertseins. Der Therapeut hält für sich fest, daß die Phantasie der Patientin sich weitgehend mit der Realität der Kleinkinderpflege deckt, und er hält die Frage offen, ob es in dieser Szene tatsächlich zu einem sexuellen Mißbrauch gekommen ist. In der Folge kehrt die Patientin wiederholt zu ihrer Phantasie zurück, und sie erhofft sich von der Therapie eine Auflösung des Rätsels. Als diese nicht eintritt, ist sie enttäuscht und zweifelt am Erfolg der Therapie.

Beide s ind sich bewußt, daß die Lebensgeschichte immer wieder neu verstanden werden muß. «Ausgehend vom Traum, den Sie heute erzählt haben, sind Sie auf Erinnerungen aus Ihrem vierten Lebensjahr gestoßen. Damals hat Ihr Vater Sie während eines Spitalaufenthaltes Ihrer Mutter in ein Kin­ derheim gegeben, wo Sie sich vollkommen einsam und verlassen ge­ fühlt haben. Sie fragen sich, ob ähnliche Gefühle, die Sie heute manchmal spüren, in der Beziehung zu Ihrer Frau, an Ihrem Arbeits­ platz oder manchmal auch in der Therapie, ob diese Gefühle nicht in dem damaligen für Sie sehr schmerzhaften Erlebnis ihre Ursache ha-

136


Psychoanalytisches Verfahren in d er Therapie

ben könnten. Allerdings bemerkten Sie auch, daß Ihre Eltern, wie Sie später erfuhren, unter der Trennung ebenfalls sehr gelitten haben. Könnten Sie sich daher vorstellen, daß solche Gefühle der Einsam­ keit und Verlassenheit nicht ausschließlich dem Kinde vorbehalten sind und daß Sie vielleicht auch als Erwachsener damit umgehen können, ohne daß Sie sich dadurch wie ein Kind fühlen müssen?»

2.7 Handhabung der Übertragung Der Begriff de r Übertragung steht im Z entrum der psychoanalyti­ schen Theorie und Behandlungstechnik. Es erstaunt daher nicht, daß unter den verschiedenen psychoanalytischen Schulen heute keine Einigkeit mehr darüber besteht, w as unter Übertragung zu verstehen ist. Wenn der Therapeut Übertragung als intrapsychi­ sches Geschehen auffaßt, wird er dazu neigen, Übertragungen deu­ tend zur Rekonstruktion konflikthafter Erfahrungen des Patienten zu verwenden. Wer hingegen Übertragungen als interpsychische Äußerungen versteht, wird den Patienten dazu auffordern, mit ihm gemeinsam zu e rforschen, was jetzt in der therapeutischen Bezie­ hunggerade geschieht (Herold und Weiß zooo, 758 ff.). 2.7.1 Der Therapeut soll Übertragungsangebote des Patienten erkennen Der Therapeut fragt sich während der Behandlung: 1.

2.

Was bin ich (jetzt gerade) für den Patienten? Bsp.: J etzt gerade bin ich für den Patienten eine unnahbare Figur. Was macht der Patient (jetzt gerade) mit mir? Bsp.: Der Patient macht jetzt gerade, daß ich m ich (über seine langatmigen Ausführungen) langweile.

137


Behandlung

Erkennen von Übertragungsangeboten seitens des Patienten 2.7.2

Der Therapeut veranlaßt den Patienten, die Übertragungsangebo­ te in seinen Mitteilungen zu erkennen. Die folgenden Fragen kön­ nen ihm dabei behilflich sein: 1.

«Was könnte das, was Sie m ir erzählen, mit uns zu tun ha­ ben ? » Die Patientin erzählt von einem Klassentreffen. Ein ehemaliger Leh­ rer war ebenfalls anwesend. Die Patientin freute sich auf das Wie­ dersehen. Sie war jedoch enttäuscht, daß dieser Lehrer nur wenig Zeit für sie hatte. Der Therapeut fragt an dieser Stelle: «Was könnte diese Erfahrung mit uns zu tun haben?» - Die Patientin sieht zuerst keinen Zusammenhang. Der Therapeut: «Sie haben erzählt, daß die­ ser Lehrer so wenig Zeit für Sie hatte. Könnte es sein, daß Sie manch­ mal das Gefühl haben, auch ich hätte wenig Zeit für Sie?»

2.

«Mit dem, was Sie mir erzählen, möchten Sie mir vielleicht etwas mitteilen. Was denken Sie?» Ein Patient äußert zum wiederholten Mal zu Beginn der Stunde, es falle i hm schwer anzufangen. Seit der letzten Stunde sei eine Woche vergangen. In der Zwischenzeit habe er viel erlebt. Wie solle er alle diese Eindrücke wieder auffrischen? - Die Therapeutin sagt: «Es ist schwierig für Sie, nach einer Woche Unterbruch wieder anzufangen. Vielleicht möchten Sie mir damit auch mitteilen, daß Sie öfters kom­ men möchten als einmal wöchentlich. Was denken Sie?»

2.7.3

Übertragungsdeutungen

1.

Der Therapeut deutet Übertragungen grundsätzlich wie alle anderen Mitteilungen des Patienten.

2.

Übertragungsdeutungen setzen eine gute therapeutische Bezie­ hung voraus. Als Mittel zur Verbesserung oder Intensivierung 138


Psychoanalytisches Verfahren in de r Therapie

der therapeutischen Beziehung sind sie kontraindiziert (Strupp 3.

195,4 469 f-)Positive Übertragungen deutet der Therapeut in der Regel nicht, denn sie sind das Vehikel der Therapie.

4.

Negative (aversive, feindselige, aggressive) Übertragungen (siehe a uch: Übertragungswiderstände) deutet der Therapeut

5.

nur insofern, als sie d en Gang der Therapie beeinträchtigen. Bei d er Formulierung jeder Übertragungsdeutung achtet der Therapeut darauf, daß er den Patienten in seiner Offenheit bestätigt und ermutigt. Er vermeidet es, im Patienten den Ein­ druck entstehen zu lassen, er tue etwas Falsches oder Uner­ laubtes (wie es sich aus der klassischen Auffassung von Über­ tragung als Verzerrung oder als Irrtum leicht ergeben kann). Die Patientin ist wütend auf den Therapeuten. Seine Zurückhaltung erinnere sie an ihren Vater. Der habe auch nie etwas Persönliches preisgegeben. Wie bei ihm so befinde sie sich auch dem Therapeuten gegenüber wie vor einem unüberwindlichen Wall. Der Therapeut: «Sie erleben hier etwas, was Sie auch mit Ihrem Vater erlebt haben. Dies gibt uns Gelegenheit zu verstehen, was Sie damals erlebt haben.» 2.7.4

Handhabung von Übertragungswiderständen

Übertragungswiderstände äußern sich in vielfältiger Weise. Die bekanntesten Formen sind: Der Patient versucht seine Übertra­ gungsgefühle in der Therapie zu befriedigen, er macht keine Über­ tragungsangebote, er klammert sich an bestimmte Übertragungs­ gefühle oder seine Übertragungsreaktionen sind unspezifisch (Greenson 1967, 259 ff.). i.

Häufig sind es erotis che Übertragungsgefühle, welche die Pati­ enten in der Therapie zu befriedigen suchen. Der Therapeut kann diese Gefühle als Zeichen der Lebens- u nd Liebesfähig­ keit des Patienten hervorheben. 139


Behandlung

«Sie spüren, wie gut Sie mich mögen. Manchmal phantasieren Sie, wir könnten eine Beziehung haben. Und manchmal verspüren Sie den Wunsch, mit mir zusammen ein Kind zu haben. Dies alles zeigt mir, daß Sie fähig sind, einen Menschen zu lieben und auch das Le­ ben als solches zu lieben.»

2.

Indirekter A usdruck einer erotischen Übertragung kann sein, dass sich d er Patient in sein er Phantasie sehr intensiv mit der Person des Therapeuten beschäftigt. In solchen Situationen kann es hilfreich sein, wenn der Therapeut den Patienten dazu auffordert, alle seine Phantasien über ihn zu äußern.

3.

Der Therapeut ermutigt den Patienten, seine Bedürfnisse, die sich in der Übertragung äußern, zu e rforschen. Da erotische Übertragungen in der Therapie häufig eine inzestuöse Färbung haben, achtet der Therapeut darauf, daß der Patient seine Gefühle nicht als etwas Verbotenes erfährt bzw. daß er die Deutung des «Verbotenen» (Inzesttabu) nicht als Kritik emp­ findet. Eine Patientin verliebt sich immer wieder in unerreichbare Männer. Als ihre erotischen Übertraglingsgefühle auf den Therapeuten sehr intensiv werden, gibt ihr der Therapeut eine Deutung: «Mir fällt auf, daß Sie sich immer wieder zu Männern hingezogen fühlen, mit denen Sie, aus unterschiedlichen Gründen, keine Beziehung haben können. Sie erleben das als Ihr, wie Sie manchmal sagen, «persönliches Le­ bensunglück». Ich könnte mir aber vorstellen, daß es gerade die Un­ erreichbarkeit ist, welche diese Männer für Sie so anziehend macht. Was meinen Sie?» - Etwas später findet die Patientin für ihre «un­ möglichen» Beziehungen den Ausdruck «verbotene Beziehungen». Dem Therapeuten fallen dazu Träume der Patientin ein, in denen sie mit dem Vater «etwas unternimmt» oder mit dem Vater im Bett liegt, «aber ohne etwas mit ihm zu haben». Er fordert die Patientin auf, zu «verbotene Beziehungen» zu assoziieren. Die Patientin: «Betreten der Baustelle verboten.» Der Therapeut: «Könnte das heißen, daß wir jetzt vor einer Baustelle stehen?» Die Patientin ist ratlos. Der

140


Psychoanalytisches Verfahren in d er Therapie

Therapeut: «Eine Baustelle ist ein Ort, an dem etwas im Entstehen begriffen ist. Betreten darf man die Baustelle nicht, damit die Arbei­ ter nicht gestört werden, und auch deshalb, weil es gefährlich sein könnte.» Die Patientin: «Ja, da ist mir noch vieles unklar, und ich habe auch ein etwas mulmiges Gefühl.»

2.8 Handhabung der Gegenübertragung Wir definieren Gegenübertragung als die Gesamtheit aller Einstel­ lungen des Therapeuten gegenüber d em Patienten. Sie beinhalten bewußte und unbewußte, reaktive und genuine Elemente (Ermann 2000a, 226 ff.). 1.

Der Therapeut behandelt die Gegenübertragung als wichtiges Arbeitsinstrument in der Therapie. Er geht davon aus, daß sie mit der Übertragung des Patienten zusammen eine sinnvolle Einheit bildet. Deshalb achtet er besonders aufmerksam auf das Zusammenspiel seiner Gegenübertragung mit der Über­

2.

tragung des Patienten. Der Therapeut fragt sich, inwiefern seine Gegenübertragung eine Inszenierung des Patienten darstellt und inwiefern er dar­ aus Rückschlüsse auf die Übertragung ziehen kann. Eine Patientin erwähnt zu Beginn ihrer Traumerzählungen häufig, sie habe den Traum morgens beim Erwachen schon ihrem Partner er­ zählt. Der Therapeut empfindet dieses Verhalten als störend. Für sich deutet er es als Nebenübertragung. Es wäre ihm lieber, die Patientin würde ihm zuerst den Traum erzählen. Er verspürt bei sich Eifersucht auf den Partner der Patientin, der bei den Traumerzählungen zuerst kommt. Dabei wird ihm eine mögliche unbewußte Motivation der Patientin verständlich. Bei der nächsten Gelegenheit spricht er die Patientin auf ihre beiläufige Bemerkung an. «Es fällt mir auf, daß Sie eingangs bemerkt haben, Sie hätten den Traum schon Ihrem Partner erzählt. Ich frage mich, was Sie mir damit mitteilen könnten.» Die Patientin weiß damit zuerst nichts anzufangen. Sie erzählt zögernd,

141


Behandlung

daß der Partner sie meist an ihren Therapeuten verweise, was sie je­ weils störe. Wenn sie dann aus der Therapiestunde zurückkomme, frage er sie manchmal, was der Therapeut zu ihrem Traum gesagt ha­ be. Davon möge sie ihm aber nichts sagen. Sie befürchte, er könnte sich lustig machen über den Therapeuten. Dann wird sie lebhafter. Oft habe sie den Eindruck, ihr Partner sei eifersüchtig auf den The­ rapeuten. Der Therapeut: «Ihr Partner ist eifersüchtig auf mich. Viel­ leicht haben Sie mir vorhin sagen wollen, ich brauche nicht eifer­ süchtig zu sein auf ihn. Sie erzählen ihm zwar Ihre Träume, bevor Sie sie mir erzählen. Aber er geht gar nicht darauf ein, und was wir hier über Ihre Träume gesprochen haben, das sagen Sie ihm nicht.» Die Patientin protestiert: «Nein, das stimmt nicht! Ich möchte sehr wohl, daß Sie eifersüchtig sind auf meinen Partner.»

3.

Der Therapeut fragt sich, inwieweit sich in seiner Gegenüber­ tragung das manifestiert, was der Patient noch nicht hat ver­ arbeiten können (Container-Funktion, Money-Kyrle 1956, Bion 1962 ). Im oben genannten Beispiel ist der Therapeut der Container für die von der Patientin nicht verarbeiteten Eifer­ suchtsgefühle.

4.

Aufgrund seiner Gegenübertragungserwartungen und den daraus geschlossenen Übertragungserwartungen versucht der Therapeut dem Patienten eine korrigierende emotionale Er­ fahrung zu ermöglichen (Alexander 1949). Im Anschluß an den oben genannten Therapieausschnitt erlebt die Patientin ihre eigene Eifersucht zunächst auf die Ehefrau des Therapeu­ ten gerichtet, die sie stets als «billig gekleidete Blondine» phan­ tasiert. Der Therapeut deutet diese Phantasie als Wunsch, wertvoll zu sein, gepaart mit der Befürchtung, wenig attraktiv zu erscheinen. Die Patientin fühlt sich durch diese Deutung in der Auseinandersetzung mit ihrer weiblichen Identität ver­ standen, und sie e rlebt s ich durch die empathische Reaktion des Therapeuten in ihren Gefühlen akzeptiert.

5.

Der Therapeut fragt sich, wie zutreffend seine Gegenübertra142


Psychoanalytisches Verfahren in d er Therapie

gungswahrnehmungen sind und welchen Störfaktoren sie al ­ lenfalls ausgesetzt sein könnten. Am Ende einer Sitzung überreicht der Patient dem Therapeuten ein Geschenk. Der Therapeut ist darüber zunächst irritiert. Er vermutet hinter der Geste einen unbewußten aggressiven Impuls. Dann verge­ genwärtigt er sich seine ihm bewußte Schwierigkeit im Annehmen von Geschenken, die ihre Wurzeln in Schuldgefühlen hat. Nun wird für ihn einfühlsam, daß der Patient seiner Dankbarkeit für die Fort­ schritte, die er in der Therapie gemacht hat, hat Ausdruck verleihen wollen.

6.

Der Therapeut ist s ich bewußt, d aß seine Gegenübertragung ebenso wie die Übertragung des Patienten Widerständen un­ terliegen kann. Bei der Behandlung einer Patientin empfindet der Therapeut oft Des­ interesse und Langeweile, und einige Male muß er gegen Anfälle von Müdigkeit ankämpfen. Er schenkt diesen Wahrnehmungen keine be­ sondere Beachtung. Er erklärt sie sich damit, daß die Patientin für ihn weder physisch noch intellektuell attraktiv ist und daß sie ein für sein Empfinden sehr eintöniges Leben führt. Anlässlich eines wieder­ um fälligen Krankenkassenberichtes fragt der Therapeut die Patien­ tin, wie sie sich zur Fortsetzung der Therapie stelle. Die Patientin zö­ gert. Eigentlich sei ihr die Therapie wichtig. Die einmal wöchentlich stattfindenden Sitzungen vermittelten ihr einen Halt, ohne welchen sie ihr Leben möglicherweise nicht bewältigen könnte. Aber sie sei sich nicht sicher, ob der Therapeut das auch so sehe. Um offen zu sein habe sie manchmal das Gefühl, daß sie ihn langweile.

7.

Nur in bestimmten Fällen kann der Therapeut seine Gegen­ übertragungsreaktion ausdrücken (Heigl 1988), speziell in der Behandlung von strukturellen Ich-Störungen zur Förderung der Selbstwahrnehmung.

143


Behandlung

Eine Patientin mit einem schweren chronifizierten Waschzwang be­ klagt sich darüber, daß sich niemand für sie interessiere und ihr zuhö­ re. Als Beispiel nennt sie ihren Bruder, der ebenfalls an einer schwe­ ren Zwangsneurose leidet und der am Telefon nur immer von sich reden wolle. Der Therapeut wirft ein, er könne sich vorstellen, daß andere Personen ihr gegenüber ähnlich empfänden wie sie ihrem Bruder gegenüber: sie wenden sich von ihr ab, um sich vor ihren ewi­ gen Klagen zu schützen.

2.9 Widerstandsanalyse Der Therapeut versteht Widerstände als Mittel zur Aufrechrerhal­ tung des momentanen intrapsychischen und interpersonellen Gleichgewichts. Er ist sich bewußt, daß jede I ntervention in das psychische Gleichgewicht eingreift und dadurch Unsicherheit, Zweifel und Angst hervorrufen sowie das bisherige Selbstver­ ständnis und die bisherige Lebensbewältigung gefährden kann (Er­ mann 2000 b). 1.

Bei neurotischen Patienten erfolgt die Deutung von Wider­ ständen in drei Schritten: Erstens die Konfrontation mit der Tatsache, daß und wie Widerstand besteht, zweitens die Grün­ de für den Widerstand, drittens die Ursprünge und unbewuß­ ten Motive in ihrer konflikthaften Struktur (Greenson 1967, 116).

2.

Der Therapeut deutet Widerstände nur dann, wenn er glaubt, deren Funktion verstanden zu haben. In jede Deutung eines Widerstandes bezieht er dieses Verständnis mit ein, und er an­ erkennt den Widerstand als eine Leistung. In seiner Haltung ist er nicht verfolgend oder anklagend, sondern neugierig und su­ chend, verständnisvoll und tolerant. «Mir fällt auf, daß Sie bisher immer in der gleichen Weise auf der Couch gelegen haben. Könnte es sein, daß Ihnen die Vorstellung, Sie könnten Ihre Haltung ändern, ebenso Mühe bereitet wie die Vorstel-

144


Psychoanalytisches Verfahren in d er Therapie

lung, Sie könnten bestimmte Dinge in Ihrem Leben ändern, obwohl Sie eigentlich ganz gerne einmal etwas Neues versuchen möchten und es Ihnen nicht leicht fällt, darauf zu verzichten? Was denken Sie?»

3.

Bei Pa tienten mit narzißtischen Störungen achtet der Thera­ peut besonders auf das Bedürfnis, Anpassung und Selbst­ kohärenz aufrechtzuerhalten und die bestehenden Beziehun­ gen stabil zu halten (Sandler et al.

1973).

Der Therapeut macht die Patientin darauf aufmerksam, daß sie über­ wiegend über ihre Umgebung, kaum aber über sich selber spreche. Die Patientin erwidert, sie wüßte kaum, was sie über sich sagen soll­ te. Der Therapeut: «Ist es so, daß Sie den Eindruck haben, Sie hätten nichts über sich zu sagen?» — Die Patientin verneint. Es gäbe schon vieles zu sagen. Sie sei sich bewußt, daß sie ein schwieriger Mensch sei. Aber was würde ihr das helfen, wenn sie über ihre Schwierigkei­ ten reden würde?

4.

Die Therapeutin achtet auch darauf, ob der Patient seine Widerstände aufrechterhält, um die Therapeutin zu s chonen. Die Patientin spürt unbewußt die Abneigung der Therapeutin, sich mit dem Thema des ödipalen Rivalisierens auseinanderzusetzen. Um sie zu schonen, verharrt sie lange Zeit auf der Ebene oraler Wünsche.

5.

Widerstände als Bewältigungsversuche enthalten auch Res­ sourcen, die der Therapeut für die therapeutische Arbeit ver­ sucht zu nutzen. Die Patientin berichtet, ihre Freundin habe ihr befohlen, sie zu einem bestimmten Zeitpunkt anzurufen. Der Therapeut exponiert das Be­ fehlen. Die Patientin geht nicht darauf ein, erzählt statt dessen weit­ schweifig aus dem Leben der Freundin. Der Therapeut hat den Ein­ druck, sie wolle ihre dominante Freundin rechtfertigen. Er vermutet bei der Patientin einen Widerstand gegen die Bewußtmachung unbe­

145


Behandlung

wußter Abhängigkeitsbedürfnisse. Je länger er der Patientin in ihrer Erzählung zu folgen versucht, desto unfaßbarer wird sie für ihn. Er fragt sich, ob die Patientin sich auf diese Weise vor Dominanz und Abhängigkeit schützt.

6.

Widerstände, die auf Entwicklungsdefiziten beruhen, sollen supportiv angegangen werden (Ermann, zooo b, 800), wobei der Therapeut stellvertretend für den Patienten Ich-Funktio­ nen übernehmen kann. Ein 23jähriger, an den Spätfolgen von ADS leidender Patient ist äußerst schlagfertig. Auf alles, was der Therapeut vorbringt, weiß er etwas zu entgegnen. Es bereitet ihm sichtliches Vergnügen, wenn der therapeutische Dialog zu einer Art Ping-Pong-Spiel wird. Der Thera­ peut äußert immer wieder seine Bewunderung über die Schlagfertig­ keit des jungen Patienten, und er verhehlt ihm nicht seine Überra­ schung über dessen witzige Einfälle. Allmählich ermuntert er den Patienten, seinen schnell arbeitenden Verstand statt zur Abwehr fremder Einfälle zur Hervorbringung eigener Einfälle arbeiten zu las­ sen. Der Patient, der bisher in der Abwehr so souverän war, wird zunächst unsicher. Doch der Therapeut vermittelt ihm seine Zuver­ sicht, daß ihm schon etwas einfallen werde, und er lobt ihn auch aus­ führlich für die ersten zaghaften Einfälle, die er äußert.

2.10 Traumdeutung Auf dem Gebiete der Traumdeutung begegnet der Therapeut einer zweifachen Schwierigkeit. Einerseits sieht er sich dem immer wie­ der und trotz aller bisherigen hermeneutischen und empirisch­ experimentellen Aufklärungsversuche rätselhaften Phänomen des Träumens und des Traumes gegenüber. Anderseits steht ihm eine unüberschaubare Vielfalt an Traumtheorien und daraus abgeleite­ ten Techniken der Traumdeutung zur Verfügung, von denen jede für sich evident scheint und von denen die meisten, unbekümmert um die Existenz der anderen, für sich Allgemeingültigkeit bean­ spruchen (Leuschner 2000, 721 ff.). 146


Psychoanalytisches Verfahren in d er Therapie

Angesichts dieser Situation, aber auch aus grundsätzlichen Er­ wägungen empfiehlt es sich, daß der Therapeut möglichst unbe­ fangen, im Geiste des Anfängers und nachdem er all sei n W issen um Träume und seine Gewohnheiten der Traumdeutung abgelegt hat, aber in g rößtmöglicher Wachheit an jeden Traum herangeht, als wäre es der erste Traum, dem er begegnet. Damit versucht er im Patienten denselben Zustand von Unvoreingenommenheit und Wachheit zu erzeugen. Der Therapeut versucht zunächst eine möglichst klare Vorstel­ lung vom Trauminhalt zu gewinnen. Wenn er glaubt, etwas nicht verstanden zu haben, fragt er nach. Er veranlaßt dadurch den Pa­ tienten, sich ebenfalls darüber klar zu werden, was er geträumt hat. «Sie kommen im Traum zu einem Haus. Können Sie dieses Haus genauer beschreiben?»

Sodann fragt der Therapeut nach Gefühlen im Traum und evtl. beim Erwachen aus dem Traum, falls der Patient nicht selber spon­ tan berichtet. Kann sich der Patient an keine Gefühle erinnern, fragt der Therapeut nach Gefühlen beim Erzählen des Traumes. Die nächste Frage gilt d en Einfällen zum Traum und den Ta­ gesresten. Der Therapeut achtet darauf, welche Einfälle der Erin­ nerung entstammen und welche dem Patienten während und nach der Traummitteilung kommen. Schließlich fragt der Therapeut den Patienten, wie er selber den Traum versteht. Auch hier achtet er darauf, ob sich der Patient schon vor der Stunde Bedeutungen zurechtgelegt hat, evtl. im Ge­ spräch mit anderen Bezugspersonen, oder ob ihm eine Bedeutung erst während der Stunde einfällt. Der Therapeut kann die Traumdeutung unter eine Leitfrage stellen. Solche Leitfragen können lauten:

147


Behandlung

Warum erzählt der Patient diesen Traum gerade jetzt (bzw.

warum fällt er ihm gerade jetzt ein)? Warum erzählt der Patient diesen Traum mir, wa s will er mir

damit unbewußt mitteilen? Was hat der Traum mit der gegenwärtigen Situation des Pati­

enten zu t un? Was hat der Traum mit der Therapie zu tun, insbesondere mit der letzten Stunde oder den momentan im Vordergrund ste­

henden Themen? Was besagt der Traum über Abwehrmechanismen, Entwick­ lungsstufe, Selbstorganisation, Objektbeziehungen oder IchIntegration?

Andere Leitfragen können sich aus der aktuellen Situation des Pa­ tienten oder dem gegenwärtigen Stand der Therapie ergeben. Bevor die eigentliche Arbeit der Traumdeutung beginnt, verge­ wissert sich der Therapeut, ob der Patient bereit ist, näher auf den Traum einzugehen. Die Wahl der Traumdeutungstechnik im enge­ ren Sinne ist dem Patienten anzupassen. Merkt der Therapeut, daß der Patient mit einer bestimmten Technik nicht zurechtkommt oder daß sich eine einmal gewählte Technik für eine bestimmte Episode eines Traumes nicht eignet, ändert er die Technik. Der Patient begegnet im Traum einer Person, die er nicht mag. Es fällt im zu ihr nichts ein, und er verharrt emotional in seiner Aver­ sion. Da fordert die Therapeutin ihn auf, diese Episode (nach ge­ stalttherapeutischen Grundsätzen) in der Ich-Form zu erzählen. Da merkt der Patient, daß die unsympathische Person eine Seite von ihm repräsentiert, die er ablehnt.

Wenn der Therapeut den Eindruck hat, daß der Patient das am Traum verstanden habe, was ihm gegenwärtig möglich ist, beendet er die Traumdeutung, indem er ihn fragt, was er jetzt a n diesem 148


Psychoanalytisches Verfahren in d er Therapie

Traum verstanden habe. Nach den Regeln der allgemeinen Deu­ tungstechnik ergänzt er allenfalls das Selbstverständnis des Patien­ ten durch eigene Deutungen. Dann schlägt er dem Patienten vor, die Beschäftigung mit dem Traum für heute abzuschließen, wobei er betont, daß der Traum damit noch nicht erschöpfend interpre­ tiert sei. Er vergewissert sich, daß es dem Patienten recht ist, hier abzubrechen, und fragt ihn, wie er sich jetzt fühle.

i.

Zusätze Die Patienten können ihre Träume aufschreiben. Sie sollen sie jedoch in der Stunde erzählen. Dies läßt die Möglichkeit offen, daß ihnen während des Erzählens etwas in d en Sinn kommt. Umgekehrt können sie au ch etwas vergessen, was sich später

z.

als bedeutsam erweist, Der Therapeut achtet auch auf Widerstände bei der Mitteilung von Träumen. Patienten berichten sehr lange und komplizierte Träume; Träume fal­ len ihnen häufig erst gegen Ende der Stunde ein; sie vergessen ihre Träume; sie wissen nur noch, daß der Traum etwas mit der Thera­ peutin zu tun hat, aber an den Inhalt erinnern sie sich nicht mehr; sie betten die Traummitteilung in umständliche Erklärungen ein usw.

3.

Berichtet der Patient über längere Zeit keine Träume, kann der Therapeut sich nach Träumen erkundigen. Dies ist besonders dann angebracht, wenn die Einfälle des Patienten überwiegend

4.

an der Bewußtseinsoberfläche bleiben. Weiter zurückliegende Träume werden grundsätzlich wie ak­ tuelle Träume behandelt, wobei Patient und Therapeut her­ auszufinden versuchen, warum der Patient den Traum gerade

5.

jetzt erinnert oder erzählt. Träume von Drittpersonen, die der Patient erzählt, werden grundsätzlich wie eigene Träume behandelt, wobei es heraus­ 149


Behandlung

zufinden gilt, was der erzählte Traum mit dem Patienten zu tun hat.

6.

Der Therapeut achtet auch darauf, ob der Patient den Traum vorgängig bereits anderen Personen erzählt hat und bezieht diesen Umstand allenfalls in die Deutungsarbeit mit ein.

3

Die s c hi c k s a l s a n al y t i s c he Ph a s e ( F r i e d j u n g j ü t t n er )

Dieses Kapitel behandelt das Kernstück schicksalsanalytischer Therapie. Dabei wird zuerst der Wechsel in die schicksalsanalyti­ sche Phase diskutiert. Dann werden das Erkennen und Erlebenlas­ sen der Ahnen und die manchmal dafür nötigen aktiven Techniken besprochen. Dazu gehört auch die Konfrontation mit den krank­ machenden Ahnenansprüchen und ihren Sozialisierungsmöglichkeiten. Die Ich-Analyse bzw. die Analyse des Freiheitsschicksals be­ schreibt die therapeutische Arbeit auf dem Hintergrund der TriebIch- und Pontifex-Ich-Funktionen. Den Abschluß bilden einige Hinweise zur Beendigung einer Schicksalsanalyse. 3.1 Einleitung Bekannte Therapierichtungen, wie beispielsweise die Psychoanaly­ se, machten in d en letzten Jahrzehnten einen erheblichen Wandel durch. Auch die Schicksalsanalytiker waren dem Wandel (der Zeit) unterworfen, haben ihn aber noch nicht aufgearbeitet. Auch wenn sich die Praxis weiterentwickelt hat, so wurden die Konzepte dieser Entwicklung theoretisch nicht erfaßt. Wir müssen feststellen, daß die Theorie der Technik eigentlich bei Szo ndi ste­ hen geblieben ist. E s g ibt keine Veröffentlichung zur Praxeologie 150


Die schicksalsanalytis che Phase

d e r S c hic k sa l s a na l ys e , d i e ü b e r S z on di h in au s ge ht . V erm u t l ic h ist d i es er T a t b es t an d a u c h U r sa c he fü r viel U nb e h a ge n i n un se r en K re i sen , d a s a b e r no c h n i e s o r i ch t i g

b e w uß t

und

a r tik uli er t

wurde. W ä h r e n d d ie v o r au s g e h en d e n K api t el d i e s c hi ck sa l sa n a l y t i ­ sc he T h e ra p ie u n d de r e n p sy c h o p a th o lo g i sc h e Vo r au s s e t zu n g en i d ea l t yp i s c h au s d e r S ic ht d e r h eu t ig e n P r ax is b es ch rei b en , b ez i eht s ich d ie Da r s t el l u n g d ies es K ap i t el s a u f S z on d is H i nw e is e z ur B e ha n d lu n gs te c h nik a u s d en J a h r e n 1 9 5 6 b u n d 1 9 6 3 a . Se i the r w u r d e n d i e F r ag en z ur T e c hni k n u r im S in ne Sz o nd i s wied e r ho l t, a b e r ni c ht h in t er f r ag t o d e r verb es ser t . W i r h a b en b ew u ß t d i ese n S t an d wi e de rg eg eb e n, u m di e A us gan gs l ag e zu de finie ren . Wi r h o f­ fen a be r , d a ß d ies es M a n u a l d i e S ch i ck s al s an al y t ik e r z u ei n er w is­ s en s c h af t l i ch e n D is ku s sio n üb e r ih r e Be ha n d lu n g st e c h ni k e n a n ­ r egt , d a ß e s i h n e n d a d u r ch ge l i n gt , Th e o r ie u n d P r a x i s e i n a n d e r w i ed er an zu n äh er n , u n d d a ß d i e E r g eb n i s s e d u r c h Pu b li k at i o n en d e r F a c h we l t z u g än g l i ch g e m a c h t w er d en . D ie sch i ck s al san al yt i sch e T er mi no l o gi e ve r w en de t e inige Be­ grif fe, di e b e i m Les er ei n g ew isse s Be f r e mde n a u slö se n kö n ne n , wi e S chi ck sa l o d e r A hn e n . I n Ko l l eg en kr ei se n w i r d of t d e r Wu n sc h g eä u ß e r t , di e se A u sd r üc ke d ur c h gä ng ig er e z u er s et z en . Wi r t u n d a s ni c ht , u n d z w a r au s z w ei G r ün de n. Zu m ei n en : Es h a n d e l t si ch u m B eg r iff e, die i n d e r T her ap i e ni cht g e b r a uc h t w e rd en . Z u m a n ­ d er e n h a t Sz o nd i d a s mi t s e i ne r T er m ino lo g ie ve rb u nd en e Be fr em­ d en

d u r c h a u s refle ktie rt

u n d al s wes en t li c h z u s ei n er T h eo r i e

ge hö r ig b e f u n d e n (Szo n di 1 96 3 a , 5 2 4 ; 1 9 7 3 b , 4 15 ). U n d n o c h ei n letz ter H in w e is . Di e e tw a s a po di kt i s ch a n mu ­ t en d e s tr i n g en t e Ei nt e i l ung in b e st imm te P ha s en h a t m e h r d i da k­ t i s ch e a l s t h er a p eu t is ch e B e de u tu n g. A u c h w e n n es m ögl i c h u n d a n g e b r a c h t se i n k a n n , di ese k la r e E i nt ei l un g ü b e r l än ger e Z e i t e in­ z u h a l t e n , ka n n e s nö t ig s e i n, in n u r e in e r S t u n d e b e ide Te c h nik e n, de s v ers c hi ed en en W id ers t a nd es we g en , a nz u we nd e n.

151


Behandlung

3.2

Beginn der schicksalsanalytischen Phase

D e r Ü b er g an g vo n d e r ps ycho ana l yt i s c hen zu r sc hi ck sa l sa na l y­ t is che n P h as e ist ni c ht al s ei n k la r a bz ug re nz en de r A b sc h n it t au f ­ zu fas s en . «F o l gen d e zw ei Ers c h ei n u n g e n p fleg en d e n g ew i cht i ge n An teil d e s fami l i ä ren U nb ew uß t en in d er E n t s t e h u n g v o n n e ur o t i­ sc he n u n d p rä p sy ch o t i sc h en S ym pt om en d em A n a ly t ik e r zu av isie­ r e n» ( S z on di 1 9 5 6 b , 7 6 ) .

a)

W en n A hne nfi gu re n in d en T r ä u m e n u n d E i nfäl l en i m m er wie ­ d e r a uf g e t a uc h t s i n d. U n d

b)

w e n n d e r Pa ti en t A h n e n a n s p rü c he a g ie r t, d . h . in s ei n em All ­ t a g o d e r au f d e r C o u c h S y m p t o m e p rod uz ie rt , d ie m a n al s A h ­ n e n a n sp r üc he v ers t eh en k an n .

Jemand wird plötzl ich durch Haltlosigkeit oder Neologismen auf­ fällig.

D e r A na l yt ik e r so l lte a b e r z un ä c hs t ge du l di g u n d s t u m m di ese A h ­ ne n

b eo ba ch te n

und

m ö gl i chs t l a nge w a r t e n .

«E rs t we n n

d ie

S it u at io n reif ist, k a n n e r sie d em Pa t i en t en d e r R e ih e n a c h vo r­ f üh r en , ih n m it d i ese n s t ö r e n d e n A h n en fi g u r en in s e in e m W a h l­ sch ic k sal ko nfr on t ie re n . . . J e l ä n g e r m a n w a r te n k a n n , u m s o si­ ch e r e r ist d e r E rfo l g d e r K o n f ro n t a t i o n . . . » ( Sz ondi 1 9 6 3 a , 1 7 5 ).

c)

Rei n fo r ma l k a n n d e r Ü be r ga ng in d ie sc h i ck s a l sa n al y t i s c h e P h as e a u ch d u r c h L oc hb i l du ng ind izi er t s e in. V o n L o ch b i l ­ d u n g sp r i c ht m a n in d e r S ch i cksa l sa na l yse d a n n , we nn d ie v o m G es a m t k o n z e p t d e s T he r a p e ut e n h er zu e r w a rt e n d e n As so z i a ­ t i o n e n n ic h t m eh r k o mm e n . D a s ä u ß e r t si c h d a n n d ar i n , d a ß d ie T her ap i e ü b e r lä n ge r e Ze it in eine Ar t Sa ck g as s e g e r ä t , bei d e r d ie A s s o zi a t io n en o be rf läc hli ch b leib en od e r d ur ch ve r ­ me hrt e s Schw ei gen i ns S to c k e n g er ate n (S zo ndi 1 9 5 6 a , 1 4 9 ) .

15z


Die schicksalsanalytische P hase

D ie L o c h b il d u n g is t al s ei n W id er s ta n d zu ve r st e he n, d e r a u c h s c h o n bei Tri e ba ns p rüc he n d es pe rs ö nl i c hen U nb ew uß t en (p sy ch o ­ a na l yt i s c he P h as e) a uf t r e t en k a n n . I n d i e se m F a ll w ir d d e r S c hi ck ­ sa ls a na ly tik e r a k t i v, oh n e d a m i t g leich in d ie s ch i ck s al san al yt is ch e Ph a s e h inü b e r z uw e c h se l n. W a s m i t a k t iv k o n k r e t g e me in t is t, w ir d u nt er 3 . 4 . 4 e r k l ä r t . I st di e L o c hb il d un g ve rm u tl ic h a h n e n b e d i n g t , d. h. m i t de m fa ­ mi l i ä ren U n b e w u ß t e n zu v er bi nd en , a ls o ein « Ke r n w id er s t an d » ( S z on di 19 6 3 a, 2.35), w ä r e d ie Z ei t g e k o mm e n , i n d i e s c hi cks a l s ­ a na l y t i s ch e Ph a se z u we chs e l n. D ie f ü r d ies e En t s ch ei d u n g n ö ti ge n H in w ei s e e r h ä l t d e r A na l yt ik e r z u m ei n en au s d e r V o r u n te r s u ­ c h u n g u n d v or a l l e m a b e r a u s d e m b i sh eri g en V e rla uf d e r An a l yse , a u s d em e r ab s ch ä tz en k a nn , o b d ie T h e m en d es p er sö n l i che n U n ­ b ew uß t e n, a l s o d ie o r a l e n , a n a l e n u n d öd i pa l e n T ri e b wü ns c h e g e nü g e n d be a rb ei t et wu r d e n .

3.3

Das Erkennen der Ahnenansprüche

W a n n u n d w i e si nd A h n e n a n s p r ü c h e zu er k e n n en u n d w a s m e i n t d ie S c hi ck sa l sa na l yse m i t Ah n en ? W as hi er s o pu n k t u ell b es p r o ch e n w ir d , ist in W i r kl i c hk e i t ei n Pr o z eß , d e r s o w o hl b ei m T h e ra p e u t e n w i e b e i m Pa t ie n te n - w e n n a uc h in ve rsc hi ed en er W eis e - ab l ä u f t . H i e r so ll di e se r E r k en n t ­ n is p r o ze ß i m H i n bl i c k au f d e n T h e r a p e u t e n da r g e st e l lt w er d en . E r b eg in nt i n d e r R e ge l s c ho n be i d e r V or un te rs uc hu ng .

3.3.2

Das Erkennen der Ahnen in der Voruntersuchung

O h n e g leich d a r a u f e in z ug e he n , er h ä lt d e r S ch i ck s al s an al yt i k er o f t s ch o n a u s d e r An am n e s e H i nw e is e a uf mö g l ich e A hne n (Teil III, 1 ) . Vie lle icht l eidet j em a nd an D ep r ess io n en o d er e r m u ß t e s c h o n w eg e n W a hn id e en in te r n ie r t w e r d en . Gen o t y p is ch e u n d g en ot r o pe Au f fä lligk eite n i m St am m ba u m si n d w ei t er e In di z i en a uf fa mi l i är be di n gt e G ef ah re n u n d C h a n c e n .

153


Behandlung

K r a nk he i t e n u n d B er u f e, d i e beispie lswe ise g eh ä u f t d e m pa ­ r o x ys ma l e n Sc hi c ksa l skr e i s z ug e ord ne t w e rd e n

k ö n n e n , w e ise n

n ic ht n u r a u f ei ne n hys t er o- ep i l ep t i for m e n A h n en a n s p r u ch , s o n ­ d e r n z eig en a u c h g leich se i ne So z i a l is i eru n gs m ö gl i ch k ei t e n . Au ßer de m

b iete n

d ie

« g l ob a l e n K r i te r i en »

d es S z on di t e st s

( Te i l unga rt , T r ie b k l as s e, Tr ie b f o r me l ) z u s a mm e n m i t d e n « D e ta il­ k ri t er ie n »

( wie

Qu a n t u ms s p a n n u n g e n ,

b es o n d er e F a k t o r e n v e r ­

b ä n d e , Ic h-B ilder) ( Sz ondi 1 9 5 2 , 2 4 0 - 2 5 5 ) In d i z i en f ü r A h n e n a n ­ s pr ü ch e, d i e i n d e r T h e r a p i e b ed e u ts am w er d en k ö n n t e n .

Die Trieb klasse Schp- deutet auf die paranoide Form der Schizo ­ phrenie. Wenn im Test dann auch noch die paranoide Mitte ( P 0 -! und Sch 0 -!) vorkommt, verstärkt dies den Verdacht eines paranoi­ den Ahnenanspruchs. D i ese I ndi z i en u n d d ie d a m i t m e h r o d e r we ni g er b e w u ß t ge b i ld e ­ t e n H yp ot hes e n w e r de n im L au f e d e r T h er ap i e s t ä nd i g ve r st ä r k t , m od i fi z i er t o d e r v e r w o r f en , d a v e r mu t lic h in T r ä u me n u n d As s o ­ ziat io n e n - we n i g s t en s sp o r a d i s c h - i mme r wi ed er M a t e r ia l au s d e m f a mi l i ä r en U nb e wuß t e n a uf t a u c h t, d a s d e m Sch i ck s al s ana l y­ t ik er au ff ä l l t .

3 . 3. 2

Das Erkennen der Ahnen in den Träumen

D a d ie A h n e n z um e i s t u n b e w u ß t u n d hä uf i g au c h l a t e n t s i n d , be ­ t r ac h t e t di e S c hic k sa l s a na l y se d i e T r ä u me , in d i es e m Fa ll d i e s pe zi ­ e llen A h ne n t r ä u m e , al s ei ne n « K ö n i gs w eg » ( F r eu d) in d a s f am il i ä ­ r e Un b e wu ß t e . A h n e n tr ä u me s in d sol ch e, «i n d en e n d i ej eni ge n zu me is t see­ lis ch k r a n k e n A hn e n fi gu r e n a u f t re t e n u n d a g ie r en , de re n K o n d u k ­ t o r (= E r bt r äg er ) d e r T r ä u me r se l be r ist» ( S z o nd i 1 9 6 3 a, 7 9 ) . D i e­ s e A h ne nf i g ur en z eigen s i ch o f t als G es ta lt en , d ie et w as Ve r al t et e s, A b s ch r ec k en d e s o d e r Ve ru n s t a l t et e s an sich ha b e n , m a n c h m a l sin d sie a u ch n u r a u s S y mbo l e n zu e rs c h l i eß en .

154


Die schicksalsanalyti sche Phase

Hier einige Beispiele: (nach Kürsteiner 1973) • alte, antike Möbel, die herumstehen • Tisch, Familientisch • hintereinander marschieren und sich die Hände geben (Ahnenreihe) • Erbrecht • merkwürdige Gestalten: Ausländer, Krüppel, «Flaschen» • in einer psychiatrischen Klinik, Altersheim, Fürsorgeheim, Entwöhnungsanstalt • Primitive im Urwald • altes Haus • Leichen, im Gefrierraum, tiefgekühlt (mit dem Verstand oder aus Angst) • Vögel, einen Vogel haben = spinnen • Wintersport, Skifahren, etwas Gutes machen aus dem bösen Winter • Fische, Bewohner des Meeres (= Unbewußten), Mörder-Haie • WK (Wiederho lungs-Kurs im Militär) Wiederholungszwang der Ahnen • unterirdisches Reservoir, evtl. mit vielen Gängen (= Generationen, Ahnen) • Gestelle im Keller (= Generationen) • England: Insel, isoliert, eng • Griechenland: Antike, Ahnen • historische Stätte, Altstadt • Schwarzer Kaffee: Konduktor für paranoide Ahnen (peits cht auf im Wahn, in der Verfolgung) • Bier: schäumt wie ein Epileptiker • Kartoffeln: in allen Variation en als Gericht (unter der Erde, die Stauden sind die Symptome) • Post: gelber Wagen für die Klinik • Briefe, Frachtbriefe (weil Last)

3.3.3 Abgrenzung zu Triebträumen D ie

S c hi ck sa l s a na l ys e

unt er sc he i de t

zw i s ch en

T ri e b-

und

Ah­

n e n t r ä u m e n . So e in f a c h di ese Ei nt e i l ung in d e r T h eo r i e v o r g e n o m-

I55


Behandlung

m e n w e rd en ka n n, s o s c hw e r ist s ie a b e r o f t in d e r Pr a x is . Ver ein­ fa c ht l ä ß t s ich s a g e n : T r i e b t r ä u m e ve r we i se n a u f ein ei n z e l ne s T r ieb b ed ü r f n i s . D e r S ch i ck s al s an al yt i k er k en n t d ere n a c h t . A h­ n e n tr ä u m e d a g e g e n r e prä se nt i e r en jewe ils ei n S y n d r o m b z w. me h ­ rer e Be dür f ni sse , d ie z u s a mm e n w i rk e n u n d e i ne be s ti mm t e, eh er g a n zh ei t l i c h e G e st a lt o d e r A hne nf ig ur o d er E x ist e n z f or m ch ar a k ­ t er i si er e n. W e nn be ispiels weis e Wu t , Ra c h e o d e r E i fer s u ch t - al so di e T en d e n z «e -» d e n In ha l t ei ne s T r au m e s a u s m a c h t , w ä r e d a s ei n Tr ie b t r a u m . S te h t a b e r d i e t ö t e n d e G e si n n u n g i m Z e n t r u m d es T r a u me s , d . h. zu m e - k o m m t no ch k - u n d m - d a z u , d an n w ä re d a s ein A h n e n t ra u m , g e n a ue r e i n K a i n -T r a u m. Di e K e nn t n i s und d e r g e ü b t e Um ga n g m it d em s c hi c k sa l s an al y t i s ch en

B e dür f n i s ­

o d e r Tr ie b s y s t e m ist a l so bei di e se r D i ffer en zi eru n g s e h r hil fr eic h, v ielle icht so g a r ei ne B ed i ng u ng ( Sz ondi 1 9 6 3 a , 1 4 7 ) .

Beispiel für den ödipalen Triebtraum eines Mannes: «Ich schlafe mit meiner Mutter auf dem Trottoir in der Nähe einer Tramha ltestelle und fühle mich von den dort stehenden vorbeifahrenden Leuten stark beobachtet. Die beiden Betten stehen nebeneinander. Es ist kalt, Herbst» (Szondi 1963a, 79). Beispiel eines Ahnentraums: «Ich bin in irgendwelchen dunklen Hal­ len, Eingä ngen und weiß, daß hier, um mich herum meine Ahnen anwesend sind oder sein müssen. Meine Situation ist furchterregend. Es geht um Krüppel, Lepröse, Verun staltete, Invalide und andere Schauerfiguren. Aus Angst sehe ich pl ötzlich klar und weiß, um was es geht. Ich beginne zu den L euten zu sprechen und fordere sie auf zu kommen. Ich will sie sehen. Klare Erinnerungen sind nicht vorhanden. Präsent ist noch das Bild ei nes Mädchens , das ich von hinten sah. Ich be­ wundere unsich er ihre la ngen schwarzen Haare, da ich wußte, daß sie nicht so ist, wie ich sie von hinten sah. Diese Vermutung bestätigt sich, als sie sich umdreht und ich das geisterhafte, verunstaltete Ge­ sicht einer alten Frau vor mi r habe» (K ürsteiner 1980, 131). 156


Die schicksalsanaly tische Phase

A l s R a n d b e me rk u n g sei h i er no ch d a r au f v erw i es en , d a ß T r ä u m e a u c h w i cht i g e H in w ei s e g eb en au f d i e I c h s t r u k t u re n u n d d ie T r ie b ­ d y na m i k (Be eli 1 97 6 ) .

3.3.4 Das Erkennen der Ahnen in den Assoziationen A u c h i n d e n A s s o zi a t io n en k ö n n e n A h ne nf i g ur en ide ntif iziert w e r ­ d e n . Sei d i es d ur ch d i e I n h a lt e d e r As so z ia tio n e n , i n d e m e in A n a l ysa nd g ewi ss e T h e m e n i mm er a ns p ri c h t ,

z. B. Verfolgung und Wahn oder Sterben und Tod. o d e r i nd em d e r An a ly s an d d en Ah ne n an s pr uc h ag ie r t u n d d e mo n­ s tr i er t, z . B. d u r c h W u t a n f ä ll e o d e r S t o t t e rn .

Eindrücklich ist Szondis Fallbeispiel von einem Bankprokuristen, der zeitweise in eine psychotische Sprache (Neologismen) verfiel, um in­ fantile Trieb wünsche abzuwehren (Szondi 1963a, 179). 3.3.5 Die Ahnentheorie der Schicksalsanalyse Di e d a z u g e h ö r e n d e n th e or e tis ch e n Ü b e r le g un g e n sin d d i e f ol ge n­ d e n : D a s f a mi l i ä re U n b e w u ß t e is t s o zu s a g en v o n v ers ch i ed e n en , g enet i sc h-f amil i är b ed i n g t e n « A h n en f ig u r en » b el e b t , d ie i n u nt er ­ s c hi ed l i ch er I n te n s it ät n a c h M an if es t i er ung st r e b e n . Sie si nd al s « M us te r u n d F i g ur e n» (R ilke ) zu ver st e he n, die d a s Z ie l ve r f ol ge n , i m Leb en e i ne s N a c h k ö m m l i n g s i n g l ei che r E x i s te n z f o r m w ied er ­ z u k e h r e n , w ie sie e in m al o d er s ch o n m eh r ma l s in d e r Ges c h i ch t e ei n er Fa mi l i e a uf g e t r e te n w a r en . J e d e r M en s c h h at de m na c h v ers ch i ed en e Ah ne nsc hi c ksa l e , die s i ch d i r ek t in

B eg a bu nge n ,

b e so n d e r e n F ä h i gk e i t e n o d e r au ch

K r a n k h e i t e n ä u ß e r n k ön n en . D i e A h n e n t h e o r i e b e sa g t a b e r a u c h , d a ß di es e F i gu re n i m f a­ mi l i är en U n be w u ßt e n e i ne s M e n sc h e n d u r c h d ie

Wahl

w ir ks a m

w er d en kö n n e n, di es h a u p t s äch li ch be i d e r W a h l v o n Le b en s p ar t ­ n er n, Fr e u nd e n, B er u f e n , Kr a n kh e i t u n d a u c h d e r T o d e s a rt .

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Behandlung

N a t ü r l i c h l äß t sic h d e r my t hi s c h an m u t e n d e Begriff « A h n en » a u ch

in

die

mo d e r n e

ps yc ho l og i s ch e

S pr a ch e

üb er se t ze n

und

mi t d ef i ni er t e n T r ie b b ed ü rf n is se n o d e r « Tri eb geg en s ät z l ich kei t en» (Szo n di 1 9 5 2 , 28) ch ar ak t er is ie r en , w ob ei e i ne d ep re ss i v e A h n e n fig u r d u r c h a n d e r e Be dür f ni ss e b e st im mt ist a ls b eisp ielsweis e e i ne s ch iz o phr e ne o d e r e i n e k ün s t l eri sc he. Di e V o ru n t e r s u c hu n g u n d d ie s ich an s ch l ieß e n d e T h e r a p ie ha b e n al s o d e m Th e r a p e u te n ein be st i mm t es - w e n n a uc h hy p o ­ t h et is ch es - W i s s en ver m it t el t , de ss e n e r s i ch i n ei n er g ezie lte n R ü c k sc ha u be w u ßt w e rd e n so l l t e, u m da vo n s ei ne we ite r en t h er a­ pe ut i s ch en S c hr i t t e ab h ä n g i g z u m a c h e n . S o kö n n t e es s e in, d a ß e r besc hl ie ßt , d ie T h em a t i k d es f a mi l i ä r en U nb ew uß t e n g a r ni ch t au f ­ zu gr e i fe n, we n n ihm d i es fü r d en P at ie n t e n al s z u b e la st e nd o d e r g ar z u g ef äh r l i ch s c h ei n t .

Wenn beispielsweise die Ich-Strukturen eines Menschen sehr schwach sind (häufig Sch 00 oder nur Unitendenzen), zudem die Be­ lastung durch äußere Umstände (Ehe, Beruf) sehr groß ist, könnte es kontraindiziert sein, depressive oder paranoide Ahnen zu wecken. Bes chli eß t h i ng eg en d e r T h e r a p e u t , d i e T h e r a p ie f o r tz u se t z e n u n d d ie s ch i ck s al s an a l y t is ch e Ph a se e in z ul eit e n, g eh t e s z u n ä ch s t d a r ­ u m , d ie A h n en b e w u ßt e rl e be n z u las s en .

3.4 Das Hervorholen und Erlebenlassen der Ahnen Si nd d ie A h ne n a ns p r ü c he v o m A n al yt i k er e r k a n n t u n d h äl t e r d ie Z e it fü r g e k o m m e n , s i e zu b e a rb e i t e n, g e h t s e i n Be m ü he n n u n d a ­ h in , sie be i m A n a l y sa n d e n be w u ß t zu ma c h e n u n d e r le b e n z u la s­ s e n . Die F r ag e de s W i e b ea nt w or t et d i e B e s ch re i bun g d e r T e c h n ik i n d e r s c h i ck s a l s an a l y t i s ch en P ha s e .

3.4.1 Bewußtes Erleben N i c ht d a s Wi s s en o de r B e wu ßt s e i n a lle in h a t s c ho n h ei l e nd e W ir -

158


Die schicksalsanalytisch e Phase

k u n g , s o n d e r n v o r al l em d a s E r le b e n . Da r u m is t e s Au f g ab e de s A n al y t ik er s , d ie A h n en u n d ih r e A n sp r ü c h e d e m An al y s an d e n z u­ nä ch s t e in m a l be w ußt se i nsf ä hi g z u m ach en , u m s ie d a n n a u ch g e n üg e n d la n g e b ew u ß t er l eb en zu l ass en .

3.4.2

Das übliche Vorgehen

U m di es es Z iel z u e r r ei c he n , k a n n es g en ü g en , d a ß d e r A n a ly tik e r re lat iv

p a ssi v

b leibt

und

n u r g ew is s e A s s oz i at i one n o d e r A h ­

n e n t rä u me o d e r n u r Teil e d a v o n ex p o n i er t . M a n c h m a l a b er b ed arf e s g r ö ß e r e r Ak t i v i t ä t , u m d en P ro z e ß d e s Be wu ß t w er d en s u n d I n­ t eg ri er en s zu fö r d e r n . Di e s d e sh a l b , w ei l d i e I n h al t e d e s f am i l i är en U n b e w u ß te n , a l s o d i e A h n en an s p r ü ch e, n ic ht e r i n n e rt , s o nd e r n h ö ch s t e ns a gi e r t w e rd en k ö n n e n . « W en n d ie A h n en ni ch t v o n se l­ be r a g ier en » , kö nn t e d e r Sc hi ck s al s an a l yt i k er dr e i v ers ch i e den e Te ch n ik e n ei ns et zen, d ie Sz o nd i z ur Ü b e r wi n d u n g v on Loc hbi l ­ du n ge n vo r sc hl ä gt.

3.4.3

Das aktive Vorgehen

D ie a kt iv e n As s o zi a t i ons t e chni ke n w e r de n m it g r o ß e r Vo r si c ht u n d n u r n a c h la n ge r p a ss iv e r P e r io d e u n d d a n n au c h n u r s p o r a ­ d i sc h a n g e w e n d e t (Sz on d i 1 9 6 3 a , 1 4 9 ) . B eisp ielsw eise d a n n , w e n n d e r A na l y s a nd ke i ne A h n e n tr ä u me l iefert , ist d ie g r ö ß er e A k tiv i tät de s A na ly ti ke r s g ef o r d e r t. Di e d re i A ss oz ia t ion st ec h nik e n h ei ß en : ec h o l al i s ch e , i t er a t i v e u n d « H a mme r s c h l a g » ( S zondi 1 9 6 3a , 8 5 ) . D ie ech o l a l is che A ss oz i a t i o nst ec h ni k w ie der hol t e ch o ar t i g je­ d es W o r t de s A n al y s an de n, b is e r d e n l at en t en Ah n e n a n s p r u c h z u a g ie r e n b e g in nt .

Zum Beispiel: Analysand: Ich habe Angst. Analytiker: Angst. Ana­ lysand: Ich fühle mich bedroht. Analytiker: Sie fühlen sich bedroht. Usw. Di e i tera t i ve A s s o zi a t i on s t ec hn ik e x p o n i e r t ei n en S a t z o d e r ei n

159


Behandlung

W or t a u s d e r E in f a l l sk e t te bz w. a u s ei ne m T r a u m s o la n g e, b is d e r A n al y sa n d z u a gi e re n b e g in nt . Hi er n i m m t d e r A n al y ti k er - zu ­ mei st i nt ui tiv - ei ne A u sw a h l au s de m A sso z ia ti on sm a te r ia l vor, v o n d e m e r a n n i m m t , d a ß d i es e R e iz wö r t e r de n W eg z u m f a m i­ l i ä r en U n b e w u ß t e n ö f f n en he l fe n.

Zum Beispiel: Der Analytiker exponiert ständig, d. h. wenn der Ana­ lysand eine Pause macht, das Wort «M ilitärpolizei»» (S zondi 1963a, 163). B eim H a m m e r sc h la g- A s so z i a tio n sv e r f a h r e n wi ed e rh ol t d e r A n a ly ­ t ik e r e i n W o r t ( o d er e i n en Sa tz) a u s de m T ra u m t e x t o d e r d e m Ein ­ f a l ls ma t er i a l s ch l a ga r t i g u n d m it g r oß e r Ge sc h wi n d ig k e it , b is d e r W i d e r st a n d n a c h l ä ß t u n d d ie A h n e n fi g u r zu ag i e ren b e g in nt . D i e­ s es n u r in e x t r e m e n N o t f ä ll en u n d d a r um se l t en o d e r v o n v iele n he ut e g a r ni cht a n ge w a n dt e V or ge he n l äß t sic h n u r s ch w er be­ s c h r e ib e n . Szo n d i h a t e s i n T V -In t er vi ew s (S ch o t te 1 9 7 4 , H a e sl e r 1 9 7 6 ) k u r z v o rd e mo n st r i e rt . D ab ei b e to n te e r se i ne E x p on a t e no c h da d ur c h , d a ß e r mi t d e r H an d au f de n S c hr e i b t isc h s ch l u g , an d em e r b e im A nal ysi er e n s a ß . Sz o nd i s pra c h s o g a r vo n P sy c ho s c h o c k T he r a pi e ( 1 95 6 b, 7 6 ) , w e il d a m i t ü be rr a s ch un gs m äß ig (pa ro xys ­ m a l) d a s Ab w eh r sy s te m u n t er l a u f en w i r d , o h n e d a ß d i e F r e ih e i t u n d d e r R e s p ek t v or d e m An a l y sa n d e n a n g et as te t w er de n , we i l d e r A na l y t i ke r sic h n ur d e r W or t e o d e r Sä t ze de s A na l ys a nde n b e di e n t . W em die se s - al s u l t i ma r at i o ein ge s etzt e - V or ge hen i n h u m a n er­ sc he in t, d e r sei d a r a n e r i nn e r t , d a ß ni cht di e M e t h o d e , so n d e r n di e K r a nk h e it i nh um an ist ( H u t h 19 7 8 , 2 5 6 ) .

3.4.4 Erleben und Zeit («Ahnenzeit») Er l e be n h e iß t in d i es em Z u s a m me n h a n g , d a ß d ie A h n en i h r er Ar t en t s p r ech e n d c h a r a k t e r is tis c h a g i ere n .

Kain tobt und morde t oder produziert Anfälle, bei einer schizophre160


Die schicksalsanalytische Phase

nen Anlage wird ein Mensch eventuell vorübergehend irre und redet in Neologismen, der Haltlose entwertet alle Objekte und hascht von Thema zu Thema. D e r A nal y s and so ll di es e A hn e n b ew u ß t u n d m ö gl i chs t la n g e e r l e­ b e n , u m si e n ic h t n u r z u ke nn en , so n d e r n a uc h g a n z b e w u ß t a n z u ­ er ke nn en . Ei n V o r g a n g , d e n m a n Du r c ha r b e i t e n o de r I nt e gr i e re n (cf. 3 . 6 ) n e n n e n k a n n . Die An g s t v or d e n A h n e n u n d d ie S c h o c k ­ w ir k u n g, d ie m it i hr e m Ei n b r u c h i ns B ewu ß t s e i n v e r b u n d e n s ein k ö n n e n , so ll en au f d i es e W eis e a b g eb a u t u n d ei n e A u s s ö h n u n g v o r ­ b e r eite t w e rd en . An ze i ch en d a f ü r , d a ß d i e A h n en vo m I c h a k z e p ­ t i er t w e r d en , ist d e r Um s t a n d , d a ß sie n ic h t m eh r be ä ng st i g en d w i r ke n u n d d e r A n al ys a nd si c h m it ih n e n o ff e n au s ein an d e r set zen k a n n . I st d a s er r ei ch t, k an n di es e Z e i t d es D u r c h a r b e i t e n s m it d e r K on f r on t a t i on a b g es c h l o s s en w e rd en .

3.5

Konfrontation mit den Ahnenansprüchen

E ige n t lic h w a r d a s u n t e r 3 . 4 Be schr ie bene a u c h s ch o n e i n e A rt Ko nf r on t a t i o n, n u r mei n en w i r hi er ei n g a n z b ew u ßt e s N a c ha r b e i­ te n de s v o r h e r g e h en d en Du r ch a r be i t e ns . D i e se K on f r o nt a t i on be s te ht i m W e se n t lic h e n i n ei n e m k o m ­ p a k t en A uf ze i ge n de s s en , w a s is t u n d de s s en , wa s m ö g li ch w ä r e. Sie ist ein e K on s t r u kt i on i m S i nne d e r Ps y c h o an a l y s e, a b e r a u f d e r Eb en e de s fa mi l i är e n U n b e w uß t e n . D a b e i ist d ie Co u c h- L ag e ü ber flü ss ig (Sz on d i 1 9 5 6 b , 60 ) .

3 . 5 .1

Die Konfrontation mit den krankmachenden Ahnen

Die k r a n km a c he n de n A h n e n u n d d i e da m i t v e rb u nd e n en Ge f a h r en w e r d en d e m A n al y s an d en n o c h m a l s d eu t l i c h v or A uge n g e f ü h r t . D er A na l y t i ke r so ll te si c h d a f ü r g u t vo rb e re i t en . Z u nä c h s t st ell t er d a s e i nsc hl ä gig e M a t e r ia l a u s d en A na l ys e s t un den m it Hi l fe s ei n er N o t i z e n z u s a m m e n u n d t rä g t es d e m A na l ys a n de n v o r . A u ß e r d e m

161


Behandlung

A n a ly se ma t e ria l

z i eh t

der

Sc h i ck s a l sa n al y t i k e r

n un

auch

das

G en o g r am m u n d d en S z on di - Te st b ei, u m d ie ge f a hr b ri n ge n de n Sch i ck s al sm ög l i ch k ei ten z u be ne nn en .

Beispiele dafür setzen die Kenntnis der ganzen Fallgeschichte voraus und müssen darum bei Szond i nachge lesen werden (1956b, 86, 89 oder 1963a, 182-187). 3.5.2 Hinweise auf Sozialisationsmöglichkeiten M i t d e n A h n e n s in d n ic h t n u r G e fa h r e n de s Er k r a n k e n s o de r d e r Kr im in a l i tä t v e r b u n d e n , s o n de r n i m m er a uc h C ha n c en u n d Be ga­ b u n g e n . E s ge hö r t z u r Pf lich t de s S ch i ck s a l s an a l yt i k e rs , d e n A n a ­ ly s an d e n a u c h au f di e se M ö gl ic h k e ite n h in z u we i se n . S o h a t be ispielsw eise e i n p a r an o i d e r M e n s c h d i e M ö g li ch k ei t , s e i n M i ß t r a u e n i m Beruf a l s K on t ro ll e ur o d e r De te k t iv b z w. als P s y c h o l o g e u n d P s y ch ia t er zu soz i a l i si e re n. A uc h d a b e i k a n n da s G en o g r a m m hil fre ic h s e i n, de n n i n jed er F am i l i e g i b t e s P er s one n, d ie i h r S c hi cksa l ge me i st e rt h a b e n . E in B eis piel fü r d ie S oz i al i si e ru ng e i ne r p a r a n o id e n A n la g e wä ­ re d i e B es chä ft i gu n g m it P h ilo s o p hi e , Ps yc ho l o gi e o de r Re l i gi ons ­ p s y ch o l o g i e ( S z o nd i 1 9 5 6 b , 9 0 ) . D a s u n t e r d i es em K ap i tel G es ag t e h a t be r e it s viel m it d e r I ch A na ly se zu t u n , d ie n a c hf ol g e nd be s c hr ie b e n w ir d .

3.6 Die Ich-Analyse oder die Analyse des Freiheitsschicksals I n d i es e r i ch -an al y t i sch en Pha s e g e h t e s u m d en «N eu a u f b a u d e s Ichs » (S zo n d i 1 9 5 6 b , 6 6) . D a mi t ist e i n z w ei f a che s ge m e in t , e n t­ sp r ec h en d d e r U n te r sc h eid u n g v o n Fu n k t i o n u n d I nh a lt (S zo nd i 1 9 7 1 , 3 5 0) : Z u m e in en so l le n d a b e i d i e v ier T r ie b- I c h - F u nk t io n e n v e r fü g b a r g e m ac h t u n d f lex ibel ei n sa t z b er e i t w er d e n. Z u m a n d e ­ r en be st e ht d ie I c h- An al ys e i m A u f b a u n eu er Ich i deal e de s H a be n s u n d S ein s. D a m i t di e ser I c h - A u fb a u ge l i n gt , b ed ar f es g le ich zeit ig d es

162


Die schicksalsanaly tische Phase

Po n t if ex -Ich s, d a s d u r ch d r e i ve rs c hi ede n e F u n k t i o n e n w i rk s am is t. D ie F u n k t i o n a l i t ät d e s Po n t ifex -Ich s ist d av o n a b h ä n g i g , o b v o rh e r d i e T r ie b - u n d Ah n e n a n s p r ü c h e , al s o d ie I n h a lt e d es p er­ sö nl i c he n u n d f a mi liä r e n Un b ew uß t e n, b e w u ß ts e in sf ä h ig g em ac h t w u r de n ( S zo nd i 1 9 5 6 b , 6 8 ). M i t H i lfe de s Po n t i fex -I ch s k a n n ei n M e n s c h d a n n n e u e G e wi c h t u n ge n o d e r M ac h t ve rt e il u ng en u n t e r d en s ein S chi ck sa l b e din g e n de n F a k t o r e n ( Erb e, Tr i eb , U m w el t us w.) v o r n eh m en . Di e a us f ü h r lic he B esch reib u ng d e r vers ch i ed en en Fu n k t i o n e n d e s T r ie b - u n d Po n t i fex -I ch s so w i e ih r e an a l y t i sc h e B e tr a c htu n gs­ mö gl i ch ke i t e n findet

m a n i n d e r I c h- Ana l ys e ( Sz ondi 1 9 56 a ) u n d

se h r ge ra ff t i n d e r D ar st e ll u n g « D er H ei l w eg d e r S ch i ck sa l s a na l y­ s e (S zon d i 1 9 5 6 b , 6 6 - 7 1 ) . I n d e r R ea l it ä t w i r d d e r A na l yt i ke r m it s ei nen D e u t u n g e n u n d I n t er v e n ti o n en p art i el l o d e r a u c h gez ielt s ch o n v o r h er i mme r w i e­ d e r i c h- a n a l yt i sc h w i r k sa m zu we r d e n v e r s uc he n . Es k a n n a b e r a u c h n ö t ig s ei n , ü be r l ä n g er e Z ei t d a s I c h u n d se i n e F un k t i o n en z u m T he m a z u m ac h en , w o b e i sic h d e r An a ly t ik er i n e t w a a n de n s i eben t e chn i s che n Va r ia n t e n d e r I ch -A na l ys e or i e nt i e re n k a n n . D i es e I c h- A na l y se im eige nt l i che n Si nn bi ld et d a s E n d e d e r Be­ ha nd l u n g. J e n a c h d e m , o b d a s B e w uß t w er d e n u n d E rl e be n o d e r d ie K on f r o n ta t io n

u n d S te ll u n g n ah m e i m V o r de r g ru n d s te h en ,

d ü rf t e d a s L i ege n au f d e r C o u c h o d e r d a s G e g e n üb e r sit z e n d e n a n ­ ge m e s s e nen B e h a n dl u n gs ra h m e n da rs t e l l en . I n d e r Reg el w ir d d ie I c h- A n a l ys e «dia l ogi sc h g e f ü h r t» (S z ondi 1 9 6 3 a , 2 0 5 ) . D a s h e ißt , d i e I nh a l t e d es Ge s pr ä c h s si nd v o rw i e ge n d be i den b ew u ß t u n d d ie A r t od e r F o r m die se s G e d a n k e n a u st a u s c h e s ist ein ge m e in s a me s A bw ä ge n d e r jew eil igen Si tu a ti o n .

3.6.1 Die elementare Ich-Analyse (Szondi 1956a, 162-258) Di e vier F un k t i o n en de s T r i eb - I c hs , P ro je kt i o n, Infl a t i on , I n tr o je k t i o n u n d N e g a t io n , w er d e n ei nze l n u nt e rs u ch t u n d d e r A na l ys a nd

163


Behandlung

mi t ih r e n G e f a h r e n o d e r E ins eit igke ite n k o n f r o n t i e r t . V o r a l l e m d u r c h T ra um a n a l y s e n w ir d d e m A na ly s a n d e n b ew u ß t ge m a c ht :

1.

« W a n n , w a r um u n d wa s e r p ro ji zier t.

2.

V o n w el c he n T r ie b - u n d Sein sidee n e r be ses s en w i r d (Infla ­ t io n) .

3.

W a n n , w a r u m u n d w a s d e m I ch ei nve rl ei bt w ir d .

4.

W a n n , w a r u m u n d wa s v o n ih m v er ne i nt , en t w e r t e t o d er g a r d es tr u ie r t w i r d » ( S zondi 1 9 6 3 a , 9 1 ) .

D er A n a ly ti ke r v er s u ch t d a n n d i e U m l a u fb a h n de s I c hs w ie de r in G a n g z u br in g e n, o d e r a n d e r s g es a g t , die v ie r F u n k t i o n e n u n d i h r Z u s a m m e n s p i e l z u i n t eg ri eren , in d e m er b e ispie lsw eis e zei gt , d a ß m it H i l f e d e r «Ich ei nen g un g » (k ), se i d i es N eg at i on ( - k ) , I n tr o je k t i on (+ k ) o d e r Z w a ng (+ k) d ie Ge f ah r e n v on P ro je kt i on ( - p ) u n d I nf l at io n (+p ) a b g ew eh r t u n d r e gul i er t w er d e n k ö n n e n . N ä h e r e H in w ei s e d a z u finden

si c h in de n « Ri c ht l i n i en f ü r d i e B e h a nd l u n g

d e r he r ed it ä r e n Ic h- u n d T r ie b st ö r u ng e n » (S z ondi 1 9 6 3 a , 1 8 8 1 9 0 ).

3.6.2 Die Analyse der inneren Ich-Dialektik (Szondi 1956a, 259-326) E s g e h t d ab e i d a r u m , d a s mö g l ic hs t ha r mo n i sc h e Gl e i c hge wi c ht z w i sc hen d e r e h e r h ar t en , r e a l it ä t s be z oge ne n Ic hs eite (k ) u n d sei­ n e m e h e r w e ic h e r e n, p h a n ta s ie - u n d w u n s c h b e t o n t e n Ge g en sp i el er ( p) h erzu st el l en . De r A na l y t i ke r ko nf ron t ie r t al so d e n A na l y s a nd e n m it d e n S t ä r k e n u n d Sc h wä ch en di ese r sei n er b ei d en Ich -S eit en mi t d e m Z i el, d a ß si c h bei de g egen s eit ig z u s t eu er n ve r m ö g en o d e r a n ­ der s g e sa g t , d a ß d i e U m l a u f b a h n d es T ri eb -Ich s w i e d e r i n Bew e­ g u ng k o m mt . Ne b en d e r i nt e r f a kt o ri e l le n g e h ö r t au c h d ie in tr a fa k to r ie lle D i a l ek t i k zu r i n ne r en I ch -D i al ek t ik . Dies e « Te n de nz d i a l e kt i k » i n-

164


Die schicksalsanalyt ische Phase

n er h a l b d e r F a kt or en p ( + p : - p ) u n d k ( + k : - k ) g a r a n t i e r t d en fle ­ x ib l en U m g a n g im Ha b e n (Ja u n d N e i n ) u n d Se in (w en ig er u n d m eh r w e rt se in ) . S ch li eßli ch g eh ör en hi e rhe r a u c h d ie K o n f r o n ta ti o n m it d e n « I ch -S pa l t u ng e n » u n d d ie n ö tig e n A n re g u n g e n , die s e ve rs ch ied e ­ n e n Ic h -As p ek t e z u i n t e gr i ere n. « D a s Z ie l jeg lich er I ch - T h er ap i e b e s t eh t u . E . d a r in , d i e a b g es pa lt en en I c h - F u n k t io n en w ie de r e in­ zus cha l t e n

und

s o mi t

d ie

U m la u f b a hn

zu

k o m p l em en t ie r en »

( S z on di 1 9 6 3 a , 4 0 0 ) . D i e se e t w a s m e ch a ni s c h a n mu t e n d e D i k t i o n d a rf a be r n ic h t d a rü b e r h in w eg t äu s ch en , d a ß die se Au f g ab e g e ra ­ d e f ü r d i e Pa tie n tin ne n ein e s ch wi er i g e, o f t l a n gd a u e rn d e u n d m a n c h m a l a uc h ei ne z u m S che i t er n v e ru rt e i l t e ist. D ie a u s d en S y m p t o me n , As so z i a ti on e n , T r ä u me n o d e r d e m S z on di - Te s t de ut l i c h ge w o r d e n e n I c h -S p a l t u ng e n k ö n n e n n a c h f ol ­ g en d e n d re i G ru n dp r in z i p ie n t h e r a p i e r t w er d en : 1.

D u r c h e i ne p ar t iz i pa t i ve Ha l t u n g . D a m i t ist z un ä c hs t d ie im ­ m e r g e fo r de r te Fä h i gk e i t d es T h e r a p e u t e n g e mei n t , si c h g an z in d e n P a t ie n te n e in z uf ü hl en , v er b u n d e n m it d e r B er e i t sc ha f t , ei n b es t ät i gen d es S el b s t o b j ek t ( K o h u t ) zu s e i n, d . h. ei n O b ­ je kt, d a ß d u r c h e mp at h is ch es Ve rs t e h en (+m ) d e m an ge sc h l a ­ ge n S elb st n e u e s W ert g efü h l (+p ) zu ver m i t t e l n ve rs uc ht .

2.

D u r c h d ie H er s tel lu n g d e r U m l a u f b a h n im Ic h . Se i di es d u r c h ein e «s ch rit t w ei se E in s ch al tu n g d e r ab g e sp a lt en en E le men t a r ­ f un k t i o n en », sei es « d u r c h kü ns tli ch e - o f t s c ho c ka r ti ge - U m­ d r e h u n g d e r Sp a lts tü c ke a uf d e r D re h b ü h n e d es Ic hs» o d e r sei e s du r c h Ve r ta u s c h un g kr a n kh a f t e r E x is te n s f o r m e n mi t sol ­ c h en , d i e er t rä gl ic he r s in d .

3.

D u r c h S ozi al i si er ung o d e r S u b l im ie r u n g i n e i ner a d äq u a t e n A rb e it st he r a p ie ( Szo n di 1 9 6 3 a , 4 1 3 ).

Beispiel für 3.6.1 und 3.6.2: Ein ca. 3ojähriger Briefträger, dem auf seiner täglichen Tour immer wieder Hindernisse im Wege stehen, wie 165


Behandlung

Baustellen, Umleitungen oder schlechtes Wetter, fühlt sich von höhe­ ren Mächten verfolgt (p-ü). Dieses Beeinträchtigungsgefühl konnten folgende Hinweise lindern: a) daß er ohnehin trotz dieses Gefühls des ohnmächtig Ausgeliefertseins je weils eine praktische Lösung für sein Problem findet (k) und b) daß er ja grundsätzlich fähig is t, sich sel­ ber zu helfen (p+). Die gefühlsmäßige Fixierung an das Ausgeliefert­ sein (p-) wurde dadurch aufgelöst oder gelockert, indem ihr die Fähigkeit, eigene Lösungen zu finden (p+) gegenübergestellt wurde. Dies be i gleichzeitigem Hinw eis auf die Ang emessenheit diese r Lö­ sungen, also auf den guten Umgan g mit der Realität (k+, k-). Eine weitere Hilfe ist, den Patient en auf die U rsache seiner Beein trächti­ gungsgefühle aufmerksam zu machen ( k+).

3.6.3 Die Analyse der Ich-Trieb-Dialektik (Szondi 1956a, 327-368) Hier werden zunächst die ungünstig gewählten Abwehrformen wie z.B. Verdrängung (Sch -0), Isolierung (Sch +0), Projektion (Sch 0-) bewußt gemacht und ihre Nachteile aufgezeigt. Beispiel: Wer den Kain, bzw. seine tötende Gesinnung projektiv (p-) abwehrt, ist unfähig , sich m it diesem T eil sein er Persö nlichkeit (e-, p-, m-) konstruktiv auseinanderzusetzen. Es kann auch auf d en Wert der mit diesen Abwehrformen verbun­ denen Ich-Funktionen verwiesen werden. Beispiel: Die Verdrän gung als neurot ische Abwe hrstrategie (k—) ist (funktional) verbunden mit der reifen Fäh igkeit, bewußt verneinen und verzichten zu können. Außerdem sollte der Analytiker auf die Sozialisierungsmöglichkeiten gefahrbringender Triebregungen im Beruf und Hobby hinwei­ sen. 16 6


Die schicksalsanalytisch e Phase

Beispiele: Aggressive Tendenzen (s+) können mittels der Tätigkeit als Steinmetz oder Tra xfiihrer befriedigt und auf sozial posit ive We ise ausgelebt werden. Abwehrstrat egien und Symptome könnten da­ durch unnötig werden. Bei Introjektionsgefahr (Sch +0), d. h. bei der überstark en Neigung, haben und besitzen zu müssen, könnte die Soziali sierungsempfehlung in Richtung Anreiche rung von Wissen (Fremdsprachen, Stu­ dium) gehen. Wenn Zwangsstrukturen (Sch+-!) einen Schutz gegen Psychose dar­ stellen, könnten regelmäßige Putzarbeit en oder die Beschäf tigung mit Karteien, Buchhaltu ngen und Antiquitäten soziali sierend wir­ ken. Einem an Religionswahn (Sch 0+!) erkrankten Mann empfahl Szondi, sich mit Religionsphilosophie zu besch äftigen. Schließlich kann der Therapeut auch noch auf Sublimationsmöglich­ keiten aufmerksam machen, d.h. den sozial-negativen die sozial-po­ sitiven Möglichkeiten gegenüberstellen - und zwar in allen Faktoren. So ist beispielsweise das Kain-Schicksal durch das Abel- oder MoseSchicksal sublimierbar.

Di e S c hi cksa l sa na l yse h at a u f G r u n d i h r er Ber üc ks i ch t i gu n g e rbl i ­ c h e r F a kt or en ei ne a n d e r e Vo rs t el l u n g v on S ub l im a tio n al s d i e P sy ­ ch o a n al y s e (S zo ndi 19 56 a , 3 6 1 - 3 6 8 ) . F ü r di e Sc hic ks al sa na l ys e is t m it jed er Tr ie bg e f a hr o d e r Tr i e b k r a n k h e i t ei ne en ts p re che nd e Su b l i mi e ru ng sf or m v e r b u n d e n . Su b l im ier u n g is t ei n Wa hl s c h i ck s al , be i d em d a s I ch ei ne E nt s c he i du ng i n R i c ht un g G ei s t ( G la ub e ) , E t h i k u n d M o r a l b e gü n s t i gt . D e r M en s c h ist z u r W a hl au f g e f o r d er t .

3.6.4 Die Analyse der Charakterbildung (Szondi 1956a, 369-397) « C ha r a k te r is t d a s v o n d e m I c h d u rc h I n tr oj ekt i on i n d a s I c h e in ­ g ep r äg te S t ü c k de s Sch ick s als» (S zo nd i 1 9 5 6 a , 3 7 0 ). D i ese Defin i­ t i o n w ir d ve r st ä n dl i c h , w e n n m a n z wi s c he n d e r F u n k t i o n un d d e m I n h a l t de s I c hs u n t ers c h ei d e t . Die I n t r o j ek t i o n s - F u n k t io n (+ k) w ir d

167


Behandlung

in der schicksalsanalytischen Ich-Lehre als charakterbildend an­ gesehen. Eine «dynamische Charakteranalyse» konzentriert sich nach Szondi (1956a, 379) auf drei Fragen: 1. 2.

3.

Wie ist der Vordergängercharakter des Probanden (und seiner Verwandtschaft) ? Wie ist der Hintergängercharakter des Probanden (und seiner Verwandtschaft)? Wie ist die Dialektik zwischen diesen beiden Charakteren?

Oder ich-psychologisch gefragt: Welche «Muster und Figuren» der Vorfahren wurden dem Vorder-Ich einverleibt, welche Konsequen­ zen h at das für das Hinter-Ich und wie verhalten sich die beiden zu einander? Konkretes Vorgehen: Der Therapeut sammelt und vergleicht die Eigenschaften der Figuren des Stammbaumes und bespricht sie mit dem Analysanden. Dabei erinnert er ihn aktiv, daß er «der Wähler des Schicksals zwischen den von den Ahnen gelieferten Schicksalsmöglichkeiten ist» (Szondi 1956a, 388). Einer Übermacht der Introjektion (Sch +0) steht dann bei­ spielsweise die Entfremdung (Sch -+) gegenüber. Die Entfremdung des Hintergrundes könnte dabei der Abwehr des gefährlichen Introjekts, beispielsweise des aggressiven Kains, dienen. 3.6.5 Die Analyse der Symptome und wahnhaften Ideen (Szondi 1956a, 408-465) Es geht um die Bewußtmachung der Ich- und Trieb-Gefahren. Die jeweiligen Abwehrformen und die damit zusammenhängenden Symptome sollen bewußt gemacht werden. Eine Frau, die hypochondrische Ängste hat und dauernd glaubt, mit Aids infi ziert zu sein und sterben zu müssen, versteht, daß diese Angst eine Projekti on (p -) ihrer tötenden Gesinnung (e-, k-, m-) 168


Die schicksalsanalyt ische Phase

war. Sie ve rliert ihre Ängste, erl ebt aber jetzt direkt ihre Wut und ihren Neid. Oder: Der vorher erwähnte Brief träger, der als K ind in der Fam ilie und in der Schule völlig überfordert war und dieser Situation von da­ mals wirklich ohnmächtig gegenüberstand, merkt nun, daß er heute den Mißgeschi cken, die ihm widerfahren, ganz anders gegenüber­ steht als damals und daß seine Gefühle von damals, die heute wieder reaktiviert werden, in kei nem Verhältnis stehen zur heutigen Situati­ on. Er gewinnt an Sicherh eit (p+ ) und verliert seine Angst vor den «höheren Mächten» (p-). Oder anders gesagt: Anstatt wie früher seine Macht an die Umwelt abzugeben, ist er jet zt fähig, diese Macht für sich selber in A nspruch zu nehme n. 3.6.6 Die Anwendung der Ich-Analyse in der Traumdeutung (Szondi 1956a, 467-509) Der Analytiker sollte Träume, die auf einzelne Ich-Funktionen, wie Projektion oder Negation, hinweisen, sammeln und sichten. Sie können jetzt zum Thema gemacht werden, auch wenn sie v orher schon einmal bearbeitet wurden. Ein Beispiel für Projektion und gleichzeitige inflative Abwehr ist der Traum eines junge n Mannes: «Ganz ein doo fer Traum. Ich war auf einer Insel. Plötzlich stand ich in e iner Stadt dieser Insel. Ich wurde verfolgt von e inem We sen, das ich aber nicht sah (- p). Ich bin g e­ rannt ( Flucht: Sch ± -), es hielt mich fest. Als ich merkte, jetzt packt es mich, konnte ich abheben und fliegen (+ p). Da bin ich erwacht.» Ein Bei spiel für Negation oder katatones Erle ben (Sch -0) ist der Traum eines anderen jungen Mannes: «Ich sah mich im Bet t lieg en und wollte mich beweg en. Konnte aber nicht. Ich war verzw eifelt, weil ich dachte, ich sei gelähmt. Ich erwachte, schweißtriefend.» Ein Beispiel für introjektives Haben-Wollen: Ein Mann geht im Traum nachts spazieren und findet Geld: «... Ich bücke mich und sehe, daß es ein altes Gel dstück ist. Dane ben hat es eine Figu r aus 1 69


Behandlung Porzellan oder etwas Ähnliches. Auch das gefällt mir. Und neben die­ ser Figur ist wieder ein Geld stück und daneben wieder eine Figu r. Und immer so weiter. - Ich habe zwar einen Mantel an mit Innenta­ sche, doch sehe ich, daß ich nicht genug Platz habe für alle Figuren. So lasse ich ein paar Figuren am Boden, jedoch nicht die Geldstücke. Es geht dann eine Treppe hinunter. Auf den Stufen hat es noch weitere Stücke ...» D i e bei d e r D e u t u n g u n d Be ar b ei t u ng d e r T r ä u m e er k a n nt e n Ic hF un k t i o n en , bz w . i h r F e hl en , w er d en in be zu g a u f i h re Be d e u t u n g f ü r de n P a t ie nt e n n o c h m a l s g ek l är t. Zi el is t da s i nt e g ri ert e Ic h , d. h. d e m Pa t ie n te n st eh e n m ö g l ich s t a lle v ie r F u n kt i on e n zu r Ver fü ­ gung-

Ein Beispiel f ür die gelingende Integration von k und p is t folgender Traum eines Computerfachmannes, dessen Berufstätigkeit sehr k-betont war: «Ich bin auf dem Hauptbahnhof mit zwei Leuten. Plötzlich fange ich an, ein Stimmungslied zu s ingen. Die Kollegen sehen mich an; sie schämen sich aber nicht oder sagen, es sei schlecht, ich müsse aufhören. Befriedigend ist , es fangen auch andere an zu sing en. Am Schluß singen alle mit. Sehr befri edigend, ein gutes Gefühl.» D er T he r a p e u t k a n n a u c h - w o m ögl i c h - ei n e B r ü c k e sc hl a g en z u d e n v er sc h i ed e ne n B ereic hen d es U nb ew uß t en . S z on di s a g t d a z u : « D er T r a u md e u t e r h a t . . . d i e A u f ga b e , d i e p e r sö n li ch en , f a m i ­ l iä r e n

und

k o l l e k t iv en

B est an d te ile de s T r a u m e s

h i s t o r i sc h

zu

ag n o s z ie r en , d e n A n al y s an d en m i t all en dr e i A rt e n d e r Tr a u m i n ­ ha l t e z u k o n f r o n t i e r e n , au f d i e pe rs ö nl i ch e u n d f a m il iä r e re t ro ­ sp ek t i ve R egr es s i o n u n d au f d i e finale

Pr o g re s sio n sm ög li c hk e it

hi n zu w e i se n u n d s o mi t d en Kr a n ke n a uf de n We g d e r I n t eg r a t io n , au f d en W eg d e r M e n s c hw e r d u ng i n d ie Z u k u n f t z u l e nke n » (1956a, 509).

Unseres Wissens liefert Szondi für diese «dreidimensionale, integrie­ rende Traumdeutungsmetb ode» in seinen Texten nur ein einzig es Beispiel, den sog. «Schwirrholztraum» (1956a, 495-503). 170


Die schicksalsanaly tische Phase

Im Sinne der Komplementtheorie bzw. der Partizipationstheorie des Traumes (Szondi 19 5 6 a, 4 7 1 - 5 0 9 ) kann der Analytiker die in Träumen erkennbaren zusammengehörenden Ich-Existenzen ver­ deutlichen und in ihrer Bedeutung erklären. Denn der Traum kann auch als «ein Dialog zwischen zwei verschiedenen Ich-Teilen, ei­ nem kindlichen und einem erwachsenen Teil» verstanden werden (Szondi

19 5 6 a , 5 05 ).

Auf die ungleiche Stärke oder Machtverteilung von Vorder- und Hin­ tergänger verweist folg ender Traum: «Ich träumte, ich wäre beim Schachspielen. Irgendwann verlor ich die Kontrol le über das Spi el und spielte (als Verlierer) statt mit meinen we nig verbliebenen Figu­ ren (des Vordergrundes, Anm.), mit den noch ziem lich v ollzähligen Figuren des Gegners.» Im Test war das Ich-Bild d es Vordergrundes 0 -!!. Kein Wunder, wenn dieser Mann lieber mit den «Figuren» des Hintergrundes + + !! sein Lebensspiel gestalten möchte. Dieses Ich-Bild de s H in­ tergrundes heißt «Zwangsarbeiter-Ich» und verweist auf die Be­ deutung von Strukturen, die mit einer regelmäßigen Arbeit ver­ bunden sind und einem Menschen Halt und Sicherheit verleihen können. Die Schicksalsanalyse stellt «das Ich in das Zentrum des Träu­ mens und der Traumdeutung». Sie me int: «Das wache Ich macht den nächtlichen Versuch, mit allen diesen Trieb- und Ich-Existen­ zen jenseits de r Wirklichkeit eins und gleich zu werden, an ihnen zu partizipieren, sich mit ihnen zu integrieren» (Szondi 1 9 56 a , 50 3) . Schöpfer des Traumes ist das Ich, welches Vorder- und Hintergänger sowie die persönlichen, familiären und kollektiven Existenzmöglichkeiten eines Menschen zu einer Ganzheit zu verei­ nigen versucht.

171


Behandlung

3.6.7 Die Analyse des Pontifex-Ichs und der Glaubens­ funktion (Szondi 1956a, 509-529) «Es ist traurig für eine Wissenschaft, die nicht den Mut zur Weltanschauung hat.» SZONDI (19 63a, 246) B ez og en sich d i e v o r a u s g e h en d en A n a l ys e n a u f d a s T ri e b -I c h , mi t s ei nen a n g e b o re n e n o d e r u mw e l tb e d in gt e n Ne i g un ge n , Sp a l t un g en u n d A b w e h r fo r m e n , s o ist d i e A na l ys e d e r d r e i P ont i f ex - F un kt io ne n ei ne no t w e nd ig e F o r t s et zu n g , n äm l i ch v o n d en ge g eb e n en N e i ­ gu nge n h i n z u m Ma c h b ar e n o d er v o n d en M ö g l ich k ei ten z u r F r e i ­ he i t s- W a hl . S pä t es t ens hi e r so l lt e d ie T h e r a p i e «d i al og i sch » g e f ü hr t w e r­ d e n . Be ide G e s p r ä c h s p a r t n e r su c he n na c h B eisp iele n f ü r ge lu n g e n e u n d n ic h t g el un ge n e E nts c he id un ge n o d e r W ah l en u n d b r i ng e n si e mi t d en F un k t i o n en d es Po nt i fex -Ichs u n d d e n en de s T ri e b- Ic hs i n Be z i ehu ng.

Eine Sekretärin hatte sich eine ganze Stunde lang über eine Kollegin lind ihre etwas dirnenhafte Art im Umgang mit dem Chef besc hwert. Der Ko llegin gegenüber hat sie sic h nichts anmerken lassen . Trotz­ dem klagt e sie sich in d er nächste n Therapiestunde selbst heftig an, sich über d iese Kollegin aufgeregt zu haben, wo sie das ja nich ts an­ gehe. Z u n ä c h s t u n a b h än g i g d a v o n , w a r um s ich d ie P a t ie n tin au f r e g te , wa r es h i er zu n äc h s t hil fre ich zu z eig en, d a ß e s i h r gu t e s R ec ht is t, s i ch a uf z u r e g e n , u n d z w ar eg a l , ü be r w a s u n d üb e r w e n. M an kö nn t e d iesen S c hr i t t a l s e i ne n V er suc h d e r Int e gra t io n i h r er fei n d­ s eli ge n G e f ü hl e ( e - ) u m s c h r e ib e n . D ie Pa r t iz ipa t io n n a c h in ne n, d i e hi er g e st ö r t w a r, m u ß t e z u ­ e r st i n e i n e A u ss ö h n u n g m it sich s el be r e i nm ü n d e n , e r st d a n n ko nn t e si e i hr e Ko ll egin be sse r er t r ag en . Di e w ei t e re Ar b eit be zo g s ich d a n n au f di e G r ü n d e ih r e r A u f-

17 1


Die schicksalsanalytische Phase

r e g u n g , in di e se m Fa l l au f ihr en N ei d o de r d i e U n t e r d r ü c k u n g i h re r ei g en en e r ot isc h e n Ge f ü h le . D a s E r a r b e it en u n d Kl är e n d i es e r Ne id g e f ü h le h a t z u n ä c h s t m it d em T r an s zen d i er en ( zu m e - u n d h+ ) z u t u n . D e r n ä ch s t e Sc h r itt, d a s S i c h-Au s s öhne n mi t d i es en N e i gu n ge n o d e r E i ge n s c h af t en , w ä r e w i ed er e in I n te g r at io n s v o r ­ gang. D a s R es u l tat v on T r an s z en d i er e n u n d In t eg ri eren is t d a n n d i e F ä hi gke i t d e r P ar ti zi p a ti o n , u n d z wa r na c h in n en ( zu s ic h s e l b e r ) u n d n a c h a u ß e n (hie r zu ei ne r Mi t ar b ei t er i n). Fa lls es sich n ic h t sch o n v o r h e r er g e be n h a t , k ö nn e n jetz t auc h F r a g en n a c h d em S i nn u n d d e n da m i t z u sa mm e n h ä n g e n d e n We r ­ t e n ges tell t we r d e n . « De r Si n n d es L eb e n s lieg t we s e nt l ic h i n d e n W e rt e n, i n d e re n D ie n st d a s L eb e n s ta n d » ( Ring el u . Ki rc h m a yr 1 9 8 6 , 7 3 ) . S zo nd i n a n n t e d ie s a uc h d i e Ana l ys e d e r G l a u b e n s­ f u n k ti o n . Sie is t n ic h t mi t Er zi eh u n g o d e r Ü b e r re d u n g zu v er wec h­ se ln , d e n n wo f ür sich sc hl ie ßl ic h ein P at ien t e nt s che i det , lieg t g a n z i n se i ne m f reien E r m es s en .

Ein jung er Mann, der sic h mehrere Stunden über s eine religiöse Er­ ziehung, sein Verh ältnis zu seine r Kirche und über den Sinn sein es Lebens Gedanken gemacht hatte, überraschte seinen Analytiker eines Tages, als er die Stunde mit der Mitteilung begann: «I ch habe gestern beschlossen, an Gott zu glauben.» D i e F ä hi gk ei t d e s Ic hs, ge n a u e r de s Po n t if e x- I c h s, ei n e p a rt i z i p at i v e B ezi ehu n g z u m G ei s t zu u n t e r ha l t e n , d. h. reli giö s for mu l ie rt , an e in en G o t t o d e r ei ne n h ö h e re n Si nn i m Lebe n z u g l a u b e n , is t e i n e g u te V or au s s e t zu ng, d ie ri cht i ge « M a c h tv e r te il u ng » o d e r G ew ic h ­ t un g unt e r d en se chs d a s Schick s al be d in g e nd e n F ak t o r en v o rz u ­ n e hm e n . Da s h ei ß t, we n n d i e G l a u b e n s fu n k t i o n i n t a k t is t, k a n n e i n M e n sc h d ie W ert v e rt ei l u n g en s o v o r n eh m en , d a ß e r w e d e r si c h s el bs t n o c h ir ge nd e t w a s a n d e r e s ü be rb ew er te t u n d st a t t d es se n e i ne d e r je weilige n S i t u a ti o n e nt s pr ec h en d e au s g ewo g e ne Part i zi-

173


Behandlung

p a t i o n a n zu s t r eb e n i m s t a n de i st . D e n n « d u r c h d ie A u fr i c ht un g e i ne s v ö llig n eue n We r t sy st e ms a u f g r u n d v o n n e ue n S e ins- u n d H a b i de a l e n , w ir d e r (d e r An a l y sa n d , A nm . F. J. ) z ur So z i al i sie r u n g u n d H um a ni s i er un g f ä h ig ge m a c h t » ( S zondi 1 9 5 6 b , 6 7) . « D a s N i c ht - er fü l l e n di e se r Au fg a be ( de r A n al y s e d e r Gl au b e n s f u n k t i o n , A n m . F. J. ) e r a c h t e n wi r als d e n g r ö ßt en K un s t f ehl er, d e n m a n i n e in er A na l ys e ma c he n k a n n » ( Sz ondi 1 9 5 6 b , 7 1 ) . B eid e F u n k t i o n s ve rb ä n d e ( Trieb - u n d Po n t i fex -Ic h) b r au c h e n e in an d er u n d bi l de n z u sa m m e n d a s « g l ob al e Ic h » . S te h t d a s T r ie b I c h eh e r f ü r d i e o f t b l in de o de r u n be wu ßt e , n at i ve se n t ie r t d a s P on t i fex -Ich d i e

b e wu ß t e

Macht,

Kraft,

so re p r ä ­

d ie d i es e Kr ä ft e

g ezielt z u be einf lu ssen ve r m a g. D a s K o n z e p t d es P ont i fe x- Ic hs ist d e m g a nz e n T ri eb s y s t em üb e rg e or dn e t u n d sp eziell e i ne Z u s a m ­ me n f a ssu n g d e r Ar b eit

des

am

Ic h , a b e r a u ch gle ic hzeit ig d e r A r b ei t

Ich s . De s weg e n w e rd en d i es e Fu n k t i o n e n n o c h m a l s bei de n

W ir kf a kt o r e n (T eil IV, 2) b es p r o ch e n . D en n a l le w i r k sa m en t h e r a ­ p e ut is c he n I n te r v e n ti o ne n las s en si c h als Un t er s t ü t z un g d e r P o nt i fex -Ich -A k t i vi t ät en v er st e he n.

3.7

Zum Ende einer Schicksalsanalyse

F r e u d s b e h a n dl u ng s te c h n is c h e S ch r ift en sc hw e i ge n s i ch ü b e r d i e B e en di g un g d e r Ana l ys e a u s . B er g m an n v e r m u t e t h i er e i n e « A ch il­ le s- Fe rse d e r p syc ho an al yt i sc he n B e h a n d lu n g st e c h ni k (1 9 9 8 , 30 9) . A uc h w en n h i er n o c h viele F r ag e n u n er f o r s ch t s i n d, mö c h te n w ir ei n p aa r pr a k t isc h e H in w ei s e ge b e n . Vo m E nd e ei ne r Sc hi ck sal s an al ys e kö nn t e m an d a n n s pr ec he n, w e n n d ie a m A n fa ng g e s t ec k t en Z ie l e in e t w a e r re i c ht s i n d. D e s öf t er en z e ige n a u c h s pe z iell e T r ä u m e da s E n d e a n . M a n c h m a l e r­ zw i n g e n a u c h äu ß e r e U ms tä n d e d a s Au f h ö r en o d e r g a r d en A b ­ b r uc h. Ab ge seh en d a v o n ist d e r b eg o n n e n e t he ra pe u ti s c he P r o z e ß n ie zu E n d e , v i el m eh r m ün de t e r in e i ne p er m an e n t e Sel b s t an al y s e.

174


Die schicksalsanalytis che Phase

3.7.1

Die Ziele sind erreicht

W ä h r e n d d i e p sy c h oa n a ly tis c he Pha s e de n A bb a u de s T r a u m a t i ­ sc he n an s t r eb t , b e m ü h t sic h d ie s ch i ck s al san al yt is ch e u n d be so n­ d er s d i e i ch -an al yt i sc he Ph a se u m e i n e po si ti ve B e ei nf l uß un g d e r her edi t är en M an if e st a ti o n s mö g li ch k eit en ; d e n n d ie «E r ba n l a ge n (s elb st) ka n n m a n ja n i c h t a u s r o tt e n » ( Sz ondi 1 9 6 3 a , 2 6 1 ) , ih re M a nif es t a ti on en a b e r k a n n m a n wä h l e n d ä n d e rn . Di es e U m w a n d­ lu n g v oll zieh t sich i n d e r R eg e l i n d r e i Sc h ri t t e n . 1 . ) D ie st ör e nd en E rb fig u ren w er de n d u r c h d a s Ic h b e w u ß t , q ua s i di ng f e st u n d d a n n a n n a h m e f ä h i g g em ac ht . 2.) D e r A na l ys ie r t e le r n t z u v e r m e id e n , w a s de n e rn e u t e n E i n b r u c h d e r Ah n en f i gu r en b egü n st i gen k ö n n t e. 3.) Die P ers o n w ei ß, da ß sie unt e r U m st ä n de n k r a nk m a c h e nd e A h ­ n en a u c h i n ei ne soz i a l isi er t e F o r m u mw a nd el n u n d di ese l eb en k an n . Z u s am me ng ef aß t l äß t s i ch s ag e n , d a ß d i e « V er ta u sc h un g d e r S pa l t st ü c ke ni ch t n u r i m Ic h , s o n d er n i m ga n z e n D a s e in d e r P e r­ s o n » al s Z i el d e r S c hi cks a l s an a l y se e r a c h t e t w e rd e n k a n n . A l s R i cht l i n i e d e r B e en di g un g d e r T h e r a p i e k ö n n t e d i e A nn a hm e u n d S oz i a l is i e run g d e r k r a n k h af t en A h n e n a n sp r ü c h e d i en e n ( S z on di 19 6 3 a, 2 6 1 - 2 6 2 ) .

3.7.2 Träume deuten das Ende an Of t b r in g en A n al y s an den T r ä u me , d ie d a s E n d e an z e ige n . Da b e i g e h t e s be ispiels weis e u m T he m e n, bei d e n e n s i ch d e r T r ä um e r a l ­ le in a u f ( s) eine n We g m a c h t , k ei n e H i l f e m e h r b r a u c ht o d e r e i ne Re ise z u E n d e g e ht . ( vg l. K ür st e i ne r 1 9 8 7 , 8 6 - 9 3 ) .

Eine Frau träumte zum Beispiel: «Ich nehme mein Gepäck - er­ staunlich wenig für eine R eise, und dazu noch sehr klein e Gepäck­ stücke - und verreise, von niemandem begleitet» (Szondi 1963a, 264).

175


Behandlung

3.7.3 Äußere Umstände erzwingen das Ende A u ch we n n ei n T h e r a p e u t st et s d a m i t re c hne t , d a ß ä u ß e r e Bee nd i­ g u n gs g rü n d e u n t e r U m s t ä n d en n u r ei n W i d e r st a n d geg en d ie T h e ­ ra pi e s ei n k ö n n e n , m ü s se n wi r a uc h d ies e G r ü n d e er n s t n e h m e n . S ol c he U ms t ä n de k ö nn e n p löt zlic h e m at e r i el l e S c hwi er i gke i te n, Ar b ei t s l os i g ke it , W egz u g, d i e G e bu r t e i ne s K in d e s us w. s ein . Es g e h ö r t z ur k o r r e k t e n H a l t u n g d es T h e ra p e u t e n , d i e A rgu ­ m e nt e se i ner P a ti e nt e n resp ek t vo l l z u g e wi ch t en u n d i h r er M e i ­ n u ng d e n V o rr an g zu g e b e n .

3.7.4 Die Beendigung der Analyse I n d e r Reg el w ir d d e r Sc h lu ß ni cht v o n H eu t e a uf M o r ge n be­ s c hl os s e n, so n d e r n v o r au s g ep l an t . Di e letzten S t u n d e n s ol l t e n ep i­ k r i t is c he n Ü b erl eg u ng en g ew i dm e t s ein . D a b e i k ö n n e n fo l gen de F r a g en h el f en :

W a s w ar d e r G r u n d u n d A n l a ß , d e r zu r T h e r a p ie f üh r t e ?

W u rd e d a s ve r ei n ba r t e Th er ap i ez i el e r r eic h t? H a t e s si c h e v en ­

W as w u r d e al s hilf reich e r l e b t, wa s al s s t ö r e n d ?

W as h a t s ic h g e ä n d er t ?

W a s h a t be w ir kt , d a ß e s z u di esen V er än de run ge n ge k o m m en

Gi b t e s e t w a s, d a s Sie als be so nd er s w ic ht ig er a ch t en ?

H a t sic h d e r Au f w a n d g e l oh n t ?

tue ll g e ä n d e r t ? Ka m en n e u e Zi e l e hi n zu ?

ist?

176


Teil IV

Anwendung des Manuals in Ausbil dung und Therapieforschung 1

K o n t ex t u e l le F ak t o r e n ( M a r t i n B o r n e r ) 1.1 Vorbemerkungen

Ps y c ho t he r a p ie n finden

hin te r ve rs ch l o ss en e n T ür en s t a t t. P at ien t

u n d T he r a pe ut a b e r ko m me n v o n dr a u ße n . Sie t ra g e n ei n e R e ihe ä u ß er e r Fa k t or e n i n d i e T h e r a p i e , w el ch e d er e n G a n g be ein flu s­ se n . I h r e W ir k u n g w ie de ru m e nt f a l t et d i e T h e ra p ie im L e be n sa l l ­ t a g d es P a ti en t en a u ße r ha l b d e r T h e r a p ie . S o m i t h ä ng t a u c h si e v o n F a k t o r en a b , we l c he in d e r T h e r a p ie ni cht d i r e k t bee i nf l ußb ar s in d . W ä h r en d T he r a pi e n i n d en G r ü nd e r ja hr en d e r P sy ch oa na l yse h o c h fr e q u e n t w a r en u n d in d e r Re ge l ni cht me h r al s ei ni ge M o n a ­ te d a ue r t e n , er s tr ec k en sich t i efen ps y cho l o gi s ch o r ie nt ie rt e La n g ­ z e itt he r a pi en h eu t e mei st ü be r me h re r e J a hr e . V er ä n d er u n g e n i m U m fel d d es P a t i e nt en u n d de s T he r a p e ut e n wä h r en d d e r T he r a pi e s i nd d a he r un um gä n gl ic h u n d m ü ss e n i n d e r T h e r a p i e b ea r be i t e t w er d e n . Di e P syc ho an al yse t rä g t d er R ol l e k o n te x tu e ll er F a k t o r e n m it e in em er w e it er t en V er st än dn i s d e r th er a p eu t i s ch e n B e z i ehu ng . Ne ­ be n d e r Ü b er tr a g u n g s - u n d G eg en ü b e r t r ag u n g sb ez ie h u n g n i m mt s ie a u c h e i ne r eal e B e z i ehu ng z wi s c he n P at ie n t u n d T h er a p eu t a n , u n d sie g e h t d av o n au s , d a ß d i e G e g e n ü b e r t r a g u n g a uc h Ü b er t r a ­ gu ng sa nt e i l e au f Se i te n de s P a ti e nt e n ei n s c h l i eß t . I n d e r «S c hi ck sa l sa na l yt i sc he n T h e r ap i e » ( S z o nd i 1 9 6 3 ) h a t Sz o nd i d ie R o l l e d e r k o n te x tu e l le n F a kt o r e n f ü r Ver lau f u n d E r ­ g e bn is v o n T h e r a p ie n zw a r ni c ht ex p l i zi t

un t er s uc h t . M it d e r

177


Anwendung des Manuals in Ausbildung und Therapieforschung

T h eo r i e d es so z i a l en un d me nt a l en ( Z wan g s - )S ch i ck s al s s o wi e m it d e r T h e or i e de s f a mi liä r e n U n b e w u ß t e n h a t e r jed o ch Gr u nd l a ge n z u m E in b ezu g ko nt ex tu el l er F a k t o r e n in d en t her ap eu t is c he n P ro ­ ze ß ge s c ha f f en M i t d e r E r h eb u ng vo n An a m ne s e und sc h i ck sa l s a na l y t i s ch e m G e n o g r a m m ve r f üg t d e r T h e ra p e u t ü b e r zw e i b eh a nd lu ng s t ec h ni ­ s ch e In s t ru m e nt e , di e i h m hel f en , de n Ei nf l uß ä u ß e r e r F a k to re n au f Verla uf u n d E rg e b nis d e r T he r a pi e a bz u s c hä t ze n. Bei d e r B e s c hr ei bu ng d e r k on te x tu el le n F a k t o r e n s tü t z en w i r u ns au f d a s al l g em ei n e M o d el l d e r Ps y c h o th e r a p ie vo n ( O r li n s k y e t a l. 1 9 9 4 , 3 6 2 ).

1.2 Liste der wichtigsten kontextuellen Faktoren 1.

D a s s oz i o- ök on om i s c he u n d s o zi o -k u l t u rel l e Um f e ld , in d em d ie T he r a pi e s ta t tf in d e t, so z i al e S tr uk t ur e n u n d In s t i t ut i on e n, k ul t ur el l e N o r m e n u n d We r t e .

2.

D a s p sy ch o t h er a p eu t is c h e V ers o rg u n g s sy s t em, in w elc hem d i e T h e r a p ie st a tt f in d e t

( B eh and l ungs s e t t i ng:

s t a t i on ä r,

teils ta ­

tio nä r , a m b u l a n t ; är z t l i c h, n i cht - ä rz t l i ch ; V e r so r g un gs sy st em : K r a n ke n k a ss e , S el bst be z ah l un g; B eh an d lu n g s an g eb o t ) . 3.

F ak t o r e n a u f Se i te n d e s P a t ie n t en : Alte r, G e s c hl e c h t, Fa mi l ie , so z i al e r S ta t us , Au s b i l d u n g u n d Be­ ru f, Le be nsst i l, R e i fe gr ad , B e wä l t i gun g d e r ak t u el l en L eb en s ­ si t u a t i o n ,

P a rt ne r ,

F a m i l ie ,

ber uflic he s

Um f el d

(so z iale s

Z w an g s sc h ick s al ) . 4.

K u l tu re l le H er k un f t de s P at i e nt e n: E r z ie h u n g , B i ld ung, ku lt u ­ r ell e u n d re lig iös e We r t e (m e nt a l e s Z wa n g ss ch ic k sa l) .

5.

A n de re Be zu gs p ers o n en u n d B e zug s grup pen i m so zi al en U m­ f eld d es Pa t i en t en ( Pa r t ne r , F a m il i e, A rb ei tg eb er, M it ar b ei te r , K ra n ke nk a s s e ).

6.

F ak t o r e n a u f Seiten d e s T h e ra p e u t e n : s oz i al es u n d men t al es Z w a n g ss c hi c ks a l d es T h e r a p e u t e n .

178


Kontextuelle Faktoren

7 . Pr o fes sion ell er S t at u s u n d pr of ess i one l l es Um f el d de s T h e r a ­ p e u t en , t h e r a p e u tis c h e Au s b i l du n g ( S ozia li sati o n) e insch l ieß ­ lich

S e l b st e r f ah ru ng ,

t is che s

th eo r e tisc h e

Sel b st v erst än dn i s,

Au s r i ch t u n g ,

b eru fli ch e

Erfahrung,

therapeu­ be rufli c he

F un kt i o n en , S up er vi s i on , Z ug e hö ri g ke i t z u V er b än d en . 8 . A n d e r e B e z ug sp er s on e n u n d B ez ug sgr up pen im soz i al e n U m­ f el d de s T h er a pe ut en ( Weite r- u n d F or t b il d u ng s g r up p e n, In ­ te r vi sio ns g ru p pe n , Su p erv i s i o n , B er ufs v erb änd e). 9 . Di e u n t e r d em E i nf l uß d es so zi al en u n d m e n ta l e n Z w a n gs ­ sc h i ck sa l s s te h e nd e Ei ns t e l lu ng d es P a t i e nt e n z ur T h er a pi e. 1 0 . E i ns t el l u n g d es pr i va t en u n d be ru fli che n U mfel d es d e s P a t i e n­ te n z u r T h e r a p i e (F ami lie, P a rt ne r, V or gese t z t e, M i ta rb ei t er ).

1.3 Situationen, in denen kontextuelle Faktoren eine besondere Rolle spielen können •

Üb er w eis u n g , A n me l d u n g ,

K r a n k en k as s en b er ic h t e,

F ra g e n n a c h d e r B eza h l u n g d e r T h er a pi e ,

V e r än d er u n g en im f am i l i är en o d e r b er u flic hen Um fel d d es Pa ­ ti e n te n ,

W oh no rt w ec hs e l ,

U m z u g d e r t h e ra pe u t isc he n P r ax is ,

N e b e n t h e r a p i e n (e insc hl. S e lb ste r f a hr u ng sk ur s e, W or ks h o p s us w .),

Z u s a m me n a r b e it mi t e in e m gle ic hzeit ig b eh an d el n d e n A r zt o de r P syc h iate r,

Fr a g e n de s Pa t i en t en n a c h W ec hse l d e r th er a p eu ti s ch en M e ­ thode.

E in e b e so n d e r e R o l l e sp i el t d ie B e z ah lu ng d e r Th e r a p i e . E i ne rse i ts e nt sc he i d et sie maß g e b li ch ü b e r d en F o r t g a ng d e r T he r a p ie ; a n ­ d ersei t s st ell t s ie e i ne V er b in d u n g zu r R ea l it ä t h e r (F re u d 1 9 1 5 ) .

179


Anwendung d es Manuals in Ausbildung un d Therapieforschung

O f t ge nü gt es n ic h t, d ie Be zah l u n g z u Begin n d e r T h e ra p ie zu re­ g el n . Di e ö k o n o m i s c h e S itu a ti o n de s Pat i en t en ka n n s i ch v er ä n­ d e r n . D e r T h e r a p e u t p a ß t s e i n H o n o r a r d e r T e u e r u n g a n . Di e K r a nk enk as s e z a hl t n ic h t m e h r o d e r n ur n oc h in ve rm i nd er t em U m fa ng .

1.4 Einige Hinweise für den Therapeuten i.

D a mi t si c h d i e P at ie n te n ü b e r d e n E i nfl u ß kon t ext u el l er F a k ­ t o r en auf i h re P r o b le me u n d a uf d ie T he r a pi e b e w u ß t we r d e n k ö n n e n , mü s s e n s i e ei n Be wu ß t s ei n e rl a ng e n ü b e r i h r s o zia l es u n d me n t a l es Zw an g s s c h ick sa l.

z.

D a ß k o n te x tu e l le F a k t o r e n u n d T h e r a p i e s i ch g eg e n seit ig be­ e in flu sse n k ö n n e n u n d w i e si e d a s u nt e r U ms t än de n t u n , ist d e n m e i s t en Pa t ie n te n n ic h t v o n v o r n he r e i n kla r. U m ih n en d ies es w e c hs els eit ige Z u s a mm e ns pi el S c h r it t f ü r S c h r it t ve r ­ s tä nd l ic h z u m ac h en , k a n n d e r Th er a p eu t z um Beispiel f ra g e n : «K ö nn t e d a s, w a s Sie m i r e b en er zä h lt en , a uc h e t w as m i t u n­ s er er A r b ei t h i er zu t u n h a be n ? »

Ein Patient fragt sich im Verlaufe einer längeren Therapie, ob die ge­ wählte Methode eigentlich die für ihn geeignete sei oder ob es nicht besser wäre, die Methode zu wechseln. Der Therapeut erinnert ihn daran, daß die ursprüngliche Frage, mit der er in die Therapie ge­ kommen ist, die gewesen sei, ob er die richtige Partnerwahl getroffen habe.

3.

D e r T h e r a p e u t m a c h t d e m P a t i e n t e n d a s Zu s a m m e n sp i e l zw i ­ s ch en s ei nen P ro bl e me n u n d k on t e xt u e lle n F a k to r en b ew u ß t .

Ein 73jähriger Mann muß wegen einer schweren depressiven Ver­ stimmung nach dem Tod seiner Frau in einer psychiatrischen Klinik hospitalisiert werden. Der Klinikaufenthalt bereitet ihm große Mühe. Die Klinik liegt im gleichen Ort, in dem er sein ganzes Leben verbracht hat. Am liebsten wäre er in eine entfernter gelegene Klinik

180


Kontextuelle Faktoren

eingetreten. In seiner Familie galt die ungeschriebene Regel, daß man sich selber hilft, wenn man Probleme hat. Es wird ihm bewußt, daß er gegen diesen Grundsatz verstoßen hat und daß ihm das zu schaf­ fen macht. Der Therapeut fordert ihn auf, Stellung zu nehmen. Der Patient findet, es sei für ihn eigentlich richtig gewesen, in die Klinik einzutreten. Seine Frau habe sich trotz ihrer schweren Krankheit ge­ weigert, in ein Spital zu gehen. So habe er sie bis zu ihrem Tod zu Hause gepflegt. Damit habe er sich wohl überfordert. Nach ihrem Tod sei er im Begriff gewesen, dasselbe zu tun wie sie. - Von diesem Moment an wandelt sich das Bild des Patienten von der Klinik. Es ge­ lingt ihm besser, seinen stationären Aufenthalt zu akzeptieren und vom therapeutischen Angebot zu profitieren.

4.

D e r T he r ap e ut soll si c h ü be r d ie k o n t ex t u ell en F a k t o r e n d es P at i en t e n i nf o r mi er e n (b e s on d e r s be i kul t u rel l en V ers ch i ede n­ he i t en ) .

Der 2.5jährige Patient ist Sohn italienischer Einwanderer. Obwohl die meisten Geschwister seiner Eltern verstreut in verschiedenen eu­ ropäischen Ländern leben, unterhalten sie untereinander und zu ihrem Heimatdorf in Süditalien immer noch eine sehr enge Bezie­ hung. Der Patient, der an einer Schizophrenie leidet, ist nach einem zweijährigen Aufenthalt in einer therapeutischen Wohngemeinschaft zu seinen Eltern zurückgekehrt. Nun fragt er sich, ob er vorläufig bei ihnen leben oder ob er erneut ausziehen soll. Der Therapeut lädt die Familie ein, um sich ein Bild machen zu können von deren Normen und Wertvorstellungen bezüglich der Pflege eines kranken Familien­ mitgliedes. Er erfährt von den Eltern und Geschwistern, daß sie sich in hohem Maße verantwortlich fühlen für den Patienten, unabhän­ gig davon, ob er zu Hause oder in einer therapeutischen Wohnge­ meinschaft lebt.

5.

D er T he r a pe ut sol l d e m P at i en t e n b e w u ß t m a ch e n, d a ß d ie U m st ä n d e , d i e z ur T he r a pi e g e f ü hr t h a b en , d ie T h e ra p ie b e ­ ein flus s en k ö n n e n .

181


Anwendung des Manuals in Ausbildung und Therapieforschung

Ein 42jähriger Mann begibt sich wegen Schwierigkeiten am Ar­ beitsplatz in Therapie. Es fällt dem Therapeuten auf, daß der Patient schon im Erstgespräch betont, wie sehr sein Vorgesetzter damit ein­ verstanden sei, daß er eine Therapie beginne. Bald stellt sich heraus, daß die Beziehung zu diesem Vorgesetzten der hauptsächliche Grund ist für die Schwierigkeiten des Patienten. In der Therapie durchlebt der Patient die verschiedenen Aspekte der konflikthaften Beziehung. Empfand er es anfänglich als erleichternd, daß der Vorgesetzte seine Therapie unterstützt, so empfindet er es nun als erniedrigend, daß der Vorgesetzte ihn, wie er es ausdrückt, in die Therapie schickt. Nachdem er eine Weile hin und herschwankt, ob er die Therapie ab­ brechen solle, entschließt er sich zur Fortsetzung, «aber nicht we­ gen des Chefs», wie er sagt, sondern weil er selber es will und gut findet.

6.

Der Therapeut soll dem Patienten bewußt machen, daß das fa­ miliäre und soziale Umfeld, in dem er lebt, die Wirkung der Therapie beeinflußt. Eine 27jährige Frau begibt sich wegen phobischen Ängsten in The­ rapie. Sie entstammt einer Arztfamilie. Ihr Vater hat ihr gegen die Ängste bisher Medikamente verschrieben. Als sie den Eltern berich­ tet, daß sie eine Psychotherapie begonnen habe, spürt sie eine deutli­ che Ablehnung. Bei Besuchen zu Hause fragen die Eltern, ob sie im­ mer noch in Therapie sei, ob ihr die Therapie geholfen habe, wie lange sie die Therapie noch fortzusetzen gedenke und wie lange die Krankenkasse noch zahle. Der Konflikt zwischen ihrem Wunsch, frei zu werden von ihren Ängsten und ihrer Angst, die Anerkennung der Eltern zu verlieren, wird ihr bewußt. Erst wenn es ihr gelingt, diesen Konflikt zu lösen, kann die Therapie Erfolg haben.

7.

Der Therapeut soll den Einfluß einer unterschiedlichen sozia­ len und kulturellen Herkunft auf die therapeutische Beziehung erkennen.

182


Kontextuelle Faktoren

1. Die Patientin entstammt einer sozial höheren Schicht als der The­ rapeut. Der Therapeut stellt bei sich anfänglich ein starkes Mitleids­ gefühl der Patientin gegenüber fest. Mit der Zeit erkennt er, daß er sich damit vor unbewußten Neidgefühlen schützt. 2. Dieselbe Patientin äußert mehrmals, wie wichtig ihr eine gepfleg­ te und geschmackvolle Inneneinrichtung sei. Als der Therapeut sie erstmals daraufhin anspricht, wie sie den - eher einfach eingerichte­ ten - Behandlungsraum empfinde, bekennt sie mit einiger Überwin­ dung, daß sie sich hier nicht besonders wohl fühle. Vor Beginn der Therapie habe sie sich vorgestellt, daß die Therapie in einem sehr schönen Raum stattfinden würde, dessen Einrichtung sie sich bis in die Einzelheiten ausgedacht habe. Als sie dann den Raum zum ersten Mal betreten habe, sei sie enttäuscht gewesen. Bis heute irritiere es sie, daß ein so hervorragender Therapeut sich mit einem so beschei­ denen Raum begnüge. Diese Aussagen bieten dem Therapeuten Ge­ legenheit, das Selbstwertgefühl der Patientin und - in einem weiteren Schritt - ihre unbewußten kaimtischen Gefühle zu thematisieren.

8.

D er Th e r a p e u t s oll S it u a ti o n en , in d en e n k o n t ex t u el le F a k t o ­ r en au f d i e T h er ap i e e in w i rk e n, au s drü ck l ic h t he m a t isi e r e n.

Eine solche in längeren Therapien wiederkehrende Situation sind regelmäßig zu verfassende Kassenberichte. Sie geben dem Therapeu­ ten insbesondere Gelegenheit, mit dem Patienten zusammen eine Zwischenbilanz über den bisherigen Verlauf der Therapie zu ziehen und die Frage nach dem Krankheitswert der aktuellen Probleme des Patienten zu stellen.

9.

I n lä n ge r e n T h er a p i e n v er än de rt sich d a s f a mi l i ä r e , so z ia l e u n d b eru fli che Um f el d d es Pa ti en te n . D e r T h er a pe u t so ll d i es e V er­ ä n d e r u ng e n im H in b l ic k au f i h re Ro l l e f ü r d ie T h e r a p ie au s ­ d rü c kl i c h th e m a tis ie r e n . D a zu ge hör en n eu e B e z i eh un ge n u n d T r e nn un g en , G eb u r t en u n d Tod esf ä l l e, Wo h n or t we c h s e l , Be ­ ru fs w ech s el o d er Stell en wechs el u . a . m .

183


Anwendung d es Manuals in Ausbildung und Therapieforschung

Ein 46jälii iger Mann begibt sich wegen Überfoderungsgefühlen und anhaltender depressiver Verstimmung in Therapie. Während der Therapie wechselt er die Stelle und nimmt nun eine führende Posi­ tion in einem international tätigen Konzern ein. In der Therapie rechtfertigt der Patient diesen Schritt damit, daß es sich um eine ein­ malige Chance gehandelt habe. Der Therapuet fragt den Patienten, ob seine Entscheidung, abgesehen von den äußeren Umständen, auch etwas mit der Therapie zu tun haben könnte. Der Patient erkennt zuerst keinen Zusammenhang. Dann erinnert er sich, daß er als Nichtakademiker dem Therapeuten gegenüber oft Minderwertig­ keitsgefühle empfunden habe. Von Schamgefühlen begleitet gesteht er schließlich, daß er, während er sich um die Stelle beworben habe, wiederholt phantasiert habe, er werde, wenn er die Stelle erhalte, wohl einiges mehr verdienen als der Therapeut. Und diese Phantasie habe ihm außerordentliche Lustgefühle bereitet.

2

S c h i c ks a l s a n a l y t i s c h e T h e or i e de r t h e r a p e u t i s c h e n Ve rä n d e r u n g : Die W i r kf a kt o r e n d e r Sc hi c k s a l s a n a l y s e ( F r i e dj u n g J ü t t n e r )

Z u n ä c hs t w ir d d i e sc hi c ksa l sa na l yt i s ch e Ve r än d e ru ng t he o r ie d a r­ ges te ll t. D a n n we r d e n d ie Wi r k fa k t o r e n d e r S chi ck sa l san al ys e be­ s p r o c h e n . U n d z u m S c h l u ß f o lg t ein A us b l i c k au f Fo r sc h u ng se r ­ ge bni sse zu m T h e m a W i r k f a k t o r e n .

2.1 Die schicksalsanalytische Veränderungstheorie Di e Ve r än d e r u n g s th e o r ie d e r S c hi cksa l s an al yse ist e in K o n z e p t ih ­ re r Ic h- Ps ycho l ogi e. D i e se u nt ers ch ei d et zw i sc he n d e m T ri eb - Ich u n d d e m Po n t i fe x-I ch . D a b e i ist d a s T ri eb -Ich m it s ei n er phy si ­ sc he n N a t u r d i e B ed i ngu ng o d er d ie V o r a u ss e tz u ng f ü r d a s « me ta ­ p h y sisc h e Ic h» ( Sz ondi 1 9 6 0 , 1 6 8 ) o d er d a s P o nt i fe x-I ch . Die s es P on t i f e x- I c h a b er ist d i e b ew ir k en d e I n s ta n z , d i e au f d a s T r i eb- I c h

184


Schicksalsanalytische Theorie der therapeutischen Veränderung

( a b e r a u c h au f an d e r e B ed ü rf n isse de s M e n sc h e n ) E i nf l u ß au s üb e n k a n n , w e i l si e M a c h t ha t ü b e r d i e K rä ft e d es T ri eb -Ich s (J litt ne r 1988).

Di e

sc hi c ksa l sa na l yt i s ch e

V er ä n d er u n g s t h eo r i e

ist

also

i d ent is ch m i t de m K o nz ep t vo m P o n t i fex - Ich , da s d u r c h d re i F u n k ­ t i o n e n de f i nie r t is t, n ä m l i ch : Tr an s z en di ere n, I nt e gr i er e n u n d P ar ­ t i z i pi er e n . D i ese d re i F un kt i o ne n b e w irk e n t h er a p e u t is c h e V er än d er u n g , a b e r n u r d a n n, w e n n d e r T he r ap e ut s ie v o r l eb t u n d e i n e «w ec hse l ­ s eitige P a r ti zi p at io n z w i sc hen d e m I c h de s A na l ys a nd en u n d d e m de s An a l y t ik ers » b es t e ht . Bei d e r «posi ti ven I ch - Ü b er t r ag u n g » ve r ­ lä u ft d e r H ei l ung s vor g an g ü b e r d re i Tr i eb -I ch - Ph a s en : a) d i e Pa r ti­ z i pa t i o n f ü h rt zu m E ins - u n d Ve r wa n dt s e in mi t d e m T he r a pe ut en , b ) I n d e r infla tiven Ph a se m ö ch t e d e r A na l y s a nd

so

s ei n w i e d e r

T h e r a p e u t u n d c ) i n d e r i n t ro j ek t i ven P h as e w ir d d a s I ch d e s T h e ­ r ap eu t en d e m de s A n al y s an d en ei nv erl ei bt . O d e r k ur z : «Di e H e i ­ l u n g a b e r en ts t e ht d u r c h I nt r o je kt io n d e s Ic hs de s T h er a p eu t e n » ( S z on di 19 6 3 a , 2 2 0) . M a n k ö n n t e n u n f r a g en: Wa s ist m it d e r vier­ t e n Tr i eb - I ch - F u n k t io n , de r N e ga t i on ? D ie A n t w o r t : We n n d a s I ch de s T h er ap e u te n intr o jizie rt w i r d , d a n n is t s ich erl ich a u c h d ie N e ga t i on o d e r d ie Fä h i gk e i t zu v erzi cht en ei nge sc hl oss en . Die ses T h e m a w i r d gleic h n oc h ma l s i m Z us a m m e n ha n g m it d e r Ü b e r t ra ­ g u ng u n d Ge g e nü b e rt r a gu n g (2 . 2. 2) a u f ge g r if f e n . Sc hli e ßlic h sei n o c h d a r au f v erw i es en , da ß h i er n ic h t vo n s ee lis ch en I n h al t en , so n ­ d e r n vo n Fu n k t io n e n d ie R ed e is t. U n d e i n e p sy c ho l o gi sc he Fu n k­ t i o n ist e i ne v o n ih r e n vers ch i ed en en I n h a l te n u na b hä ng ig e o d e r « un t e r v e r sc hi e de n en U ms t ä n d e n sic h p rinz ipiell g l e i ch bl e i be n de ps yc hi sc he Tät ig k ei ts f o r m » ( Ju n g 1 9 7 2 , 1 3 1 ) . W i r g l au b e n a u c h, d a ß vo r al l em m it d e n d re i P o n ti f ex - Fu n k t io ne n g a n z al l gem ei ne W ir k u n g s s ch r it te e r f a ßt s i n d , d ie f ü r a lle Th e ra p ie n Ge l t u ng h ab en . O d e r a n de r s ge sa gt : I n jeder e rf o lgr ei­ c h e n o d e r w i r k s a m e n T he r a p i e s i nd di ese dr ei F u n k t i o n en — a uc h w en n si e a n de r s be na nn t we r d e n - we s en t l i ch m i t be t ei l i gt .

185


Anwendung des Manuals in Ausbildung und Therapieforschung

2.1.1 Transzendieren T r a n sz e n d ie r e n me i nt d i e F ä hi gke i t d e s M e ns c he n, G r en zen u n d S ch r an k e n z u üb e r s c hr e it e n, V er t r au t es ver l a sse n u n d sic h N e u e m z u we n d en z u k ö n n e n . Sich beis piels weis e a u f U n be wu ßt es u n d al l ­ ge me i n u n a n g e n e h me T he m e n ein l asse n z u k ö nn e n , d a s b e w i r k t d i e F u n k t i o n d es Tr a n s ze n d ie r en s . B eisp ielsw eise d i e f re i e A s so ­ zi at io n , d a s D e u t en

u n d K o n f r o n t i er e n s te h en al l e im Di e n st e

d i ese s Tr an s zen d ier en s .

'

2.1.2 Integrieren I nt eg ri eren a l s F un k ti on m e i n t hi er d i e u mg e k e h r t e Be we g un g , d i e n a c h d e m T r a n sz en d ier en wi ed er zu r ü ck z u m ei g en en G a n z e n f ü hr t . W a s be de u t e t m i r d a s v o rh e r b ew u ß t G e w o r d e n e , d a s n e u E n t de c k t e ? Wa s h a t d a s m it mi r z u t u n ? W i e k a n n ich e s in m ein p e rs ö n l i ch es Bil d e in o r d ne n ? Wi e ge h e ic h d a m i t u m ? D a s D ur c ha r be i t en u n d d ie i nn e r e A u ss ö h n u n g mi t s i ch s e l bs t u n d d e r W e l t s i nd Vo r g ä n g e de s I n t eg r i er e ns.

2.1.3 Partizipieren D a s F u n k ti o n ie r en d es T r an s zen d ier en s u n d I n te g ri er e n s is t d i e V or a u ss e tz u n g f ü r d a s P ar t i zi p i eren im Si nn e d es P ont i f ex- Ic h. Pa r ­ t i z i pi e re n w i rd d ab e i ve r s t an den a l s A nt e il n a hm e , ei ge nt l i c h be sse r al s An t e i l g ab e i n z we i f a c he r R ich t u n g : n a c h in n en u n d a u ß e n . Sz o nd i n a n n t e die s a u t o g en e u n d al l o gè ne Pa rt i z i pa t i o n, d ie sic h d a r in z eigt, d a ß j em a n d

« mi t s i ch un d d en M i t m e ns c he n ei ns

g e w o rd e n » is t ( 1 9 5 6 b , 9 2 ). Da be i zie lt d a s Pa rt i zi p ie ren au f ein e a us ge w o ge ne « Ma ch t v er t ei lu n g » o d e r ei ne a u sg e w o g e n e G e w i c htu n g s b all an ce z wi sc h e n i n n e n u n d a u ß e n . Di e « a u t o g e n e P art i zi ­ p a t io n » n a c h i n n e n k ön n t e m a n a u c h al s e i ne o f fe n e, a b e r ve r ­ s ö hn li c he Ha l t u n g sich s el bs t g e g en ü b e r b ez ei ch n e n . D i e «a l lo g ène P a r ti z ip a t io n »

rel ativ ier t d i e G ef a h r eins eit iger Se lb st e nt fa l tu ng

u n d ric h te t d a s Au g e n me r k na c h a u ß e n. Sie u m f a ß t dr ei w ic h t ig e

18 6


Schicksalsanalytische Theorie der therapeutischen Veränderung

B ere iche m en s c h l i ch er U mw e l t . Z u n ä c h s t d ie Ü b e rn a t ur , d . h. b ib ­ li sch a us ge d rü ck t , d ie B e z ie h un g z u G o t t . Wil l m a n e s ph i l o so ­ ph i sc h s ag e n , d an n s pr i c h t m a n be sse r v o n e i ne m e w i ge n S eins ­ g r u n d , de m sich ein M en s c h e i n z u o rd n e n ve r su c ht od e r de m e r si c h v er pf lich te t f üh lt u n d d e r se in e m L ebe n S i nn gi b t. Di ese r P a rt i zi ­ p at i o ns t e i l ist d e s h a l b s o w ic h ti g f ü r d a s G e su n de n o d e r G a nz s e in ei n es M e n s c h e n , w ei l e r d a s M a ß i ndi vi due l l er Be d e u tu n g im Z u ­ sa mm e n h a n g e i ne r g r ö ß e r e n S ei n s o r d n u n g zu s eh en l eh r t . H i e r w i r d ein e t r an s pe rs o na le D i me ns i on ge öff ne t , d ie Re l igi os it ä t a ls E in ge b u nd e ns ei n in N a t u r u n d Ü b e r n a t u r ver s t e ht . Die a nde r e n b ei d en

Be re iche al l oge ne r P a r ti zi p at io n si nd

d ie M i t m e n s c h e n

( M it w e lt ) und di e N a t u r (U m we l t ) .

Gegen Ende der Analyse begann ein junger Mann, der bislang dem Religiösen sehr skeptisch gegenüberstand, die Stunde folgender­ maßen: «Ich habe beschlossen, an Gott zu glauben. Das tönt ko­ misch. Früher hatte ich Angst, daß ich mit dem Glauben an Gott ein Stück meiner Freiheit aufgebe, daß ich die Realität nicht erkennen könne, daß mir der Glaube den Zugang zur Wahrheit verstellen kön­ ne ... Ich will n icht einen Glauben, der einen blind macht oder in ei­ ne Traumwelt führt. Ich möchte durch den Glauben die Wirklichkeit, das Leben besser sehen, Einsicht gewinnen in das, was das Leben wirklich ist ... Daß das Leben Tiefe bekommt, die es sonst nicht hät­ te. Es hat etwas mit dem Sinn zu tun... Daß man durch so ein Leben eher den Zugang zum Menschen bekommt. Daß es etwas Befreien­ des hat. Befreiung aus dem eigenen Kopf oder dem eigenen Ich. Eine Öffnung zum Leben, indem man sich mit etwas auseinandersetzt, das über einem ist, etwas, was über die Realität hinausgeht, umfas­ sender ist als das, was vordergründig wichtig scheint. Ich glaube, das ist es irgendwie». D i e se P a ss ag e be g inn t ni cht n u r mi t e in e m üb er r as c he nde n S a tz , s o n d e r n sie i ns ze ni er t au c h s p r a ch l ich d i e bes ch rieb en e Ve r ä nd e ­ r u n g, n ä ml ic h d e n i m G l a u b e n v ol l zo gen en Ab sc h i ed vo m I c h z u e t w a s H ö h e r e m , o hn e sic h d a b e i a u f zu g eb en . D e r We c hsel i m

1 87


Anwendung des Manuals in Ausbildu ng un d Therapieforschung

G eb r a u c h d e s Pe r s o n a l p r o n o me n s «Ic h» hi n z u m al l g em ei n ere n « m a n » un t e rs t re i c ht d i e a n g e s p r o ch en e «Be fr ei ung au s d e m eige­ ne n Ic h» u n d d en gr ö ße r en « Z u g a n g z u m M en s c he n» .

2.2 Schicksalsanalytische Wirkfaktoren oder «Wahl macht Schicksal» I n d e r Sc hi cksa l sa nal yse h at d e r B egriff d e r W ah l e i n e w ic ht i ge w i r­ k u n gs v o l l e B e de ut u ng , d e n n all e W a hl e nt s ch ei d e e i nes Me n s c h e n be inf luss en se in Sc hic k sal. D a be i w i rd z w is c he n d e r «Z w a ngs ­ w a hl » u n d d e r « Fre i hei t s w ah l » unt er s c hi ede n. D ie Z w a n g s w a h l ist ei ne v o n i n n er en u n d äu ße r en N ot w e n di gk ei t e n d ik t ier t e, be i­ s p ielsw eise v o m E r b e u n d d e r U mw el t. W ä h r e n d d ie Z w a n g s wa h l in d e r R eg el e ine u nb e wu ßt e En t s ch ei d u n g is t, w i r d d ie Fr eiheit s­ w a h l g a n z b e w u ß t ge t ro ff en . Je m eh r d ies e W a h l v o m « p a r ti z ip a t i ve n Ic h» au s g e ht , d . h . je m e hr s ie b e w u ß t a u f d i e eig e n en B e­ d ü r f ni ss e u n d d ie d e r an de r en un t er Ei nb e z ug e in e r hö h er en S e ins­ o r d n u n g Rü c k s ic h t n im m t , de st o m e h r ist es ei ne F re i he i ts w a hl . Sie k an n s o g a r in ei nem J a z u m u na bä nd er l ic he n Zw a ng s s chi c ks al , b eispiels we ise d e m ei n er I nv al i di t ä t o d e r ei ne r K r an k he it b es t e h en . T h e r a p ie m a c h e n, ist e in s ch i ck s al h aft e s E r ei gn i s , d a s d u r c h e i ne g a n z e K e t t e v o n v ers chi ed enen Wa h le n - s o w o h l de s P a ti e nt e n w i e a u c h d e s T he r a p e ut e n , w i e a u ch v o n Z w a n g s - u n d F re iheits­ w a h l e n - be s ti mm t ist. Da b e i d o m in i er en in d e r Re ge l zu n äc h s t d ie Zw a n g s w a h l e n . Sie s i nd d u r c h seelis che K o nf l i kt e u n d S t ör u nge n, a b e r a uc h d u r c h d ie U m w e l t b ed i n g t . Es se i n u r a n d a s jeweilige Ve rs o rg u n g ss y s t em u n d d i e s c h o n g e n a n n t e n ko nt ex tu e lle n F a kt or en (Te il IV, i ) er in ­ n er t .

2.2.1 Die Wahl der Therapeuten (als Wirkfaktor) Es ist he ut e in d er Ps yc ho th e r a p ie f or s c hu n g un be s t ri tt e n, d a ß d e r th e r a p e ut is c h e n Bez ieh u n g ei ne , bz w . s o ga r d ie g ro ß e , t h e ra p e u t i -

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Schicksalsanalytische Theorie der therapeutischen Veränderung

s eh e W ir ku n g z ug es ch ri eb en w i r d . W ie di e se g u t e t h er ap eu t is c he B ez i eh un g e n t st e ht , ist a l le r di ng s w en ig er be ka nn t u n d er fo rs c ht . Di e S c hic k sa l s a na l y se h at m i t i h r em K onz e pt de s G e n o t r o p is mu s ( Sz ondi 19 4 4 ) ein e T he o r i e e nt w ic ke l t, d ie un se r e r M e i nu n g n a c h H in w eis e auf d i e n ö ti g en V or a usse t z ung en e i ne r gu t e n Bezi ehu n g li ef er t.

«Unter Genotropismus versteht die Schicksalsanalyse die wechselsei­ tige Anziehung latent erbverwandter Personen ... Genverwandt sind somit Individuen, in deren Erbbeständen verwandte oder identische zurückkehrende (rezessive) Erbanlagen enthalten sind. Die Partner einer Liebe oder Freundschaft wie auch die eines Berufes, der mit Menschen zu tun hat, sind erbverwandt» (Szondi 1963a, 211). Die­ se «Genverwandtschaft» spielt also nicht nur bei der Gatten- und Freundschaftswahl eine entscheidende Rolle, sondern auch bei der gegenseitigen Auswahl von Therapeuten und Patienten.

Die g en ot r o pe W a h l zw i s ch en T h e r a p e u t u n d P at ien t is t n o c h k ei­ ne G a r a n ti e f ü r d a s G el i ng en e i ner i n t erp e rs o n el l en Bez i eh u n g, d e n n d ies e m u ß i mm e r w i e de r ge pfle gt u n d g e n ä h r t w e r d e n , w oh l a b e r ist s ie al s e i ne wes en t li che V o r b ed in g u n g fü r ei n g u t e s Gel i n ­ g en zu ve r s te he n . W i e l ä ß t s i ch di es e g en o t r o p e B e z i ehu ng e r u ie r en ? Ei ge n t l ic h g a n z e i nf a ch u n d s p o n t a n . D e r W ä hl en d e m u ß sic h n u r f r a g e n : ist m ir d a s G e g en ü b e r s y m p at hi sc h o d e r un s ym p a t hi s c h? W a r u m is t e r m i r w o h l sy mp a t h is c h? Vie ll eich t l ä ßt s i ch di e se S ym p a t hi e a n b e s ti mm te n E r b k r ei sen ( wi r k e n n en v ier) o d e r g an z b es t i mm t en Ne ig u n g en ( d a v o n k e n n e n wi r a ch t ) f e s tm a c h e n . Viell eich t v er g le ich t ei n T h e r a p e u t s ei n e n S z ond i -Tes t o d e r s e i n G e n o g r a m m m it d e m s eines Pat ien t en , u m d a rü b e r m e h r K l a r ­ h ei t z u e rha l t e n. ( D a r ü be r b est ehen leid er n o c h ke i ne U nt e r s u­ ch u n g en . ) Um ge k e hr t s ol l t e ei n Pa t ie nt s c h o n n a c h d e n e r st e n Beg eg n u n­

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Anwendung des Manuals in Ausbildung u nd Therapieforschung

gen m i t se i ne m T he r a p e ut e n au f g e f o r d er t w e r d en , si c h d i e «Sy m­ p a th ie fr a g e » z u st elle n . E r s oll a u c h a u f d ie Wic h tig ke it , d ies e F ra ­ g e be j a he n z u k ö n n e n , a u f me rk sa m g em a c h t w e r d en .

Es ist für unsere gemeinsame Arbeit von Bedeutung, ob Sie sich bei mir wohlfühlen können und ob ich Ihnen auch etwas sympathisch bin. Das muß nicht automatisch so sein. Wenn nicht, könnte es u. U. besser sein, Sie probieren es nochmals woanders.

2.2.2 Wahlverwandtschaft, Übertragung und Gegenübertragung Di e Er b v e r w a n d t s c h a f t wi rk t sich a u ch a u f d i e Ü be r t r a g ung u n d G eg e n ü b er t r ag u n g a u s . Sz o nd i s a gte d a z u : « D i e a n a l y tis c h e Üb er ­ tr a g u n g ist ei ne se e lis c he Si tu a ti o n , in d e r d ie fa mi l i är e n P r o je kt io ­ ne n öf t er , al s m an e s z u a h n e n w a gt e, a m W e r k e s i n d . D ie C h a nc e ei ne r g ün s t i g u n d r as ch ve r l a uf e nd en A n al y se is t u n s e r en E r f a h­ r u n ge n n a c h u m s o gr ö ß e r , je gr öß e r d ie <genotro pische> Bez i eh u n g, al s o d i e G e n v e r w a n d t sc h a f t z wi sc h e n d em An al ysi e rt e n u n d d e m An a l ys at o r i st . Da r u m ist d ie A n s c h au u n g s o m a nc he n An a l y tik e r s u n r ich ti g , d a ß e r «kein e M en ü ka r te » s ei, d i e d e r A n a l y sa n d vo r e r s t « gust iert» u n d au f G r u n d d e r S y mp at h ie o d e r A n t i p a t h i e d a n n w ä hl t o de r a b l e h nt » ( 1 9 5 6 a , 1 7 7 ) . Es w ä r e f a l sc h z u gl a u b e n , d a ß d ie g e n o tr o p e B e z i ehu ng sich n u r p o s i t i v in e in e r T h e r a p ie a u s w i rk e . Sie h a t a u ch N a c ht e il e . Je a u s g e p rä g t e r d ie Üb e rt r a gu ng , u m

so

a u s g ep r ä gt e r ist in d e r R eg el

au c h d e r W i de r s t a nd . Di e G e n v e rw a n d t s c h a f t k a n n a u c h f ü r d e n A n al y t ik er z ur G e ­ f ah r w e r d e n , n äml ic h d a n n , w e n n in d e r B e h a n d l u n g s ei n e ei g en en A h ne n f ig ur e n a k ti v ie r t w er d e n . Z u e in e m Fe h lv er h a lte n de s An a­ lytik er s k o m m t e s a b e r n u r da n n , w e n n e r ni c ht N e i n s a ge n u n d St el l un g n eh m en k an n . U n d um ge ke hr t : « D e r H e i l u n g s p r o ze ß be ­ r u h t e b en d ar i n , d a ß d e r T h e r a p e u t se in st a r k e s, u n t e r a l l e n U m­ s t ä nd en v er z ic h t en k ö n n e n d e s I c h au f d a s I c h s ei n er n i c h t ve rz ic h­

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Schicksalsanalytische Theorie der therapeutischen Veränderung

t e nk ön n en de n P a t ie n te n pr oji zie rt u n d d e r P at ien t v on S t u n d e z u S t u n d e a l l m äh l i c h zu r I n t r o j ek t io n d e s s ta r k e n, ver zi c ht e nde n I c h s se i nes A na ly tik e r s f ä h ig w i rd» ( Szo nd i 1 9 6 3 a , 21 7).

Beispiele finden sich im Therapiebuch Szondis: 1963a, 2.16-219.

2.2.3

Wahl von Beruf und Hobby

D a s E rb e o d e r d i e Ah n e n sin d G eg e b e nh e it en , di e si c h n ic h t w eg ­ a na l ys i er en la ssen . O d e r w i e S z on di e s a u s d r ü c k t : «D i e E rb s t ru k ­ t u r l ä ß t si c h ni e m a l s au s m er z en » ( 1 9 6 3 a , 21 2) . Sie m u ß au c h g a r n i c ht . D e n n in di es er E r bs t r uk t u r li egt n ic h t n u r G e fa hr , s o nd e r n a u c h C h a nc e. E in e ne ue , ge s c hi c kt e W a hl ka n n ei n e he m a l s k r an k ­ ma c h e n d e s Be d ür f n is u m mü n z e n in e i ne s oz ialisier te b eru fli che o d e r al s H o b b y gepfle g te T ä tig k e it. O d e r u nt e r d e m A s p e k t d e r Dy n a mi k b e t ra c h t e t , k a n n m a n s a g e n : ei n T r i e b a n sp r u c h w ill b e­ f rie d igt

w e r d e n , e n t w e d e r d i re k t

oder

über ein

N eb e ng e l ei se .

W ich t ig ist , e r fi nd e t ei n V enti l, d a s i h m E n t l a s t un g u n d E n t s p a n ­ nu n g v e rs ch a ff t .

Ein sehr mißtrauischer, paranoid veranlagter Bauzeichner beschließt am Ende der Analyse, ein Psychologiestudium zu be ginnen. Heute ist er als erfolgreicher beratende r Psychologe tätig. Sein Bruder soziali­ sierte seine mißtrauische Neigung dadurch, daß er Krim inalpolizist wurde. Bei di e se r U mo r ie n ti er u n g , d i e o f t s p o n t a n erfo l g t , m u ß d e r T h e ­ ra p e u t au c h m a n c hm a l behil flich s ein . Di es k a n n be ispielsw eise mi t Hi l fe de s G e n o g ra m m s g es c h eh e n , in d e m m an au f sich d o r t a n b i e­ t en d e S ozi al i si e run gs- o d e r S ub l i mi e ru ngs mög l i ch ke i t e n a u f m e r k ­ s a m ma c h t . E s ist a u c h mö gl i c h, s o n s t i g e Vo r s c hl ä g e zu m a c h e n.

Beispielsweise empfahl Szondi einem seiner paranoid gefährdeten Patienten, sich mit Religionsphilosophie zu beschäftigen (1956b, 89; identisch mit Fallbeispiel Teil IV, 3). 191


Anwendung d es Manuals in Ausbildung und Therapieforschung

So ge s e he n w ir d W a h l z u m Sch icks al, f ü r b ei d e: T h e r a p e u t u n d P at i en t . N e b e n d e r B e zie hung u n d d er d a m i t v er b u n d e n W a hl ­ t he o r ie s ol l en n o c h einig e t y pi s ch e Wi r k fa k t o r e n g e n a n n t w e r d en .

2.2.4

Spezifische Wirkfaktoren

Es ist e h e r t h eo re t i s c h o d e r d id ak t is c h b e d e u t sa m, w en n wi r je tz t bei d e r Au f zäh l u n g d e r m e h r o d e r w eni ge r sp ezifischen W i rk f a k ­ t o r e n zw i s ch en s o l ch en d e r Ps ych o an al ys e u n d d e n e n d e r S c hi ck ­ s a l sa n a l ys e u nt e rs c he i de n . I n d e r P ra xi s s i nd d ie Ü be rg ä nge flie­ ßend. W i r h al t e n e s zu d em f ü r s c hw ie r i g , vo n W ir kf a kt o r e n i m Sin­ n e ei nzel n er M a ß n a h m e n zu s p r ec h en , w e il d ie t he ra pe u ti s c he W i r k un g in d e r Reg el m e h r e in e m P ro z eß , u n d d a r u m e in e r K e t te vo n M a ß n a h m e n , z u v er d a nk e n ist. T r o t zd e m n e n n e n w i r hi e r e in­ zelne so l c he r M a ß n a h m e n . E he r p s y ch o a n al y t i s ch e W i r k f a kt or e n : •

E i n s i ch s t g ew i n n m i t te l s d e r f reien A s s oz i a t i on.

D eu te n d es M a t er i a l s , d e s W id e r st an d es , de r Ü b er t r ag un g u n d G e g e n üb e rt r a g u n g .

E he r s ch i ck s al san al yt is ch e W i r k fa t o r e n : •

E rk e nn e n d e r A h n e n a n s p r ü c h e .

Be wu ßt es E r l eb en l a ss en d e r A hn en , d a m i t e i n e A u ss ö h n u n g s t at t f in d e n k a n n .

K o n f r o n t ier e n m it k ra n k m a c h e n d e n u n d g e s u n d e n A hn e n , i m Si nn e ei n er Zu s a m me n fa ss u n g .

• •

Auf zeigen ne u er M ö g l ic h k e it en , z . B. d e r o p e r o t ro p e n . A u ff o rd e ru n g z u r W a hl o d er S te ll u n g n ah m e u n d S el bs t en t ­ sc h eid u n g ( S zo nd i 1 9 6 3 a , 3 5 2 ) .

A kt i v i er e n d e r G l a u b e n s fu n k t i o n , d er S i n nf ra ge .

192


Schicksalsanalytische Theorie d er therapeutischen Veränderung

2.3 Der Stand der Forschung. Was wirkt denn überhaupt? Di e F r a g e n a ch d e m , w a s in d e r Ps y c h o th e r a p i e eigen tlich wi r k t , w i rd i n d e r s og . P r o c es s - a n d - O u tc o m e- F o r s ch u n g un t e rs u c ht . Ei­ ne n Ü be rb l i ck übe r di e bi s her vor l i eg end en Er g eb ni ss e di e se r U n ­ t e rs u ch ung en ge b e n Or l i ns k y, G r a w e

Sc

P a r k s ( 1 9 94 , b es o n d er s

2 7 8 - 3 6 3 ) . Sie un t er sc he i de n bei d e r Ps y c ho th e r a pi e z wi s che n e i ­ n e m Sy s t em v o n H a n d lu n g e n u n d d e m U mf e l d, i n d e m di e se s t at t ­ fi n d e n . D i ese U nt e r sc h e id u n g e r l a u b t W i r k u n g ( o u t c o m e ) al s d e n Ef f e k t zu f o r m ul ie r e n , d en d ie i n d e r T h er a pi e o d e r d e r Pa tie n te n ­ si t u a t i o n g em a c h te n E rf a h ru n g e n au f a n d er e L eb en sb er ei ch e d es P at ien t en , w ie F a mi l ie o d e r B eruf h a b en . J e n a c h Pe r s p e kt iv e (d es P a t i en t en , de s T h e r a pe u t en o d e r d e r B eo ba c ht e r ) k onver gi er en o d e r di v ergi eren d i e e i nz e l n en p o si t iv m it O u t c o m e ve r bu n de n e n V a ri a bl en . Elf je do ch s i nd be i al l e n dr e i P ersp ek t iv en hoc hs i gni f ik ant :

1 . E ig nu ng d es Pa tie n te n , 2 . K o o p e r ati o n s b er ei ts ch af t de s P a ti e nt e n vs W i d e r st an d , 3 . T h e ra p eu t i s c h e B e zi e hun g i m w e it e n S i nn o d er G r u pp e nk o hä si o n , 4 . Bei t rag de s P a t i e nt en zu r t he ra pe ut is che n Bez ieh u n g , 5 . M i ta r b e it d es Pa t ie nt en , 6 . A us dr uc k sf ä hi g ke i t d es P at i e nt e n, 7 . B es t ät i gu n g d e s Th e r a p e u te n d u rc h d e n P ati en ten , 8 . Ge ge nse i ti ge B es t ä t igu n g, 9 . O f f en h e it d e s P at i en t e n vs V e rt ei d ig un gsha l t ung , 1 0 . P o sitiv e E r f a h r u n g in d e r T h e r a p ie , 1 1 . B eh an dl u ng sda ue r .

Di es e s t ic h w o r t a r t ig e A uf z äh l un g m a g b e i m e r st e n L ese n d e n Ei n ­ d r u ck er w e ck en , al s wü rd e si e viel In f o r m a t i o n ve r m itt e ln . We g en i hr e r U n b e st i mmt h eit t u t sie d a s a b e r n ic h t. Vo n P u n k t 1 1 a bg e se -

193


Anwendung des Manuals in Ausbildung und Therapieforschung

h en b as i ere n a lle a nd er e n i o V a ri ab l en au f d e r g en o t r o p e n Wa h l , d i e e rk l är en k ö n n te , wa r u m di e se Z u s tä n d e Z u s t a nd e ko m m e n o d e r n i ch t . D a s g ilt a u c h f ü r d i e a ns ch l i e ße nd b es c hr i eb en en « k o n s i s ­ ten ten P r o zeß - O ut co m e - B ezie hu n g e n» : « Di e Q u al i t ät d e r Ant e i l­ n ah m e d es P a ti e nt e n an d e r T he r a pi e ist d ie w i c ht i g s t e D e t er m i­ n a n t e f ü r d a s Th er a p ie er g e b n i s . D ie t h er ap e u ti sc h e Bezi eh u ng , vo r a l l em a u s d e r Si c ht de s P at ie n t en , is t b e so n d e r s w ic h ti g f ü r d e n Z u ­ s a m m e n h a n g v o n P ro z e ß u n d E r g eb n i s . Di e H i lf e , d i e d e r T h e ra ­ p e u t d e m P a t i en t e n an g ed ei he n l asse n ka n n, g es c hi eh t v o r al l em ü b e r E m p at h i e, Be s t ät i g u n g , Zu s a m m e n a r b e it u n d Se l bs t- K o n gr u ­ en z so w ie d u r c h I n te r ve n ti on e n w i e D eu t u ng , Ko n f r o n ta ti o n i n d er Vo rs t el l u n g u n d p a ra d o x e I n t e n t i o n . Dies e k o n s is te n ten P r o ze ß Ou t c o me- B ezi eh u n g en , ba s i er e nd au f b u ch st äb l i ch H un d er t e n v o n Un t e r su c h un g e n, ste lle n e i g en t l ic h e F a k t en e in e r m e h r al s 4 o j ä h r i g en Th e r a p i e fo r s c h u n g d a r . A b e r a u c h F a k t en b e d ü r f e n d e r I nt er ­ p r e t a t i o n . . . » ( Or l in sk y u . a . 1 9 9 4 , 36 1). Be i Th e r a p e u te n d ü r f t e n o c h f o lg e n de r Bef un d au f I nt e r e ss e s t o ß en : I m H i nb li c k a u f d a s E r ge b ni s ( o u t c o m e ) s in d n a c h di es e r g l ei ch en S t ud i e ( O r lin s k y u. a. 1 9 9 4 , 3 63 ) d i e ei nfl u ßr ei ch s t e n T h e­ r a pe ut e nv a ri ab l e n d ie dr ei f o l gen de n:

d ie F ä hi g kei t z u he l fe n,

d ie E r h al t u ng d e r S t ab i l i t ä t im th er ap eu t is ch en R a hm e n u n d

d ie T re ue (a dhe re nc e) z u m B eh an d lu n g s m o d ell .

A ls Be isp iel ve r w e i se n w ir au f d a s n ä c h st e K a pi t e l .

194


Ein Fallbeispiel

3

Ein F a l l b e i s p i e l ( F r i e dj u n g J ü t t n e r )

I m B uc h «H ei l w ege d e r T i ef e np syc h ol og i e» ( 1 9 5 6 b , 7 1 - 9 3 ) b e­ sc h re ib t Sz o nd i r ela tiv au sf ü hr lic h e i n e n Th er ap i ev er la u f , d e r hi e r ge raff t wi e d er g eg eb en w i r d . W i r e r ac h te n d ies e F a l l da r st e l l u ng ni c ht al s e in P a ra d eb ei sp i el , ha b e n u n s a be r f ü r sie en t sc h ied en , w e il u n s ke i ne a nd e r e g es chl o s sen ere D a r s te l lu ng e i ne r Sc h ick s als ­ a na l y se a u s d e r L it e ra t ur b ek an nt ist. D e r h i er b es chri eb en e P at ie n t w i rd al s K o n d u k t o r ( E rb tr ä g er ) e i ne s p a ra n o i d e n u n d e p il e pt if o r me n A h n e na ns p ru c h s v o r ge stell t. Es ge h t u m ei ne n 4 5 jäh r i g en B a n k pr o ku r is t en , de r e rs t v o m 3 7 . L e ­ b e n sj a hr a n m it F r a u e n in se x ue l l en K o n t a k t k a m . Sein e e r s t e g ro ß e Lieb e g a lt ein e r u m 2 3 J a h r e äl t er en F r a u, vo n d e r e r si c h n u r mi t gr oß e r M ü h e l ö se n k o n n t e . Bei F r a u e n e t w a gl ei chen Al t e rs w a r e r i m p o t en t . Di e An al ys e bei Szo n d i d a u er t e 1 5 M o n a t e u n d b e st a nd a u s 1 0 1 D o p p e l s t u n d e n , in d e n e n 1 5 2 Tr ä u m e a u sg e l e gt w u r d e n . D e r P at ien t w a r au f A n ra t en se i n er f r ü h er en A n a ly tik e r in zu Sz o nd i ge ko m m e n , w e il sie f a n d , er soll e d i e T h e r a p i e b ei e in e m mä n n l i ch e n A n a l yt ik e r f or t s et ze n . U m d ie A bfo l ge e i ner S c hi c ksa l sa na l ys e

«le ge a r t i s»

üb er ­

bl i c ken zu k ö n n e n , s tel len w i r d i e Gl ied er u n g d i es e r F al l dar st el ­ lu ng (im O r ig i n al) vo r a n.

A.

Die psychoanalytische Phase

B.

Die schicksalsanalytische Phase, die Konfrontation I. Das Erlebenlassen der kranken Ahnen

II. Die Konfrontierung des Patienten mit seinen kranken Ahnen und Wahlen auf Grund des genotropischen Stammbaumes III. Die Konfrontierung des Patienten mit den Ergebnissen des Trieb­ testes C.

Die Phase der Ich-Analyse

195


Anwendung des Manuals in Ausbildung und Therapieforschung

3.1 Die psychoanalytische Phase Sie be di en t sich wei t g eh e n d d e r M e t h o d e n u n d T e c h ni ke n d e r Psy ­ ch oa na l y s e, w i e C o u c h , f r eier A ss o zia t io n u n d g r o ß e r Z u r ü c k h a l ­ t un g d e s A n al y t i kers . Dies er ve rs u ch t «de n u nb e w u ß te n od e r n ic h t b eme r k t en Z u s a m m e n h a n g z u e r k e n n e n , d e r d a s M o t i v f ü r d a s P ro b le m

b i lde t , u n t e r d e m d e r P at i e nt a k tu e ll l eidet»

(K liiw er

1 9 9 6 , 1 7 1 ) . E s g eh t u m d ie Be w u ß t m a c h u n g u n d d a s V er st än d n is ve r d rä n g t e r T ri eb r e gu ng e n. I n d i es e m Fall s i n d d a s d ie s t a r k e In ­ z e s t bi nd un g a n M u t t er u n d Sc h west er, Ka s t r at i ons ä ng s te , p rä g e ni ­ t a l e R eg un ge n a n a l e n , e x h i bi t i o n i s t i sc h en , s a di s t i s c hen u n d a n a l ­ sa d is t i s ch en C h a ra k t e rs s o w i e v e r d r ä n g te H o m o s e x u a l i t ä t . Di e B e w u ß t ma c h u n g di e ser Tr i e br e gu ng e n w i r d h a up t s äch l ich üb er d ie A r b ei t m i t T r äu m en geleis tet. E s d ü r f t e e i n e A u s n a h m e se i n , da ß di es er P a tie n t d i e i hm b ew u ß t g ew o r d en en T ri e b wü ns c he se l b er sc h rif tlic h z u sa mm e n fa ss e n k a n n ( 1 9 5 6 b , 7 3 - 7 5 ) . A u c h w e n n d i e I mp o t e n z d e s Pa t ie n te n i n re lat iv k u r z e r Z e i t v e r sc h w a n d , geh t fü r d en Sc hi c k sa l sa na l y t ike r d i e T h e ra p i e w eit er, «w eil i n d e n T r ä u m e n u n d E inf äll en d es ö f t er e n m er k w ür di ge Fi­ g u r e n a uf t a uc h t e n, die S y m p t o me b es t imm ter E r b k r an k h e i t e n t ru ­ g en » ( S zo nd i 1 9 5 6 b , 7 6 ) . T h eo re t is c h f o rm u lie r t hei ßt d as : d ie p s yc h oa n a ly ti sc h e P ha se ri c h t et ih r Au ge nm e r k a u f d ie Be ar b ei t u ng d e r «Tr i e bsc hic ksa l e» bz w. d e r « Tr i eb a nspr üc he » d ies es M an n es . In d e r s i ch an sc hl i e­ ß e n d e n P ha s e w e r de n zu d em a u ch no c h d ie « A hn e n a n sp r üc h e » u n d d a s «G an z - S c hic k sa l » b ea rb e i t et ( S z on di 1 9 6 3 a , 5 6 - 5 7 ) .

3.2 Die schicksalsanalytische Phase E s se i hi er n o c h m a l s k u r z in E r in n er un g g e ru f en : D er ä u ß e r e U n ­ t e rs ch i ed z ur v o r h er g eh e n d en , d a s p ers ö n l i ch e U n b e w u ß t e bea r­ b ei t en d en P h a se lie gt n ic h t in d er Ä nd er u ng de s S e t ti n gs , s o n d e r n in d e r e h e r a kt i v er e n H a l tu n g d es Th e r a p e u te n , « in d em e r be­

196


Ein Fallbeispiel

s t i m m t e a u s d em T r a um - o d e r E i nf a l ls ma t er i a l s ta m m e n d e Reiz ­ w o rt e en erg is ch er h a n d h a b t » (S z ond i 19 5 6 b , 5 6 ) . W i e s c h o n e r w ä h n t (Teil II I, 3 . 2 ) , ist e s ni ch t i mm e r e i n fa c h, d ie A n sp r ü c h e a u s d e m pe rs ö nl i c hen v o n d e n en a u s d e m f am i l i äre n U nb ew uß t e n k l a r zu u nt e r sc he i d en . Z w e i In d iz i en k ö n n e n d a b e i h el f en :

1.

«E s ersc h ei n en g ew i ss e k r a n k e F i gur en i n d en T r ä um en o d e r i n d en fr e i en Ei nf ä l l e n d e s P at ien t en , di e e in em g a n z b e s ti m m te n E rb kr ei s a n ge h ör e n , w ied e r u n d wieder .»

2.

«D e r P a ti en t pr od uz i er t sel b st i m L a uf e s ei n er E in fäll e s o l ch e S y mp t o me au f d e r C o u c h , w el ch e al s si ch er e V or ze i c hen ( Pr o ­ d r o m e) o d e r S y m p t o m e e in e r se e lis che n K r a n k h e i t . . . a u f zu ­ f a ss e n si nd » ( S z on di 1 9 5 6 b , 76) .

M i t d e r K o nf r on t at io n d i es e r Ah n e n soll d e r A n aly t ik e r l an ge wa r­ t e n. Z u e r s t sol l d e r P a tie n t sie m ögl i c hs t i n t ens i v e r l e b e n, d a m it die se E r f a hr un g zu e i ne m

« he i len d en Sc ho c k erl eb n i s »

we r d e n

kann.

3.2.1 Das Erlebenlassen der kranken Ahnen und die Konfrontation mit ihnen Be im P at ie n te n di e ser F al l d ars t el l u n g h a b en sic h zwei k r a n k e A h ­ n en fi gu ren a ng e k ü n d ig t . Er ist - w i e ber eit s g e sa g t - T rä g e r v o n pa r o xy s ma l e n e p il e pt if or m e n u n d p a r a n o i d en s c hi z op hre ne n A n ­ l a ge n . Di e p a r o xy s ma l - ep il e pt if o r me A hne nf ig ur e r sc h ei nt in e in em T r a u m be ispielsw eise a ls S t ot t e re r. I m Zu s a m m e n ha n g m i t Ei n fä l ­ l en zu e i n e m tö d lic h e n Unf a l l g e r ä t d e r P at ie n t a u f d e r C o u c h p l ö t z l ic h i n ei n en Z u s t a n d d e r V e r w ir r un g . In a nd e r en T r ä u me n er ­ l e i de n P er s o n en v ers ch i ed en e A nf äl l e. A l s d a n n au c h M ö r d e r u n d T ots c hl äg e r i m T r a u m a u f t a u c h e n , hä l t S zo n di d en P u n k t fü r g e-

197


Anwendung des Manuals in Ausbildung und Therapieforschung

k o m m e n , i h n m it d e n b ei de n K ain - un d A b e l -S c hi c ks a l smö g l ic h­ k e i te n zu k o n f r o n t i e r e n . A b er a u c h d i e s ch i zo f o r m en Ah n en f i g u ren z eig e n s ic h i n T r ä u ­ m en . So äu ß e r t d i e M u t t e r de s P at i e nt en im T r a u m , er sei du r c h d i e E m pf ä n gn i s de s H ei l i ge n Ge i st es z ur W el t g e k o mm e n . D ie se M u t ­ t e r st eh t i n W ir kl ic h ke it a m R a n d e de s R eli g io n s wa hn s . I hr B ru de r w u r d e al s re l i g i o ns wa h ns i nn i g b e t r a c h te t , w eil e r i n E k s t a s e n mi t relig iö s en I n h a l t e n v erfiel. De r P at ien t e rl e b t s ei n e l at e n te S ch i zo ­ p hr e n ie a uc h n o c h in F o rm v o n N eo l o g is m en , di e e r au f d e r C o u c h p r o d uz i e r t . Z u d e m a u s ei n e m T r a u m s t a m me nd en , wi e de rh o l t e x p o n i e r ­ t e n R e i z wo r t « k o mi s ch » a sso z i ie r t e r b eis p iels weis e: « Ko m is c h . . . Ko m et . . . Ti b e t . . . T u r i b u n d , L ü st ü k ü , T au s en ds as s a , A z ime t, W e lt la u s . . . S zo n d i e r w ä h n t , d a ß e r sic h d az u n ic h t ge ä uß e r t u n d vi e l m eh r a u f n e u e N e o l o g is m en g e w a r t e t h a b e , die d a n n au c h - epi s o di s ch - k a m e n . D a b e i f ör d er t er d i ese n P r o z eß im me r w i e de r d u r c h R ei z ­ w ö r t er , w ie «E rs t i c ku ng» o d e r « t o te r M a n n » , d i e u . a. a u c h w i r k ­ lich zu w e ite r e n N eo l o g is me n f ü h r e n . De r P a ti e nt so l l d a d u r c h se i­ n e n p sy c ho ti sc h en Z u s t a n d sc hr i t t w e i se w ac h er l eb en u n d sic h s ei n er la n g s am b e w u ß t w e rd en . N a c h d e m d i es o f t g e nu g u n d af fekti v s t a r k ge sc h eh e n is t, g e h t S zo n d i d e n B e d e u t u n ge n d e r ei nz el ne n N e o l o g i sm en n a c h , i n de m e r b e st im m t e d a v o n d e m Pa t i en t en e x p o n i er t u n d i hn a uf f or de r t , se i ne Ei nfä l l e d a z u zu br i nge n. S o fü h r t d a s « B u r u b u r u b u r u » z u f ol g en de r A sso z ia tio n sk et te : « Uri n , Ur w a l d , p e ng , zi eh s t , w üh l e n i m U r w al d, S c h a m ha a r e . . . I n ze st» ( Szo n di 1 9 5 6 b , 8 3 ) . E r s t al s S zo n d i d i e la t e n te Sc h iz o p h re n i e-An l ag e f ü r a u sr e i­ c h en d er l eb t er a ch t et h a t , en t s ch l i eß t e r si c h , d en Pa t ien t en d am i t a u c h no ch zu k o n f r o n t i e re n (cf. u n t en 3 . 2 . 2 ) . D e r b i sher i ge H e i l u ng s pr o z e ß b es t eh t al s o au s d r e i S c hr it t e n:

198


Ein Fallbeispiel

1. 2.

D i e la t e n te n s c hi z o ph r e n e n A h n en w er d e n d eu t l ic h e rl e bt . Es w ir d g ek l ä rt , da ß in d i e se m F a ll d ie N e o lo g is m e n A b w eh r ­ f o r m en ge gen v er p ö n t e T ri e b a ns pr üc h e ( In zes t, A na ls a d is m u s, L u st mo rd ) s in d . U n d

3.

d e r P at ien t ka n n je tzt b ew u ß t St e l l ung n eh m en ge ge n d i e b e­ w u ß t ge w o r d e n e n T r ie b a n s pr ü c he u n d d e n Ve rzic h t al s A b ­ w eh r e in se t ze n.

I n d e r Fol g e v e rs c hw i nd e n n ic ht n u r d i e N e o l og is m e n in d e n A ss oz ia t ion e n , so nd e r n au c h di e An g s t, w i e V a t e r un d O n k e l s ch i­ z o p h r e n zu w e r de n . Sz o nd i gi b t je tz t d em P a tie n t e n d en A u ft r a g , s ei nen S t a m m ­ b a u m z us a m me n z u ste l le n . In d e r Re ge l ges ch ie ht di es sc h o n bei de r V or u nt e rs uc h un g .

3.2.2

Die Konfrontation mit dem Stammbaum

D a b e i g e h t Sz o n d i in z w ei Schr i tt en vor. Z u e r s t ko nf ro nt i er t e r d i e g en o t y p is ch e n ( b etr. Bl ut s ve r w an dt e) , d a n n d ie ge no t r op i st i sc h en ( be tr . Wa h l v er w a n d t e) Da t e n d e s S t a m m b a u m s . Auf S eit e 2 0 0 be­ fi n d et s i ch e i n A u szu g au s d e m G e n o g r a m m d ies es Pa t ien te n . Z u n ä c h s t d i e ge n ot yp isc h en D a t e n , d i e d e m A n a ly sa n d en i n E r i n n e r u n g g eru fe n w e r d e n: In d e r Fami l i e de s Va t er s (N r . 28) f äll t ei n e hä uf i ge p a ro x ys m a l e T o d e s u r s ac h e a uf , n äm li ch

d e r T od

d u r c h Un f al l . Di e B er uf sw ah l en w ie E is e nb ah ne r u n d L o k o m o ­ ti vf ü hr e r g eh öre n eb en fal l s i n d i es en K r a nk h e its kr e is . D e r V at er s e l bs t w a r w eg en p ar an o i d er S ch i zo phr en i e in te r nie r t. E i n C o u s i n d e s Va t er s (N r. 3 4 ) h a t i m S piel e i ne n F re u n d e r­ s c h os se n . Ein ige L e u t e d e r Fa mi lie (N r. 7 , N r . 5) u n d b es o n d er s au c h d e r V at er (N r. 28) s ind j äh zo rn i g . Di e M u t t e r d e s P a tie n t e n (N r. 27 ) e n t s t a m m t ei ner S e kt i er er ­ f a mi li e, i h r B ru de r (N r. 26) l e i d et a n Ve r f o l g un gs i d e en . E i n a n d e­ r e r Br ude r d e r M u t t e r ( Nr . 29 ) is t S t o t t er er u n d d e r P at ie n t s el bs t Bettn ä ss e r.

1 99


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C 3 cm


Ein Fallbeispiel

N u n z ur K on f r on ta t io n m it d e n ge not r op i s t i s c hen D a t e n : D ie e r s t e g r o ß e Lieb e de s Pa t i en t en ist ei ne 6o jä hr ig e hyst er i fo rm e pa ­ r a n o i d e F r au ( N r . 3 6) . I h re T a nt e (vs Nr . 9 ) ist we g en p ar an oi de r S ch i zo p h re n i e in e in e r A ns t a l t u n d ver gif tete sich se l bs t . Ei n O n k e l ( N r . 1 2 ) , e in A p o t he k er , n i m m t sich eb e n fa l l s mi t Gi f t d a s L e b e n. A u c h d i e B e z i ehu ng z ur Re l i gi o n f äll t i n d i es e r F a mi l i e a u f . Ei n O n ­ k e l (N r. 1 8 ) is t P f a r r er u n d Leit er e in e r An s ta lt f ü r E pi le pt ik er . Da n n f i nde n wi r e i ne n O r g a n i st e n ( N r . 2 ) , e i n e n W a n de r pr e di g er (N r. 3 5 ) u n d ei n en R a b b in e r (N r. 1 3 ) . Di e z we i t e L i eb es b ez ie h u n g h a t d e r Pr ob a nd z u e i ner F ra u ( N r. 3 7) , d ie vor her e in e n pa r a noi d- s chi z of o r m en d ep res si v en Sc h u b h at t e u n d m i t El ek t r o s ch o c k b eh a n d el t wu rd e . Sie ist z u d e m su i ­ zi d ge fä hrd et . All e d ies e D a t e n s pr e ch e n da f ür, d a ß d e r P r o b a n d Tr ä g e r so ­ w oh l d e r p ar o x y sm al- ep il ep t if o r m en w i e au c h d e r p ar an o id - s ch i ­ z o p h re n e n Anl age is t.

3.2.3

Die Konfrontation mit dem Trieb-Test

Di e im Sz ondi - T est e rr ec hne t en T e n d e n z sp a n n un g sd if f e r e n z e n u n d d ie P ro p o r t i o n e n d e r La t en z g r a d e ( Sz ondi i 9 6 0 , 2 7 6 - 2 8 6 ) s in d d i e f o l ge n d e n :

Schp+

5

:

Cm+

:

5

Ss-

4

:

Pe-

1

E s fa ll en al s o dr e i T rie b ge f a hr e n a u f : 1.

«d ie pa r an oi d- s c hi z op hre ne Be s es se nh eit v on re li giö se n o d e r a n d e re n Id een (S chp +- Klas se) ,

2.

d i e k r an k ha f t e A nk l am m er u n g a n e i n e M u t t er fi gu r (C m + K las se ),

3.

d i e kr a n kh af t e , m a s oc hi s t i s che H i ng a be s o wo hl i n d e r L i eb e w i e in d e r Re l i gi o n (Ss- Klasse ) » ( S zondi 1 9 5 6 b , 8 9 ) .

201


Anwendung des Manuals in Ausbildung und Therapieforschung

Die Pe -K las s e is t al s Ven til o d e r A u s w e g a u s d e n d r e i a nde r e n Tr i e bk o nf l i k t kr e i se n z u ve rs t eh en. S ie k ö n n t e b eisp iels w eis e z u Be t t n ä sse n, J ä h zo r n o d e r A ff ek t m o rd f ü h r e n , sie k ö n n t e a b e r au ch in d e n B e r uf s t ät i gke i t en e i ne s Re l i gi on s wi ss e n sc h a f t le r s , ei nes Ju r i ­ s t e n o d er E th i k er s s o ziali s ie rt w e rd en .

3.2.4 Die Zusammenfassung der Schicksalsmöglichkeiten N a c h d e m m it H i l f e d e r dr ei eb en be s chr i eb ene n M e t h o d e n (die Sz o n d i S ch o ck th e r ap ie n en nt ) d em Pr o b a n d e n d i e b ei d en A h ne n o d er f a m il iä r b e d i n g t en A n l a g en l e b en di g vo r A ug en g ef ü h r t u n d « d i e Sc ho c k wi r ku n g en vö llig a b ge eb b t » ( 1 9 5 6 b , 8 9 ) , d . h. sie n ic h t nur

b e w u ßt , so n d er n a u c h a kz e pt i er t u n d i n t eg ri ert s i nd , g i b t

S z on di s ei n em P a t i e n t e n ei n e « Z u s a m m e n f a s s u n g sein es S c hi c k­ s a l s» (S c hicks a l v e r st a n d e n al s S u mm e d e r E x ist en z mö g lic hk e ite n, u n t e r d e n en ei n M e n s ch zu wä hl e n v er m a g ) , d i e in e i ne n R a t a u s ­ m ü nd et . D a mi t wil l e r a uf e i n e p os it i ve Ex is t en zf o r m, d i e m i t d ie­ se n eb en ni ch t n u r k r a n k m a c h e nd e n A h n en i n V e r b i n d u n g st e ht , a u f m e rk s a m ma ch e n. E r t u t d i es i n d re i S ch ri t t en :

1.

D e r P a t i en t m u ß s i ch b ew u ß t b l ei b en , d a ß e r e i n e A nl a ge z u ( pa rox ys m al e r) S ch i zo p h re n i e in sic h t r ä g t .

2.

S ol a ng e e r d i es e A nl a ge u n t er d r ü c k t o d e r v e r d r ä n g t , ist e r in s ei ne r s eeli sch en G e s un dh ei t w i e a u c h i n s ei n er Li eb e s wah l g ef ä hr de t .

3.

Er k a n n di ese A nl a ge a u c h unt e r Ei nsa t z s ei n er I c h - F u n k ti o n e n s u b l imi er e n o d e r bes se r soz i a l i si e re n. D . h . : e r k a n n sich i n b e wu ß t e r «F r ei he i t sw a hl », be ispielswe ise m i t Th em e n d e r Re ­ l i gi on s w is s en sc ha ft b e sc hä f t i ge n u n d d a m i t se i n e An la g e i n «g esu nd er » F o r m au s l eb en .

D a m i t n ä h e rt sich S zo n di d e m , w a s F re ud Ko ns t r uk t i o n n e n n t , n u r er w ei t e r t er e s u m d ie ge n oty p isc he D im e ns i on . Ei ne r se i t s d i e n t d e r

20 2


Anwendung des Manuals in Ausbildun g u nd Therapieforschung

P s yc hoa na l ys e d ie K o n st r u k t i o n d a z u , « v er d r ä n g te Er in ne run ge n o d e r E rin ne run gs fr ag me nt e w i e de r a u f t a u c h e n » zu la ssen o d er , we n n d i es ni ch t g es ch i eh t , d ie f eh l en d en E ri n ne ru n ge n d u rc h d i e Ko ns t r uk t i o n s o g a r z u er s et z en . An d er er se i t s liegt d ie B ed e u tu n g d e r Ko ns t r uk t i o n a uc h i n d e r « O rg a ni s a t i o n de s M a t er i al s » ( La pl an c he - P on t a l i s 1 9 7 2 , 2 69 ). S o er w ar t et d i e S ch i cks al sa n al ys e d u r c h d ie K on f r o nt a t i on o d e r d ie eb e n bes ch rieb en e Z u sa mm e n ­ f a ss un g d e r Sc hi ck sal s mö gl i chk ei t en e i ne hei l end e W i r k u ng . Z i el d i es e r W i r k un g is t d ie b ew uß t e S t ell u n g n ah m e o d e r e i ne b e w u ß t e Wa h l , d ie sic h in e in e r g a nz be st i m mt e n B e r uf s t ät i g ke i t o d e r ei n er s pez ielle n Bes ch äft i gu n g , w i e h i er mi t Rel i g i on s wi s s en sc ha ft , ä u ­ ße rn k an n . Die ses K o n f r o n ti er en d e s P a tie n t e n mi t al l e n sei n en Sch i ck s al sm ög l i ch k ei ten se t z t d a s Sa m m e l n u n d V e rfü gb a rh ab e n de s e nt s pr e c he n de n M a t e r ia l s v or au s u n d he b t sich v o m p sy ch o­ a n a ly tisc h e n V or ge he n b e ha n dl u ng st ec h ni s ch a b . Es ist a b e r e t w a s g a n z Z e n t ra l e s sch i cks al san al y t isc her T h e r a p i e .

3.3 Die Phase der Ich-Analyse Di ese n ic h -an al y t i s ch en Teil d e r Sc hi ck sal sana l yse v o m v o rh e rg e ­ h e n d e n k l a r ab z ug re nz en g elin g t e h e r t he or e t i sc h al s p ra k t i s c h. Im We se n t l i che n g e h t es u m d i e E r a rb e i t un g de s G an z-S ch i c ks al s , od e r i ch- p syc h ol og i s c h ge sa gt , u m d ie H er s tel l u ng d e r al l og en en u n d a u t og e n e n P ar t iz i pa ti o n, d . h. u m d ie F ähi g ke i t m it s ic h s el b s t , mi t d e n M en s ch en , d e r N a t u r u n d Ü b er n a t u r ei ns s ein zu k ö n n e n . D a ­ z u g ehö r t d ie F ä h ig k e it, d ie vo r he r u n b e w u ß t en A b w e h r f o r m e n in b e w u ß t e S t el l u n g n a h me u n d - w e n n n ö t ig - i n Ver zich t ü b e r z u ­ führen. S zo n di h a t in di e se r F al l d ars t el l u n g d ie s o g. I c h-A na l y se o d e r d i e A na l ys e d es F re ihe itssc hic k sals n u r z us a mm e nf a s s en d b esc hr ie­ be n . D a r u m w e r d en d ie ei nz el nen S ch ri t t e leid er n ic h t g en üg e nd d eu t l i c h. A u ße r d e m l äß t e r i n di e se m s pe z iell e n F a ll d e n P a t i e nt en se i n e « V er w an d lu n g » s el be r b e sc h r e i be n ( 1 9 5 6 b , 9 0 - 9 2 ) .

203


Anwendung d es Manuals in Ausbildung und Therapieforschung

D a s Vo rg eh en S zo n d i s ist a u ch

n ic h t ers i ch t l ic h , w e n n e r

s c h re ib t, da ß e r d en P at i e nt en l a ng sa m z u e i n e r Ü b er ze u gun g f ü h r t. Er s a g t n ic ht , w i e e r d a s tu t . De r In ha l t d i e s er Ü b e r ze u g u n g s ar b ei t ist, d e m «G ei s t », b zw . d e r G l a ub e ns f un kt i o n g r o ß e A u f m er k sa m ­ ke it z u s c he n ke n u n d s ic h v o n die se r h ö h e r e n In s t a n z h e r ei n pe r ­ s ö n l i ch e s W ah l s ch i ck s al s ch ri t t we i se a uf z ub a ue n. N u r s o g elin g e d i e S o z i al i si er u ng d e r ep i l ep t i fo rme n u n d p a r a n o i de n A n l ag e i n ei n In te re sse a n R e l i gi ons wi ss e ns c ha f t . I m S i nne de s Au f ba u e n s d e s Ga nz-S ch i ck s al s h at Szo n d i s e i ne n P a t i en t e n

bewogen,

e i ne

n eu e

M a ch t ve rt e il u ng

vorzunehmen.

D e m E r b e m it s ei ne m k r a n k m a c h e n d e n A h ne n a n s pr u ch d i e B es et­ z u ng se n e r g i e o d e r A u f me r k s am k ei t z u n e hm e n u n d g a n z b e w u ßt die s en A hn e na ns p r u ch auf so zi al posi t ive W eise zu

b e fr i e di ge n.

Dies ist e i n e E n ts ch ei d u n g , d ie d em Po n t i fex -Ic h z u g es ch ri eb en w i rd , da s d u r c h se i n e Ö f f n u ng z u r h ö he r e n In s t a nz , de m Ge i st , den M e n s c h e n be fä hi gt , A usg e wo ge n he i t h e r zu s t el l en od e r e be n ei n G a nz - S c hi c ks a l i n d i e We ge zu l eiten . V or a u ss e tz u n g f ü r d a s W er d en d es Ga nz- S c hi cks al s is t «di e V er s ö hnu ng m it d e n i nn e re n G ege ns ä t z en» ( 1 9 5 6 b , 9 0 ) . In d i e se m Fa ll s in d s o lc he G e ge nsä t z e « Kai n u n d A be l » o d e r « Te uf el u n d E n ­ g el» in all i h re n m ög l i ch en E rs ch e in u n g s w ei se n . E s g e h t d a r u m , die se Sc h at t e n s ei t en ni cht me h r z u f ü r ch t en o d e r g a r zu h a ss e n, s o n d e r n sie s o ga r z u li eben. D a s h e iß t , sic h mi t s ich a us s ö hn en o d e r d ie G e g e ns ä tz e i nt egr i er e n. U nd w e n n d a s e rre i ch t is t, k a n n a u c h d i e V e rs ö hn u ng m it d e r Me n s c hh e it u n d d e r W el t v o r a n ­ s ch r ei t en . D a m i t w ä r e d a s Zi e l , n ä ml ic h d ie a u to g e ne u n d a l l o gè ­ n e P a rt i z ip at i on , e rr e ic ht . S zo nd i b e en d et s ei n e n B er i ch t m it d e m S at z : « Er is t n u n m it sic h u n d d en M i t me n sc h e n e in s ge w or d en » (1956b, 92). N o c h ei ne S c hl u ß b e m e rk u ng : Will m a n v o n d i es em F a ll a uf d ie M e t ho d e u n d i hre Ko n z e pt e sch l i eßen , b l ei bt e i n U nb e h a ge n h in s ich tlich d es U n ge n üg en s z u rü c k . D a s h at s ei nen G r u n d in d e r

2 04


Anwendung des Manuals in Ausbildung un d Therapieforschung

Sa ch e s e l b s t . D er real e H eil we g e i ner T h e r a p ie unt er sc he i de t sich i n d e r Reg el v o m t he or e t i sc he n, w ei l d a s Vo rg eh en i n d e r P r ax i s g ew ö h n l ic h ni cht k o n ze p t ge l eit e t , s o n d e r n pa ti en t enb es t i mm t ist. Di e T h eo r i e , a u c h we n n m a n sie g u t i nt eg ri ert h at , bl ei bt in d e r p ra kt i s c he n A r be it im H in t e r g r u n d . I s t d i es n ic ht s o , w i r d m a n m ö g l i ch er wei s e ei ner Sch ul d ok t ri n, woh l ab e r k a u m d em P a t i en t e n g er ec ht . Ei n D il e m m a , vo r d e m al le d ie K an d i d at en s t e h en , die s i ch m it e in e r F al l vor s t el l u ng vo r Ko l l eg e n q ualif izieren m ü ss en .

4

A n w e n d u n g in Au s b i l d u n g un d Th e r a p i e f o r s c h u n g (Martin Borner)

D e m M a n u a l liegt de r I d e a l ty p us ei n er s ch i c ks a l san a l yt i s ch en T h e­ r ap i e z u g r u nd e . B er eits d i e «S c hi ck sa l s a na l y t i sc he T h e r a p i e » L e o ­ p o l d S z ond i s ( Szo n di 1 9 63 ) b i ldet k ei n z um Z e it p u n k t i hr e r Ver­ öf f e nt lic hu ng ver br ei t et es t he r ap eu t is ch es V e r f a h re n a b . Sie stel lt v ie l m e hr ei n en p ro g ra m m a t i s c he n En t w u rf d a r, ba s i e re nd a u f r el a­ ti v w e nig e n F allg es c hich te n i h res A u t o r s. Bis h e u t e h a t d i e sch i ck s al san al yt i sch e T h e r a p i e k ei n e we i t e V er b r ei tu n g g ef u n d en , u n d u n t e r i hr e n V er t r et er n b e st eh t nu r ei ne te il w eis e Ü b e r ei n s t im mu n g da r üb e r, w a s d a s sp ezif isc h Sc hic ks a ls­ a na l y t i s ch e a n dies er T h er ap i e s ei . U n t e r di e s e n V o ra u sse t z u ng en k an n d a s M a n u a l d e r Sc hi cks al sa nal y t is chen T h er a pi e ni c ht m eh r s ei n a ls e in B ezu gs s ys tem , a n d em s i ch d a s e i ge ne th e r ap eu t is ch e V o r g eh e n re flek tie re n u n d üb e r pr üf e n l ä ßt .

4.1

Das Manual in der Ausbildung

A m eh es ten k o m m t d a s M a nu a l d em Be dü r fn i s d e r St u d ie r e n d e n n a c h k o n k r et e n H a n d l u n g s a n w e i su n g e n e nt g e ge n. Sie h ab en b e­ rec ht i g t en A ns pr uc h d a ra uf z u w i ss en , w i e m a n «es» m a c h t . Di e ih n en a n g e b o t e n e n R eg el n e n t h eb en si e n ic h t d e r A uf g a b e , e i ne n

205


Anwendung des Manuals in Ausbildung und Therapieforschung

ih n en g e mä ß e n th e r ap eu t is c h en Stil z u finden.

I m übr i gen g ilt fü r

all e th er ap eu t is ch en I n t er v en t io n en , d a ß s ie e r s t a n d e r W ir k u n g , d ie s ie ze i ti ge n, b eu r t e i lt w er d en k ö n n e n . U n d di ese W i r k u n g l ä ßt sich in k ei ne m Fa ll m it S i c her he i t v o r au s s ag e n . D es h a l b s o l l t e a l s o b er s t e H a nd l u ng s a nw ei s un g f ü r al le T he r a p e u t e n g e l t en : Ac h t e bei al l e m, w a s d u t u s t , d a ra u f, we l c he R ea k t i o n e s b e i m Pa t ien t en au s l ö s t. D a s L e r n e n a n e i ne m vo n i ndi vi du el l en B e so nde r hei t en w e i t ­ ge he nd ge r ei ni gt e n I de al t yp us k a n n e s de n S t u d ie r en d e n er l e i ch­ t e r n, ei ge ne P ha n ta s i en ü b e r d a s t h e r a p e u tis c h e V or ge he n z u e n t ­ wi c kel n . F a l l ges chi cht en g r o ße r Me i st er , d ie s c ho n S t u d iu m e m p f a h l , h ab e n d em g eg en ü b er de n

Fr e u d d e m

N a c ht e il , d a ß si e

leic h t W i d er s t ä n d e geg en d ie P e rs on de s T h e r a p e u t e n a u s l ö s e n . Ke in e sw eg s d a rf d e n S tu d ie re nd e n d e r E i nd ru c k v e rm itt el t w e r d en , d a ß s ie e s n u r so , w i e e s i m M a n u a l s t e ht , r i c ht i g ma ch e n. We nn a u c h , na c h e in em W o r t v o n M org en th al e r, ni c ht a l le W eg e n ac h R o m f ü h r e n .

Einige Hinweise zur Anwendung des Manuals in der Ausbildung D a s M a n u a l ka n n in d e n S e m i na ri e n z ur Sc h ic k s al s a n al y t i s ch e n T he r a pi e al s Le hr mi t t e l e in ge se t zt w erd e n. E r s te n s p aral l el u n d a ls Er g ä n z u n g zu r L e kt ü re d es L eh r b u ch es ( Szo nd i 1 9 6 3 ) , d es s en O pe r a ti on a li sie r u ng e s d a r s te ll t. Z w e it e n s al s Gr un d l ag e bei d e r Be­ sp re c h u n g v o n T h er ap i ev er l äu f en u n d Fal l vi gn et t en . D ri t t e n s in d e r S upe rv is io n. Di e d id a k t is c h e U m s e t zu n g o b l ie g t de n D o z e n t e n u n d S u p er v i s o ren . Sie k ö n n e n s i ch v on d en Au t o re n d es M a n u a l s b e r at en l as sen . D a s K api t el Vo r u nt e r s u c hu n g (Teil III, K a p. 1 ) ka n n im S e mi ­ n ar «E rs t ge s pr äc h» be ha nde l t w e rd e n .

2 06


Anwendung des Manuals in Ausbildung und Therap ieforschung

Didaktische Hinweise 1.

Die D oz en t in nen u n d D o z en t en h a b en d a f ü r z u s or g en, d a ß d ie S t ud i er e nd en i m M a nu a l n ic h t ein - i m we rt e n de n S i nne ge m ei n t e s - M u st e r o d e r V o rb i ld e r k e n n e n , so n d e r n e i n H i lfs ­ mi t t el z ur R ef l exi on i hr es ei g en en the r a p e ut isc h e n H a n d e ln s .

2.

A b we ic hu n g e n v on d e m i m M a n u a l fe stg e leg ten M u s t e r b i e t e n G el ege nh ei t zu r Re f l e xi o n. Z w e i F o r m e n v o n A b w ei c h u n g en s i nd d e nk b a r : b e a b si c ht ig t e u n d b e w u ß t e au f g r un d e i ne r b e­ st im mt e n I nd ik a t io ns st e llu n g o d e r e i ne r b es tim m te n Situ a tio n (Kr i s en i n t er v en t i o n ,

S u iz id p r o p h y la x e,

u . a . ) ; un b ea b si c h t i gt e

l i nd

st a t i o n ä r e

un b ew uß t e

T h e r p a ie

i n ne r ha l b e i ne r al s

s c hi c ks a l sa n a l yt i sc h i nte n die r te n T h e r a p i e . 3.

D ie L ek t ü r e d es M a n u a l s er s et z t n ic h t jene d e r « S chic ks als­ a n a ly tisc h e n

Therapie»

und

d en

ihr

z u gr un de l i eg e nd en

H a u p t w e r k e Sz o n d is : Ex pe r i me nt e l l e T r ie b di a g no s ti k, Sc hi ck ­ s al s an a l y s e, Tr i eb p a th o l o g i e, Ic h - An a l y se . 4.

O b ei n b es t i mmt e s t h er ap eu t is ch e s Vo r g eh en sc h i ck s al s an a l y­ tisc h sei od e r n ic h t, l äß t sic h a u s d e n e i nl e i t en d g en an n t en V o r­ a us se tz u ng e n a u ch mi t h i lf e dies e s M a nu a l s ni c ht e n ts c h e id e n .

4.2

Das Manual in der Weiterbildung

D a s M a n u a l r i ch t e t sic h a n zw e i G r u p p e n a u s g eb i l d et er T h e ra p e u ­ t e n . D ie er s t e G r u p p e u m f a ß t jene T h er ap e u te n , w e l c he sic h in s ch i c ks al s an al yt i s che r

Therapie

a usge b i l de t

h a b en .

D ie

z w ei t e

G r u p p e s ch l i eß t al le T h e r a p e u t e n e in , w el ch e e i n e Au sb il d u n g i n e i ne r a nde r e n t ie f e n ps y c ho l og i sc he n R i c ht un g ab so l v i e rt h ab e n . F ür jede di es er b eide n G ru p p en e r fo l gt d i e L e k tü r e un t er a n de r en Vo ra u sse t zu ng en . T he r a p e ut e n

m i t ei n er s ch ic k sa l sa na l yt i s ch en

A us bi l d un g d ür ft e n d i e A n wei su n g en d e s M an u al s mi t d e n vo n i h ­ n e n be f o l g t en R eg el n ve rgle ic he n u n d s o wo h l Ü b er e in s ti mm u n g en al s au c h

A b w ei ch u n g en

fe s tste ll e n.

De r

s ch i c ks a l san a l yt i s ch en

T he r ap i e i n d e r D a r s te ll u n g d es M an u al s be ge gn e n sie g l e i ch s a m

107


Anwendung d es Manuals in Ausbildun g un d Therapieforschung

a l s ei n er B ek a n n te n , d e r e n ne u e Au f m a ch un g ih ne n e n t w e d e r g e­ fall en o d e r e he r m i ßf a l l en w i r d . - F ü r T he r a p e u t e n a n de r er t ie fe n­ p s ych o l og i scher T h e ra p i e ei n e

R ich t u n g en we i t ge hen d

b e de u t e t

d ie

Unbekannte.

s ch i ck sa l s an a l y t i s ch e

D er e n

w eit g e s p an n te n

t he or e t i sc hen V or a usse t z ung en w e rd e n s i e in d e r k n a pp e n Da r s tel ­ lu n g m eh r e r a h n e n al s b eg reife n; d e r e n Reg el n d ü rf t e n s i e en t w e­ d e r ne u gi e r i g u n d fa sz i ni er t o d e r m eh r b ef r e md et z u r Ke n n t n i s nehmen.

4.3 Das Manual in der Forschung A m K o n g r e ß d e r In te rna t i ona l P syc ho a na l yt i c As so ci a t i o n v o m 7 . - 1 5 . A u g u st 1 9 9 7 in L o n d o n be ze i chn et e H o r s t K a ch el e m a ­ n u a lb a si e rt e Be ha nd l un ge n f ü r gü l t ig e W i rk sa mk ei t sve r gl e i c he a ls e in M u ß ( Le mch e 1 9 9 8 ). A n d ers ei t s gilt e s z u be d e nk e n , d a ß er ­ fa hr e n e Th e r a p e u t i n n e n u n d T h e r a p eu t en , s e l bs t w e n n s i e s i ch fre iwilli g d a z u be reit e rk l ä r e n , zu Fo r sc h u ng sz w e c k e n ma n u a l g e ­ s t ü tz t zu a r b e it e n , in d e r k o n k r et e n t he ra pe ut is ch en S i t u a ti o n n u r s e h r b ed in gt n a c h de n A n w e is u ng e n e i ne s M a n u a l s h a n d e l n . D a s Ma n u a l soll a uc h d e r E rf or s chu ng s c hi cks a l s a nal y t is che r T he r a pi e n d ie ne n . D en

b ish er igen

D a r s te llu n ge n

und Untersu­

c hu n g e n vo n T h e r a p ie v e rl ä u f e n i nn e rha l b d e r G r u p p e d e r Leh ru n d K o n tr o ll an a ly ti k er ma ng e l te e s a n e in em u m f as s en d en u n d v erb i n d l i ch e n U n t e r s u c h u n g s in s tr u me n t . H ie r k ö n n t e d a s M a n u a l ei ne w ert v o l l e U nt e rs t üt z un g bi e t e n. I n In t e rv i s i o n s g ru p p en O r i en t i e ru ng shi l fe b i l de n.

2 08

k a n n d a s M a n u a l e i ne g e me in s am e


T eil V

Die Bed eutung der Schicksalsanalyse heute in the oretischer und praktischer Hinsicht ( P h i l i p S e i d el )

1

Vorbemerkung

I m W i s se n u m d i e Pro b l e m at i k d e r M a n u a l i si e r u n g ei ne r t h er a­ p eu t i s ch en M et h o de s ol l e n i m fol g end en - we n n au c h u n t e r d em Z w a n g z u r e x t r e m e n K ur z f a ss un g - St e l l ung u n d T ie f g a n g d e r s ch i ck s al s an al y t i sc he n T h eo r i e s o wi e i h re P o s i t i on i n n er h al b d e r p s y ch o t h er a p eu t is ch e n G es a m t s i tu at i o n s ki z zie r t w er de n. P s yc ho­ lo gie u n d Ps y c h o th e r a p i e s te h en no c h m itt en i n i hr e n e i gen e n E n t ­ w ic k l un g e n u n d ü b e r s c h ä tz e n z. T. ih r e p a r t i k u l a re n Er k e n n t n is s e u n d M ö g li ch k ei t en , w o b e i s ie si c h k a u m ge gense itig k o n s u lt i er en , ja v i el meh r sich s o g a r m e i s t vo ne i na nd e r a bg re n ze n . Z u d e m h a t d ie the o r et isc h e P s yc h ol o gi e z u we n ig Ko n t a k t mi t d e r Ps yc hi at ri e. J e d en fal l s b e s t eh t n oc h k e i n i nt eg ra t i ve s t he or et i sc he s K o n z e p t e i­ n e r al l g em ei n en N eu r o p s y c h o l o g ie, g a n z a bg e se he n d a v o n , d a ß d i e G r u nd l a g e n f o rs c h un g ja oh n eh in ei ne n e h e r d es i nt e g ri e r e nde n E f ­ fe kt au f d i e G e s a m t si t u a t i o n h a t. E i n e rei n e M a nu al i s ie ru ng . de r sc h i ck sa l s a na l y t isc h e n T he r a pi e in B egr enz un g au f ih r eige nes G e ­ b i et w ü r d e di ese r A l l e i ng a ngm en t a l i t ä t n ur i n d ie H ä n d e a r b e i t e n .

Vor aller therapeutischen Technik

s t e h t d a s al l g em ei n e ps y­

c hol o gi sc he M en s c h en v e r s t än d n is , d e r V er su ch zu r i n t ui t iv en E r ­ f a ss un g d e r P a t i e n t e np er sö nl i ch ke i t , w i e s ie sic h i n d e r B eg eg n un g u n mi t t e l b a r z eigt, in s ei n e P ro bl em a t ik u n d i n d i e B eg r ü n du n g s zu ­ s a mme n hä ng e s ei ne r St ör u n g e n. E r s t d a nn b e gi nn t d ie eig e nt lich e T h e r a p ie i m e n g e n K o n n e x m i t d e m r a ti o na l e n Ve rs t e h en d e r vo r­

209


Die Bedeu tung der Schicksalsanalyse

l i e ge nd e n S t ö r u n g , i h re r U r sac he u n d D y n a m i k . D a s s e tz t t h e o ­ r et i sc he s W i ss en vo r a u s. D e r S c hw e r p un k t so l lt e al s o v o r e r st v o n d e r t e c hni s ch en S eit e au f d ie d es i n t u i ti ve n u n d t h eo re t is c h en Ve rs t ä ndn i s s es ve r s c ho b e n w er d en . G a n z al l g emei n w ir d z u viel v o n Te ch n ik g es pro c he n n o t w e n d i g e r a b e r w är e d i e Au se in a n d er s e tz u n g m it d e n t he o r e ti­ s ch en G r u n d l a g en d e r Ä tio l o g ie u n d Pa th o g en es e. Di e E r f a h r u n g z e igt, d a ß s i ch de r en U ms etz u n g in d ie t h e ra p e ut i s c h e Pr a xi s f a st vo n s el b s t e rg i bt , d e nn d a s be w uß t e , v o r d e rg r ü n d i g e W is se n v er­ w an d el t si c h in E r f a hr u ng u n d w i r d , z u sa m me n m i t d e r I ns pi r a t i ­ o n , z ur In t u i t i o n , w e l c he - of t u nb e w u ß t - d i e E n t w i c k l u n g ei ne r T he r a pi e b es t im mt . Ein a n d e r e s P r o b le m ist s ch u ls pez ifis ch er N at u r . D ie s ch i ck ­ s a l s an a l y t i s ch e T h e o r i e ist n o c h n ic h t et w a s Ab g es c h l o s s en es - w e ­ d e r e in e fe r t ig e, gü l t i ge T h eo r i e, n oc h ein v o l l en d et es , in s ic h ge s c hl o ss e ne s Le hrg eb äu de , d a s f ü r s ich allein e in e i sol i e rt e G ül ­ t i gk ei t h ä tt e . Sie ist d a s Res u lt a t e i n es ge ni a l en W u r f e s v on S z o n di , g e s tü tz t d u r c h e i n e F üll e v o n e mp i r i sc he n D a te n u n d j a hrz eh nt e­ la n g er Ü be r p r üf u ng a n z a hl l os en F äl l en i n d e r d ia g n o st i sc h en u n d t h e r ap e u t is c h en P r a xis . D e n no c h si nd viele Fr a ge n of f e n, d i e bis ­ h e r no ch n ic h t ge nü ge nd k on st r uk t i v -k ri t i sc h u n d w i ss ens ch aft l i ch an ge ga ng en wu r d e n . D a mi t ist je do ch n ic h t d i e o f t g e h ö r t e , b a n a ­ le K rit i k g eme in t , d i e a u s m a n ge l ha f t em W is se n u n d i r r a ti o n al er Ab l eh n u n g res u l t i er t , s o n d er n es g e h t u m Fr ag e n a u f e i ne m h o h e n th e o r e tis c h e n N i v e a u , d ie n u r in e in e r vor ur t ei l s l os e n, k o n s t r u k t i ­ ve n u n d k o lle g ial en Z u s a m m en a r b e i t a ng eg an ge n w e r d en k ö n n e n . Ein Beispiel d a f ü r si n d d i e l at en t en p a t h og e n e n G en o ty p en u n d i h ­ r e Ak t iv ie r u n g, i hr e B e z i ehu ng z ur «p s y ch i sch en S it u a ti o n» v o n Freud. Di es e s Ka pi t el s oll a u f d i e B e d e u tu ng d e r t he o r et is ch en V o r­ au s s et zu n g en al l en t he r ap eu t is ch en T un s a u f m e r k s a m m a c h e n .

2IO


Die Schicksalsanalys e in ep istemologischer Sicht

2

Die S c hi c k s a l s a n a l y s e in e pi s t e m o l o g i s c he r S ic h t

D a s V er st än d n is d e r t h e o r et i s ch e n G r u ndl a ge n ist B ed in gu ng f ü r d i e t h er ap e u t is c h e A r b e it, f ü r ei n u mf a s se nd e s M en s c he nv er s t än d­ n is ü b e r h a u p t . Äh nl i c h w i e d i e M ed i z i n - si e is t a ls s o l ch e, g e n a u g e n o m m e n , ein e k l i ni sc he D isz iplin - s o ist a u c h d ie S ch icks als ­ analyse keine Wissenschaft i. e. S. Doch wie jene hat sie eine

senschaftliche Basis

in Form

wis­

v e rs ch i ed e n er G r u ndl a gen w is s e n­

s c ha ft e n. W as d ie S itu a ti o n d e r S c h i cks a l sa n a l yse k om p liz i er t , ist, d a ß sie n ic ht n u r d i e s o m ati s ch e u n d d ie ps yc hi sc he , so n d er n a u ch d i e met h ap h y s is c h e N a t u r d e s M e n sc he n z u e r f a ss e n s u c h t . N u r e i­ n e so lc he S ch a u ver di ent d en N a m e n ei n es hol is t isc hen D e nk e ns . D i ese g an zh ei t li ch e S ch au d e r S c h i ck sa l sa n a l ys e w ir k t d e r Te n­ d e n z zu r

Dichotomierung in Gegensätze

ent g eg e n - ei ne r Ge f a hr ,

d i e je d em rei n r a t i o na l - a na l y t i s ch e n D en k e n i n h ä r e n t is t u n d d ie n oc h v er s tä rk t w i r d du r c h d ie Au f sp l itt e r un g in v ers ch i ed en art i ge F ors chu ngs di s z i pl i n en. Beis piele d a fü r s in d d i e b io log is tis che o d e r d ie p syc h ol o gi sc h or ie n tie r te P syc hi a t rie o d e r d ie n eu r o p h y si o l o g isc h o ri en tie r te u n d d ie k o g n i t i ve P s yc h ol o gi e ge g en ü b er d e r tiefe n p s y ch o l o g i s ch -h e rm en e u t i s ch e n D e nkw e is e . Di e S chi ck sa l sa na l y se l äß t ü b erd i e s d ie z a hl r e i c he n Un t e r di sz i ­ pl i nen a u f b eid en S eite n , d. h. a uf d e r n e u r o lo g isc he n u n d d e r p sy ­ c ho lo g isc h e n , e b en s o wo h l vo n e in a n d er a b gr e n z e n w i e a u c h sie i n i hr e r F u n k t io n s g a n z h ei t üb er s c ha ue n. D a m i t w i r d ein ess enz ielle r B ei t ra g zu r Z u s a m m e n fü h r u n g u n d S ys t e m a t i s i er un g d e r P s yc h o u n d Neu r o wi s se n s ch af t en ge leis tet, d ie e i ge nt l i c h ei ne ver ein he i t­ li chte G r u n d l ag en w is s en s c h af t bi l den so l l t e n. De mg e g en ü b e r h a t d ie ko gni t i ve P syc hol ogie , d i e, se l b st n o c h i n ih r en A n f ä n g en ste­ he nd , d en B ez ug z ur ne ur op sy ch ol o gi s c he n Ge s a m t o rg a ni s a t i on no ch ni ch t ge f un d en . Die ko g nit ive n F u n k t i o n e n s o l l ten einer seit s v o n d e n T r ie b f un k t io n e n, spe zie ll vo n d e r In t ro j e kt i on s f un k t io n u n d d e r N e g a t i o n s f u n k t i o n , u n d ü b e rh a u p t vo n d e r D im en s io n de s

in


Die Bedeut ung der Schicksalsanalyse

U n b e w u ß t e n ab g eg r en zt s o w i e and er er s ei t s v o n d ert h ö h e r e n Re ­ f lex en u n t ers c h i ed en u n d gleichz eitig d o ch m it all d i ese n A sp e kt e n wi ed er z us a mme n g e fü h r t we r d e n . Die se e in fü hr e nd e n Be m e rk un ­ g e n zeigen ni cht n u r d ie t he or et i s c he B e de u tu n g d e r L e h r e v o n L.

Stellung in einer noch zu schaf­ fenden neuropsychologischen Gesamttheorie. Szondi an sich, sondern auch ihre

Di e T h e or i e d e r S chi ck sa l sa na l y se ist ni cht le ic ht z u ve rs te­ h en , u n d e s ist n o t we n d i g , si e a u f d em H in t e r g r u n d d e r a l l ge m e i­ n en Wi ss en sc h af t sg e sc hi c ht e s o w i e d e r p ers ö n l i ch e n En t w i c k l u n g S z on di s u n d d e r E n t f a l t un g se i nes We rkes z u s e he n. D u r c h d ie ga n z e Wi ss en sc ha f t sg e sc hi cht e h in d u r c h st a n d e n sic h - m e h r o d e r w e n ige r a us g epr äg t - ge ge ns ät zl i che P ar ad i g m en , d . h. D en k s c h emen g eg en ü b e r. D a s k am b e so n de r s z um A u s d r u ck , al s d a s r a t i o na l - n at ur w i sse n sc ha f t l i c he b zw . me c ha ni st i sc he D e n­ k e n ein s eitig üb er h an d n a h m , u m d a n n d u rc h d a s i n d e r Ro m a n t i ­ s ch en P hi l os op hi e u n d im Id eal i s mu s w u r zel n d e f i na l -g an z he i t l i ch e D e n k e n e rgä nz t bz w . a b g el ö s t z u w e rd e n . Di e z w ei he r a u sr a ge n ­ de n Re p rä s e nt a n t en in d e r e nt s pr e c hen den En t w i c k l u n g d e r Ps y­ c ho lo g ie s i nd d a s G e g en s a t z p a a r S . Fre ud u n d C . G. Ju n g . D ie P a ra d i g me n p r o b l e ma t i k lä ß t s ich mi t H i l f e d e r Ich -Ps y ­ c ho l ogi e e rk l ä r e n. Di e be i den I c h f ak t o r e n , d e r R e al i t ä t s fa k t o r k u n d d e r I d ea lf a k to r p , en ts p r ech en d en z w ei D i me n si o n e n , de r r ea ­ le n u n d d e r t ra ns z end en te n. Sie so ll ten in e i ner fle x ible n dia l e kt i­ sc he n W echs el b ezi eh u ng z u ei n a n d e r s t eh en . Di e Ab k o p p l u n g d e r be i d en F u n kt i o n e n vo n e i na n d e r b ri n gt ei n e Ei nse i tig keit d es Welt­ b ezu g es mi t s i ch , w a s i n e in e r b et o nt r at i o n al i s t i s ch -s a ch l i ch en o d e r ei n er e inse it ig irreali s tis ch-id ealis ti sch en Ha l t u n g z um Au s ­ dr u ck k o m m t . D a ß d i e I n t eg r a ti o n beid er of t n i c h t g el i n g t , z eigt sich in d e r Ge s c hi cht e, i m A l l ta g u n d a u c h i n d e n i n t er di s zi p l i nä re n D i s ku s s i on en - m i t i hr er so hä uf i ge n B egren zu n g a u f ei nseit i ge u n d u n v e r e in b a r e De n k sc h e ma t a u n d Vor st e ll u n g en - u n d sc hl ie ßl ic h in d e r I c hp a th o lo g ie (vgl. Teil I I, 8 . 4 ) .

212


Die Schicksalsanalyse in episte mologischer Sicht

D a ß Sz o nd i d ie D e n kw e i se n v o n F r eu d u n d J u n g so w ie we i t e­ r e unt e rs c hi edl i che A uf fa ss un ge n i n e in e r e i n he i t l i c he n Si c ht zu ­ s a m me n g e f a ß t h at u n d s ie z u d e m mi t d e n n at ur wi ss en sc ha ft l i ch k o ns titu ti on sp s yc h ia tr is c he n

Gr u nd l a ge n

z u sa m me n b r a c h t e ,

ist

e i n e au ß er g ew ö h n l ic h e Le i st u ng . O h n e d ies e Ei n si cht k a n n m a n

das Werk Szondis nicht verstehen und nachvollziehen und seine Theorie nicht in die Praxis umsetzen. 2.1 Der Geist um die Jahrhundertwende Di e E po c he , i n d i e Sz o nd i 1 8 9 3 h in e in g e b o r e n w u r d e , w a r g e p r ä g t d u r c h tiefg reifen de V er ä n d e r u n g e n i m men sc hl i c hen Be w uß t se i n u n d i m wi ss e ns c ha f t l i ch e n D en k en , d u r c h d en Pa r a di g m e n we c h s e l v o n d e r Ph ysi k N e w t o n s zu d e m d e r su b a t o m a r e n P h y s ik : M a x P l an c k u n d Al b e rt E i ns t ei n 1 9 0 0 . I m g le ich e n J a h r k a m F r eu ds « Tr a u m d e u t u n g » h e ra u s , d ie al s G eb u r t s s t u n d e d e r P syc hoa n al y se g ilt. Pa r al l el ! da z u w u r d e d a s bi s her r ei n n e u ro a na t o mi s c h e D e n ­ k e n d e r P sy ch i at ri e d u r c h d a s fu nk t i on al -p syc ho l o gi sc he D e nk e n d e r Ps y c ho a n al y s e e rg ä nz t . A us d e r En t w i ck l un gsph ysi o l og i e he r ­ au s e nt w i c ke l t e si c h d a s g a n zh ei t l i ch - o rg a n i s mi s ch e D e n k e n u n d d ie P hi l os o phi e d e s Vi t al i smu s ( H an s Dr i e sc h ) , i n d e r Ph ilo s o ph ie d e r H o l i sm u s ( Sm u ts) (Seid el 2 0 0 2 ) . F r eu d s Ve r h a f t un g i m me c ha ni s t i sc he n D e n k e n de s 1 9 . J a h r ­ h u nd e r t s u nt e r A u ss c h lu ß d e r s pi ri tu el len D i m en s io n w a r z wa r ein s eitig, do c h zu g leich w a r s ie d a m a ls di e b es te V o r a us se t z un g f ü r d a s ra t io na l e V e rs t ä ndn i s d e r Ps yc he u n d d a m i t A nf a ng ei ne r ne u ­ e n P sy cho l og i e, de r T i efen p s ych o l og i e. D i e se E ins eitig k eit a b e r ri ef n a ch e i ner K om p en s a t i o n: G . G . J u n g s et z t e d em r a t i on a l e n, ka u ­ sa l -an al y t is ch en De n k e n F r eu ds d ie fin al -g an zh eitlich e D en k w eis e e n t ge g e n . D a b e i w u r d e d i e a u s d em W el t bi l d F re ud s vö llig a u s g e ­ k l a m m e r t e, tr a n s z en d e n t e D i me ns i on w i e de r i n d a s p s y ch o l o gi ­ sc h e D en k en e i n ge sc hl o sse n. E rs t S zo n d i so llt e e s d a n n g el i ng en ,

213


Die Bedeu tung der Schicksalsanalyse

di ese n Ge ge n sa tz z wi s ch en F re ud u n d J u n g z u ü b e r w i n d e n u n d d ie na t ur wi s s e ns c haf t l i ch -m ed iz i ni s c he

Basis,

di e

T rie b ps yc h ol og ie

s o wi e d ie t i efenp s yc ho l og i sch -an al y t is che D e nk w ei s e, u n te r Ei nbe ­ z u g d e r s pir i t u el l en D im e n s i o n, z u e i ne m g an z he i t l i c he n M e n ­ s c h en v er s t än d n i s z u v er b i n d en ( S z o nd i 1 9 5 2 , 1 9 5 6 a ) u n d d em e nt ­ sp r e c he n d a uc h g a n z ver sc hi e de na r t i ge t h e r ap eu t i sc h e M e t h o d en analytische und nichtanalytische - anzuerkennen und sie

onsspezifisch

indikati­

a n z u w e n d e n . Vo re r st a b e r be s c hä f t i gt e ih n ei ne a n ­

de re P r o b l em a t i k : D a d ie Ps y ch i at ri e de s 1 9 . J a h r h u n de r t s in ih r e r Su c h e n a c h d e r o r g a n is c h e n Be g r ü n d u n g d e r Ps y c ho s en ni ch t fü n ­ d i g ge wo r de n w ar , fa n d s i e ih r ät i o l og i s ch es P sy c h o se nv e r s tä n d n is in G en e ti k u n d Ko n s tit u tio n s le h r e u n d s t a n d d a m i t i m G e ge ns at z z ur e xo ge n- ps yc ho ge ne t i s c he n T he o r i e F r eu d s. In d i es e K o n t r o v e r ­ s e w u c hs S z on di h ine in . Du r c h d en U m st a n d ab e r, d a ß e r s ei n e er ­ s t e k li ni sch e S telle a uf d e m G e bie t e d e r K in d er p s y ch ia tr ie u n d H ei l p ä da g o gi k f a n d , w u r d e s ei n u rs pr ün gl i c he s F or s c hu n gs g e bie t b es t i m m t : E nd ok ri n ol o gi e , N e u r o e n d o k r i n o l o g i e , K o ns t i t u t io n s ­ f or s c h un g

und

s ch ließ lich

G e ne t ik

(Kronenberg, 1998;

Bü r g i,

2 0 0 0 ) . E r st d i e K en n tn i s di e se r f r ü he n F o r s ch u n g e n S zo n d is l ä ß t se i n s p ät e re s W e rk v er st e he n, i n d e m di e k o n st itu ti o ne l le Ba sis mi t d e n ex o ge ne n D e t e r mi n a n t e n v er bu n de n u n d d i al e k t is ch g ese he n w ir d . Die ses F a k t u m ist v o n g r u n d s ät zl ich er B ed eu t u n g f ü r jed es ät i ot he r ap eu ti s c he, d. h. k au s a lt h era pe ut i s c h o r i en t ie r t e V o r g e he n , se i di ese s n u n an al yt i s c h o d e r g e s p r ä ch s t h e r a p eu ti s ch a u s g er i ch t et , p s y cha go g i sc h o d e r al l ge mein b e ra t e n d (vgl. un t e n 3 . 1 ) .

2.2 Zur Geschichte der Psychopathologieforsch ung Grundmodell: Endogene Psychosen in der Psychiatrie versus exo­ gen-traumatische Neurosen in der Psychoanalyse. endogenen Psychosen der psychiatrischen Nosologie und der traumatischen Di e

G e g en ü be r st el lu ng d e r E x t r e mg r up pe n

Neurosen der psychoanalytischen Theorie 21 4

der

ist p a r a d i g ma t is c h in


Die Schicksalsanalyse in episte mologischer Sicht

d e r kl as si sc hen P sy c ho pa th o lo gie : Bis tie f in d i e z w ei t e H ä l ft e de s 1 9 . J a h r h u n d e r t s hi n e i n b ef a ßt e sich di e Psyc hi a t r i e a us sc hl i e ßl i c h m it d en g r o ß en k l ini sc hen Ps y c h o s en . D a m a n b ei di ese n « Gei st es ­ k ra nk hei t en » k ei n e o r g a n is ch en G e w e be ve rä n de ru ng en fe stste llte, w ur de ih r e V er u r s ac h u n g al s v o n er bge ne t i s c h-k ons t i t ut i on el l er N a t u r e r k a n n t . D u r ch i hr e n Sc h we r eg r a d , ih r e t h er a p e u t is c h e Un b eei nf l uß b ark ei t so w i e d ie P fl ege bedür ft igkeit ho b e n s i ch di e se p s yc ho t i s che n P a tie n t e n u n d ih re kl in i sc hen Bil der qu a s i v o n s el b st de u t li c h a b v o n d en « N e u ro se n » d e r d a m a lig e n Vor st e l l ung u n d , s eit F r e u d , au c h au f t h eo r et i sc h d efin ier te W eise, vo n d e n eigen tli­ c he n V er d r än g u n g s n e u r o s e n , w el c h e al s rein ex o g e n -t r a u ma t i sc h b edi ngt g a lt en . Di e G e ge n üb e r ste l lu ng v o n e nd og en u n d ex o ge n b zw . v o n k o n s ti tu ti o n e ll u n d t r a u m a t i s c h bli eb le tztl ich be st eh e n, ob w o h l di ese ät i o l ogi s ch b e g r ü n d et e T r e nnu ng sp ät er i n me h rf a ­ c h e r H i ns i ch t r e l a t i vi er t w u r d e : i n d e r P s y ch o an al y s e th e or e t isc h d u r c h d ie Rev i si o n F re u ds i n « D i e e n dl i c he u n d d i e un e nd lic h e An a l ys e» ( 1 937) - w a s j ed oc h vo n s ei nen N ac h f o l g eg en e r at io n en n ic h t r e spe kt i e rt w u r d e: I n d e r p r a k tis c h e n P sy c hi a t ri e , v or a l le m im Z u s am m e n h an g mi t de n D ep r es s i o n s- u n d Ps y c ho s en e n t st e­ h u n g s t h e o r i en , wo si c h ei ne H al t un g e t ab l i er t e , di e, m e hr o d er w e ­ nig er u na u s ge s p ro ch e n, s o ma t o g e n e u n d p s yc hoge n-r ea kt i ve E le­ m en t e al s sic h e rg än z en d b et r ac h te t, w ob ei al l e rd i ng s zu gege ben w e r de n m u ß t e, d a ß «di e s ch i zo p h r e n e A nl a ge u n b e k a n n t is t» (Bened et t i 1 9 7 5 ) . D ie se Un s i ch er h ei t ist au f d e m H i n t er g r u n d d e r r ei n e x o g e n e n Psy c ho se n en ts te hu ng st he o rie n d e r 50e r u n d 6 0 er J a h r e z u s eh e n , d ie v o n L. S zo n d i r evi di er t wu r d e n . Vo n e i ner g a n z a n d e r e n S eit e her, n äm l i ch v o n d e r ne u ro b i o c he mi sc he n un d ps yc ho ph ar ma ko l og is c he n h a t n eu er d in g s d ie so ­ m a t o ge n e B et r ac ht un gs w ei s e b e de u te n d a n B ode n g e w o n n e n , u n d d i e k o nst i t u t i o nsp sy c hi a t r i sc h e n F un d am e nt e d e r Kr ae pe l i n-K r et s ch mer- Szo n d i sc he n K r an k h ei ts - u n d Er bk re i se k ö n n e n wi ed er n e u best ät i gt w er d en . D a m it w ir d n u n d ur c h e i ne b i ol ogi s che G r u n d -

215


Die Bedeut ung der Schicksalsanalyse

I n g en w issen sc h af t ei n k l ares Wo r t g esp r o c he n g eg en d i e einseit ig p sy ch ol o gi st i sc he Auf fa s s un g, d ie übe r l a ng e Ze i t hi n we g d i e kli­ nisc h f un d ie r te n T a t sa c h e n d e r E rb - u n d K on s t it u t io ns p at h ol o gi e a b l e hn t e . A lle di es e E r k lä r u ng sm o d el le las sen sich m i t H il f e d e s t r ie b p sy c ho l og i sc h- s c hi c ks a l sa n a l yt i sc he n D e n k e n s z u e i n e r e in­ heit li chen S ich t v er einen (vg l. u n t e n 2 . 6 ).

Die Beziehung zwischen der klinischen Psychiatrie und der Psychoanalyse Ei ne b e so n d e r e Är a b e g an n in de n sp ä t e n 4 0 e r J a h r e n , al s d ie P sy­ ch oa na l ys e u n d di e Sc hule M e l a n i e Kleins E i n ga n g in d ie k l inisch e P s yc hia t r i e f a nd e n mi t dem V e r su c h, di e P sy ch o se n en ts t eh u n g psyc ho ge ne t i s ch z u v er s t eh en . D a s Pen d el de s ät i ol o g i s ch en D en ke ns sc h lu g vo n d e r k o n s t i t u t i o n el l e n S eite w ied er a uf d ie d es e x o ge n e n De n k e ns au s u n d ei ne ne ue , w i ed e r um eins eit ige Si ch t e ta bl ie r te s i ch . Ä h n l ic h g e w a n n e n d i e in d e n 6 0e r Jah r en a u fk o mm e n d e n fa ­ m i li en dy n am i sch -s y st em i sch en Th e o r i e n g ro ß e B ed e u t u n g . D o ch au c h sie w u r d en ü b er b ew er te t u n d b r a c h t e n we d er d ie L ös u ng d e s P sy c h os e n e nt st e hu n gs p ro b le m s no c h d i e g r o ß e n T her a p ie- E r f o l g e. Ei n wes e n t l i ch e r G r u n d d af ür lie gt i n d e r V er na c hl ä ssi g ung d e r he r e d it ä r e n Ä t iol ogi e . Beid e B ew e gun ge n, d ie ps yc ho a na l y t i sc h e u n d d i e s y st e mi sc h e, s i nd al l e rd i ng s a u s d e r a l l g em ei n en E nt w i c k­ lu n g ni cht w e gz ud en ke n , w e il sie z u ne u e n Ei n si ch t en in d e r Bo r ­ d e rl ine - Fo r sc h un g, in d e r al l ge mein en S y st e m t he o ri e us w. f ü h r t e n . W a s a be r f e hl t e, wa r ein e i n t eg ra t ive V e rb i nd un g s o mat o g e n er , e rb ge ne t i sc he r Fa k t o r en m it d en e x o ge n - p s yc h o g e n e n Ei n w i r k u n ­ ge n u n d d e m s y st em is ch en A sp ek t . Ger a d e di e se Ei ns eit i gke i t ist es, di e , z u s a m m e n m it ih r em G eg en s t ü ck , d e r e b e n so e inseitig e n bi o lo gis tis chen Au ff as s u ng, h eu t e mi t z u r S pa l t u ng in e i n e bio l ogi sc he u n d ei ne ps yc hol ogi sc he P sy c hi at r i e so w i e a u ch te il w eise zw i s che n d e r Psy ch i at ri e und d e r a l l gem e i ne n P syc ho l og i e be i t rä gt .

21 6


Die Schicksalsanalyse in episte mologischer Sicht

2.3 Zur Werkgeschichte Szondis Di e T h e m at i k d e r G eg e n s ät z e u n d d er en I nt eg ra t io n h at Sz o nd i w ä h r e n d s ei ne s g a n z en L e b e ns be s ch ä ft ig t , u n d di e V er b in d u n g d e s k o n st itu ti on e l le n u n d d es ex o g en en An t ei l s i n d e r Ät i ol o gi e se eli­ s c he r S t ö r u n g e n g e w a n n i n se i ne r W e rkg es c hi c ht e z e nt ra l e B ed eu ­ tu n g . E s l a ss en s ic h a b e r P h as e n mi t v ers ch i eden er G ewi ch t u n g d e r ei nz el nen A sp e kt e f ests tellen .

Die frühen Forschungen Szondis A m A nf a n g d e r Sc hic ks al sa na l ys e s t eh t d ie fr ü h e Fo r s ch u n g s ar b eit Szo n d i s d e r 20 er u n d 3 0 e r J a h r e a m He ilp ä da g o g is ch en u n d Psy­ c ho lo gis c he n L a b o r a t o r iu m d e r H o c hs c h ul e fü r H e i lp ä d a go g ik d e r Un i ver s i t ät B u d a p es t ( Kr o n en b er g 1 9 9 8 ; B ür gi 2 0 0 0) . S e i ne sy st e­ matische endokrinologisch-psychiatrische Forschung sowie die erbgenetisch-konstitutionellen Untersuchungen m it d e r A uf ste l­

Familienkataster

bi l d et e n d i e B asis d e r w ei t e re n

Entwicklung und bleiben einer der

Grundpfeiler der Szondischen

lu ng a us ge d e hn t e r

Lehre. Die mittlere Schaffensphase Szondis W ä h r en d l än ge re r Z e i t w a r S zo n di d e r Ps yc hoa na l ys e g eg en ü b er a m b i va l e n t ein ges tellt ( Kr o n e n b er g 1 9 9 8 ) , u m s ie sc hl ie ßl ic h g an z i n s e i ne Th e o r ie z u i nt eg ri eren (S z ondi 1952.) . I n d e r P er i o de zw i s ch en 1 9 5 2 ( Tr i eb p at h o l og i e) u n d 1 9 6 3 (s ch i cksa l s an al yt i sc he T h e ra pi e ) s t e h t d a s p s yc h o an a l yt i s ch e G e d a n k e n g u t im V or der ­ g r u n d : e s d o mi n ie re n - n eb en d e r u rs pr ün gl i c h en sch i ck sa l san al y ­ t i sch en u n d t r i e bp s y ch o l o g i sch en Bas is - da s th eo r e tisc h e K o n z ep t u n d d i e t h er ap e u t is c h e T e ch ni k d e r P s yc hoa na l ys e, w o r i n sic h u . a. die allgemeine Zielsetzung Szondis konkretisiert,

eine Psychiatrie

auf tiefenpsychologischer und triebpsychologischer Basis aufzu­ bauen ( S z o nd i 1 9 5 2 ) . Es gel a ng i h m , d ie k lin isch e P s y cho pa t hol o ­ g ie mi t Hi l fe d e r psy cho a na l yt i sc he n T h e o r i e u n d d e r T r i eb p a t h o ­

21 7


Die Bedeu tung der Schicksalsanalyse

lo gie a u f z u a r b e i t e n : S o w u r d e n d ie p a t ho g e n e t is c h e n T h e o r i e n d e r P syc ho an al yse w ie z . B. d ie d e r D ep r e s si o n s en ts t eh u n g ( F r e u d : Tr a u e r u n d Me la n ch o li e) , d a s kon ver si o nshy st e ri sc he M o d e ll , d ie D y n am i k d e r e p il e pt if o r me n S tö r u n g e n ( F r e u d : D o s t o je w s k i u n d d ie V at er t ö t u n g ) us w. t ri eb p sy ch o l og is ch a rt i k ul i er t . D e me n t s p r e ­ c he n d n a h m a u ch d ie p sy c ho an a l yt i sc he M e t h o d i k u n d Te ch n ik e i ­ ne n g r o ß e n R au m e in i n d e r T he r a pi e.

Die spätere Entwicklung Szondis Von d e n 6o e r J a hr e n an r e l a t ivi er t e Sz o n d i d i e B e de u t un g d e r P syc hoa na l y se u n d d ist an z ie r te sich i m me r m eh r vo n d e r A b w e hr ­ l ehre F re ud s , u m i h r m it z u n e h me n d e r B es tim m th e it s ei ne Sp al ­ tu n g sl e h re e n t ge ge n zu se t z e n. E r b r a ch te d i es in pe r s ö nl ic h e n M it ­ t ei l u ng en a u c h i mm e r w i e d er d eu t l i c h z u m A u s dr u c k. Ei n w e i te res , völlig n e ua r tig e s K o n z e p t w ar d a s d e r fa mi l i är spe z i fi sche n p a t h o ­ g n e n G en o ty pe n . D i e se g a n zh ei t l i ch e n , fa m i l i är sp ez i f i sc he n Ex i ­ s t e nz f o rm e n , a uc h A h n e n a n sp r ü c h e g e n a n n t , b ev ö lk er n bil dlic h g esp r o c he n d a s Fa m iliä r e U n b ew u ß t e u n d w a r t e n au f d i e M ö g ­ l i c hkei t i h r er Ma n if es t ie ru n g; sie d rä n ge n d a na c h , in E rs c h ei nu ng zu t r et en u n d d a m i t i m L ebe n ei ne s I ndi vi du um s s o z u r ü c k z u ­ k e hr e n , w i e sie in d e r F a mi l i e ng es c hi ch t e s c h o n e r sc h ie n e n wa r e n ( Szo nd i 1 9 6 2 , 1 9 6 3 a ) . E in e R ü c k k e hr z ur r ei n en K o n s t it u t io n s l eh ­ r e? N ei n - a b e r im G a n z e n d o c h ei n e de u t l i c he U m g e w i c h t u n g z u ­ g u n s te n d e r h er e di t är e n Ä t iol o gi e, d i e a b e r m it d e n e x og e n t r a u ­ m a ti sc he n b zw . situ a tiv e n A sp e k t e n k or r el at i v i n d a s di a g no s ti sc h e M e ns c he n v e rs t ä nd n i s ei nb ez oge n wer d e n m u ß . F ü r d i e al l gem e i ne P sy ch o p a th o l o g ie gi l t : •

di e p at h o g en e n G en o t y p e n s i nd p r i mä r l at en t , d e n n o c h a b e r i nd ir e k t w ir k s a m , s ei e s i n d e r F är bu ng v o n k o m pl e xe n k li n i­ sc h en Bild e rn o d e r i m G en ot r op i s m u s;

s ie k ö n n e n in i rg en d ei n er Le be ns ph as e o d e r -s i t u at i o n e i ne s I n di v id u um s s p o n t a n a u f t r e t en ;

2 18


Die Schicksalsanalys e in ep istemologischer Sicht

sie k ön n en e xo ge n-t r au m at i s c h z ur M a ni fe s ta t i on g e b r a c h t o de r

i n ei ne r T her ap i e vo n sich a u s in E r sc h e in u n g t r et en b zw . pr o ­ v o zi er t we rd e n ;

S zo n d i ve r tr itt d ie M e in u n g, d a ß s ie d u r c h d ie « t r au ma ti s ch e S it u ati o n » ( Fr e u d) au s g el ö s t we r d e n (S zo ndi 1 9 6 z , 1 9 6 3 a ) .

2.4

Dialektische Beziehung zwischen endogenen

und exogenen Faktoren Die m edi zi ni s ch e G r u n d h a l t u n g h a t bei S z o n d i e i ne n ho he n Ste l­ le n we rt . Sie e n ts p r ic h t n ic h t n u r d e m k a r te s ia n is c h - n e wt o ns c h e n D e nk an s a t z u n d d a m i t d e r nat u rwi s s e ns c haf t l i ch f u n die r t e n M ed i ­ z i n, s o n d e r n z eigt sich au c h i n d e r T h e ma t i k d e r f rü h e n Fo r­ s c hu ng s p ha s e S zo n d i s d e u t l ic h : I n d e r Un t e r su c h un g d e r k on s t i t u­ t io ne l l er b g en et i s ch e n G r u n d l ag en d e r n e u r o en d o k r i n o l o g is c h en P at h o lo g i e. Sie e r f o r d er te e i ne n na t urw is s ens c haf t l i ch d et er m i ni ­ s t isc h e n F o r s ch u n g s an s a t z u n d l ag v o r e r s t w e it a b v o m p syc ho t he ­ r a p eu t is c h en u n d p syc h oa na l yt i s c he n D e n k e n . Es liegt a uf d e r H a n d , da ß bei den sc h w er e n K r a n kh e it sf ä ll e n, m i t de n e n Sz o n d i i n jener f rü h e n F o r s ch u n g s p h a s e k o n f r o n t i e r t wa r , ei ne p sy ch ago g isc he O r i e n t i e ru n g in d e r H ei l p ä da g o gi k n ä h e r l a g al s ei n p syc h o­ a n al yt i sc he s De n k e n , w o d ur c h a u ch d i e da m a lig e kr i t i sc he H a l ­ t u n g S z o nd is g e g en ü be r d e r P sy ch oa na l yse e r k l är b a r w i r d . I m g l ei che n S i nn e l ä ß t sich a u c h d a s s p ä t er e Fe s t h al t e n S zo ndi s a m k o ns ti tu tio n e ll e n E le me n t - B asis vo n T ri eb p sy ch o l g i e u n d Fa m i li ­ en f o r s ch u n g - u n d di e e nt s pr ec he nde är zt li ch -ps y ch ag og i sc he H a l ­ t u n g v er st e he n. Sie bli eb b es t eh en , s el b st d a n n , als sich S zo n d i m e h r u n d m e h r f ü r d ie ps y cho an al yt i s c he T h e or i e z u in ter es s ier en b e g a n n . Di e k ri t is che H a l t un g S z on d is ge g en ü b er d e r T he o r i e Fr e u d s w ar b e g r ün d e t i n d e r e n eins eitig e xo ge n -t r a um a t i s c h o r i en ­ t ier t en , p a th og e n e tis c he n A uf f a s su n g u n d ih r e r V ern a ch l äs s i g u n g jed er

e n d o g e n- k o n s tit u tio n e l le n

b zw .

e rb g en e t is c h en

Ä t io l og i e,

219


Die Bedeutu ng d er Schicksalsanalyse

w a s de m Fo r s ch u n g s an s at z Sz on d i s di a m et ra l ge g en üb e r s t a n d. W enn S zo n d i sic h in d e r F ol ge a be r d o c h mi t d e r p s y ch o an a ly t i­ s ch en T h eo r i e ko n s t ruk t iv a us e in a nd e r se tz t e u n d d ie ex o g e n - t r au ­ ma t i sc he A uf fa s sun g Fr e u d s in se i n e T h eo r i e e i n b a u t e , s o da r f n ic h t übe rs ehe n w e r d en , d a ß e r n i e mal s s ei ne k o n sti tu tio n e ll- e r b ge ne t is ch e B a s i sü b e rz eu g u n g a u f g a b , so n d e r n sie n u r r e l at i vi e r t e u n d gle ic hzeit ig i h re i nt eg rat iv e Ve r ei ni g ung m i t d e r p s y c h o a n al y ­ t is chen T h e o r i e a n st r e b t e (S eidel 2 00 2) - zw e i völl ig v er s ch i ed e n ­ a r t i ge , ja g eg ens ät z l ic he M o d e l l e , d ie s yn op t i sc h ge se he n u n d d i a­ le kti sc h v e r sta nd e n w e rde n mü ss en . Do ch d ie R e a lis ie r un g e i ne r s ol c he n D e nkw e i se in d e r p r a k tis c h e n Th e r a p i e si t u a t i o n ist s e h r s ch w i eri g. Hi er in ist e i n T eil d e r P r o b le mat ik be g rü nd e t , d ie d ie Sch i ck sa l san al y t i ker be l ast et u n d m i t d e r s i e sich a us e in an de rs e t­ z e n m ü ßt en .

Der Konflikt zwischen der Schicksalsanalyse und der psychoanalytischen Tradition

2.5

N a c h d e m s ich d ie Ps y c h o a n al y s e e in m al d ur c hg e se t z t h a t te , n a hm s ie w ä hr en d Ja h r ze h n t e n ei ne d o m i ni e re n d e St e l l ung i n d e r Ps y­ c ho t h e r a p ie e i n, u n d bei vielen b es t an d d i e Ü be rz eu gun g, n u r e i n e r ein e Ps y c ho a n al y s e sei d a s R i cht i ge . Ei n A b w e ic he n vo n ih r e r T h eo r i e u n d Te c hn i k w u r d e f a st als S a kr i l eg b et r ac h te t, u n b es eh en d e r T a t sa c h e , da ß d a m i t ei ne e n o r m e Ei n s c h rä n k u ng d e r t he r a p e u­ t i sc he n M ögl ic hke it en v e rb un de n w a r , in sb e so n de r e w a s d i e viel zu en g e p s yc ho a na l yt i sc he I n d ik a t io n s b r e ite b etr if ft . Bei d en Sch i ck ­ s al s a na l yt i k er n v e r bl ie b wä h r e n d l a n g er Z e i t ei n Konf l i kt zw i sc he n der Verpflichtung zur

lyse

passiven Technik der klassischen Psychoana­

un d de n zu s ät z l ich en Mö g l ic h k eit en d e r n eu er e n a k t i v e n T e c h­

niken der

schicksalsanalytischen Therapie und der schicksalspsy­

chologischen Psychagogik. Grundproblem

Di es

h ä ng t

mi t

dem

ät i ol o gi sc he n

« e n d o g en — ex o g en » - z u s a m mm e n ( v gl. 3. 6) .

M e h r un d me hr wu r de n d ie sc h i ck sa l s a na l yt i sc h en G r u n d la g e n

22 0


Die Schicksalsanalyse in epistem ologischer Sicht

v ern ach l äs s i gt , w e i l e s f ü r v iele of fe n b a r un m ö g lic h w a r, e i n e I n te ­ g r a t io n v ers ch i ed en er Th e o r i e n u n d T h e ra p ie fo r m e n z u vo l lz ie he n. W a s d ie Ps y ch o a n al y s e bet ri ff t, s o ha t te n s ch o n f r üh Ab fa l l b e­ w eg un ge n v o n d e r O r t ho d o x i e a n B e de u tu n g g ew o n ne n . D a n n e n tw ic k e l te n si c h ne ue Th e o r ie n , w ie z . B. d i e O b j e k t t h e o r i e , d i e S e l b st ps yc ho l o gi e, d ie N a r z i ß mu s t h e o ri e usw . V öl l i g u n a b h ä n gi g d a v o n v ol l zo g s i ch in d e r Ps y c h o a n al y s e s c hl ieß lich a u s s i ch sel b st he r a us ei n e evo l u t i ve V e rä n de run g. M it d e r E i n f ü h r u n g d es s u p po r tiv e n E l e m ent s m a c ht e L u b o rs k y e i ne n S ch ri t t , d e r di e ps yc ho ­ an al yt i s c he

Vo rg eh ens w ei se

w es e nt l i ch

v er ä nd er t e

( L ub or s ky

1 9 8 8 ) , e i n e M o d i fi k a t i o n , d i e S zo n di in d e r s c hi c k sa l s an al y t i s ch en T h e r a p ie sc h o n f r ü h vo r we g g e n om me n h a t t e . K e i ne die se r M o d i f i k a t i o n e n o d e r n eu e n Sc hu l en m a c h t e je­ d o c h de n V ers u c h, die i nd iv i due l l e K on s t it u t io n bz w . erbge net is c he D et e rm i ni er un g u n d d ie e xo ge n en M o m e n t e k o n s e qu e n t u n d ko r ­ re l ie r t zu b erü ck s i ch t ig en wi e d i e S c hi cks a l sa na l yse .

2.6 Der integrative Denkansatz in der Schicksalsanalyse Di e T h eo r i e S zo n d i s g i b t u ns d ie M ö g li ch k e it , e i ne r se i ts ein e bi o ­ l og i sc he , so ma t o g e n e b z w. er b g e n et i s ch - k o n s t i t u t i o n el l e D e n k we i ­ se u n d a nd e re r se i t s e i ne ps y cho l og i sch e b zw . p s y c h o g e n et i s ch e u n d ex o g en e O r i e n t i e ru n g m i te i na n de r zu ve re i n i ge n, in dem si e d i e d i al e k t i s ch e Bez i eh u ng z wi s c he n b ei d en e r ke nn t . D a s ist fre ilich i n d e r Th eo r i e ei n fa c he r al s i n d e r p r a k tis c h e n A n w en d un g . Do c h e r s t der

i nt eg rat iv e D en ka n sa t z w i r d

der

M e h rd i m e n s io n a l i t ä t de s

me n sc hl i ch en Wes e n s g e r e c ht u n d e r m ö gl ic h t es, Geg en s at zn at u r , K o mp l e me n t a r i t ä t u n d P ol a ri t ät z u be r üc ks i cht i ge n u n d zu ve rs t e­ h e n . Er f ind et sei n en N ied e r sc h la g i n d e r T r i eb t he o r ie, d . h. i n d e r K o n z e p t i o n d es T ri e b sys t e ms:

221


Die Bedeu tung der Schicksalsanalyse

Gegensatz und Polarität: •

i m A u fb a u d e r T r ie be a u s d en T r i eb g e g en s at zp a ar en ,

in d e r P o l a ri t ä t d e r S tr eb u n g en jede s ei nz el n en T ri e b f a k t o rs ,

in d e r Vo r de r gr u nd -H i n t er g ru nd - Di a l e kt i k ,

i n d e r t r a n sp e rs on a l e n , d . h. g a n z sp ez iell in d e r d y a d is ch e n S it u a t io n (Seidel 1 9 7 8 ) ,

i n d e r K o m p l e m en t a r i t ät d e r V e kt or b i l de r , sp eziell d e r l e b bil ­ den

Begriffspaare mit Gegensatzcharakter, die korrelativ bzw. dialektisch gesehen iverden müssen: •

En d o g en i t ät - E x o g en i t ä t b zw . er bg en et i sch e - p s y c h o s o m a ­

d a s s o m at is c h - n e u r o b io c h em is c h e D e n k e n d e r M ed i z i n u n d

t i s c he Ät i o l o g i e,

d a s p sy ch ol o gi s che D en k e n, •

d a s be wu ßt s e in s ps yc ho l ogi s c he u n d d a s t ie fen p s y ch o l o g i sc h e Denken,

i n n e r h al b d e s p s y ch o l o g i s ch en D e n k e n s d a s ra t i o n a l e un d d a s in t ui t i v-in s pi rat i ve s o w i e d ie e m pi ri sc h e M e n sc h e n k e n n t n i s,

d ie g en et i s ch e D e te rm i ni e ru ng u n d d i e Fr a g e i h r er Beein flu s­ s un g sm ög l ic hk e it,

F rei h ei t u n d Z w a n g ,

S ta t ik u n d D y n am ik o d er Fi xa t i o n u n d V e rä nd er un g.

D er Na c hv o l l z u g d ies es D e nk e n s in P o la r itä t e n o d e r Ge ge ns ä t z e n b zw . i h re r D i a l ek t i k is t es s en ziell f ü r d a s V er s tän d n is d e r s ch i ck ­ s a l s a na l yt i s c he n T h eo r i e, i hr e r P e rsö nl i c hk ei t s t he or i e, ih r er P s y­ c h o p a t h o l o g i e u n d ih r e r t h e r ap e u t is c h en M ö gl ic hk e it e n.

2.7

Allgemeine Gesundheits- und Krankheitstheorie

We nn w i r d ie P sy c h ot he r a p ie n ic ht n u r v o n d e r pr a gm a ti s c he n S ei­ te h e r s e he n , d. h. als o n ic h t im S i nne n u r ei ne s Ka tal o g es em p ir is c h

222


Die Schicksalsanalyse in episte mologischer Sicht

en t w ick el t er Vo r g ab en , s o n d e r n sie au f ei ne wi s sen s chaft l i ch e B a­ s is s tellen w o l le n , d a n n m ü ss e n w ir ei n e th eo r e tisc h e V o rs t e l lu n g v o n ge s u nd e m F u nk ti o ni e re n u n d vo n d es s en k r a n kh af t e n A b w e i­ chungen, d. h. eine

allgemeine Gesundheits- und Krankheitstheorie

h a b en . K r a n k m a ch e n d e U r sa c h e n u n d M e cha n i s m en s o l lt en a ls o b ek a n n t u n d b es ch r e ib b a r s e in: e n d og e n - ko n s titu t io ne l le b zw . g e­ n et i s c h -b i o c h em i s ch e , ex o g en - t r a u ma ti s ch e u n d si t u at i v -s y s t emb e ­ d i n g te. Die B erü c ks i c ht i g u n g die se r F a k t o r e n m a c h t un t er s c hie d l i ­ c h e t h er ap e u ti sc h e Vo r ge h e ns w e i se n n o t w e nd i g . E s e xi st ie r t no ch ke in e a l l ge m ei ne P e r sö n l ic hke i t s - , K r a nk h eits - u n d T h e ra p i et h e o ri e . J e d e Ein z elsc hu le ist l i mit ie r t au f di e ihr

zugrunde

l ieg en d en

K ra nk he i t svo rst el l ung en

und

V e r ä nd e ­

r u n g s t h eo r ien - s o f e rn s ol c he ü b er h au p t b es t eh en u n d f o r m u l i er t s ind - u n d h a t i hr e eig e n en th er ap eu t is ch en V o rst el l un g en u n d M e t h od e n . D i e se si nd je de nf all s un vo lls tä nd ig , s o l an g e s ie n ic h t Tr i ebp s yc hol og ie u n d - p at h o l o g ie gr u nd s ä tz lic h ei n b e zi eh en . D a s m e hrg es t a l t i g e ä t i ol og is c h- pat ho gene t i s che K o n z e p t , in d e m e n d o ­ g e n e u n d e x o ge n e F ak t o r en so w ie sys t em i s c h- si t u a t i ve B ed i n g u n ­ ge n s y no p ti sc h b er ü ck s i ch t ig t w e rd e n , ist d a s Au ß er g ew ö h nl ic he a n d e r S c hi c ks al s an a l y se . I h r e i n t eg rat i ve Den k w ei se i m a l l gem e i ­ n e n u n d i n d e r ä ti o p a th o g en et is c h en Fr a g e sp ezie ll f or d er t u n d e r­ m ö g lic ht zu g leic h ei n m eh r d i m en si o n al es t he r ap eu t is ch es D e n k e n . Die ses l ä ß t si c h a l ler di n g s

schlecht manualisieren,

we i l e s k o m p le x

u n d in di v i due l l f all s pezifisch i st .

Zur Frage der Veränderbarkeit G r u n d s ät z li c h s tell t sich d ie F ra ge : W a s sol l v e r ä n d e r t w er de n u n d m it w elc h em Zi el ? W as ist ü b er ha u p t v er ä nd e r b ar , u n d , wi e g e h t m a n m i t d e m U n a bä n de r li c he n u m ? S o l che F rag e s t el l u n g en s in d k ei n es w eg s al l g emei n ü b l i ch , u n d di e M e in u ng , i r g en d ei ne Psy­ c h o t h e ra p i e f o r m k ö nn e al s s o l c he , d . h . u n ab h ä n g i g v o n e i ne r K r a n k h e it s t h e o r i e u n d vo n e in e r s pe zif isc he n I n d ika tio n ss te ll u ng

2.23


Die Bedeut ung der Schicksalsanalyse

bz w . ei n er k l a re n Zi el v o r s t el l u n g , a ppl i z i er t w er d e n, ist we it v er ­ b r eit et. N u r ei n a pr i or i di a l ekt is c he s D e n k e n k a n n h ier we i t e rhe l ­ f en . I m Al l g em e i ne n n e igt m a n wo hl z ur A n n ah m e, d a ß e rb g e ne ti ­ sc he A nl a ge m it U nv er ä nd e rb a rk e it gl e i c hzuse t z en s ei, w ä h r en d m a n p s y c ho t ra u m at i s c h b ed i n g t e S tö r u n g e n f ü r gr und s ät z li c h b e­ e i n fl u ßb a r h äl t . Beid es ist je do ch in di e ser ex t r e m e n F o r m u l i e r u n g n ic h t r i cht i g. Au c h d u r c h ei ne e i n ge he n de u n d l a ng da ue r nd e P s y­ ch o an a ly s e k a n n ei ne f r ü h e t ra u ma t i s c he P r ä g u n g n ic h t u n b e d i n g t g eh eil t w er d e n , b es on de rs d a n n n ic ht, w en n d i es e i n d ie K e rb e ei­ n er en ts p r e che nde n V e r a n la gu n g g es c hl a ge n h at . U m g e k e h r t k a n n a b e r au c h - u n t e r gü n sti ge n P er s ön l i ch kei t s vor au s s e t zu nge n — e i n e S el b s t kon t ro l l e üb er Ve ran l ag u n g s el e me n t e e rr ei c ht we r d e n, o d e r e s k ö nn e n T r i e b ge f a h r e n , d ie al s s o l ch e ni ch t ve r ä nd er ba r s i n d , operotropistisch ventiliert werden (Seidel

zooz).

Die Persönlichkeitstheorie der Schicksalsanalyse D a s ps y cho l og i sch e u n d p sy c h o pa t ho l og is c he M e n s c h e n v e r s t ä n d ­ n i s S z ondi s b as i ert au f ei ne r

Persönlichkeitstheorie,

di e , pri m ä r jen ­

s eit s d e r Un t er s ch ei d u n g in k r a n k h a f t u n d g e su n d , ei n V e r st ä nd n is na c h be id en Seiten hi n e r öf fn e t u n d sie in en ge m g e ge n se i t ige m Be­ z u g z ue i na n de r b e sc h r e i ben l äß t . Z wi s c h e n d e m p s y c h o l o g i s c h en und dem psychopathologischen Bereich muß man sich einen

thopsychologischen Zivischenbereich

pa-

d e nk e n . D ä s ist p rinz ipiell

w i cht i g , w e il d a d u r c h ei n e k at eg o ri s ch e T re n n u n g z wi s c hen g e­ s u n d u n d k r a n k v e r hi n de r t w er de n ka nn u n d e s m ö gl i ch w i rd , Kr a n k ha f t e s bes se r v o n d e r S eit e de s G es u nd e n h er z u d ef in i er en (vgl. F u n kt i on s n o r m v er s us H ä uf i gk e it s no rm ; Se idel 1 9 9 9 ) . Kri t e ­ r i en d a f ü r s i nd ein er se i t s d i e Q u an t if i zie r u n g d e r T r ie b el e me n te s o w ie d e r G r a d ih r er L e g i eru n g o d e r d ie A r t d e r S p al t u n g d e r T rie b g eg en s ät ze, d i e D e sin t e gr a t io n i m I c h o d e r d a s G e l i n ge n d e r I n te g r at i o n . D u r c h di e se

funktionale Denkweise

wi r d d ie k lin isch -

p hä no me no lo gi s ch e D iag n o s t ik d y n a m is c h a r tik u l ier b ar .

224


Die Schicksalsanalyse in ep istemologischer Sicht

In

di e ser n e ua r ti g en P e rs önl i c hke it s t heor i e k a nn

man auf­

g r u n d de s Wi ss e ns u m d i e D o p p e ln a t u r d es T r i eb p h ä n o m en s u n d s ei ne n eu r o b io ch em i sc he G r un dl ag e d ie so ma to p s y ch i s ch en b zw . p s y c ho s o m a t isc he n Z u s a m m en h ä n ge ve rs t ehe n (Seidel 1 99 6 ) u n d e i n e g an z h ei t l i ch e G r u n d l a g e d e r P sy chi at rie u n d d e r P sy cho l o gi e e n t w e rf e n . Es k o m m t hi nz u, da ß in d e r T r ie b f un k t i on u n d d a m i t i n d e r Tr ie b p e r sö n lic h ke it e i n

systemisches Element

im p l iz i er t i st :

T r i eb u n d T rie b ziel , P r oj e kt i on , D e le ga tio n , I n d u k t i o n u n d Ge no t r op i s m us (Seidel 1 9 7 8 ) . W es en t l ich er Be st and t e i l d e r s ch i ck s a l sa n al y t i s ch en Pe r sö n ­ lichkeitstheorie sind die Phänomene der Latenz und der

tergründigkeit

Hin­

(vgl. Teil II, 2 . 2 u n d 8 ). D ie e nt s pr ec hen de n P er s ön ­

l ic hke i tsa nt e i le h ab e n t ra n s p er s o n al e B ed eu t u n g ( G e n o tr o p i s mu s ) u n d g r o ß e d i a gno st i sc he Rel evan z. W as d i e V er u r s ach u n g seeli­ sc h e r S t ö ru n g en be tr iff t, s o s pr ic ht d i e S c hic k sa l s a na l y se ni cht v o n e in e r u n d i f feren zi ert en Ä t i o -P a t h og en es e sc h le c h th in , s o n de r n sie un t e rs ch ei d et d ie

eigentliche Ursache, d. h. die Ätiologie,

de r en

H a u p t a n t e il d u r ch d i e e r bge ne t i sc h- kon st i t u t i one l l e n F a k t o r e n g e­ ste llt w i r d , vo n d en e x og e n t r a u ma t i s c h e n E in w i rk u ng e n , de n en si e a l l e r di ng s ei n e w e it g eri ng ere B ed eu t u n g b ei m i ßt al s d ie P s y cho ­ an a ly s e. S zo n di s c h e nk t d e n

p at h o g e n et i s ch e n K o n st ru k t i o n e n

F re u d s ni c ht di e v oll e Be a c ht u ng , o b w o h l si e z wa r te ilwe ise m it d e m t ri eb p s y ch o l o g i s c he n D e n k e n v er e in b a r s i n d , m it d e r Be g rü n ­ d u n g , d a ß d i e w esen t l ich e ät i ol o g is ch e B e d eu tu n g d e n p a t h o ge n e n

Genotypen

- g em e in t s i nd v. a. di e s ch i zo f o r me n u n d p a r o x y sm a ­

len - z u k o m m e . D a m i t w i r d d e r g r o ße Bereic h d e r p s y ch i at ri s ch e n K r a n k h e i t e n d e m ps yc ho l ogi s c h- ps yc hop at ho l ogi s c he n V e r s tä n d ­ ni s er s chl os s e n.

2.8 Zur Ichtheorie der Schicksalsanalyse Di e al lg emein e Ic h th e o rie S z on di s w ur d e als V or a us se t z un g f ü r d a s Ver s t än d n is d e r I c hp a th ol o gie i n T eil I I, 8 . 4 zu s a mm e ng ef aß t . Hi e r

225


Die Bedeu tung der Schicksalsanalyse

a b e r sol l sp eziell au f d ie

Partizipation -

Projektion - e in g eg an g e n

w er d en , u m d e r e n p a t h o g e n e B e de u t un g

ei n A sp e k t d e r

primären

u n d ih re K o n s eq u e n ze n f ü r d ie T he r a pi e d a r z u s te l le n . S ch on vo r Szo n d i h ab en C . G . J u n g , Al p h on s e M a e d e r , Lu d w i g B i ns wa nge r u n d viele a n d e r e d e n sp i ri t ue l l e n As p e kt i n i h r p sy ­ c h ia t r is c h- p sy c h o th e r a p e ut is c he s W elt bi ld e in b e z o g e n . I m W er k Sz o n dis g es ch i eh t d i es vo r e r s t au f g a n z a n d e r e W eise. F ür i h n h at d ie « geis tig e F un kt i on » ei ne pr im ä r e u n d e sse nz ielle Be d eu t u n g u n d da m i t i n s ei ne r W e l t a n sc h a u u n g ei ne n z en tr a len Pl a tz , w o sie voll i nt eg ri er t ist. S ie ist ein e K ra f t v o n k os mis c he r N a t u r u n d P r o­ v en i en z , w e s h a l b S zo n d i s ie a u ch «G l au b en s f un kt i o n» n e n n t. D a ­ mi t nä h er t sic h S z on di de m D e n k e n K a r l fr i e d G r a f v o n D ü r k ­ h e im s ( g e b or e n 1 8 9 6 in M ü n c h e n ) , d er v o n d e r T ra ns z e n d e n z s pr ic h t, di e i m «We se n » im m a n e n t wi rd . D a s is t d i e Se i n s m a c ht in Sz o n di s Ic hl eh re : Von p r im ä r t r a n s z en d en te r N a t u r , w ir d s ie in d e r I mm an en z a u c h z ur p s yc h i sc h en Kr a ft und z u r ps yc hol o gi s ch a rt i ­ k ul ier b a r en F un k ti on (+ p ), d i e letz tlic h a u ch p a t h o g e n w er d en k a nn ( Inf l a t io n, B eses s enh eit + ! !! p ) , so f e r n si e ni c ht m it i h r em r ea­ len Gegenstück, dem Real-Ich, zur Integration gebracht wird.

al-Ich und Ideal-Ich griffspaar

Re-

in d e r I c ht h eo r ie S zo n d is en t s pre c he n d e m Be­

Weltich und Wesen

Dürckheims und dem

Ich und Selbst

v o n C . G. J un g ; Er i c h N e u m a n n h at t ref fen d vo n d e r I ch -S elb s tA ch s e g e s p r o c h en ( N e u m a n n 1 9 8 4) . F ü r Sz o n di i st , bei al l er es ­ se nz iell sp i ri t ue l l en B ed eu t u n g , d ie S e in sm a c h t , d . h. d i e g eis tige F u n k t i o n a u ch e i ne p s y ch i sch e F u n k t i o n , de ren S t ä rk e g r a d mi t d e r ETD (experimentelle Triebdiagnostik) gemessen werden kann.

Ich

schreibe auch der geistigen Funktion eine Doppelnatur zu, w i e

ic h

e s a u c h f ü r d ie T ri e b f u n k t i o n al s s o l c h e g e t a n h a b e (vgl. Teil I I, 5 u n d S eide l 1 9 9 6 ) un d e r k l ä re da m i t i h re t ra n s z en di e re nd e F äh i g ­ k ei t , kr a f t d e re r si e d e n Üb e rs t i e g z wi sc h e n d en

D im e ns i on e n

sc ha ff t , nä m lic h zw i s ch en d e r Tr an s z en d en z u n d d e r R ea l i t ä t u n d zw i s c hen d e r g eist igen u n d d e r p sy ch o p h y s i s ch e n Di m e n si o n . -

22 6


Die Schicksalsanalys e in ep istemologischer Sicht

D a s m a g ei ge na rt i g k l in ge n u n d wid e r s pr ü c h li c h er s c hei ne n. F ü r Sz o nd i s c he in t e s jed en fall s s el b s t ver st ä nd l i ch g ew e s en zu se i n, a b e r e r g eh t mei n es Wi s s ens n ir g en d s i n s ei n em Wer k exp res si s ve r ­ bis d ar a u f e i n . W as d i e M e ß b a r k e it d e r p - F u n k ti o n b etr if ft , s o gl a u b e i ch, d a ß wi r n ic h t d i e S ein s - Mac h t a ls s o l ch e m ess en , s o n ­ d e r n d en S tä r ke gr ad i hr es « Re z e pt or s» i m Ich . I n d e r T h e or i e S z ond i s is t d i e « geistige F u n k t i o n » U r sp r u n g , k o n s t i tu i er en d e r un d i n t e gr i e r en de r Te il de s I c h s - d i e U r di me n sio n o d e r M a t r i x , a u s d e r h e r a u s si c h d i e ü bri ge n I c hf un kt i o ne n e n twi c k e ln . S tö r u n g en in d e r fr üh e n P ha se d e r U r p ar ti zi pa t io n v e ru rs a c h t

durch

en d o g en - k o n s tit u t io n el le

und

e n t s p re c he nd e

e x o ge n e B e di ngunge n - h ab e n fat al e Fo l g e n , de n n f ü r jeden we i t e­ r en se e lis c hen E n t w ic k lu ng s sc h r itt ist e i n e g eg l ück t e U r p ar t i zi p a­ tion notwendige Voraussetzung. Die ungestörte,

zipation -

primordiale Parti­

i h r li eg t f u n k t i o n al d ie p r i mä re P r oj ek ti on s fun kt i on

z u g r u n d e - ist B ed in gu ng n ic h t n u r f ü r ei ne ge su n d e Ic h e n tw ic k ­ lu n g, s o nd e r n au c h f ü r e i ne ge s und e s ee li sc he E n t w i ck l u n g ü b er ­ h a u p t . Mi ß g l ü c k t s i e a b e r u n d b l e i bt ei n e P ar ti zia tio n ss tö r u ng b e­ s te h en , s o si nd d ie V o r a u sse t z un g en g ün s tig f ü r an d e r e St ö r un g en : De pr e ssi on u n d M a n i e , S ü ch t e, Pe rv er s i o n en - sel b s t v ers t än d l i ch mi t d en je s p ezifis ch en, z us ät zl i ch en ät i o l o g i sch en u n d p a t ho g e ne ­ t i s ch e n E l e m e nt e n (vgl. T eil II, 8 ) . S z on di e r k a n n te a l s o d ie Be d e u t u n g d e r P ar t izi p at io n s f u n k­ t i on in K ra nk he it s e nt s t eh ung , T he r a pi e u n d H ei lu n g s p r o ze ß . M i t d i es e r E rw e i te ru ng d eh n t e e r d a s e n g beg ren zt e I nd ik a tio n sg e b ie t d e r Ps y c h o a n al y s e pr a kt i s ch au f d a s G e sa m tg e b ie t d e r P s y ch o p a ­ t h o lo g ie a u s u n d g a n z sp eziell a u f d a s d e r Psy c ho g e n ese u n d Ps y­ c h o p a t h o l o g i e d e r s ch iz o f o r m en I chs t ö r ung en . Ab e r a u c h die Ü be rt ra gun gs t he or ie v o n F r eu d w u r d e d u r c h S zo n di rev i d ie rt bz w . e r g ä n z t: Di e ü b er t ra ge n en I n h a l te s t a m m en ni cht

nur

aus

dem

P er s ö n l i ch e n

U nb ew uß t e n,

sondern

s ind

g r o ße nt e il s p ro j i zi ert e, u n be w u ß t e fam il iärs pezifis ch e I n h a lt e o d e r

2-2-7


Die Bedeut ung der Schicksalsanalyse

a u c h A r ch e ty p e n , w i e z. B. d e r

« A rc he ty p u s d e s H e il b rin g e rs »

n a ch A . M aed e r . W a s a b e r d i e en e rg e t i sc h- d yn am i sc he Se ite b e­ tri ff t, s o t ri t t d a s l i bi di n öse E l em en t in de n H i n t er g r u n d ge ge nü b er d e r P r oj ek t i on und d e r P ar ti zip at io n . Dies e m üss en m u t at i s mu ­ t a n d is zu sä tzli ch G e ge ns t a nd d e r A n al y se w er d e n. G a n z be so n­ d e re A u fm e rks am k e it e rf o r d e r n d ie

Ü b er rra gu ngs p rob l em e

bei

ma n i fe s t p s yc ho t i s che n Pa ti en ten , bei l at en t e n o d e r b ei G r en z p s y ­ c h o se n . E in e sp ezie ll e Pro b l e m at i k mi t u n a b s e h b a r e n F ol g ee rs c he i nun­ g en ist d i e spi r i tue l l e E n t w u rz e l u n g de s M e ns c he n, z u d e r sich mei s t a u c h ei ne f r ü h ki nd l ic h e , t r a u m a t i s c h b ed i n g t e S t ör un g d er K o n t ak tf ä h ig k e it u n d d e r Pa r tiz ip a tio ns mö g lic h ke it hi nzug ese l l t , b eid es fat al e I mp li k at io n en e i n e r eins eit igen t ec h n ok r a ti s ch e n u n d ma t e r i al i st i sc he n E nt w i c kl u ng in di e se r Z e i t . M it d e r Pa r tiz ip a ti­ o n su n f äh i g k e it fehlt au c h a l l ge mei n d i e ge istig e R e ss o u r c e , di e d e m Me n s c he n d i e Ve rlust e, B el a st u ng en un d En t t ä u sc h u n g e n d es D a ­ sei n s e r t r a g b a r m a ch en w ü r d e . Er s at z da f ü r s i nd u n t au g li ch e S ur ­ ro ga t e, ps e udo es ot er i sc he Ph a n t as te r eie n , p ar are l i gi ö s e I de ol ogi ­ e n , F l u ch t in d ie Irr eal i t ä t

und

in d en

D r o g en a b u s u s o d e r i n

a l l g em e in e s S uc h tv e rh a lt en . Vo n d e r Pa r t izi p at io n sf u n k ti o n m u ß d i e P ro j e kt i o n s fu n kt i o n unt e rs c hi e den

we r d e n .

Die

e r st er e

ist

eine

M a n i fe st a t i o n

der

p ri mä r en Pr o je kt ion . Ist s ie g e st ei ge r t , s o b es t e h t ei n H y pe r p a r tiz ip a tio n sb e dü r f nis m it N ei g u n g z u F ru st r a t i o n u n d d er en K o ns e ­ q ue n z e n. D em g eg en ü b e r s i nd di e kl i ni s che n K o r r e lat e d e r g este i­ g e r te n s e ku nd ä r en P r o je k ti o n ei n e u n k o n tr o l li er te P r o jek t io n s ten ­ d e n z mi t Fo lgen in d e r z wi s ch en men sc hl i c he n Bezi ehu n g u n d evt l . De s o z i al i si e r un g

sowie

w a h nh a f t e ,

ps yc hot i s ch e

Störungen.

W ä h r en d d ie Pa r t iz ipa t io n ( pr i mä r e Pr o je k tio n ) ver bi nde t, t r e n n t d i e ( s ek u n d är e) P r o je k ti o n .

2 28


Die Relevanz der theoretischen Voraussetzungen

3

Die R el e v a n z de r t he o r e t i s c h e n Vo r a u s s e t z u n g e n f ü r di e th e r a p e u t i s c h e P r ax i s 3.1 Ätiologie und therapeutische Indikation

Di e Vie lseit igk eit d e r t he o r e ti sc h e n Gr u nd l a g e n v o n Tr i eb p sy ch o ­ log ie u n d S c hi c ks a l sa na l ys e w i r d a l s G an z e s vielf ach g a r ni ch t b e ­ w u ß t e r k a n n t u n d b er ü ck s ic h t i g t , wo r a u s Ve r u ns ic h e r u n g u n d Ab ­ l e hn un g r es u l t ie ren . Di es ka n n

und

m u ß ü b e r w u n d e n w er d en

Sowohl-alsauch-Denkens, d. h. der integrativen Vereinigung gegensätzlicher Bedingungen. E s ex is t i er t ja ni cht n u r eine T h e r a pi em e th o de , durch eine konstruktive Verarbeitung im Sinne des

s o nd e r n es g ib t v er sc hi ed en ar t ig e M ög l ic h k e ite n e i n e r ps y c h o ­ a n al yt i s ch f u n d ie r t en u n d g e sp r ä c hs th e ra p e ut isc h e n od e r p s ch agogischen Hilfestellung

Grundlagen.

auf der Basis der schicksalsanalytischen

D e n ei gen t l i che n s eeli s chen K r an khe i te n i. e. S. s t e h t

d ie Vielfa lt d e r al l gemei n m en s ch l i c he n P r o b l em e u n d L eb en s ­ sc h w ie ri g k ei t en g ege nü b er, so d a ß ei ne n u a n c ie r te u n d b eg r ü n d b a­ re, sen

differenzielle Indikationsstellung s ch w e r e

Kr ank hei t s f äl l e

und

n o t we nd i g w i r d . D a b e i mü s­ leich te S tö r u n g en

p rinz ipiell

unt er s chi e den w e r d en , i n An a l o g i e z u m Beisp iel d e r Be griffe « m a ­ jo r» - u n d « m i n o r » -D e p r es sio n (Seidel 2 0 0 2 ) . D ie se Di f fe r en zi e­ r u n g k a nn im t ri e bp s yc hol o gi s c he n Si n n e t w a s o f o rm u l i e rt w e r ­ d e n: E nt s p re c he n d d e r E r gä n z un g sr e ihe e n do ge n e r u n d e xo g e n e r F a k t o r en l a ssen s i ch d ie s c hw e re n D e p r e ssi on e n mi t ih r er ü b e r wie ­ ge n d ko ns tit ut ion e ll en K om p on e nt e al s « m ajo r - F o r m » de u tl ic h ab g r en zen vo n d en l ei cht er e n, r ea k t i ve n o d e r s og . n e u r o t i s ch e n « m i no r -Fo r m e n» , d ie a uc h e i ne an d e r e T her ap i e n o t w en di g m a­ c h e n . Di e « m a j o r » - F o r m en t s p r i ch t d e r H e r a u s h e b u n g de s k li n i­ s ch en Sy n d ro m s d e r sc h w er e n «vi t al en D e pr es si on » d u r c h R o l a n d K u h n , d ie d a s e i ge nt l i c he u n d u rsp r üng l i c he I n d ik a t io n sg e b i e t d es v o n i h m e n t d ec k t e n A n tid ep r e ssiv um s To f ra n i l is t. Bei al l en D i f f e­ re n z i eru n g s v ers u ch e n d ar f a b e r n ic ht ver ges sen w e r d en , d a ß je d em

22 9


Die Bedeu tung der Schicksalsanalyse

Dep res s iv-Sein d e r in div idu ell -sp ez if isch e, be s ond er s st ar k e O b ­ je kt b ezu g u n d d a s sc h w e r z u v e r ar b e it en d e V erl u s t erl eb n i s z u­ g ru n d e li egen , w a s be k a nn tl ic h d u r c h d i e E T D n ac h zu w e is e n is t ( + !d ; + ! k ) (v gl. Te il I I, 8 . 1 . 8) .

Analog zu diesem Beispiel unterteile ich sämtliche psychischen Störungen: •

J e s p ezifisch er u n d s t ä r k e r e i n e

ponente,

endogen-konstitutionelle Kom­

d es t o spe zif ischer u n d w ir k u n g s v o l le r m u ß d i e T h e ­

ra pi e se in . Hi e r ist , um ü b e r h a u p t u n d i m b e s t en F a l l e in e W i r­ k u n g zu e r zi el e n, e i n e t i efer geh en d e T h er a p i e a m P l at z , sei es e i n e s pe zif isc he Ps y c h o th e r a p ie w i e e in e a k t iv e Sch ic ks al s t he­ r a p i e i. e. S., e i n e e i ge nt l i c he P sy c h o s en p sy c h o th er ap ie o d e r ei ­ n e P s y c h o p h a r m a k o t h e r a p i e . Bei s eelis ch en K r a n k h e i t e n mi t b es o nde r s de u tl ic he r k on st i t ut i one l l e r G r u n d l a g e , w ie s c h w e­ r e n p a r an o i d en P sy cho s en od e r M e l a n c h o l i e n , g i b t e s z u Be­ g i n n k ein e a nd e r e th e r a p e u ti sc h e M ö gl i c h ke i t a ls ei n e ge zie lt e an t ip s y ch o ti sc he b z w. an t i d e p re s s iv e P s y c h o p ha r m a ko t h e r a ­ p i e. D ie se s c hw er en kl i nis che n K r a n k he it e n zeigen e x em p l a ­ risch d i e ko n s tit u tio n e ll e B a sis, u n d , s o l l t e je d a r a n ge z wei f el t w e r d e n , b e s t ät i g t au ch d e r Er fol g d e r s pez ifis chen T h e r a p ie di e Di a g no s e e x j uv a nt i b u s . S ehr o f t s ind in d e r F a m i l i e n a n a mn e ­ s e kl i ni sc h e V o l l f o rm en o de r, w e n n w i r s c h i ck s a l s an al y t i s c h d e n k e n , en t s p re c he n de M a n i f e st a t i o n e n a u s d e n b e t re ffe n d en Er bk re i se n a u ff i nd b ar . - Se l bs t ve r s t än d l ic h d a r f d i e B eh an d­ l un g n i c h t au f d ie P h ar ma k ot h er ap i e b e s c h r ä n k t bl e ib en, de n n g e r ad e d u rc h si e w ir d e i ne P s y c ho th e r ap i e o f t ü b er h au pt er s t mö gl i c h. A u f g ru n d de s Sc hwe re g r a d e s d es k l i n i sc h en Bildes u n d d e r T es t re su l t a t e erfo l g t d ie D if f e r e nt ia li nd ik a ti on . H i e r w ä r e es fa l s ch , nu r au f ei ne al l g eme i ne, u n sp ez ifisc he A r t z u a r ­ b ei t en . •

Die g r o ß e G r u p p e d e r

230

,

weniger spezifizischen,

wen ig er a usg e-


Die Relevanz der t heoretischen V oraussetzungen

pr ä g te n

«minor-Formen»: Sie

k ö n n ei l viel k omp l i zi e r t er se in

u n d e i ne k om p le xe re P s y ch od yna m ik h a b e n , d ie in d e r T r ie b ­ d ia gn o st i k o f t ni c ht pr o fil iert h er vo rt r it t . D af ü r a b e r s ind d ie

persönlichen Inhalte

o f t w i cht i g er a ls d i e a p pa r e n te T ri e b­

s t r u k t u r . H ie r g e w i n n t en t w ed e r ei n ps ycho ana l yt i s c hes V or­ ge h e n o d er ei ne n u an ci er t e G e s pr äc hs t he ra pi e mi t b es o n d er em Ei n g eh en a u f d i e Pe rs o n u n d ih r e L e b en s u m s t ä n d e , v e r b u nd e n m i t ei n e r a l lg em e i ne n Un t e rs t ü t z u ng u n d A nr e gu ng o d e r Hi l fe z ur Selb s th ilfe, ein ge s ch lo s s en al le un sp ezifis ch en m e ns c hl i ­ c h en W ir k f a k to r e n , a n Be d e u tu ng .

3.2 Der Ausdruck der Persönlichkeit Szondis in seinem therapeutischen Konzept Sz o nd i verei n i gt e s ein e ur spr ün gl i ch e ko n stit ut ion e ll e D e nk w e is e mi t d e r p s y ch o g en e t is c h en T h eo r i e d e r Ps ycho an al ys e, u n d d em ­ en t s p re ch e nd v e r b a n d e r in se i ne m th e r a p e u ti sc h e n H a n d e l n a kt i ­ v e, ps yc ha go gi s c he u n d b er at e nd e E le m en te . Ü b e rd ie s b ez og e r d ie sp i ri t u e l le D i me ns i on u n t e r d em A s p ek t v o n P a r ti z ip a t io n u n d G l a u b e n s f u n k t i o n i n se i n p sy c h o the r a p e u tis c he s W el tb i l d u n d in d ie T h e r ap i e e in (vgl. 2. 8) . W ä h r e n d Sz o nd i in d e r th e or e tis c he n D ar s t el l u n g w en ig Hi l fe f ü r d i e Pr a xi s b o t , d i e G egen s ät zl i chk ei t en zu ü b e rw i n d e n , s o b e­ h er r s ch t e e r se l be r i n d e r th e r ap eu t is c h en A n w e n d u n g d e n fle­ xi b l e n E in s at z v ers ch i ed en art i g er T e c h n ik e n u n d k o n n t e s ie d en S c h ül e r n a uc h au f a n sc ha u l ic h e W eis e v er mi t t el n . W e n n m a n d i e vie lse itige Pe rs ö n l ich k ei t S z ondi s k en n t , w i rd di es o h n e w e i tere s v e r s t e h b a r: D a s i ns pir a t i v- in t u i ti ve E l em en t u n d d i e s piele ris che P h an t as iet ät ig k eit a uf d e m B o den d es b et o nt e n R eal i tät s b ezu g es ; d ie m it s c h ar f er B eo b a c ht u n g u n d r a t io n a l em V er s t and ge p a a r t e , k o n k r e t -p r a g ma t i sc h e A r t ; d ie D ir e kt he it de s Vo rg eh en s , d ie E r ­ f a h r u n g a u s m e ns c hl i che m Al l t ag u n d K l in ik ; hi n t er a l l e m a b e r e i n u r al t es , ü b er p er s ö n lic h e rs c he i n ende s , tr a d ie rt e s , so z u s a g en « in-

231


Die Bedeutu ng d er Schicksalsanalyse

s t i nk t i ves », Wi ss en u m N a t u r u n d P r o b l ema ti k d e r me nsc hl i c he n P e r so n

und

i hr er

H in te rg rü nd ig ke it . Tr o t z

d i es e r

F ä hi gke i t en

k on nt e sich S zo n d i - w i e je der - a u c h g el ege ntl ich t ä u s c h e n . U n d ni c ht s el t e n ä n de r t e e r - rela ti v a b r u p t - se i n e A ns ic ht ü b e r e in e Vor g e he ns we i s e . Sz o nd i k ri t is i er t e e i n e allzu g r o ß e Pa ss i vi tä t in d e r T h e r a p i e. U nt er Ak ti v itä t ve rs t a nd e r a b e r n ic ht n ur s ei n e ak t iv en T he r a pi e ­ va r i an te n i. e. S., s o n d e r n a u c h ei n a kt i ves V e r ha lt e n i m v e rs te h e n d i n t e r pr e t a t i v en so w i e im k o n f r o n ti er e n d en Si nn . S o k o n n t e e r i n s eh r d i rek t i v er W eise - of t a u c h r e c h t massiv - in d e n t he r a p e ut i ­ s ch en P r o z eß e i ngr e i f e n: a n re g e n d u n d e r k l ä r e nd , S t el l u n g be zie­ h en d, d an n a b e r a uc h au f f o r de r nd u n d a k t i v f üh r e nd . Er k e n n u n g u n d A r tik u lie r u n g d e r S tr uk tu r e i ner P a tie n te n pe r s ön l ic hk e it u n d d e r in ih r w i rk e n d e n P a t h o m ec h an is m en h a t t e n ei n en w ic h tig en St el l e nw ert . Sie w a r e n a u c h ei ne F o r m d e r e r w ä h n t e n - m a n k ö n n ­ te sagen «rationalen» - Aktivität, die versucht, speditiv eine

tionale Diagnose und

funk­

o d e r ein e nt sp r e c he n d e s Mo d e l l zu f o r mu li er e n

al s Bas is fü r ei n

kausaltherapeutisches Vorgehen

zu

ent­

w ic ke l n. Die s ist e be ns o t ypi sc h fü r Sz on d i s P er s ö n l i ch k e i t w i e f ü r d i e Vo r ge he n sw e i se in d e r M e d i z i n : ät io p at h o g en et is ch e s W i s s e n u n d en t s p r ec h en d es ka u sa lt he r a pe u tisc h e s E i ngr e i f e n. De r e r w ä h n t e n

Ak t iv it ät en s p r ec h en d

W e rt a uf d i e Au fs t el l u n g e i ne s

legte Sz o nd i g r o ß en

Therapieplanes,

d . h. d e r A rt i k u l ie­

r un g de s Vo rg e h en s au f g r un d d e r f u n kt io n a l- d ia g n o st isc h e n V or ­ a u s se t z u n g e n .

3.3 Zur Frage der Aktivität in der schicksalsanalytischen Therapie W en n m a n v er s u c h t, d ie Un v e r e in b a r k e ite n, w i e z. B. d i e p as s iv e S ch i cks al sa n al ys e u n d i hre a kt i ve n V a r ia n te n , zu ve r st e he n, s t ö ß t m a n in d e r th er a p eu t i s ch e n P r a xis i mm er wi ed er au f d en sc h e i n b a r ka t eg or is che n W id e rs p ru ch z wi sc h e n b e i de n , w i e e r v er gle ich s wei-

232


Die Relevanz der theoretischen Voraussetzungen

se w ä hr e nd J a h r z e h n t e n zw i s c hen d e r t o n a n ge b e n d e n P s y ch o a n a­ lys e u n d teil w eise au c h d e r d ase i ns an al y t i sc he n H a l t u ng he r r sch t e, w e l ch e d a s a k t iv e u n d d i r ek t i ve E l em en t in d e r T he r a pi e fü r u n zu l äs s i g hi el t en. D o c h g er a d e di ese s «E ing r eife n » i n d e r s ch i ck ­ s al s a n a l y t i s ch e n T he r ap i e s t ie ß - u n d s t ö ß t a u c h h eu t e no c h — bei vielen a uf ei n en s ta r k e n , z . T . e m o t i o n al e n W i d e r s t a n d . E s w ur de i m Ve r l auf d e r Ja h r e i m m e r w i ed er d i s k u tie r t, ja a b g el eh n t , w ei l e s d e m D e nk e n u n d d e r T e c h n ik d e r P sy ch oa na l yse u n d a u ch v ielen a n d e r e n T h er ap i ea u f f as s u n g e n zu w id e r l äu f t . D a ß s i ch i n d i es e m P ro bl e m K o nt r ad i kt or i s ch es ä u ß er t , ist e vi d e nt , a b e r ge r a de d a ri n li e gt ja a u c h ei n e B eg r ü n d u n g f ü r d ie a k ti v e H a l t u ng S zo n d is . A l s V e r st ä n dn is gr u n dl a g e da f ü r m u ß m an si c h i m m er w ied er vo r A u ­ g e n ha l t en , d a ß e r v ers u c h t e, d i e ko n s tit ut io n e lle n E l e me nt e a u c h i m th e r ap eu t is c h en D e n ke n z u b er ü ck s ic h t i gen (vgl. T eil II, 2. 3 u n d 3 . 2 ) . Di esb ez ü gl i c h ist

es

n o t wen d i g , i m m e r w i e d er au f d a s F r ü h ­

w e r k S zo n d i s z urü c kz ugr e i fe n, d a s s e i n en A n fa ng in N e u r o e n d o k ri n ol o gi e , K o n s t it u t io n s f o r s ch u n g u n d G e ne t ik h at , d e r g a n ze n E nt w i c k l un g z ugr undel i egt u n d di ese m a ß g e bl ic h pr ä gt e . So s p r ac h S zo nd i d a m a ls vo n d e r « E rz i e hu ng d e r T r ie b e », in d e r Tr i eb p at h o l o g ie ( 1 95 2 , 1 3 ) vo n d e r « E rz i e hu ng u n d B e h an d ­ l u n g d e r T r i eb e » (e in T h e m a , zu d em e r ei n B uc h zu ver f ass en g e ­ da c h t e) u n d v on d e r «T ri e b u m fo r mu n g d u r c h d i e Er zi e hung » ( Bür gi 2 0 0 0 ) . Z w a r k l in ge n di e se F o rm ul ie ru ng en et w as ei g en art i g , u n d d o c h we r d e n sie i mm e r a kt ue l l e r. Sz o nd i u n t er sc h ie d « p r o ­ g r a m m a t i sc h d i e A u f ga b e n u n d F or s chu ngs be re i che » u n d s tell te fe st: « . . . F ü r ei n e g an zh ei t l ich e H e il p ä da g o gi k u n d P äd ag o g ik , d ie g le i c h e r m a ß e n l e rn p sy ch o l o g is c he u n d erz i eh u n g s re l ev an t e so w ie b io l o g i sch -o rg an is mi s ch e Ber eich e d e r Ges am t p er sö n l ich k ei t b e­ rü c ks i ch t i g t , b i l den bi ol o gi sc he V or gä ng e, n äm li ch d ie T r ie b e , de n G e g e n s t a n d d e r E rz i ehu ng» ( Bü rg i 2 0 0 0 ) . Sein e d am al ig e Zie l se t ­ zu ng a m H e il p äd ag o g is ch e n L a b o r a t o r i u m w a r : « D i e H e i l p ä d a g o ­ g i k is t n ic h t n u r d i e k or r ig ie r e nd e P ä da g og ik d e r v e r k ü m me r t e n

233


Die Bedeu tung der Schicksalsanalyse

F ä h ig k e it e n , so n d e r n vi e l m eh r d ie e in he i t li ch e, mi t p ä d a g o g i sc h en , m ed i z i n is ch en ,

ju ridis ch -s ozialen

u n d r e l igi ös- et hi sc hen M i t t el n

a r be i t e n de Dis zip lin zu r H e i l u n g d e r v e r k ü m m e rt e n G es am t p er ­ s ön l i c hk e i t e n» (K ro ne nb e rg 1 9 9 8 ) . Di es er a u s d e r fr ü h e n k i n de r ­ p s y ch i at ri s ch e n F o rs c hu n gs z e it Sz o nd is st a mm e n d e Begriff m ut ie r t i n d e r W e it e r e n tw ic k lu n g d e s We rk es z ur ei g en t li ch en Sc hi c ksa l s ­ a na l ys e , z u m viel al l ge me i ne re n K o n s ti tu ti o n sv er s t än d n i s im S in ne d e r he re di tä re n, i ndi vi d uel l sp ezifischen T r i eb s t r u kt ur u n d d e r I n­ halte

de s Fa mil iä r en

U nb e w uß t en .

In

d i e se m

Z u s a m m e nh a n g

k ö n nt e m a n mi t kl ei ne n Ei n sc h r ä n k u n g e n P s y ch o t h er a p i e an s t el l e vo n H e i lp ä da go gi k s et z e n u n d in e in e r p s y c h ag o g i s ch o r ie n t ie r t e n Ps y c h o th e r a p i e - n eb en d e r Au f g ab e d e r B e w uß t m ac h un g - a u ch wes en t li c h d a s Pr inz i p d es O p e ro t r o p i s m u s so w i e ei ne n spezif i­ sc he n le rn t he r a p e ut is c h e n An s a t z ei n f ü h r e n . D a mi t so l l t e n u n a u c h d ie a lt e F r a ge d es s ch i ck s al sa n al y t is ch en Th e r a p ie v e r s tä n d n is s e s e i n e K l ä r u n g er f a h r e n : Die w ä h re n d Ja h r ze h n t e n a uf d e r P r ä do mi ­ na n z d e r kl ass i sc hen Ps yc hoa na l ys e g r ü n de n d e, einse itig e x o g e n­ t r au m at i sc h e A uf f a s su n g - d ie s o g a r in d e r P s yc h i a t r i e w ä h re n d lä n g er er Z e it ( in d e n 5 0 e r u n d 6 0e r J a h r e n) b is i n d e n Be re ich d e r Ps y c ho se n th e r a pi e hi n e i n v e r tr e te n w u r d e - mu ß t e r e l at i vi e r t w e r ­ d e n . D a s g esc ha h eine ste ils d u r c h d a s W e rk S z on di s, a n de r nt e i l s a b e r a u c h du r c h d ie m o d e rn e b i o c he mi s c he P s y ch o se nf o r s ch u n g d e r Bio lo gis ch en Ps y ch i at ri e. F ü r d i e pr a kt i s che P s y c h o t h e r a p ie a b e r g i b t u n s Sz o n d i di e M ö g l ich k e ite n in d ie H a n d , d i e vo r a l l e m a u f s e i n F r ü hw er k z ur ü ck g e he n u n d di e , n a c h e i n e r l än g er e n , st a r k p syc ho a na l yt i sc h or ie nt i er te n mi ttle r e n S c haf fe ns p has e , i n s ei n em S pä t w er k wi ed er st a r k a n Be d e u t u n g g e wi n ne n . Fü r u ns g il t es h e u ­ te ,

ei n

me th od isc h -t e ch ni sc he s

« So w o h l- a l s- a u c h- D e n k e n »

zu

pf leg en, in d em ps yc ho a na l y t i sc h es D en ke n u n d H a n de l n au f e i ne r a l l ge m e i n t iefen ps y ch ol o g i schen Bas is mi t psy cha go gi sc h- l e rnt her ap eu t is ch em V o r ge he n in e i ne n pr a kt i ka b l e n K o ns e ns g e b r a c h t we r d en .

234


Die Relevanz der theoretischen Voraussetzungen

E s w u r d e be re i ts e r w ä h n t , d a ß Sz o ndi z u Be g inn s ei n er Fo r­ s ch u n g m i t d em k o n st itu t io ne l le n Fa k to r ko n fr o nt ie r t war u n d e r s t i m Ve r l a uf e d e r En t w i c k l u n g d e r eige nt l i che n S ch i cks al sa n al ys e vo n d e r Ko n s ti tu ti o n sp s y c h ia t r ie z u r Ps yc ho a na l ys e, d . h. zu e in e r V er bi nd un g d e r b eid en k a m . J ed en fal l s ge nü gt d a s p sy c ho a n a ly ti­ sc he Z ie l d e r B e w uß t m ac h un g v e r d r ä n g te r I n h al t e u n d d e r ve r­ d r än g en d en In s t a n z ni c ht , u m I n h al t e a u s d e m wu ß t e n

b e w u ßt

zu

machen

und

in

d en

Familiären

G rif f

zu

Unbe­

b ek o mm e n.

W ä h r e n d d ie er s t e Pro b l e m at i k in d e n B er eic h d es Pe rs ö n l i ch en U nb ew uß t e n ge hö r t ( r e i ne T ri e b ge f ah re n ), s o ist d ie zw ei t e n a c h d e r s ch i c ks a l san a l yt i s ch en T h eo r i e ein e pa th o lo gis c he M a ni fe s t a ­ t io n a u s d e m

Familiären

Un b e w u ß t e n : die p a t h o g e n e n G en o t y p e n .

Sie h a t e i n e w eit g r ö ß er e k r a n k m a c he n d e B e de u tu ng . D ie a bg e ­ w e h r t e n I n h al t e au s d i e se m B ereic h k ö nn e n n ic h t d i r e k t e r i n n e rt w e r d en , s on d er n er s t na c h

aktiver

Pr o v o k a t i o n d u r c h Erl e b en l as ­

s e n i m Ag i er e n (vgl. Teil I II, 3 . 4) . H i e r s tell t sic h d i e g r u n d s ätz li ch e F r ag e, ob m a n ü b e rh a u p t a u f di e se Weis e a r b ei te n will u n d o b m an d ie T h e o r i e d e r la t e nt e n p a t h o g en en Ge n o t y p e n e r n st ni m m t. D i e ­ s e eigen tlic h e s ch i ck s al s an al yt i sc he T h er ap i e i. e . S. m u ß he ut e e r­ we i te r t u n d e rg ä n z t w e r de n .

3.4 Zur Frage der therapeutischen Beeinflußbarkeit A uf d ie F r a g e d e r Ve rä n d er ba r ke i t g e h t d a s M i ß b eh ag e n i n B ezug au f d i e P r o b l eme d e r sc hi c ksa l st her a pe ut i sc he n T e ch ni k zu r ü ck , u n d , m e h r n o c h , d ie F r a g e d a n a c h , w as ü b e r h a u p t ps y c hot h er a­ pe ut i s ch v er än d er b a r se i u n d wa s n ic h t (vgl. 2. 7 ) . M it d i es em Pr o ­ b l em is t d i e th e r ap eu t is ch e H a l t u n g ve r qui c k t . Es d a rf u n d m u ß wo hl e r w ä h n t w er d e n , d a ß S z o n d i se l b er i n di e se r p rin zip iellen Fr a g e d e r t he ra pe ut is che n B ee i nf l ußb a r ke i t ni ch t i m m er s i ch er w a r , ja o f t so g a r se i n e M e i n u n g ä n d e r t e . S o k o n tr a s t i e rt e se i n e Ä uß er u ng « m a n k a n n se in e K o ns t it u t i o n ä n d e r n» o d e r « m a n k a n n s ein Ic h a u fb a u e n » m it ei n e m a nd er e rs ei t s o f t s eh r k rit isch -p es s i­

235


Die Bedeu tung der Schicksalsanalyse

m i st i sc he n D e nk en bei d e r pr o gn os tis c he n E in s chä t zu ng g ewi s ser P at i en t en . Dies e M e i n u n g ve rt ra t e r g a n z sp eziell in Bezu g a uf di e P s yc ho sen psy ch ot h er a pi e -Ä ra d e r 50 er u n d 6 0 e r Ja h re . Un t e r H i n ­ w ei s au f d ie S c h wä ch e de s p s yc ho t i s che n I ch s u n d d i e S ch wi e r i g­ k e it, e s p sy c h o th e r a p e u ti sc h d ef init iv a u f z ub a u e n, w a r e r d ie se n B e m üh un ge n g eg en ü b er ä u ß e r s t sk ep t i sc h. Di es e B eu rt ei l u n g h a t z w a r ih r e Be r e c ht i gu ng , a b e r sie ist zu k a te g or is c h u n d m u ß d iff e­ re n z ie r t w e r d en . M an d ar f n ic h t ve rh e hl e n, d a ß S z on di b ei a ll er G en ia l i tä t sei nes W er k es in p r a k ti s ch - t h er ap eu ti s ch er H i n si c h t e r­ g ä n z t w e rd en mu ß . W e n n wi r s e i ne so u ve r ä n e f un kt i o na l - di a g no ­ s t is ch e S ch a u voll a ne r k e n ne n , so m ü s s en wi r d o c h s e in e al l zu kr i ­ t is c he

A p o st ro p h i e r u n g d e r

Ps yc h o se np s yc h ot he r a p ie

ab le hne n

u n t e r d e m Hi n w e is z. B. a uf d i e t h er ap eu ti sc h e H a l t u n g v o n Ga e t a n o B ene dett i ( 19 6 4 , 1 9 7 5 , 1 9 7 6 ) . Eigen tl ic h m ü ßt en d i es e v er­ s ch i ed en a rt i g en th er ap eu t is ch en E i ns t el lu n g en z u s a m me n g e f ü h rt we r d en .

3.5

Zur Praxis der ETD

W ä h r e n d u n s i n d e r Pr a x is T e stt a bl ea u s b ege gne n, d i e p r im a vista e in d eu tig e H i n wei s e a u f ei ne p r o b l e m a t isc he Tr i e b d y n a mi k geb en , s o se he n w ir a u c h Tr ie b pr o f i l e, d i e v or e rs t w e n i g A u ss ag e k r af t h a ­ b e n . M a n k ö n n te d a d u r c h e n t m u t i g t se in , ja a m Si nn d e r T r ie b d ia ­ g n o s t i k z we i fel n. D en no c h e r öf f n e n s o l ch e Tes t s E i nb l i ck e, w e n n m a n si e m i t d e r K r a nke n ge sc hi ch t e u nd d e r p er s önl ic he n L eb en s ­ g e sc h i ch t e, de r F a m il ie n a n a m n e se , de r k li nisc h en P hä n om e n o lo g ie so w ie m i t s pe zif isc he n In ha l t e n de s t h e r ap e u t is c h en G e sp rä c h s k o r r el ie r t. Dies e D a t e n e rö ff n en of t ei n e I n t er p r et at io n s m ö g l ich ­ k ei t vo n zu v or vö ll ig u nv er s t e hb ar s c h e in e n d e n T es tt ab l ea u s.

3.6

Genotypus, Triebstruktur und Psychotherapie

E s ist ei n g r o ße r I r r tu m z u me in en , d i e T r i e bs t r uk t u r ei ne s M e n­ s c he n

könne

136

p sy c h o th e r a p e u ti sc h

v e rä n d e r t

w er d en .

Zw eie rl ei


Die Relevanz der theoretischen Voraussetzungen

M o t i v at i o n e n li eg en so lc h e n Vo r st el l un ge n zu gr un de : i . Di e m an ­ g el n de An e r ke nn un g d e r e n o r m en D u rc hs c hl ag s kra ft u n d ho h e n A u to n o mie ge ne t i sc he r D et e r m i n a nt e n . 2 . D ie f eh l en d e U n te r ­ s c he id un g zw i s c hen Tr i e b s t r u k t u r u n d G es a mtp er s ö n l ic h k ei t. Be i d e r e n A u f b a u h a t d i e b as al e ind ivi du el le T r i eb st r u k t u r z wa r ein e n m e h r o d e r w en ig er s t a r k en Ei nf l u ß, a b e r s chl i eßl i ch w ir d s ie eb en f al l s i n i n di vi due l l v ers ch i e den em A u s m aß - v o n d e r S u mm e al l er ex og e ne n D e t e rm i n a n t e n a u fg e b a u t ( vg l. 2 . 4 ). N u r di ese h ö h e r e G e s am tp er s önl i chk ei t k a n n i m gü n sti ge n F al l ü b e r h a u p t p s y ch o th er a p eu tis ch v e rä n d e rt w er d en . N u r si e k a n n d u r c h Bew u ßt w e r du n g u n d Ei n s i ch t , S el bst kr i ti k u n d K o n tr o l le , Üb u n g u n d K on s eq ue nz , u n t e r Berü ck s i ch t ig u ng al l er o p e r o t r o p i s ti s ch en M ög l ic h ke it e n, be e i nf l ußt w er d en . D o c h d a d u rc h w i r d d ie Tr ie b ­ s t r u k t u r a l s so lch e ni cht ve r ä nd e rt . N u r p s y c h o ph a r m a k o th e r a p eu t is ch e Ei ngr i ff e k ö n n e n d i e T ri e bs p hä re b ee inf lu ss en , ab e r a u c h s i e wi r k e n n u r a u f n eu r o b i o ch em is ch e Sy s t em e, n ic ht a b e r au f d i e d i ese n z u g r u n d e l i e ge nd e n G e n ot yp e n . P sy c h o t he r a p e u tis c h ist e s im be s t en F a l l mö gl i c h, l a t e nt e ge n e t isc h e Pr o g r a m me z u ak t iv ie ­ r en od e r d ur ch b e w u ß t e Ü b u n g ei n e U m p o l ar i s ie r u n g ei nz el ne r T r i eb s t r eb u n g e n zu e r r e ic h en , s o w i e ich e s a n a nd e rr n O r t vo r ge ­ s c hl a g e n h a b e (Seidel 2 0 0 2 ) .

3.7

Zur Partizipationsfunktion als Wirkfaktor in der Therapie

D ie P a r t iz ip at i ons f unkt i on d ar f n ic h t al s u n sp ezif isch er W i r k f a k ­ t o r sc hl e c ht h i n be z e i c hn e t w e rd e n , g a n z i m G egen t ei l : si e ist ein ho c h sp ezi fisc h es t he r ap eu t is ch es E le m e n t. S zo n d i sc h r eib t d e m P art i zi pa t io ns a ng eb ot vo r a l l em in d e r T he r a pi e e i n e al l gem ei ne u n d ei gent l i che H e i l w i rk u n g z u ; ja e r g e h t so w ei t zu s a g e n : « Ni c h t d ie T e c h ni k he il t , s on d er n di e z wi s ch e n m en s c h l i ch e B e z i ehu ng z wi s c he n

dem

A n al y s i e rt en

und

dem

T h er ap e ut en . »

(S zo nd i

1 9 63 a ) . Die spi ri t ue l l e D im en s io n ist ei n e R e ss ou r c e f ü r d en M e n sc h e n

23 7


Die Bedeu tung der Schicksalsanalyse

in größter Not. Die Erfahrung zeigt, daß es Zustände gibt, seien sie nun als krankhaft zu bezeichnen oder nicht - Grenzsituationen im Sinne der «condition humaine» - in denen letzlich jeglicher Thera­ pieversuch versagt. Das therapeutische Denken muß auch auf die geistige Dimension und auf die Beziehung des Einzelnen zu ihr er­ weitert werden (vgl. z.8 ).

4

V e r m i t t lu n g , Re z e p t i o n u n d Ve r s t ä n d n i s d e r S ch i c k s a l s a n a l y s e 4.1 Die Stellung der Schicksalsanalyse in der psycho­ therapeutisch-psychiatrischen Szene

Anfangs hatte eine kleine Gruppe von Schülern Szondis der ersten Generation Theorie und Praxis der Schicksalsanalyse noch aus er­ ster Hand übernommen. Das änderte sich jedoch, und die Zeit ging genau so über diese Gruppe hinweg, wie sie auch die gesamte The­ rapieszene veränderte. Während noch bis in d ie 60er Jahre hinein - v.a. hier in Zürich - die klassische Psychoanalyse, die Analytische Psychologie C.G.Jungs und die Daseinsanalyse Boss'scher Prägung quasi eine Monopolstellung inne hatten, kamen dann in rascher Folge neue Therapiemethoden oder alternative Denkweisen auf. Esoterische - oft auch pseudoesoterische - Anschauungen gewan­ nen immer mehr an Boden, Positionen, die sich wie Welten ge­ genüberstanden, sich auf die Repräsentanten der Schicksalsanaly­ se auswirkten und zu Unsicherheiten in der therapeutischen Auffassung führten. Zu groß waren die Unterschiede in Grundhal­ tung und Denken der einzelnen Richtungen, als daß es zu einem Konsens hätte kommen können: Die straff verbindliche, grund­ sätzlich versagende und passive Haltung der klassischen Psycho­ analyse gegenüber der Daseinsanalyse von Boss mit ihrer weitge238


Vermittlung, Rezeption und Verständnis der Schicksalsanalyse

hend perinissiven Haltung, die daseinsanalytische Auffassung von L.Binswanger mit ihrer Abkehr von den mechanistischen pathoge­ netischen Konstrukten Freuds und seiner Metapsychologie und schließlich di e Analytische Psychologie C.G. Jungs mit ihrer fina­ len Denkweise und transzendent-religiösen Orientierung schlossen sich in den Augen vieler aus. Interessenten und Ausbildungskandi­ daten mit einer bestimmten Denkart wurden von diesen Schulen selektiv angezogen, so daß sich eine Perpetuierung und Verstär­ kung der je schu leigenen «Philosophien» ergab, wie dies schon Grawe vermerkt h at (Grawe 1994). Dies ist u m so bedauerlicher, als die Schicksalsanalyse die einzige Schule ist, die neben dem tie­ fenpsychologischen auch den erbgenetischen Aspekt systematisch einbezieht, während dieser in der allgemeinen Psychologie kaum Beachtung findet. 4.2 Ausbildungsprobleme im Kreise der Schicksalsanalytiker In ihrer umfassenden Theorie liegt d as Besondere der Schicksals­ analyse, aber auch ihr großes Problem. Wird sie wirklich verstan­ den - in den eigenen Reihen wie auch von Aussenstehenden? Es muß angenommen werden, daß dem nicht so ist, werden doch nicht selten wesentliche Grundpfeiler der schicksalsanalytischen Theorie, wie ihre erbgenetische Basis und spezielle Familienfor­ schung sowie die ETD, in Frage gestellt oder überhaupt nicht mehr berücksichtigt. Schwierigkeiten entsprangen auch einer kritischen Haltung weiter Kreise gegenüber der funktionalen, als mechani­ stisch und deterministisch apostrophierten Denkweise der Trieb­ psychologie. Dies ist u.a. auch darin begründet, daß, oft sogar zugegebenermaßen, die Werke Szondis überhaupt nicht mehr gele­ sen werden. Die Ausklammerung des erbgenetischen Faktors wird hier jedoch weder durch Argumente begründet noch sachlich dis­ kutiert noch zum Gegenstand systematischer, wissenschaftlicher Untersuchungen gemacht, um so mehr noch, als ja in der allgemei­ 2-39


Die Bedeut ung der Schicksalsanalyse

nen Psychotherapie die erbgenetische Ätiologie ebenfalls vernach­ lässigt wird. Das hat seine Konsequenzen für die Therapie. Solche Vorstellungen entspringen einem allgemein menschlichen Kausal­ bedürfnis, das sich ganz besonders in der Suche nach exogenen Ursachen befriedigt, verstärkt noch durch die ebenfalls exogen­ traumatische Auffassung der Psychoanalyse wie auch der meisten anderen psychotherapeutischen Schulen. Die allgemeine Vernach­ lässigung des erbgenetischen Elements ist eine Problematik, die schon zu Szondis Lebzeiten zur Diskussion stand und sich auch in der Entwicklung der SGST und des Szondi-Instituts in den letzten 20 Jahren niederschlug. Daß sich unter den vorerwähnten Umständen und in Anbe­ tracht der komplexen Materie schwerlich eine einheitliche Ausbil­ dung vermitteln ließ, ist selbstverständlich - um so mehr, als es nicht nur um die Integration der wichtigen Tiefenpsychologischen Schulen ging, eines der zentralen Anliegen Szondis, sondern um die Koexistenz verschiedener therapeutischer Grundhaltungen ganz allgemein. Diese standen sich damals nicht nur wegen ihrer techni­ schen Unterschiede, sondern vielmehr wegen ihrer grundsätzlich unterschiedlichen, unvereinbaren psychotherapeutischen Haltung und den darunterliegenden «Philosophien» gegenüber. Sie zu inte­ grieren war ein Ding der Unmöglichkeit, jedenfalls in einem Schul­ betrieb, in dem mit größter Konzilianz auf jede Meinung Rücksicht genommen wurde. Ganz abgesehen von all de m ist der Studieren­ de auch überfordert, gleichzeitig verschiedenste Theorien und die entsprechenden Techniken à fo nd kennenzulernen und sich zudem in der allgemeinen Therapieszene zurecht zu finden. T heoretisch war Szondi in der Ich-Analyse (1956a) die Integration zwar gelun­ gen, jedoch nicht in der Ausbildungspraxis. Er selbst war in seinem hohen Alter diesen praktischen und schultechnischen Aufgaben nicht mehr gewachsen. Gleichzeitig war er aber überzeugt davon, daß sich die Schicksalsanalyse auf die Dauer ohnehin durchsetzen, 24 0


Vermittlung, Rezeption und Ver ständnis der Schicksalsanalyse

ja noch mehr, daß sich seine Idee der Integration der Tiefenpsy­ chologischen Schulen früher oder später verwirklichen würde. Da­ mit aber unterschätzte er die Schwierigkeiten, die sich s chon seit langem eingestellt hatten, die jedoch nie kritisch und konsequent angegangen wurden. Während Szondi e inen therapeutischen «modus procedendi» gefunden und publiziert hatte und diesen auch selbst p raktizierte, war es um die Weitergabe dieser stark von seiner Persönlichkeit ge­ prägten Art des Vorgehens weniger gut bestellt. Für denjenigen, der das Glück hatte, die typische persönliche Art des Denkens und Handelns von Szondi live mitzuerleben, war es leichter, seine theo­ retischen Arbeiten zu verstehen, die oft als Widersprüchlichkeiten erscheinende Vielseitigkeit zu akzeptieren und damit auch in der Praxis besser zurecht zu kommen. Ohne diese Verständnishilfe mußte während der kritischen Jahre in d er SGST und im SzondiInstitut vieles unverstehbar bleiben, zu Zwist und chronischem Un­ behagen führen, was die an sich schon bestehende Tendenz vieler, bei anderen Schulen u nd Methoden Zuflucht zu suchen und dabei das schicksalsanalytische Denken völlig auszuklammern, nur noch verstärkte. So geschah es, daß von verschiedenen Mitgliedern ganz andersartige therapeutische Möglichkeiten in ihr Repertoire aufge­ nommen wurden, wobei ein breites Spektrum entstand, das von der engen, exklusiven Verpflichtung zur Psychoanalyse bis zu ver­ schiedenartigsten alternativen Methoden reichte, deren Anteile oft in eklektizistischer Weise zusammengewürfelt wurden, was alles andere als integrativ ist (Seidel 1999). Die Verbindung zur schick­ salsanalytischen Basis wurde dabei oftmals aufgegeben. Diese Ent­ wicklung fand Ausdruck nicht nur in vehementen Meinungsäuße­ rungen, sondern ist auch repräsentiert in einem bunten Spektrum von Artikeln in der Szondiana - an sich eine positive Vielfalt, die aber leider kaum zu einem gegenseitigen Verständnis und schon gar nicht zu einer Integration führte. 2.41


Die Bedeu tung der Schicksalsanalyse

4-3 Schlußwort Auf der Grundlage der verschiedenartigen Paradigmen baute Szondi eine systematische theoretische Psychologie und Psychopatholo­ gie auf, mit der man praktisch arbeiten kann - diagnostisch und therapeutisch. Sein Werk hat also nicht nur epistemologische, d.h. allgemein erkenntnisbezogene, sondern auch ganz lebensnahe, praktische Bedeutung. Diese darf jedoch nicht auf den einseitig-en­ gen Rahmen einer therapeutischen Technologie oder Praxeologie reduziert werden, welche von sekundärer Natur sind. Primär ist das neue, schicksalsanalytische Menschen- und Krankheitsver­ ständnis sowie die allgemeine Persönlichkeitstheorie und Krank­ heitslehre, auf deren Basis eigentlich jede Art von Psychotherapie eingesetzt iverden kann: psychoanalytisch fundierte oder aber ein­ fache Gesprächstherapie und Psychagogik, Kurztherapie und all­ gemeine Lebenshilfe, alle aber gründend auf dem Wissen um das triebpsychologische Fundament, um die Persönlichkeit und genaue Art ihrer Problematik oder Störung. Die Kunst in der Psychothe­ rapie ist es, dies dem Patienten verstehbar zu machen und ihm We­ ge zu zeigen, wie er mit seinen Problemen bewußt umgehen kann. Voraussetzung für ein «kausaltherapeutisches» Vorgehen ist ein schicksalsanalytisch-triebpsychologisches Grundverständnis, wodurch sich auch eine fachkundige Therapie von menschlicher Naivhilfe unterscheidet. Im Ablauf der Einzeltherapie - spätestens bei deren Nichtgeiingen - erweist es sich, welche Gegebenheiten oder Mechanismen veränderbar sind und welche nicht. Es gibt aber auch Parameter, die schon frühzeitig Hinweise auf diese Fra­ ge geben. In diesem Zusammenhang müssen auch konstellative, systemische Aspekte berücksichtigt werden. So kann eine Verän­ derung in der psychosozialen Konstellation, speziell in der Part­ nerschaft, evtl. durch Einbeziehung des Partners in die Therapie erst zur Besserung führen. Sicherlich aber widersprechen sich ei ne psychoanalytische Grundhaltung und deren eventuell modifizierte 2.42


Vermittlung, Rezeption und Ve rständnis d er Schicksalsanalyse

Technik und die Schicksalsanalyse keineswegs. Wesentlich ist e s, auch zu erkennen und zu akzeptieren, daß es Störungen bzw. deren konstitutionelle Grundlagen gibt, die weder psychoanalytisch noch durch eine andere Psychotherapie behandelt werden können. Anstatt in einen therapeutischen Nihilismus zu verfallen, kann man einem Menschen auch helfen, seine Konstitution zu akzeptie­ ren und einen Modus vivendi zu finden.

243



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Das Manual vermittelt einen Einblick in die Praxis d e r s c h i c k sa l s a n a l y t i s c h e n T h er a p i e . Das Buch richtet sich an Psychotherapeuten/Psy­ chotherapeutinnen, Psychologen/Psychologinnen, Ärzte/Ärtztinnen und interessierte Laien.

Stiftung Szondi-Institut Krähbühlstrasse 30 • CH-8044 Zürich ISBN 3-9520598-8-9


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