Das Innenleben der Musik von
Mathes Seidl
ŠMathes Seidl 2011
Inhalt
Vorwort
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Im musikalischen Raum
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- Ursprüngliche Lebendigkeit, Urmenschliches, letzte Tiefen des Lebendigen: Georg Groddeck, Wilhelm Reich - Energetik: Ernst Kurth - Exkurs: Focusing - Vom Körpergefühl zur Bedeutung - Hören, In-Resonanz-Sein - Musikwerdung als personaler Prozess - Persönliche Musik
Leopold Szondis Schicksalsanalyse
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- Die acht elementaren Kräfte der Schicksalspsychologie von Leopold Szondi - Anthropologische Faktoren, Lebenswelt und Musik o Geborgenheit o Veränderung o Liebe o Tod o Ethos o Moral o Geist o Materie
Wo sind wir wenn wir in der Musik sind?
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Heilsame Wirkungen
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Literaturverzeichnis
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Dank/Biographische Notiz
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Vorwort Dieses Buch stellt den Versuch dar, das Musikalische nicht, wie meistens der Fall, von den objektiven Strukturen ausgehend, sondern vom persönlich-individuellen Erleben beziehungsweise der subjektiven Wirklichkeit herkommend zu bestimmen. An den Anfang stelle ich die Frage, wo wir in der Welt sind, wenn wir in der Musik sind. Um darauf zu antworten, ziehe ich Konzepte heran, die einerseits meiner persönlichen inneren Erfahrung entsprechen, die andrerseits aber auch allgemein-verbindlichere Zusammenhänge von leiblicher Resonanzfähigkeit des Menschen auf die ihn umgebende Welt und musikalischen Strukturen aufzeigen. Auf diese Weise erscheint Musik schliesslich als Erweiterung des Menschlichen. Energetik ist das zentrale und verbindende Stichwort für das vorliegende Buch: Der Musiktheoretiker Ernst Kurth hat in den dreissiger Jahren eine musikalische Energetik entwickelt, die auf der menschlichen Fähigkeit zu leiblich- resonanzhaftem Hören und Erleben beruht. In dieser Fähigkeit sah Kurth die Grundlage der Musik. Die musikalischen Strukturen sind der Niederschlag der Wirksamkeit psychischer Funktionen, die aufgrund leiblicher Resonanz ins Spiel kommen. Mit einem hochgradig differenzierten anthropologisch-energetischen System hat der ungarisch-schweizerische Psychologe Leopold Szondi versucht, diejenigen elementaren psychischen Funktionen zu benennen, die in unserem Erleben den Zusammenhang von Mensch und Welt stiften. Die Zusammenschau musikalischer Strukturen mit den anthropologischen Strukturen Szondis ermöglicht schliesslich sowohl eine ©Mathes Seidl 2011
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vorwiegend individuelle als auch allgemeinere Verbindung von Mensch und Musik. So wird sichtbar, welche unterschiedlichen Welterfahrungen für uns durch Musik (Musizieren und Hören), möglich werden. Ja, es lassen sich sogar Überlegungen anstellen, welche bestimmte Musik auf unsere individuelle Befindlichkeit heilsamen Einfluss ausüben kann. Mathes Seidl, Zürich, August 2011
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Im musikalischen Raum
„Clara Haskil hatte Mühe sich zu erheben. Wie mit letzter Kraft hielt sie sich am Rand des Flügels fest, senkte leicht den Kopf, lächelte. Sie schien von weither zu kommen, aus einer anderen Welt. In dieser musste sie sich erst wieder zurechtfinden. Wie wir auch.“1
Schon immer haben Musik und vor allem musizierende Menschen eine Wirkung auf mich ausgeübt, die über die äussere Abfolge der erklingenden und wieder verklingenden Töne wie auch die sonstigen greifbaren Dingen der Musik weit hinausgeht; vielmehr erscheinen die materiellen Vorgänge von dieser Wirkung überstrahlt, durchstrahlt, umhüllt und in einen sphärischen Raum getaucht, aus dem die musikalischen Dinge erst hervortreten. Deutlichere Konturen erhält dieser Eindruck, wenn ich an meinen Vater zurückdenke: Er war Geiger von Beruf und wenn er übte, war es mir, als ginge es ihm um diesen merkwürdigen Raum, um einen persönlichen Eintritt oder wenigstens Zugang. In diesem Raum schien er sich irgendwie verströmen und auflösen, ja verwandeln zu können. Er schien dann ganz bei sich, weit weg von meiner Welt und doch in einem viel grösseren Sinn gegenwärtig. Sein Geigenspiel schien aus einer Sehnsucht nach diesem inneren Ort zu kommen, und die Bewegungen des Geigenspiels schienen mit der Erfüllung dieser Sehnsucht zu tun zu haben. Als ich dann selber zum Musiker wurde, ging es mir ähnlich. Auch ich erlebte und erlebe musizierend einen Innenraum, in 1
Rakusa, Ilma: Mehr Meer. Erinnerungspassagen. Graz-Wien 2009, S. 181 ©Mathes Seidl 2011
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den ich mich einlassen kann und aus dem ich gleichzeitig musizierend-gestaltend heraustreten kann. Und zwar als ein Anderer, Verwandelter. (Das gilt allerdings nur für den Fall, dass mir das Öffnen des Raums gelingt. Gelingt es nicht, verzweifle ich meistens - und zwar nicht an der Musik oder an meinem Instrument, sondern an mir selbst. Offenbar geht es bei dem Verschwinden und persönlichen Auftauchen um einen sehr persönlichen Prozess.) Diese geschilderten Eindrücke und Erfahrungen beschäftigen beide Seiten von mir, nämlich den bratschespielenden Musiker und Musikwissenschaftler als auch den Psychologen und Psychotherapeuten, nachhaltig wie kaum etwas anderes in meinem Leben. Worum geht es hier? Wonach kann ich überhaupt fragen, um diesen Beobachtungen auf die Spur zu kommen? Ich versuche einen Anfang zu machen mit folgender Frage angelehnt an den Philosophen Peter Sloterdijk2: „In welcher Welt oder welchen Welten bin ich oder bewege ich mich, wenn ich in der Musik bin, wenn ich Musik mache oder Musik höre?“ In dem vorliegenden Buch will ich versuchen, dieser Frage mit den Mitteln der Psychologie nachzugehen. Ich habe vor, die erwähnten Erfahrungen vor Augen, nach Theorien, Konzepten, Modellen Ausschau zu halten, die mit diesen Erfahrungen zu tun haben.
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„Wo sind wir, wenn wir Musik hören?“ in: Sloterdijk, Peter: Weltfremdheit. Frankfurt/M. 1993, S. 301 ff. ©Mathes Seidl 2011
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Der springende Punkt in allem ist das Erleben eines inneren musikalischen Raumes, in den ich eintauche und aus dem ich gleichzeitig verändert wieder auftauche. Was verändert sich? Was ist da, was vorher nicht da war? Ich sage es vorläufig so: Was sich verändert, ist das Wie meines Musizierens. Aus einem Irgendwie-Tun ist ein musikalisches Tun geworden. Was heisst das? Mit dem Eintreten in jenen inneren Raum verlieren alle technischen Spiel-Bewegungen ihren äusseren mechanischen Charakter. Sie verwandeln sich in musikalische, „musikalisierte“ lebendige Bewegungen, die mit mir selbst zu tun haben. Darüberhinaus sind es Bewegungen, die sich in ihrem Ereignen erschöpfen und weder eine Funktion noch eine über ihr eigenes Bewegtsein hinausgehende Bedeutung haben. Diesen inneren Raum, der sich natürlicherweise im musikalischen Ausdruckswillen manifestiert, nenne ich den musikalischen Raum. Wie erlebe ich mich selbst in diesem Raum? In ihm fühle ich mich einerseits nicht ganz oder noch nicht ganz in der alltäglichen Welt, aber auch nicht irgendwo ausserhalb; vielmehr bin ich mittendrin - ja ganz besonders mittendrin... Vieles aus der alltäglich-greifbaren Welt ist da: Ich kann hören, mich spüren, auf Eindrücke reagieren und Resonanzen empfinden, mich von ihnen bewegen lassen und weitere erzeugen... - aber das alles ist in eine Art aufgelösten, fast taumelnden Zustand gehoben, den ich am ehesten beim Aufwachen erlebe, wenn ich „in die Welt hineinfliesse“. ©Mathes Seidl 2011
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Dieser persönliche Eindruck passt übrigens gut zu jener Gefühlslage, die Romain Rolland in einem Brief an Freud3 beschreibt, und die von Freud anschliessend als „ozeanisches Gefühl“4 bezeichnet wird. Freuds Auffassung, dass es sich dabei um ein Gefühl für die „Zusammengehörigkeit mit dem Ganzen“ handelt, ist für mich stimmig - allerdings im positiven und nicht im kritischen Sinn Freuds, der diese Art Zusammengehörigkeitsgefühl als unreif und „infantil“ ansah. Unter dem Eindruck dieser ozeanischen Qualität hatte ich zunächst daran gedacht, die musikalische Welt metaphysisch zu bestimmen: In meiner persönlichen Theorie, die stark beeinflusst war von den Visionen der Hildegard von Bingen und den Spekulationen um die morphogenetischen Felder von Rupert Sheldrake5, fällt den Engeln, nachdem sie den göttlichen Urgrund geschaut und den göttlichen Herzensimpuls in sich aufgenommen haben, die Aufgabe zu, die aufgenommene energetische Substanz auf die Menschen zu übertragen, um sich in den Akten musikalischer Ausübung und den Formen sinnlicher Gestaltungen zu konkretisieren. Aber mit fortschreitender Ausarbeitung und Umsetzung der „englischen Grundlegung“ verlor ich mich immer mehr im Dickicht herangezogener Angeologien - und da ich mich nicht zu sehr auf Spekulationen ausserhalb einer am Erleben orientierten Psychologie einlassen wollte, gab ich diesen Versuch zuguterletzt auf. (Übrigens bildet diese vom metaphysischen Ursprung zur konkreten Praxis verlaufende Prozessfigur den Angelpunkt einer bedeutsamen mittelalterlichen Theorie, die eine Dreigliedrigkeit der Musik in Form von musica mundana (kosmische Musik) - musica humana (Musik im Menschen) 3
Brief vom 5. Dezember 1927 Freud, Sigmund (1930): Das Unbehagen in der Kultur. (Einleitung). Frankfurt/M. 2001 5 Fox, Matthew/Sheldrake, Rupert: Engel-Die kosmische Intelligenz. München 1998 4
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musica instrumentalis (manifeste Musik beziehungsweise Praxis) entwirft.6 Nach diesem Ausflug versuchte ich mich anders zu orientieren, und begann, mich auf psychologische Äusserungen, Konzepte und Theorien zu besinnen, in denen nach meinem Gefühl etwas von dem erfahrenen musikalischen Raum enthalten sein könnte.
- Ursprüngliche Lebendigkeit, Urmenschliches, letzte Tiefen des Lebendigen: Georg Groddeck, Wilhelm Reich Kann man sich heute vorstellen, dass ein Begriff, der für die doch sehr ernsthafte Psychoanalyse so zentral werden sollte wie der Begriff vom „Es“, auf einen viel belächelten Aussenseiter zurückgeht? Und noch dazu auf einen, der von vielen als „Wilder“ und „Spinner“ bezeichnet wurde: Nämlich auf den Arzt und frühen Analytiker Georg Groddeck (1866-1934).7 Was hätte es, male ich mir aus, für eine Musikpsychologie bedeuten können, wenn sie sich von diesem „wilden Wissenschafter“hätte inspirieren lassen. Über Musik sagt Groddeck folgendes: „Alle Musik quillt aus dem Urmenschlichen; wenn es anders wäre, liesse sich ihre Wirkung auf Säuglinge und ihre Ausübung durch Idioten schwer erklären“.8 6
Vgl. z.B. Hugo v. St. Viktor (1097-1141) Das „Es“ bildet in Freuds Strukturmodell vom Seelischen (1923) den Unterbau: „Es-IchÜberich“. Siehe dazu Groddeck, G.: Das Buch vom Es. Psychoanalytische Schriften an eine Freundin. Frankfurt/M. 2004 8 Groddeck, Georg: Psychoanalytische Schriften zur Literatur und Kunst. Frankfurt/M. 1978, S. 247 7
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Groddeck spricht im Zusammenhang mit Musik nicht von Trieben, Archetypen9 oder anderen Konstrukten und „Zusätzlichkeiten“; vielmehr beschwört er eine Sphäre des „Urmenschlichen“ und eine unmittelbare Wirkung auf den Menschen. Einen ähnlich lebendigen und unmittelbaren Ausspruch zur Musik gibt es vom Wiener Psychiater und energetisch denkenden Psychoanalytiker Wilhelm Reich (1897-1957): „Der musikalische Ausdruck hängt mit letzten Tiefen des Lebendigen zusammen“... wobei dieses Lebendige „lange funktioniert, ehe es eine Sprache und Wortbildung gibt.“10 Auch hier spricht also jemand in einem Atemzug vom Urgrund der Musik und des Menschlichen. Im Laufe meines Musikwissenschaftsstudiums an der Hamburger Universität, begann ich mich für die Aspekte der Systematischen Musikwissenschaft zu interessieren: Vor allem für Musikphilosophie, und - psychologie. Nur in Hamburg gab es seinerzeit einen Lehrstuhl für dieses Stiefkind der ansonsten vorwiegend historisch ausgerichteten Musikwissenschaft. Den Lehrstuhl hatte der tschechische Musikwissenschaftler und Strukturalist Vladimir Karbusicky (1925-2002) inne, ein Schüler des Prager Strukturalisten Jan Mukarovsky (1891-1975). Ich erinnere mich: Wenn in einem der philosophischen Haupt-Seminare die „Was-ist-Musik-Frage“ auftauchte, pflegte Karbusicky zu sagen: „Irgendetwas Energetisches“. Nun war in der Art und Weise wie er das sagte, sofort das grosse persönliche Anliegen Karbusickys herauszuspüren, das ihn mit dem noch so ungenügend erforschten Gebiet einer musikalischen Energetik verband. 9
C. G. Jung meinte in der Musik das Kreisen der Archetypen zu vernehmen. Reich, Wilhelm (1933): Charakteranalyse. Köln 1989, S. 474
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Dem entsprach auch Karbusickys Versuch, uns Studenten so nachhaltig wie - fast immer - vergeblich für den mit der musikalischen Energetik identifizierten Musikwissenschaftler Ernst Kurth (1886-1946)11 zu interessieren. Auch ich nahm die Anregung nicht an, - ich brachte seinerzeit die intellektuelle Anstrengung und Ausdauer nicht auf, um mich mit Kurth ernsthaft zu befassen. Heute ist Kurth unter den Musikwissenschaftern leider weitgehend aus der Mode gekommen. Mein persönliches Interesse an Kurth entzündete sich erst einige Zeit nach meinem Musikwissenschaftstudium, nämlich im Zusammenhang mit meiner psychologisch-psychotherapeutischen Ausbildung. Nach anfänglicher analytischer Ausrichtung - ich hatte mich nach einem akademischen Psychologiestudium an der Universität Zürich am dortigen Szondi-Institut, einem Institut für Allgemeine Tiefenpsychologie (Freudsche, Jungsche Richtung und die schicksalsanalytische nach Leopold Szondi) zum Psychotherapeuten ausbilden lassen - begann ich mich für die Humanistische Psychologie zu interessieren und hier vor allem für die therapeutischen und erkenntnistheoretischen Möglichkeiten, die von der Auffassung des menschlichen Körpers als einem lebendig-organismischen und resonanzfähigen Körper ausgehen.12 Im Gegensatz zur analytisch- therapeutischen Arbeitsweise, bei der der Analytiker das fehlende Wissen (die Löcher im Bewussten) durch seine kompetenten Deutungen ersetzt, ist die Erfahrung möglich, aus eigenen Kräften zu persönlichem Wissen um sich selbst zu gelangen. 11
Ernst Kurth hat seine wissenschaftliche und praktische Ausbildung als Dirigent bei Guido Adler beziehungsweise Gustav Mahler absolviert und später an der Universität in Bern gelebt und gewirkt. 12 Ich beziehe mich hier auf die Psychologie des Focusing, die vom Philosophen und Psychotherapeuten Eugene T. Gendlin, dem Nachfolger von Carl Rogers, formuliert wurde. Näheres siehe S. 15. ©Mathes Seidl 2011
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Über diesen Umweg nun kam ich auf Ernst Kurth zurück. Dieser hat seinerseits auf die Resonanzwirkung und Spürbarkeit der musikalischen Energetik hingewiesen und damit wie später Sergiu Celibidache - das musikalische Erleben zum grundlegenden Erkenntnisvorgang gemacht.
- Energetik: Ernst Kurth
Ernst Kurth (1886-1946) Ernst Kurth war einer der prominentesten Musikwissenschaftler seiner Zeit - ihm verdanken wir eine konsequente energetische Grundlegung des Musikalischen. Kurth sah Musik als Resultat seelischer Verarbeitung beziehungsweise energetischer innerer und nach aussen drängender Bewegungen, die auf der Fähigkeit des Menschen zu hörendem, resonanzhaftem Erleben beruhen. Die energetische Auffassung, die besagt, dass alles Lebendige von subtilen Bewegungen durchdrungen ist, zeigt einen Weg auf, Musik in einen inneren Zusammenhang mit der lebendigen Welt zu stellen. Es geht dabei - andersherum ©Mathes Seidl 2011
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ausgedrückt - um die Befreiung von der Auffassung, Musik sei eine vom gesamten Lebendigen isolierte oder abzusondernde Kunsterscheinung.13 Der entscheidende Gedanke Kurths beruht, wie angedeutet, auf der Annahme einer universellen, selbstverständlich auch den Menschen einschliessenden „Bewegungsenergie“, deren Formen er „lebendige Kräfte“, „Urkräfte“, „Urvorgänge“, „Grundregungen“ und „schöpferische Kräfte“ genannt hat.14 Dieser einheitliche Bewegungsstrom „Bewegungsenergie“ manifestiert sich bei Kurth zunächst in primären Erscheinungsformen wie Linien, Wellen, Strömungen, Stauungen, Hauptströmungen, Nebenströmungen. Aus diesen primären Formen gehen sekundär weitere Bewegungen hervor: Eine Melodie ist beispielsweise durchzogen von einem Kraftstrom, aus dem sich die Töne der Melodie sekundär herauslösen. Musik in diesem Sinn ist - wie nebenbei das Ozeanische - ein einziger Bewegungsstrom, in dem viele Unterströmungen das Ganze organisch durchströmen. Auf der Basis dieses Kräftespiels formuliert Kurth eine seinerzeit aufsehenerregende energetisch-psychologische Musiktheorie, die in dem zentralem Motto: „Musik ist Ausbruch aus dem Inneren“15 gipfelt. Mit diesem „Inneren“ meint Kurth die spürbare „innere“ Dynamik seelischer Bewegungen, die Resultat von Erlebens-
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In der Musikgeschichte spielt die Idee von der absoluten Musik, die das Ideal einer Musik hochhält, die absolut frei ist von nicht-musikalischen Einflüssen und Vorgaben - frei auch von solchen der Natur und des Menschen - eine nachhaltige Rolle. In ihrem Namen wurden zum Beispiel musik-anthropologische Fragestellung innerhalb der Musikwissenschaft lange Zeiten ausgeklammert. 14 Kurth, Ernst: Bruckner Bd 1. Berlin 1925, S. 1 15 Kurth, Ernst: Musikpsychologie. Berlin 1931, S. 3. Leider ist das Werk weitgehend in Vergessenheit geraten. ©Mathes Seidl 2011
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vorgängen (Resonanzen) sind16. Diese Resonanzen werden ihrerseits ausgelöst durch die Interaktion des Menschen mit der ihn umgebenden Welt. Alle musikalischen Erscheinungen sind nichts anderes als „Abkömmlinge“ beziehungsweise „Ausbruchsbewegungen“ - inneren Erlebens. Zum Ausbruch kommen die Bewegungen, weil sich die inneren Kräfte aus gewaltiger Aufstauung und Anspannung explosionsartig befreien und sich in Form von klingenden Tönen entladen. In der nicht immer leicht verständlichen Ausdrucksweise Kurths liest sich der entsprechende Gedanke so: „Der künstlerische Schaffensvorgang, dessen Vollkraft nur zersprengt in die Ausdrucksform hineinklingt, ist darum stets auch nur aus einem Zurückfühlen ins Unbewusste zu erfassen, aus einer Resonanzfähigkeit für die lebendigen Kräfte, die sich ans Licht des Kunstwerks verloren haben.“17 Und: „Alles Erklingende an der Musik ist nur emporgeschleuderte Ausstrahlung weitaus mächtigerer Urvorgänge im Unbewussten “18 Abgesehen von der Postulierung derartiger, durch Erleben zustande gekommener psychischer Kräfte macht Kurth eine brisante Entdeckung, nämlich, dass wir mit den „unbewussten“ Kräfte durch Zurückspüren in Kontakt kommen können. Inwiefern ist dieser Hinweis brisant? Offensichtlich gibt es Dinge, die wir (noch) nicht wissen, aber doch spüren. Auf diese Weise differenziert Kurth die 16
Übrigens entstehen diese Gedanken in Anlehnung an den Schweizer Philosophen Paul Häberlin (1878-1960). 17 Kurth, Ernst: Romantische Harmonik und ihre Krise in Wagners „Tristan“. Bern 1920; 3. Aufl., Berlin 1922, S. 9 18 ebda S. 1 ©Mathes Seidl 2011
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Bedeutung des „Unbewussten“: Das Unbewusste mag erkenntnismässig „unbewusst“ sein, - es kann aber körperlich spürbar und damit erlebensfähig sein.
Exkurs: Focusing - Vom Körpergefühl zur Bedeutung Die Psychologie - speziell die vom Philosophen und Psychotherapeuten Eugene T. Gendlin19 (*1926) begründete FocusingPsychologie - hat im Zurückspüren bzw. Fokussieren auf ein spezifisches Körpergefühl eine wichtige, zu umfassenden Bedeutungen führende, Erkenntnisquelle entdeckt: Gendlin hat erforscht , dass körperlich-leibliches Erleben nicht irgendetwas Chaotisches, Diffuses und Unverbindliches ist, sondern etwas Umfassendes, das über die logischen Formen des Gewussten und Gesagten hinaus geht. Der lebendige, erlebensfähige, organismische Körper kann bei entsprechender spürend-gerichteter Aufmerksamkeit (Zurückspüren) auf den von innen gefühlten Köper eine spezifische Art von Befindlichkeit ausbilden, eine Art Resonanzfeld, das mehr Wissen „enthält“ als das schon Bekannte einer bestimmten Situation. In der Focusing-Psychologie wird das beschriebene situative Resonanzfeld „Felt sense“ (= gespürte Bedeutung, gefühlter Sinn) genannt. Der Körper ist „situational“, d. h. er „hat die Situation“ heisst es im Focusing. Die in ihm eingefaltete, noch nicht gewusste Vielheit der Situation kann sich durch eine bestimmte Art des Fokussierens entfalten. Ob Ernst Kurths Zurückspüren zu den lebendigen Kräften identisch ist mit dem Erspüren des Felt sense im Sinne Gendlins ist kritisch zu überlegen. Während bei Gendlin der Felt sense eine Art diffuser sechster Sinn darstellt, fokussiert Kurth mehr auf die kraftvollen Entladungsbewegungen, die im manifesten Ton aufgefangen werden. Gendlin würde die schöpferischen Urbewegungen wegen ihrer bestimmten Bahnung und ihrem Ziel, der erklingende Ton, vielleicht schon für eine Symbolisierung eines noch ursprünglicheren 19
Gendlin, Eugene T. : Focusing. Reinbek 1998 ©Mathes Seidl 2011
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resonanzhaften In-der-Welt-Seins halten. Andrerseits ist die Vorstellung vom Ton als einem Symbol nicht plausibel, da ein Ton auf nichts Bedeutsames verweist. Ich vermute folgendes: Grundlage der Kurthschen Energetik sind jene inneren, noch nicht erklingenden Tonbahnungen, mit denen wir durch hörendes Zurückspüren in Kontakt kommen. Wir werden dabei „ganz Ohr“ und kommen gleichzeitig unmittelbar mit den sich in/mit uns organisierenden und sich von selbst fortsetzenden Ton-Bewegungen in Kontakt. Die Unmittelbarkeit bedeutet, dass es sich nicht um Symbolisierungen handelt sondern um Einschwingen in die sich bewegend-selbstgestaltende Welt: „Musik meint nichts. Aufgrund ihrer Intentionslosigkeit eröffnen ihre Töne betont eine Welt als Welt.“ So sagt es der Wiener Philosoph Günther Pöltner.20 Beim Zurückspüren Gendlins eröffnen wir ein Beziehungsfeld zwischen dem vagen, undifferenzierten primär-anwesenden Körper, der eine Situation verkörpert (eine Situation hat), und der Entfaltung dieser Befindlichkeit in Form einer zu Bedeutungen führenden Erfassung durch ein Hinspüren, bei dem unser Ich schon ein bisschen „von nebenan“ zuschaut .
Kurths „Zurückfühlen ins Unbewusste“, „Urvorgänge im Unbewussten“, die Unterscheidung von äusseren Formen und inneren Wirk-Kräften - das sind in meinen Augen Elemente einer Tiefenpsychologie der Musik, deren Tiefe nicht durch „seelische Tiefe“ sondern durch körperliche Erspürbarkeit und eine Resonanzfähigkeit für subtile „lebendige Kräfte“ bestimmt wird. Wenn Wilhelm Reich von lebendigen Kräften als „wortlose Ausdrucksbewegungen aus der Tiefe der Lebensfunktion“ spricht, sagt er nichts anderes als Ernst Kurth.21 Auch im 20
Pöltner, Günther: Sprache der Musik. In: ders. (Hg.): Phänomenologie der Kunst, Frankfurt/M. 2000, S. 153-169 21 Reich, W.: a.a.O., S. 475 ©Mathes Seidl 2011
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Reichschen Sinn lässt sich Tiefe nur verstehen als „Körpertiefe“. Die lebendigen Kräfte lösen sich unmittelbar aus dem noch undifferenzierten und sich prozesshaft differenzierenden körperlichen Leben beziehungsweise Erleben, das seine Lebendigkeit gar nicht anders als in noch nicht bedeutungshaltigen Bewegungen ausdrücken kann. Was die Spekulationen über das Symbolische und vor allem über die Sprachähnlichkeit der Musik anbelangt, lässt sich also sagen, dass Musik als Ausdruck unmittelbaren leiblichen Bezugs zur Welt bedeutungsfrei ist, und nicht symbolisch verstanden werden kann den symbolisch verweisenden Ausdruck stiften erst die Wörter. Musik ist unmittelbarer Ausdruck des Lebens selbst. *
Ich möchte an dieser Stelle kurz innehalten und auf meine Ausgangsfrage nach dem musikalischen Innenraum zurückkommen. In der Zusammenschau von Groddeck, Reich und Kurth lässt sich der musikalische Erlebensraum darstellen als eine dynamische Situation, in die der Mensch eingebunden ist: Ich umreisse die Situation in Form von vier Aspekten 1. Der Mensch erscheint in der musikalischen Situation als lebendiger und erlebender Organismus. 2. Er befindet sich in unmittelbarem Austausch beziehungsweise in einer spannungsvollen Resonanzbeziehung mit der Umwelt. ©Mathes Seidl 2011
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3. Aus dieser Resonanzbeziehung resultieren Kräfte, die zur Entladung drängen. 4. Die sich entladenden Kräfte manifestieren sich explosionsartig in Form von klanglich bewegtem Ausdruck („Ausbruch“). Dieser Vorgang entspricht der Entfaltung des musikalischen Prozesses, dessen Pole sind: resonanzhaftes Erleben (im aktiven Sinn) und den sich daraus entwickelnden manifest erklingenden Tönen. Ich führe einige Zitate und Beispiele aus der Praxis an, die meines Erachtens für eine solche energetische Auffassungen sprechen: Der zeitgenössische italienische Komponist Claudio Ambrosini äussert im Jahr 1985: „Ich höre Musik als Energie. Komponieren heisst, (...) Energie zu erzeugen, zu lenken, zu erhalten, Energie, die zu Beginn des Werks in Bewegung gerät, bis hin zur Vollendung der Form“. Beim eigenen Musizieren (Bratschespielen) erlebe ich das ähnlich: Bevor der erste musikalische Ton meinen Körper und mein Instrument verlässt, nehme ich in meinem Körperinneren subtil-anregende Bewegungen wahr, die mich von innen her ergreifen, meinen Körper in Bewegungen versetzen und ihn dynamisieren. Diese inneren Bewegungen bereiten den Ton vor, laufen auf ihn zu und entladen (Kurth: „fangen“) sich in ihm. Ausgelöst werden sie durch Erspüren und Innewerden meiner gegenwärtigen leiblichen Resonanz. Leibliche Resonanz fühlt sich an wie ein tonlos-fluidales InBewegung-Kommen des menschlichen Körpers. Irgendwie steckt in diesem Resonanzgefühl sowohl ein geniesserisches ©Mathes Seidl 2011
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Bleibenwollen und Sich-Einwiegen in die gegenwärtige Situation als auch ein Sich-Verändern-Wollen, in dem ja in letzter Konsequenz die Vergänglichkeits- oder Verflüchtigungstendenz wirkt: Bleibenwollen wie Vergehenwollen führen zu der Spannung, die sich im musikalischen Ausdruck entlädt. Bei den meisten Interpreten erscheinen die energetischen Bewegungen auch in der Mimik; und zwar nicht im Sinne eines Abbilds einer inneren musikalischen Bedeutungsdynamik, sondern als unmittelbares Ergriffensein. Es wäre nicht richtig zu sagen, der Pianist zeigt in seinem Gesicht die Traurigkeit des Stückes - nein, er zeigt die Dynamik der musikalischen Urbewegungen: Die Mimik gehört im Kurthschen Sinn zu den Spuren der inneren Kräfte, die sich an die manifesten Erscheinungen der Musik „verlieren“. (Ich habe hier beispielsweise den Pianisten Alfred Brendel vor Augen.) Am deutlichsten können wir bei Dirigenten beobachten, was musikalische Energetik ist. Die Bewegungen der Dirigenten sind erlebte Bewegungen: Sie sind nicht Abbildung einer objektiv-werkhaften musikalischen Energetik, sondern Resultat der Resonanz des hörend-leiblichen In-der-Welt-Seins (das identisch mit In-der-Musik-Sein) des erlebenden Dirigenten. Deshalb sagt Ernst Kurth, wie später auch der Dirigent Sergiu Celibidache: „Die Struktur der Musik ist die Struktur ihres Erlebens“. (Auf die Spitze getrieben heisst der Satz: Nicht-erlebte Musik ist keine Musik.) Allerdings gibt es Dirigenten, die einem intellektuellen - energetisch armseligem - Transparenzkult huldigen, indem sie sich fast ausschliesslich auf die rationalen und messbaren Elemente der Musik verlassen und das Metronom für den Herzschlag des Komponisten halten. (Ich selbst habe unter einem Dirigenten ©Mathes Seidl 2011
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gespielt, dessen musikalische Anleitung sich in dem Satz: „just in time“ erschöpfte. Natürlich erschöpfte sich auch seine Zeichengebung in einem unerschütterlichen Taktschlagen.)
- Hören, In-Resonanz-Sein Wie kommt es zu einer solchen Resonanzbeziehung zwischen Welt und Mensch, die offenbar Ursache des musikalischen Ausbruchs- beziehungsweise Ausdrucksgeschehens ist? Grundlage für ein derartiges resonanzhaftes, interaktives Inder-Welt-Sein ist die Fähigkeit zu Hören. Im Gegensatz zu einer allgemein verbreiteten Ansicht ist Hören kein einseitiger passiver Aufnahmeakt, sondern ein aktiver Vorgang, bei dem Ausseneindrücke in körperliches Erleben, sprich Resonanzen, umgewandelt werden. Es geht um Innewerden im Sinn von verstandesfreiem Mitschwingen, denn musikalisches Hören hat nichts zu tun mit der Bildung eines Tongedächtnisses oder einer Art innerer Speicherung von Tonfolgen. Hören in dem aktiven gestaltenden Sinn heisst, die Resonanz der Klänge als Bewegtheit wahrzunehmen, sie zu erleben und auf diese Weise zu lebendiger, er-lebter Musik werden zu lassen. Deshalb sagt Ernst Kurth: „nicht erlebte Musik ist keine Musik.“ Wie aber wird durch hörende Wahrnehmung Musik? Für Ernst Kurth ist der musikalische (vorsprachliche, vorinformative) Hörvorgang ein Verarbeitungsprozess: Zunächst werden wir durch das Im-Ohr-Sein empfänglich für die rätselhaften dunklen „Urerlebnisse“, die den primären Weltbezug stiften. Innerhalb des spezifischen musikalischen ©Mathes Seidl 2011
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Hörraums, der zu einer Art vorbewusster, anfänglicher, traumartiger und vorsprachlicher Schicht unseres Daseins gehört, kommt es nun zu einer sekundären Verarbeitung: das resonanzhafte Erleben, das wir konkret als inneres In-Bewegung-Kommen und Mitschwingen spüren können, ist identisch mit der „ahnungsvollen“, subtil-innerkörperlichen Anbahnung des werdenden musikalischen Ausdrucks. Das heisst, die umfassende individuelle Schwingungsstruktur (organismische Struktur) des wahrnehmenden Subjekts wird in die werdende musikalische Ausdrucks-Gestalt aufgenommen und zum lebendigen Ton „verarbeitet“. Ich denke mir, dass Reich und Groddeck mit „Tiefe des Lebendigen“ und „Urmenschliches“, aus denen die Musik „quillt“ eben jene Vorgänge meinen, die Kurth mit dem erlebten Ton verbindet. Dieser Vorgang lässt sich modellartig darstellen: (0) Gegenwärtigkeit = allgemeiner Spannungszustand, potentielle Bewegungsenergie : (I) Hören als sinnliche Interaktion mit der Welt = bewegende, anregende und gestaltende Verarbeitung im Inneren, Freiwerden innerer Urkräfte : (II) Entladung von Ausdrucks-, Ausbruchkräften = Manifestation von Musik - Modell des musikalischen Prozesses nach Ernst Kurth -
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Ich werde dieses Modell mit den wahrnehmungstheoretischen Erkenntnissen des vor dem 2. Weltkrieg in Hamburg forschenden Entwicklungspsychologen Heinz Werner22 in Beziehung setzen, die in einem inneren Zusammenhang mit dem Kurthschen Ansatz steht. Werner postuliert aufgrund seiner Forschungen „Schichten beim Kulturmenschen, die genetisch vor (kursiv Seidl) den Wahrnehmungen stehen, und die als ursprüngliche Erlebnisweisen beim sachlichen Menschentyp teilweise verschüttet sind. In dieser Schicht kommen die Reize der Umwelt nicht als sachliche Wahrnehmungen, sondern als ausdrucksmässige Empfindungen, welche das ganze Ich erfüllen, zum Bewusstsein.“ Werner formuliert im Anschluss an seine Ergebnisse zwei Prinzipien: „(1) ein genetisches Prinzip das besagt, dass der Organismus sich aus einem einheitlichen, psychophysischen Grunde zu immer schärfer differenzierten, hierarchisch geordneten Funktionen und Phänomenen strukturiert oder unter gegebenen Umständen sich umkehrt, von der erreichten Differenzierungshöhe, der undifferenzierten Einheitsschicht wiederum nähert. (2) ein organismisches Prinzip, das besagt, dass alle psychischen Erscheinungen, sosehr sie auch anscheinend ein statisches Endprodukt darstellen, bedingt sind durch die stetige Aktivität des Organismus und damit im total organismischen Geschehen tief verwurzelt sind.“ Und er kommt zu einer typologischen Unterscheidung von 22
Werner, Heinz: „Intermodale Qualitäten (Synästhesien)“, 9. Kap., in: Handbuch der Psychologie, I. Bd., I. Halbband. Göttingen 1966 und ders.: Einführung in die Entwicklungspsychologie. München 1959 (Erstausgabe 1926?) ©Mathes Seidl 2011
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Typus a) dessen Erlebnisweise ursprünglich und ganzheitlich organisiert ist und Typus b) dessen Wahrnehmungsweise sachlich organisiert ist, und bei dem die ursprünglichen, genetisch früheren Schichten des Typus a), verschüttet sind. Die Ähnlichkeit dieser Positionen mit denjenigen von Ernst Kurth ist eklatant: Was bei Ernst Kurth „ursprüngliche spannungsvolle Gegenwärtigkeit“ heisst, ist bei Werner „einheitlicher psychophysischer Grund“. Und die sich aus der ursprünglichen Einheit differenzierenden „Kraftregungen“ Kurths sind bei Werner die „immer schärfer differenzierten...Funktionen und Phänomene“, die er offensichtlich als Folge „der stetigen Aktivität des Organismus“ sieht. Werner vermutet, dass diesen Aktivitäten „Tonusvorgänge des Körpers“ zugrunde liegen.23 In diesen Zusammenhang gehört die Leibphilosophie des Kieler Philosophen Hermann Schmitz24. Schmitz spricht ebenfalls von einer primären Erfahrungsqualität, der er den innerhalb seiner Leibphilosophie zentralen Erfahrungsbereich des „Atmosphärischen“25 zuordnet. Grundlage des atmosphärischen Erlebens bilden bei Schmitz Vorgänge, die er „eigenleibliches Spüren“ nennt. (Dass hier irgendwie ebenfalls Tonusvorgänge im Spiel sind, liegt auf der Hand. Allerdings scheint etwas dazu zu kommen, das konkrete körperliche Empfindungen übersteigt. Siehe dazu oben die Ausführungen zur Focusing-Psychologie, die sich hier andeutet.) In der Qualität des Atmosphärischen erscheint uns die Welt als vages 23
Werner, Heinz: Intermodale Qualitäten... S. 298 Siehe beispielsweise: Schmitz, Hermann: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie. Bonn 1990 25 Siehe dazu auch: Böhme, Gernot: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik. Frankfurt/M. 1995 24
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Ganzes, Diffuses, noch nicht Differenziertes, eher Traumhaftes, aus der sich die Phänomene erst prozesshaft herauslösen. Die Beschreibung dieser Erlebenssphäre deckt sich exakt mit meinen Eindrücken des inneren musikalischen Raums, „aus dem alles herauskommt“. Die Aspekte des musikalischen Raumes werden mittlerweile durch folgende Bezeichnungen bestimmt: Ursprüngliche Lebendigkeit, Urmenschliches, letzte Tiefen des Lebendigen, Psychophysischer Grund, Atmosphäre, Eigenleibliches Spüren.
- Musikwerdung als personaler Prozess In meinem Buch Fluidum Musik26 habe ich meinen inneren Hörprozess beziehungsweise die Hervorbringung des Tons als subjektiven Erfahrungsprozess dargestellt und auf einen Punkt in dessen Verlauf hingewiesen, bei dem der Prozess in seiner Ganzheit als Bild (Verlaufsbild) erscheint: „Dasjenige, das sich als Ganzes des Prozesses herausgebildet hat fühlt sich an wie die Hervorbringungsarbeit des Ton...sein Weg in die Umwelt... Es gibt im Prozessverlauf einen Moment, in dem ich irgendwie selbst hineingezogen werde: ich werde in die Tonwerdung mit hineingezogen...ich bin es nun selbst, der mit (dem Ton) in die Welt kommt...es geht auch um mich...“
Auf dieser Erfahrung beruht der Eindruck, dass die Verarbeitung der Welteindrücke zum Ton nicht ein apersonaler oder transpersonaler Prozess ist, sondern ein persönlicher 26
Seidl, Mathes: Fluidum Musik. Die körperliche Wirklichkeit der Töne. Neuried b/München 2005, S. 49 ©Mathes Seidl 2011
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Prozess, dessen tiefer Sinn mit dem Auftauchen des persönlichen Tons (oder der Person im Ton) zu tun hat. Zunächst: Wenn es bei Kurth heisst, die Struktur der Musik sei die Struktur ihres Erlebens, so versteht es sich von selbst, dass diese Struktur weit über das Physiologische hinausreicht - es ist vom lebendigen Menschen im Sinn eines lebendigen (erlebenden) Organismus die Rede. Bei der gegenwärtigen pädagogischen Vernarrtheit in das Physiologische und Medizinische ist dieser Punkt besonders relevant: Da an den Konservatorien und Hochschulen immer mehr Mediziner eingestellt werden, wird die Wahrnehmung der physiologischen Vorgänge schleichend zur Hauptsache, während die Dimension des Erlebens in den Hintergrund tritt.
Erleben beziehungsweise lebendige Verarbeitung des musikalischen Tons ist nur durch umfassendes persönliches Erleben beziehungsweise durch zurückspürende Aufmerksamkeit für die körperlichen Resonanzen zu erreichen. Der Ton als Struktur des Erlebens kann deshalb nur persönliche Struktur sein und erlebte Musik kann nur persönlich erlebte, subjektiv erfasste Musik sein. Kurths Satz müsste also vollständig heissen: Die Struktur der Musik ist die Struktur seines persönlichen, individuellen Erlebens. Insofern ist der erste erklingende Ton das Geburtszeichen der Person, die mit dem werdenden Ton etwa sagt, „ich komme in die Welt, wenn auch flüchtig, ich verklinge, ich werde wieder neu“. Das Wesen der Musik liegt in der Ton-werdung; das Verklingen des Tons ist Voraussetzung für ein neues Erklingen beziehungsweise erneutes Werden. In der inneren Erfahrung bin ich selbst mit dem Prozess der Tonwerdung aufs Innigste verknüpft. Der primäre innere musikalische Raum ist ein anfänglicher, persönlicher mit einem vagen Ich-bin-Gefühl. Er beginnt in einem Zustand ©Mathes Seidl 2011
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undifferenzierter auditiver persönlicher und von Welt umhüllter Gegenwärtigkeit, die durch einen gewissen spannungsvollen „Bewegungszusammenhang“ gekennzeichnet ist. Aus der elementaren und primären „Bewegungsenergie“ lösen und differenzieren sich in der Folge bewegende, anregende und gestaltende Kräfte. Diese ausgelösten Kräfte ergreifen die den inneren Prozess nach aussen fortsetzenden (entladenden) Organe, - sie gehen über ins Physiologische - woraus eine „Erformung“ oder Manifestation des Musikalischen resultiert: In dem Raum einer inneren Vorformung stösst die Energie an die inneren Ränder des Körpers - beim Singen ist es der innere Raum der Mundhöhle, bei den Instrumenten sind es die körperlichen Kontaktstellen der Instrumente, welche die Grenzen bilden jenseits derer sich die potentielle Energie in klingenden Tönen konkretisiert. Die Musikinstrumente haben nicht nur die Funktion von werkzeughaften Energieauffang-, und Umsetzungsgeräte, sondern auch von Körperorganen im Sinne organischer Erweiterungen des Körpers.27 In dieser Hinsicht sind die Instrumente vielleicht körpernahe „Wörter“, oder eine Art „Übergangsobjekte“ auf dem Weg zu den Wörtern und der Wortsprache. In Kurths energetischem Modell gibt es zwischen der allgemeinen Spannung des potentiellen Ur-Zustand (0) und der Entladungs- beziehungsweise Manifestationsphase erklingender Musik (II) eine vermittelnde Schicht (I), in der sich die aus der ursprünglich allgemeinen Spannung lösenden und sich dabei differenzierenden subtilen Urkräfte28 zu greifbareren - immer mehr „lebendige Welt“ integrierende allgemeinen Kräften mutieren. Von diesen Kräften können wir 27
So lässt sich E.T.A. Hoffmanns Bezeichnung der Musikinstrumente als „lebendig-tote Dinger“ verstehen. 28 Für diese subtilen Kräfte hat der Philosoph Hermann Schmitz den Begriff „Bewegungssuggestion“ gefunden. (s. dazu Der unerschöpfliche Gegenstand...z. Bsp. S. 140-142) ©Mathes Seidl 2011
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annehmen, dass sie schliesslich auf der Bühne des Menschlichen als psychische Funktionen erscheinen.
- Persönliche Musik Eine bedeutsame Schwäche des Kurthschen Ansatzes liegt meines Erachtens darin, dass Kurth diese sich in der Mittelschicht gestaltenden Kräfte (I), nicht in ihrer psychischen Funktionalität deutlich macht; vielmehr leitet er sie ab von ihrem zukünftigen Schicksal innerhalb der manifesten Schicht des Musikalischen. Daher erscheinen die anregenden und gestaltenden Kräfte, die von innen nach aussen drängen, wie nach innen gespiegelte musikalische Kräfte: Wenn Kurth beispielsweise von einer „kinetischen Energie“ spricht, die sich vor allem in der Melodiebildung erschöpft, ist diese Energieform lediglich mit dem musikalischen Kontext verknüpft, in dem sie erscheint aber nicht mit einer allgemeineren psychischen Funktion. Das ist allerdings verständlich: Schon Wilhelm Reich hat auf die Schwierigkeit hingewiesen, das „Lebendige“ funktionell streng zu definieren.29 Es müsste also versucht werden, die energetischen Bewegungen im Innern der Musik mit allgemeinen psychischen Funktionen zu verknüpfen, die über den spezifischen musikalischen Kontext hinausweisen und Zusammenhänge mit allgemeinen Lebensbereichen ergeben. Ich kenne ein tiefenpsychologisch-energetisches Modell, das diese Funktion exakt erfüllen kann: Es handelt sich um das Triebsystem der Schicksalsanalyse des ungarischen Arztes, 29
Reich, W.: a.a.O., S. 473 ©Mathes Seidl 2011
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Humangenetikers und Tiefenpsychologen Leopold Szondi (1893-1986).30 Szondis System postuliert acht elementare Kräfte in der „Tiefe der menschlichen Seele“, welche die gesamte menschliche Welt durchziehen und strukturieren somit auch das Musikalische. Diese kategorialen Kräfte ermöglichen eine Einteilung der Welt in acht elementare Lebensbereiche.31 Zwei Aspekte sind es, die ich für eine Weiterführung der Kurthschen energetischen Auffassung als besonders wichtig erachte: Die elementaren Kräfte Szondis sind Energieträger, deren Ladung und Binnendynamik durch jeweils zwei antagonistische Bewegungsenergien am Leben gehalten wird. Ausserdem sind sie differenzierte Kräfte, die, wie bei Kurth einerseits aus einem einheitlichen Grund stammen, der bei Szondi „Urpartizipation“ heisst, und die sich andrerseits in konkreten Handlungen innerhalb der Welt manifestieren.
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Die Schicksalsanalyse nach Leopold Szondi ergründet das familiäre Unbewusste; sie sieht sich als Mittelstück zwischen der auf das persönliche Unbewusste ausgerichteten Psychoanalyse nach Sigmund Freud und der auf das kollektive Unbewusste ausgerichteten nach C.G. Jung. 31 Szondi, Leopold: Schicksalsanalyse. Wahl in Liebe, Freundschaft, Beruf, Krankheit und Tod. (Basel 1944); Basel 1978 ©Mathes Seidl 2011
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Leopold Szondis Schicksalsanalyse
Leopold Szondi (1893 - 1986) Leopold Szondi wurde 1893 im österreichisch-ungarischen Nitra (heute Slowakei) geboren. Er entstammt einer jüdischen Familie. Nach dem Studium der Medizin und Psychiatrie in Budapest beschäftigte er sich vor allem mit der Vererbung von Geisteskrankheiten. In der Auseinandersetzung mit psychiatrischer Genetik und Psychoanalyse entwickelte er ein System von 8 biologischen Radikalen oder Triebfaktoren, welche auch dem Szondi-Test zu Grunde liegen, sowie die Theorie des familiären Unbewussten. 1944 emigrierte er mit seiner Familie in die Schweiz. Hier begründete er die neben der Freudschen Psychoanalyse und der Analytischen Psychologie C. G. Jungs, dritte tiefenpsychologische Schule: die der Schicksalsanalyse. Leopold Szondi starb 1986 in Zürich.
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Ähnlich Sigmund Freud, der die Funktionsweise des normalen Seelenlebens von den pathologischen Formen abgeleitet hatte, erkannte Szondi in den zeitlos und ubiquitär auftretenden psychiatrischen Erbkrankheiten anthropologische Konstanten: Die Konstanz ihres Auftretens galt ihm als Beweis, dass es sich bei den kranken Formen um im Kern elementare Organisatoren des Lebendigen handelt; krankhaft treten sie nur in Erscheinung wegen ihrer - auf dem Weg der Vererbung32 zustande gekommenen - individuellen Überdosis an anthropologischem Potential. So ist zum Beispiel die psychiatrische Krankheit Katatonie Folge einer übermässigen Geladenheit und Anstauung jener Kräfte, die normalerweise zu „Materialisierung“ beziehungsweise „Einengung“ führen. Und diejenigen Kräfte, die im allgemeinen Leben die Verhaltenselemente „Zeigen-Verbergen“ hervorrufen, führen in übersteigerter Variante zur Hysterie und den für sie charakteristischen anfallartigen Entladungen wie Ohnmachtsanfälle oder hysterische Ausbrüche. Es ist offenkundig, dass eine solche Betrachtungsweise weniger auf statische Phänomene, Lebensinhalte oder Formen aus ist, als vielmehr auf die sich in den Phänomenen manifestierende Energetik.33 Die im Lebendigen selbst enthaltenen - deshalb unbewussten und dessen Vielfalt organisierenden energetischen Faktoren nennt Szondi verschiedentlich „Wurzelfaktoren“, „Radikale“, „Bedürfnisfaktoren“ oder auch „Triebfaktoren“. Ich ziehe den letzten Ausdruck vor; das Bild des Treibenden entspricht m. E. dem energetischen Charakter der Triebpotentiale am besten: 32
Vererbung spielt bei Szondi eine wesentliche Rolle (s. 1944, neu: 1978; 1960, neu: 1972). Die Individualität eines Menschen beruht auf der individuellen „Ausmischung“ der genisch verankerten „Triebstruktur“. Deshalb nennt er diese Schicht das familiäre Unbewusste. In den Kräften, welche die unbewusste persönliche Energetik bestimmen, sieht er das Walten von Ahnenansprüchen, die sich auf diese Weise im Leben bemerkbar machen, um sich erneut zu manifestieren. Diesen Gedanken findet man im soziobiologischen Denken wieder („Das egoistische Gen“). 33 In meinen Augen ist der energetische Aspekt in der Diskussion der Szondischen Psychologie viel zu wenig bedacht worden. ©Mathes Seidl 2011
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Das Lebendige wird aus sich selbst heraus organisiert und anoder vorangetrieben - das Leben ist ein Prozess. Hier wird die innere Verbindung zu Kurths Energetik deutlich: Mit den „elementaren Wurzeln des Lebendigen“ meint Szondi offensichtlich dasselbe wie Kurth mit den „Urkräften“ des Lebendigen. Beide scheinen sich darüber hinaus einig zu sein, dass es sich bei diesen Kräften um Differenzierungen eines ursprünglich einheitlichen Zustands handelt: Während er bei Szondi „Urpartizipation“ heisst, bezeichnet ihn Kurth als „allgemeiner Spannungszustand“. Und beide sehen in ihnen Organisatoren unseres Lebens. Das ist auch bei Kurth so, selbst wenn er sich so gut wie ausschliesslich auf den Kontext des Musikalischen bezieht. Aber als „psychische Funktionen“ und „Urkräfte“ können diese Kräfte selbstverständlich nicht nur auf einen spezifischen Bereich wie den des Musikalischen beschränkt bleiben. Da Szondis Triebsystem in alle Lebensbereiche übersetzbar ist, kann es nicht nur eine Bestimmung der Kurthschen Urkräfte im Sinne psychischer Funktionen leisten, sondern auch eine Verbindung Kurths musikalischer Energetik mit den menschlichen Lebenswelten herstellen. Das ist entscheidend für meine Ausgangsfrage „In welcher Welt sind wir, wenn wir in der Musik sind?“
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- Die acht elementaren Kräfte der Schicksalspsychologie von Leopold Szondi In diesem Kapitel werde ich das Triebsystem der Schicksalsanalyse vorstellen. Szondis spezifische Bezeichnungen der elementaren Lebenskräfte werde ich beibehalten. Dabei kommt es mir nicht so sehr auf die biologische Fundierung der einzelnen Triebfaktoren an, als vielmehr auf deren Funktion als energetische Kräfte. Das Szondische Triebsystem - theoretisch ein sich ins Unendliche auskreisender und ausdifferenzierender Katalog ist ein System von allgemeinen anthropologischen Kräften. Ich lese das System als ein grosses dynamisches Feld mit entsprechenden Unter- und Unterunterfeldern. Aus der ursprünglichen Einheit (0) differenzieren sich 4 Kraftfelder („Triebe“) der Lebensbereiche C = S = P = Sch =
Kontaktleben Sexualleben Affektleben menschliches ICH
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Diese Kraftfelder werden bewirkt durch 8 Faktorenbereiche („Triebfaktoren“, „Wurzeln“) deren Dynamik unterhalten wird von jeweils zwei gegenläufigen, also insgesamt 16 Tendenzen 1. Faktor = m34 (abgeleitet von manischen Zuständen35); Tendenzen:
m+ (Tendenz zum Anklammern) m- (Tendenz zum Ablösen)
2. Faktor = d (abgeleitet von depressiven Zuständen) Tendenzen:
d+ (Tendenz zur Veränderung) d- (Tendenz zur Beharrung)
3. Faktor = h (abgeleitet von Hermaphroditismus und Homosexualität) Tendenzen:
h+ (Tendenz zur sinnl. Personen-Liebe) h- (Tendenz zur idealistisch-kollekt. Liebe)
4. Faktor = s (abgeleitet von Sadismus) Tendenzen:
s+ (Tendenz zum Aggressivsein) s- (Tendenz zum Hingegebensein)
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Ich folge nicht streng der Ordnung Szondis und sondern beginne mit dem Bereich der Oralität, um das System entwicklungspsychologisch schlüssig aufzubauen. 35 In den manischen Zuständen zeigt sich die extreme Ladung von Ablöseenergie. ©Mathes Seidl 2011
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5. Faktor = e (abgeleitet von Epilepsie) Tendenzen:
e+ (Tendenz zum Gutsein) e- (Tendenz zum BĂśsesein)
6. Faktor = hy (abgeleitet von Hysterie) Tendenzen:
hy+ (Tendenz zum Sich-Zeigen) hy- (Tendenz zum Sich-Verbergen)
7. Faktor = p (abgeleitet von paranoide Schizophrenie) Tendenzen:
p+ (Tendenz zur Ich-Idealisierung) p- (Tendenz zur Ich-Entleerung)
8. Faktor = k (abgeleitet von katatone Schizophrenie) Tendenzen:
k+ (Tendenz zur Objekt-Bejahung) k- (Tendenz zum Objekt-Verzicht)
Das Zentrum des dynamischen Feldes wird von 8 anthropologischen Faktoren gebildet, die ich als Organisatoren oder Gestalter des persÜnlichen Lebens auffasse. Von diesen ausgehend lassen sich die allgemeinen anthropologischen Lebenswelten als auch deren individuelle Ausstattungen am besten studieren. ŠMathes Seidl 2011
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Ausschlaggebend für die Szondischen Wirkkräfte und deren Energetik ist, wie gesagt, eine „Binnendynamik“, die durch zwei gegenläufige Tendenzen (Bewegungs- oder Kraftströme) bewirkt wird. Szondi spricht vom „Dualismus der Gegensatzpaare, von Strebungen, beziehungsweise Bedürfnissen.“ Das Seelenleben ist demzufolge kein konstantes Sogegebenes, das nur durch einzelne Formen bestimmt wäre, „sondern ein immerfort fliessendes, in Gegensatzkämpfen Dynamisches, Werdendes Vergehendes.“36 Die von Szondi postulierten Kräfte können wie Urworte verstanden werden, die sich in gegensätzlichen Bedeutungen differenzieren: Die Wirkkraft m (Triebfaktor m, von Manie abgeleitet) bezeichnet beispielsweise diejenige einheitliche Kraft, welche die Lebendigkeit der Oralität (Welt der Mundzone) ausmacht. Deren Binnendynamik wird unterhalten von den gegenläufigen Tendenzen „Anklammern - Loslassen“. Das folgende Schema ist völlig wertfrei zu lesen. Es handelt sich um Energieformen, die an und für sich wertneutral sind aber potenziell in sehr viel verschiedene Richtungen wirken können. Der elektrische Strom macht einmal Licht, das anderes mal verpasst er einen Stromstoss. Jedem der energetischen Faktoren entspricht ein lebendiges und individuell nutzbringendes Potential. Wie schon gesagt, bezeichnen die pathologischen Extremformen gestaute energetische Ladungen, die ihre ursprüngliche Beweglichkeit und Dynamik suchen.
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Szondi, Leopold (1960): Lehrbuch der Experimentellen Triebdiagnostik (Bd I). Bern 1972, S. 209 ©Mathes Seidl 2011
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Stellen Sie sich die folgenden Szondischen Kategorien beziehungsweise die spezifischen energetischen Grundvorgänge wie ein dynamisches Feld vor, in dem alle Kraftströmungen miteinander interagieren, in Formen drängen und diese wieder auflösen - entsprechend der Wandelbarkeit alles Lebendigen. - Anthropologische Faktoren, Lebenswelt und Musik Ich stelle nun die allgemeinen elementaren Bereiche menschlichen Lebens vor, die sich auf die Energetik der elementaren Szondischen Faktoren beziehen lassen. Systeme treffen das Leben nur, indem sie Schwerpunkte bilden. Das ist auch in diesem Fall so. Die Wirklichkeit beziehungsweise das Lebendige selbst lässt sich entweder in seiner unendlichen Vielfalt erleben oder theoretisch modellhaft und abstrakt darstellen. Den Anschluss des musikalischen Lebens an die energetischen Kräfte ist noch einmal „unmöglicher“, da es sich im Falle des Musikalischen nicht um eindeutig fassbare Formen und Strukturen handelt, sondern um vorobjektale subtile und flüchtige Bewegungen des Lebens selbst. Anders ist es, wenn wir bestimmte musikalische Stile hervorheben. Diese bilden bereits fassbarere Schwerpunkte innerhalb einer unendlich sich wandelnden Vielfalt. An diesen einzelnen prägnanten und unterscheidbaren Inseln im Meer der Strukturen lassen sich am besten die Auswirkungen der inneren Energetik darstellen.
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Und nicht nur das, an ihnen können wir überhaupt nur festmachen, ob die Anwendung eines theoretischen Systems, wie dasjenige Szondis, nützlich und sinnvoll ist im Hinblick auf die Ordnung einer einheitlichen Welt. So ist auch die folgende Darstellung als Skizze zu lesen und als Versuch, die musikalischen Phänomene an eine allgemeine Energetik des Lebendigen anzuschliessen. Dass die eher grossflächig- typologische Darstellungsweise bisweilen auf Kosten der historischen Differenziertheit verfährt, liegt in der Natur der Sache.
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Geborgenheit m: Anklammern
-
Loslassen
So versprecht ihr euch Ewigkeit fast von der Umarmung (R.M.Rilke)
...endlich allein!
Das erste beziehungsweise lebensgeschichtlich früheste der acht elementaren lebensgestaltenden Kräftefelder bezieht seine Dynamik und Lebendigkeit von den gegenläufigen Tendenzen Anklammern und Loslassen. Szondi kennzeichnet dieses energetische Wirkungsfeld mit dem Faktor m, den er von Manie ableitet; die positive Tendenz m+ steht für Anklammern und die negative m- für Loslassen. Allgemein psychologisch figuriert dieser Bereich als Oralität. Oralität bezeichnet die Psychologie der Mundzone. Manie kommt ursprünglich aus dem Griechischen und bedeutet «ausser sich sein», Wahnsinn, Raserei, Sucht. In der Manie sieht Szondi diejenige Krankheitsform, in der die Energie des Loslassens sich in zum Höchstmass gesteigerter Ladung und ausgeprägtester Form manifestiert. Das ist aber nur die eine Seite. Die entsprechende und ergänzende Tendenz zur Lösungsbewegung (m-) besteht im Anklammerungsbedürfnis (m+), ohne das es zu keinem dynamischen Verhältnis kommen kann.
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Lebensgeschichtlich manifestiert sich diese Dynamik in der Phase der Mutter-Kind-Beziehung, solange der Säugling an der Mutterbrust anklammert. Die Anklammerbewegung ist nicht zu denken ohne die im Hintergrund bereits lauernde Erfahrung des Losgelassenwerdens beziehungsweise Loslassenmüssens. Der Handgreifreflex, der sich bei manchen Neugeborenen wie der Griff der linken Hand um einen Geigenhals zeigt, demonstriert die innere Dynamik, die nach „Sicherung für sich selbst allein und für die Ewigkeit“ strebt, nach „Verewigung der Schossgeborgenheit“, „Drang von der Mutter bedingungslos im Urvertrauen so angenommen zu werden, wie man eben ist,“ „ineinander aufzugehen, weil man darunter das reine Dauern verspürt.“37 Die Lebens-Themen Urvertrauen, Geborgenheit, Einheitlichkeit, Ganzsein, Ineinander-aufgehen, Verschmolzensein, das reine Dauern haben hier ihren Ursprung. Andrerseits wird Verlorensein, Verlassenheit, Abgetrenntsein vor allem im Übergang zur Ablösung und Entborgenheit - zur bedrohlichen und angstvollen Lebenserfahrung. Aber auch das übergreifende Lebensgefühl der Gelassenheit gehört zu dieser inneren Dynamik, die innerhalb der psychoanalytischen Psychologie im Konzept der oralen Phase aufgeht. Die polare Urerfahrung von All-Eins-Sein versus Allein-Sein, scheint durch alle Formen hindurch. Der symbolische körperliche Ort dieser Erfahrung ist die Mundhöhle. Sie vermittelt einerseits das Erleben des köstlichen Einsseins: Zunächst dasjenige mit der stillenden Mutter und später die Verschmelzung im Kuss. Andrerseits bewirkt sie aber auch die elementare Erfahrung des Alleinseins bei der Lautäusserung: Aus der totalen Geborgenheit des Leibes-Innern trennen sich die Laute ab und etablieren die 37
Szondi, L.: Lehrbuch... 1972, S. 182 ©Mathes Seidl 2011
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Trennung von aussen und innen. Mit dem ersten Wort beginnt der Mensch einsam aber auch einzigartig zu werden. Mit dem Verschweigen können wir umgekehrt wieder versinken in der Dunkelheit der Mundhöhle oder dem Leib der Mütter. Die symbolische Urbewegung, in welcher sich die genannten lebendigen Erfahrungen vereinigen, ist eine herauslösende Geste: Herauslösung aus der ursprünglichen Verschmelzung, oder - gestaltpsychologisch ausgedrückt - das Heraustreten einer Figur aus dem Hintergrund. Noch prägnanter stellt sich die Urbewegung als Wechsel von der Einheit (all-ein) zur Einsamkeit (allein) und von der Null-Dimension zur Punkthaftigkeit dar. Der energetische Bereich der Oralität (m) ist selbstverständlich auch am Ursprung der Musik beteiligt. Die ersten einstimmig und unbegleitet gesungenen Töne dringen aus dem inneren Klangraum nach aussen in die klanglose Einsamkeit der noch unentdeckten Welt. Wenn das noch im Innern der Mundhöhle versunkene Summen nicht mehr genügt, öffnet sich der Mund, damit die Energie der Töne sich entladen, sich in der Umwelt klingend realisieren - und später von den Anderen gehört werden kann. Dank der Interaktion mit der Umwelt kann der Ton überhaupt losgelassen werden, um zaghaft (prozesshaft) ein spürbar werdendes Resonanzverhältnis von innen und aussen zu etablieren. Angebahnt wird die Bewegung durch den Atem: In der polaren Atembewegung ist die lebendige Erfahrung von Einheit und Einsamkeit schon enthalten. Der gesungene Ton ist fortgeschrittene Symbolisierung der Energie des Loslassens (m-). Deshalb kann sie als therapeutisches Mittel zur Bewältigung des real drohenden Abgrundes dienen (z. Bsp. beim Singen im Wald). ©Mathes Seidl 2011
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Puccini nutzt in der Oper „Madame Butterfly“ die Energetik des Summens zur Symbolisierung der vorehelichen Einsamkeit und Verschlossenheit. In der Nacht vor der Hochzeit summt der Chor zum Zeichen der Noch-Verschlossenheit. Erst die Heirat bedeutet die Öffnung zur Welt. Da der erste Schrei des Kindes sich nicht an ein Objekt wendet, - er ist expressiv („ich bin da“) und dient der Energieabfuhr (Loslassen) - lässt sich meines Erachtens folgern, dass musikalische Äusserung ursprünglich expressiv und nicht appellativ-objektbezogen ist. Vielleicht ist das eigene Ohr eine Art Objektvorbild und der Schrei ein erster Akt der Selbstwahrnehmung. In ästhetischer Hinsicht würde das bedeuten, dass Musik ursprünglich nicht Kommunikationsform ist.38 Im aushauchenden Verklingen der historisch frühen einstimmigen gregorianischen Gesänge kommen wir hörend mit der Energetik des Loslassens in Resonanz. Das weckt andere Eindrücke als das Ende oder der Schluss eines Musikstückes - denn im Loslassen sind wir einen entscheidenden Moment lang völlig verloren, da das kommende Neue noch nicht mit Erfahrung gefüllt ist. Die fundamentale Ambivalenz des Schwellenmoments wird erfahrbar: Einerseits verlockt das regressive Zurückmünden in die Geborgenheit des Innenraums, andrerseits kommen wir in dieser Erfahrung mit einem ins Unendliche ziehenden Freiheitsdrang in Berührung, der in uns den Einsiedler und die Sehnsucht nach Nicht-Sein weckt: „Am Fenster des Jenseits an den Grenzen des Daseins sehnsüchtig allein zu stehen“ heisst es bei Szondi.39 38
Allerdings ist nicht jeder Schmerzens- oder Freudenschrei musikalisch; Musik beginnt erst dann, wenn der Freudens- oder Schmerzensschrei der Menschenstimme in wirklichen Gesang übergeht... (Ernst Kurth) 39 Szondi, L.: Lehrbuch... 1972, S. 182 ©Mathes Seidl 2011
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Zum Bereich des Musikalischen gehören die Musikinstrumente. Sie sind psychosomatische Geräte par excellence: Indem wir streichen, blasen, schlagen, zupfen, tasten, werden unsere leib-körperlichen Möglichkeiten erweitert und zwar sowohl im somatischen Sinn von Ein- und Ausgreifens in die Umwelt als auch im psychologischen Sinn als Weitung des Ausdrucksradius. Im Rahmen einer vom Menschen abstrahierenden Musikauffassung sind die Musikinstrumente technische Umwandlungsgeräte, welche potenzielle Klangenergie in real erklingende Musik überführen. (Deshalb nennt E.T.A Hoffmann die Instrumente „lebendig-tote Dinger“.) Zu den oralen, m-betonten Musiker-Berufen rechnet Szondi pauschal die Bläser. Ausschlaggebend dafür ist der Umstand, dass die Instrumente in den Mund genommen werden. Für eine genauere energetische Analyse müssen wir jedoch weitere Aspekte wie Spielweise, beziehungsweise die Art der Tonerzeugung, die Klangeigenschaft sowie die musikalische Symbolik berücksichtigen.40 Bei den Blasinstrumenten zeigen sich im Bereich der Mundzone sehr verschiedene Verhältnisse. - In die Mundhöhle genommen werden - wie Brustwarze und Lutschdaumen - die Klarinetteninstrumente (inklusive Saxophon), die zur Tonerzeugung ein einfaches Rohrblatt benutzen. Bei manchen Musikern hinterlässt der Biss der Oberzähne in den „Schnabel“ des Mundstücks seine deutlichen Spuren, sodass hier eine oralsadistische Vermischung von gesteigert-aggressiver Mundenergie mit 40
Das heisst keineswegs, dass die Aspekte sich additionsmässig aufreihen lassen. Vielmehr sind es Aspekte, die sich gegenseitig durchdringen und uns in einem Gesamteindruck ansprechen. Jedes Instrument hat sein „Gesicht“. ©Mathes Seidl 2011
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oraler Lust zustande kommt. Der Luftstrom fliesst idealerweise frei strömend und wird durch das schwingende Blatt in der Regel weder gehemmt noch unterbrochen. Ein starkes Blatt kann allerdings Widerstand erzeugen, sodass leicht eine Stauung eintritt beziehungsweise ein gewisses Pressen des Luftstroms erforderlich ist. An diesem Beispiel lässt sich gut die Energetik des Faktors m studieren: Das Ausblasen des Tones (ausatmen) entspricht der Tendenz m- (loslassen), da der Luftstrom aus dem Innenkörper in die Aussenwelt entlassen wird. Der Widerstand, den Blatt und Mundstück dem freifliessenden Luftstrom bieten wirkt im Sinne der entgegengesetzten Tendenz m+: diese wirkt in Bezug auf die Lösungsbewegung hemmend und stauend, da sie die Zurückhaltung der Energie im Innenkörper (anklammern) zum Ziel hat. So nebensächlich diese Unterschiede auch erscheinen mögen, beruhen auf ihnen jedoch individuelle Vorlieben bishin zu verschiedenen Interpretationsstilen: Starke Blätter werden eher von „deutschen“ Spielern bevorzugt, die dem Ideal eines schweren, vibratoarmen Tons huldigen (Klangwelt der Oper „Freischütz“), während die dünneren Blätter mit ihrem leichten, vibratoreichen Ton eher im französischen Musikraum verwendet werden. - Bei den Oboeninstrumenten (Englischhorn, Fagott usw.), deren Mundstück aus einem doppelten Rohrblatt besteht es ähnelt einem zusammengepressten Strohhalm -, werden wie beim Auf-die-Lippen-Beissen beide Lippen über die Zähne gezogen, um einen Affekt zu unterdrücken. Die Luft wird in der Mundhöhle, das heisst in Brust- und Kopfbereich, extrem gestaut und durch einen schmalen Spalt gepresst. Die beiden Blätter schlagen gegeneinander und unterbrechen auf diese Weise den Luftstrom. Dieser intensiven Beeinflussung beziehungsweise Kontrolle des Luftstroms entspricht die Modifizierbarkeit des Klanges, der ©Mathes Seidl 2011
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zwischen Gequältsein und Inbrunst viele Ausdrucksnuancen hat. - Bei der Querflöte wird der Mund zu einem Pustemund geformt „Heile, heile Segen...“ singt die Mutter und bepustet zärtlich und kühlend die verbrannte Haut. Der Luftstrom beziehungsweise der Flötenton bekommt tatsächlich eine völlig aggressionsfreie zärtlich-hauchige Note. - Die Blockflöte hat, obwohl sie zur Flötenfamilie gehört aufgrund ihres Mundstückes ganz besondere Verhältnisse. Es wird, ähnlich wie der Schnabel der Klarinette, ganz in den Mund genommen, wird aber mehr „genuckelt“ - die oftmals enorme Speichelentwicklung hat etwas Lustvolles (das Wasser läuft im Mund zusammen). Allerdings wird die Blockflöte im Gegensatz zu den Klarinetten nicht mit im Brustbereich gestauter Luft geblasen. Vielmehr muss die Luftführung im Bereich des Mundes ausbalanciert werden, da sich bei zuviel Druck der Ton leicht überschlägt („schnappt über“), bei laschem Druck kommt kein stabiler Ton zustande, was oft den Eindruck haltlosen Geflötes erweckt. (Ich halte es übrigens für problematisch, Kinder, bei denen die ausdrucksgeladene Brustenergie zur Manifestation drängt, zu lange bei der Blockflöte zu halten. Wenn diese Energie nicht durch ein robusteres Instrument kanalisiert werden kann, bekommt das „harmlose“ Blockflötenspiel oft eine affektierte Note, die die in der Brust gestauten Affekte mehr tarnt als umsetzt und verwandelt.) - Bei den Blechblasinstrumenten (Horn, Trompete, Posaune, Tuba) wird der Mund fast geschlossen - ähnlich kontrolliert wie der anale Schliessmuskel, sodass, vergleichbar mit der Oboe, ein Luftstau entsteht, der durch ©Mathes Seidl 2011
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die eine schmale Lippenspalte in das kesselförmige Mundstück entladen wird. Während die Oboe mit dem Mundstück (Doppelrohrblatt) vollständig in den Mund genommen wird, ist bei den Blechbläsern der Kontakt mit dem Instrument äusserlicher: Der Widerstand, den diese Instrumente im Hinblick auf den freien Fluss des „Austönens“ bieten, erfordert nicht sosehr die Intensität des Brustraums sondern die kraftvolle Durchsetzungs- oder Entschlossenheits-Energie, die sich im Nacken bildet. Die energetischen Wurzeln menschlichen Lebens wirken sich nicht nur innerhalb der musikalischen Struktur aus (synchron) sondern auch als Phasen beziehungsweise Stilepochen im historischen Längsschnitt. Diejenige Stilepoche, die dem Oralitätsfaktor-Faktor m entspricht, ist die Gregorianik. Der Gregorianische Choral bildet Beginn und Fundament der abendländischen Musikentwicklung. Er ist rein gesanglich und einstimmig. Die prototypische melodische Gestalt ist die romanische Bogenform. Das zentrale melodische Intervall ist die Prim, die keine Tonhöhenveränderung sondern eine Tonwiederholung ist. Was spricht für die Zuordnung der Gregorianik als Stilepoche zur seelisch-energetischen Schicht des oralen Faktors m? - Innerhalb unserer Kultur ist die Gregorianik eine frühe Erscheinungsform; sie steht gleichsam als Neugeborenes am Anfang der abendländischen Musikgeschichte. - Sie ist rein gesanglich und einstimmig, kennt noch keine zweite Stimme und kein begleitendes Instrument, also kein Zweites: Sie ist objektlos. ©Mathes Seidl 2011
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- Der romanische Bogen als prototypische Verlaufs-Gestalt entspricht der Wölbung der Mundhöhle, in der der austönendströmende Atembogen sich umschlägt und nach aussen gelenkt wird; umgekehrt wird der einströmende Atem in die Urgeborgenheit der Körperhöhle zurückgeführt. - Das wichtigste Intervall ist die Prim, die eine Tonwiederholung darstellt und einstimmende, bisweilen einlullende Funktion hat. Die Prim als melodisches Intervall symbolisiert wiederum den ersten Faktor des Seelenlebens: sie ist lediglich losgelassener Ton, herausgelöst aus dem Ursprungston. Musikalisch wie psychologisch handelt es sich um das nochmalige Hervorbringen desselben Tons aus der ursprünglichen Verschmolzenheit. Hier ist weder ein Schritt noch ein Sprung wie bei den späteren Intervallen im Spiel. Dieser energetische Grundvorgang zeigt sich beispielsweise in der Dualunion beziehungsweise deren Auflösung. Mutter und Kind verhalten sich zueinander wie die zwei Töne der Prim sie sind beide gleich und doch unterscheidbar. Selbstständigkeit (Autonomie) vollzieht sich musikalisch erst im Sekundschritt. Musikalisch-energetisch formuliert: Der Sprung in die Sekund bringt eine Befreiung aus der blockierten Energie des Dilemmas (m+/- = anklammern/lösen) mit sich.41 - Die Funktion des Gregorianischen Chorals besteht im Einstimmen auf die Welt; es geht nicht um musikalische Mitteilung und deren Rezeption sondern um die transzendente Situation von der Unendlichkeit des Inneren einerseits und der Unendlichkeit des einsam machenden Äusseren. 41
Szondi spricht bei der Gleichzeitigkeit zweier Tendenzen von einem Dilemma (griech., eigentlich „Doppelgriff“) und meint allgemein die schwierige Wahl zwischen zwei gleichwertigen Übeln.) Energetisch ist das leicht nachzufühlen: Anklammern und ablösen gleichzeitig führt zum ungemütlichen Stillstand. ©Mathes Seidl 2011
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Dies widerspiegelt auch sein Raum: In der Frühzeit sind es die Katakomben, welche die Dunkelheit der noch geschlossenen Mundhöhle symbolisieren, später die Höhlenform der Kirchen und Kuppeln, deren Fensterlosigkeit sich in den magischen Räumen der Opern- und Konzerthäuser wie der Theater fortsetzt. Zur oralen Struktur gehören wesentlich die Genres - Vokalmusik; sowie die - Unterhaltungsmusik, die die regressive Verschmelzung zum Ziel hat (der Unterhalt als Sicherungsprinzip). Musikbeispiel: Gregorianischer Choral Notenbeispiel und Strukturform42:
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Aus Preussner, Eberhard: Musikgeschichte des Abendlandes. Wien 1958, S. 20 ©Mathes Seidl 2011
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Veränderung d: Auf-Suche-Gehen
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Kleben
Dem Bereich der Oralität folgt jener der Analität. In Szondis Energetik steht für diesen der Faktor d (abgeleitet von Depression). Kennzeichnend für ihn sind die beiden antagonistischen Bewegungskräfte Auf-Suche-Gehen (d+) und Kleben (d-). Analität bezeichnet die Psychologie des Rektal- und Enddarmbereichsbereichs. Für die Depression ist die Suchbewegung zentral. Nach psychoanalytischer Auffassung sucht der depressive Mensch das verlorene Objekt im eigenen Inneren. Diese Suche ist aussichtslos im wirklichen Sinn des Wortes. Sie führt zu einem Verlust von Lebendigkeit mit Perspektive und Anregung und damit zu einem Verlust von Hoffnung. Während die Tendenz d+ alles bewirkt, was mit Veränderung zu tun hat, ruft ihr Gegenstück die Tendenz d- Beharrlichkeit bis zum Klebenbleiben hervor. Das gleichzeitige Vorherrschen beider Tendenzen führt zu dem höchst unangenehmen Dilemma von gespanntem und aufgeladenem Hin- und Hergerissenseins am Ort, im Gegensatz zum befriedigenden rhythmischen Wechsel von Erfüllung des einen Bedürfnis und Erfüllung des anderen. Auf den ersten Blick scheint dieses Gegensatzpaar den oralen Tendenzen von Anklammern und Loslassen sehr ähnlich. Die biologischen Grundlagen machen den Unterschied jedoch sofort deutlich: ©Mathes Seidl 2011
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Während die Dynamik des oralen Faktors m sich im Austausch von Innenwelt und Aussenwelt, vermittelt durch die Mundhöhle (Atem, Nahrung), abspielt, baut der Analitätsfaktor d auf der peristaltischen Energetik des Darms und dessen Fortsetzung in der Motorik auf: Das dynamische Prinzip der Analität lautet: organischer Wechsel von Progression und Retention. Ist dieser Bewegungsrhythmus gestört, kann es im Extremfall zu einer einseitigen Blockierung, Fixierung beziehungsweise Stauung der Energie in einem der Pole d- (beharren) beziehungsweise d+ (fortbewegen) kommen. Wesentliche Aspekte der d- Energetik sind „der Drang, sich jeder Veränderung einer Lage zu widersetzen; der Drang, in seinem eigenen Kot und Urin zu liegen, in die Hose zu machen, zum Bettnässen, mit den Exkrementen zu spielen, sie am eigenen Körper, am Boden und an der Wand zu verschmieren; der spätere Drang anstelle dieser Urtendenz der Analität, sich mit Spielen im Sand, mit Plastilinarbeiten und Malen zu begnügen; die noch spätere Tendenz, alles zu sammeln, geizig zurückzuhalten, die Retention von allem, was vermeintlich oder real Wert hat, die Lust zu sparen und alles aufzugeben, Habgier und Geiz, Entsagungsfreude und Festhalten an allem, was alt ist, was einmal war, das Verharren in einem ziellosen Konservativismus; aber auch die sozialpositive Tendenz der Treue zur Familie, Rasse, Klasse, Nation und Religion, kurz: die Beharrungstendenz auf allen Gebieten des Daseins ist der ‚negative’ Pol des Faktors d. Hingegen stellen der Drang nach Veränderung, das Auf-dieSuche-Gehen nach neuen Objekten, die Tendenz der Neuerung, der Sinn für die Erwerbung neuer Wertobjekte, Neugierde, Eroberung neuer Welten, Freigebigkeit, Ver-
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schwendung aller Werte, Untreue die positive Strebung d+ des Faktors dar.“43 In der Psychoanalyse steht Analität beziehungsweise die anale Phase für die Zeit der ersten Produktivität und Kreativität eine Zeit, die ganz im Zeichen der Materialität steht. Das erste selbst Gemachte ist ein machtvoller Akt produktiver Selbststiftung, bei dem der Mensch ein Stück von sich selbst abtrennt und sich selbstgeformt zur Welt bringt. Mit diesem Stück von sich selbst wird er gleichzeitig zum Objekt seiner selbst. Von da an kann er sich auf die Suche nach neu-eigenen Objekten machen, mit denen er in eine Resonanzbeziehung gerät, da sie ja ursprünglich von ihm selbst stammen. Mit diesem Akt organischer „Umweltbesetzung“ stiftet er in seinem Bewusstsein die Kategorie Umwelt; sie kann er neugierig (d+) entdecken, erforschen und über sie als machendes Wesen verfügen - und dabei seine Selbstverfügbarkeit inszenieren. Auch im Musikalischen bewirkt die Energetik des Faktors d die Machbarkeit. Das betrifft in erster Linie die Herstellung der Instrumente, den härtesten Dingen in der wesentlich fluidalen Klangwelt. (Ist es nicht erstaunlich, wie fest und materiell die knöchernen, hölzernen, metallischen Instrumentendinger sind und wie flüchtig ihr klingendes Produkt ist? Treten nicht auch hier die Spannungsverhältnisse von klebender Beharrlichkeit d- und suchend-flüchtiger Beweglichkeit d + zutage? Die Symbolik von lebendigem, flüssigen, weichem Kern im Innersten der harten Materie treffen wir auch im Motiv vom Lied oder einer Stimme im Innern des Baums oder Steins an. Für Depression steht häufig das Bild vom
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erfrorenen oder versteinerten Herz, in dessen Innern sich das Leben verbirgt, beschworen44. Nicht nur das erste Gemachte des Menschen fällt zu Boden: Auch die Musikinstrumente sind „gemachte“ Objekte: sie heissen lat. organi (= Körperteile). In Raphaels Darstellung der Heiligen Cäcilia (1514), der Schutzheiligen der Musik, liegen sie deshalb am Boden - der Heiligen zu Füssen.
Fuss heisst nach den Gebrüder Grimm ursprünglich „das zu Boden gefallene Glied“; die Analität ist auch die Welt des Fusses, des Gehens, Schreitens, Laufens; hier kommt der Mensch in Kontakt mit der Erde. Die generelle Zugehörigkeit der Musikinstrumente zum analen Lebensbereich beziehungsweise dem der Depression - im Sinn der Problematik um das verlorene Objekt - erscheint mehr als plausibel. Die Gesamtheit der von den Instrumentenbauern hergestellten Musikinstrumente korrespondiert mit der Gesamtheit der menschlichen physiologischen Gegebenheiten, während die verschiedenen Instrumententypen mit ihren unterschiedlichen Spieltechniken den differenzierten individuellen Verhältnissen entsprechen. 44
Es liegt nahe, an Novalis zu erinneren: „Krankheit ist ein musikalisches Problem“. ©Mathes Seidl 2011
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Dies alles gilt für die musica instrumentalis, die, mittelalterlicher Anschauung gemäss, der unteren Welt der Materie beziehungsweise dem menschlichen Unterleib entspricht - also dem Ort, der das erste Produkt im Sinne der prima materia45 birgt oder freigibt. Schoss, Kniee, Beine und Füsse sind die wichtigsten Unterleibsorgane und spielen in der musikalischen Praxis eine bedeutende Rolle: - Die Knie-Geigen beziehungsweise die Gambeninstrumente (ital.: gamba: Bein), und vor allem das Cello, werden in dieser Region gehalten (besessen); nicht von ungefähr wird Don Quixote der Ritter von der traurigen Gestalt von Richard Strauss durch den fest in seinem Sattel sitzenden und reitenden Cellisten symbolisiert. Don Quixote op. 35; Sinfonische Dichtung von Richard Strauss. Strauss nutzt beim Cello die anale Qualität (sitzen, besitzen, besessen sein) der Spielhaltung. Innerhalb der musikalischen Symbolik und Semantik sind die psychologischen Bedeutungen der Spielbewegungen meistens vernachlässigt. So wird auch der Charakter von Don Quixotes Kompagnon Sancho Pansa trefflich durch die Bratsche symbolisch gefestigt, die durch ihren verglichen mit der Geige übergrossen Korpus beim Spielen den Eindruck von Schwerfälligkeit, Behäbigkeit und Bequemlichkeit - bis hin zum Tölpischen46 - induziert; Qualitäten, die der Figur des Sancho Pansa entsprechen.
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Das ist ein Begriff aus der Jungschen Psychologie, der sich auf die Alchemie bezieht: Im alchemistischen Prozess wird Kot als prima materia in Gold umgewandelt. 46 Diese Züge kommen in vielen Bratschenwitzen zum Tragen: z. Bsp.: "So jung und schon Bratscher." ©Mathes Seidl 2011
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- Nicht nur der Kontrabass mit seiner Funktion als Fundament und "Fuss" des Orchesters sondern alle Instrumente mit Bassfunktion gehören dem Wirkungsbereich des Faktors d an: Die tiefen Instrumente wie Fagott, das bezeichnender Weise "Furzrohr" genannt wird, sowie Kontrafagott, Bassklarinette, Tuba etc. Die tiefe Stimmlage entspricht dem tiefsten Resonanzraum in der Analzone des Beckens, dessen Dynamik beim Singen gut gespürt werden kann. Auch die Tonbildung beim Fagott energetisiert den analen Resonanzraum und hier insbesondere die Dynamik des Schliessmuskels, der die Schlüsselstelle für die Entscheidung von Retention (Behalten) und Progression (Geben) darstellt. Für die anale Qualität des Fagotts gibt es ein anschauliches Beispiel: In dem Oratorium "Die Schöpfung" von Joseph Haydn wird die Erschaffung der Kriechtiere durch ein Kontrafagott versinnlicht. Es spielt in diesem Moment auf den analen Aspekt der Schöpfung an, der mit Kreativität, machen, aber auch geistloser, niederer Kreatur (der Kriech-tiere) zusammenhängt. Auch kriechen gehört übrigens zum Formenkreis der Analität, worauf das sprachliche Bild vom Arschkriecher hinweist. Zur Bass-Funktion gehört der basso continuo, der ununterbrochen fortlaufende Bass. In ihm manifestiert sich eindeutig die Suchbewegung, zu der auch der ganze Bereich der Motorik gehört. basso continuo; Der Generalbass oder Basso continuo bildet das harmonische Gerüst in der Barockmusik. Wegen der großen Bedeutung des Generalbasses in dieser Zeit wird diese Epoche auch Generalbasszeitalter genannt.
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Der Generalbass besteht aus der tiefsten Instrumentalstimme (Basslinie) in Verbindung mit zur Melodie und zum musikalischen Ablauf passenden Akkorden. Indem der Mensch mit seinem ersten Stuhl ein Objekt gestiftet hat, energetisiert sich in ihm Bewegungslust, die die Aufhebung der räumlichen Distanz zwischen ihm und dem Objekt bewerkstelligt und die Suche nach dem Objekt hervorruft. Er ist nun nicht mehr abhängig sondern beweglich, autonom, und seine Erfahrung, etwas machen zu können, lassen ihn nach jenen Objekten suchen, die seinen Bedürfnissen und spezifischen Fähigkeiten entsprechen. Mit den Instrumenten hat der Mensch Musik objektiviert; er erlebt sie nicht mehr wie im oralen m-Zustand als ein leibliches Hingegebensein an Musik, sondern als machbar und objektiv. Auch die musikalische Struktur bleibt nicht objektlos einstimmig sondern findet ihr Objekt in der zweiten Stimme, (Zweistimmigkeit), wie es beim Kontrapunkt, der selbstständigen zweiten Stimme und schliesslich der Fugentechnik stilbildend der Fall ist. Kontrapunkt und Fuge sind ein Spiel zweier gegenläufiger Stimmen. Zweistimmigkeit ist aber mehr als die Ablösung der Einstimmigkeit. Sie bedeutet einen Qualitätssprung zur Mehrstimmigkeit, wodurch die Perspektive der Vielfältigkeit eröffnet wird.
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In der Musik wird von Intonation gesprochen. In der ursprünglichen Bedeutung heisst "intonieren" die Töne hervorbringen. Hier zeigt sich der unmittelbare Zusammenhang mit dem analen Produkt. Der Ton als verfügbares, machbares Objekt entspricht dem anal gestifteten Objekt. So ist es nur konsequent, wenn im Zusammenhang mit dem produzierten Ton von "sauber" intoniert und "unsauber" gesprochen wird. Das legt nahe dass der unsauber intonierte Ton mit dem Verschmieren von Kot bei der Ausscheidung zu tun hat und entsprechend der sauber und rein intonierte mit dem reinlichen Ausscheidungsvorgang. Die ausserordentliche Bedeutung, die die Intonation bei professionellen Musikern hat, lässt sich meines Erachtens nur verstehen, wenn wir sie ins Verhältnis zur Ich-Bildung setzen. Das anal gestiftete Objekt erscheint als entscheidendes Phänomen im Moment von Autonomiegewinnung, Selbstständigwerdung, Selbstverfügbarkeit, Selbstbehauptung und Durch-setzungs-vermögen - der anale Aspekt ist hier besonders deutlich. Das ist eine wichtige Station der IchBildung. Ich vermute, dass die affektive negative Reaktion auf einen unsauber gespielten Tones eine tiefsitzende Reaktion auf die gehemmte anale Energetik beim Musizieren ist: Wenn die spezifisch analen Energien nicht organisch zum Fliessen kommen, rührt das an die psychologisch wichtige Etablierung der Ich-Position. Das energetische Feld der Analität ist gekennzeichnet durch die antagonistischen Bewegungsformen "Auf-die-SucheGehen" und "Kleben" sowie von der durch diese Bewegungen definierte Beziehung zum Objekt. Musik ist Zeitkunst, sie läuft mit der Zeit und ist die Kunst des Auf-die-Suche-Gehens par excellence. Wo hat sie ihr Objekt? ©Mathes Seidl 2011
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Aufschluss darüber gibt das Phänomen Rhythmus. Rhythmus ist zeitliche Gliederung, also Veränderung, was darauf hinweist, dass das Andere mitspielt. Das Wort Rhythmus bedeutet einerseits halten, Halt geben aber auch strömen, fliessen, womit sich die Zugehörigkeit von Rhythmus als musikalisches Phänomen zum Faktor d im Sinne der zwei polaren Bewegungstendenzen erweist. Halt geben bedeutet Objektivierung des ansonsten Strömenden: im Rhythmischen deutet sich klingend immer wieder ein Anhalten und Unterbrechen des kontinuierlichen Zeitstromes an, was einen Anflug von Objektivem erweckt. Dieser Eindruck wird jedoch vom Strömenden des Rhythmus sofort wieder aufgelöst. So erweist sich im Hören jedes musikalische Objekt als Illusion oder: jedes Objekt verliert sich bereits im Entstehen. Insofern ist Musik ewig findend und ewig suchend zugleich - ihre zutiefst melancholisch machende Nachricht lautet: nie wieder!47 Unter den Intervallen ist die Sekund dasjenige, welches das Wesen des Faktors d manifestiert. Alle anderen Intervalle sind Sprünge. Wie der erste Schritt, mit dem wir uns auf den Weg machen, der wichtigste ist, ist es die Sekund für diejenige Musik, die das motorische Bewegungselement betont: Mit der Sekund kommt die Musik ins Laufen und bekommt ihre Läufe, Skalen und Fugen. Der von mir mehrfach erwähnte Musikwissenschaftler Ernst Kurth spricht im Rahmen seiner Musikpsychologie von einer Gravitation zur Tiefe. Ihr sei zuzuschreiben, dass wir Akkorde von ihrem Schwerpunkt, beziehungsweise Grundton her „aufbauen“. Diese Gravitation zur Tiefe ist in meinen Augen eine Auswirkung des analen Faktors d: Die von diesem Faktor 47
Dieser Zusammenhang von halten (objektivieren) und weiterströmen (Auflösung des Objektiven) in Einem mögen den Philosophen Hermann Schmitz bewogen haben, in Musik ein "Halbding" zu sehen. ©Mathes Seidl 2011
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bewirkte Körperenergetik setzt sich in den menschlichen Schöpfungen organisch fort48: Phänomene können nicht anders als in ursprünglicher körperlicher Zugehörigkeit und deren Erweiterung wahrgenommen werden. Während Kurth von „Umformung“ (der objektiven Phänomene) spricht - , ziehe ich vor, von Resonanzwirkung zu sprechen. Resonanz besagt, dass unser Körpergefühl die ursprünglichen, körperlichen Herkunftsorte - im Fall der Gravitation der untere Bereich von Becken, Beinen, Füssen (Fundamentalbereich) und dessen Zugehörigkeit zum Bereich des Fundamentalen - mitschwingend wiedererkennt. Alle Aspekte, die ich zur Erfassung der spezifischen Qualität des Wirkfeldes des Faktors d beziehungsweise der spezifischen Energetik der beiden Objektbewegungen kleben/Auf-Suche-Gehen zusammengetragen habe, finden in geradezu idealer Gestalt ihre Vereinheitlichung im Stil der Barockmusik: Die Freude an der Machbarkeit, an der Bewegung als Motorik und an der Mehrstimmigkeit als ein Sich-Finden und Sich-Verlieren an die andere(n) Stimme(n). Als Beispiel empfehle ich die Brandenburgischen Konzerte von J. S. Bach (1685-1750). Die Brandenburgischen Konzerte sind eine Gruppe von sechs Konzerten (BWV 1046-1051), In denen Bach die verschiedensten zu seiner Zeit gängigen Instrumente mit solistischen Aufgaben bedenkt. In der Partitur des 6. Brandenburgischen Konzertes für 2 Violen, Cello, Gambe und Cembalo lassen sich alle angeführten Aspekte entdecken: Dunkle (schwere) Instrumente beherrschen die Szene; zwischen den zwei Solobratschen findet eine 48
Für den Focusing-Philosoph und -Psychologen Eugene T. Gendlin ist Kultur generell „Erweiterung des Körpers“. ©Mathes Seidl 2011
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Treibjagd statt, bei der die eine der anderen als seinem Objekt dicht auf den Fersen ist (und bei der die Qualität der Suchbewegung fast ad absurdum geführt ist); und in aufdringlichster Weise produziert sich der ewig fortlaufende Bass ("basso continuo"), der in analer Reaktionsbildung auf die haltlosen Bratschen das tut, was die Musiker in ihrem Jargon als "schrubben" bezeichnen. Übrigens stellt sich hier ein Effekt ein, der mit der Zeit die ursprüngliche innere Einheit der gegenläufigen Bewegungen von Auf-die-SucheGehen und Kleben auf den Plan ruft: Die ewig fortlaufenden (d+)Bässe tun "ewig das Gleiche" und ziehen dabei gleichzeitig in ihren Gegenpol auf sich - sie treten auf der Stelle.
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Musikbeispiel: 6. Brandenburger Konzert
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Liebe h: Persönliche Liebe
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Ideelle Liebe Dein ist mein ganzes Herz!
Diesen Kuss der ganzen Welt!
Faktor h - abgeleitet von Hermaphroditismus - bezeichnet das Kraft- beziehungsweise Energiefeld Eros. Hermaphroditismus (Zwittertum) bezeichnet das geschlechtliche Zwittertum: Ein Mensch, der nicht eindeutig männlich oder weiblich ist, sondern Geschlechtsorgane und/oder sekundäre Geschlechtsmerkmale oder Anteile von beiden Geschlechtern hat, ist ein Zwitter oder Hermaphrodit. Dass Szondi für den h Faktors das Bild des Hermaphroditen setzt, hat folgenden Grund: Die noch nicht in weiblich/männlich differenzierte hermaphroditische Geschlechtlichkeit steht für die allumfassende Liebe (Alliebe). Eros ist der griechische Gott der Liebe, einer der ältesten Götter, der zugleich mit Erde (Gaia), Finsternis (Erebos) und Nacht (Nyx) aus dem Chaos geboren wurde. Nach anderen Quellen gilt Eros als Sohn des Kriegsgottes Ares und der Aphrodite und als einer der schönsten Götter. Als Sinnbild der Freundschaft und Liebe zwischen Jünglingen und Männern wurde er zusammen mit Anteros (dem Gott der Gegenliebe und Rächer verschmähter Liebe) verehrt. In hellenistischer Zeit erscheint er als Knabe, der mit seinen Pfeilschüssen die Liebe erweckt. Im römischen Mythos entspricht ihm der Gott Amor; Eros ist auch das der geschlechtlichen Liebe inne©Mathes Seidl 2011
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wohnende Prinzip, die sinnliche Anziehung. Die unterschiedlichen Phänomene des Eros-Kreises beruhen auf den polaren Tendenzen zu persönlicher Liebe (h+) einerseits und überpersönlicher, ideeller Liebe (h-) andrerseits. In beiden Fällen geht es um das Prinzip Bindung: "Eros ist die Triebkraft, welche alles Lebende zueinanderzieht und zusammenhält. Nichts gibt es in der lebendigen Welt an Bindung ohne ihn. Er ist die Wurzel der Liebe, der Zärtlichkeit und der Grund der Anziehung. Er ist sowohl der Erzeuger der individuellen Personenliebe als auch der kollektiven Menschenliebe. Eros ist der Faktor jeglicher Bindung von Mensch zu Mensch in Sexus und Liebe, im Körper und im Geist".49 Nachdem es bei der oralen (m) und analen (d) Dynamik um die subjektive Gestaltung der Beziehung zum äusseren Objekt ging (vom Verlassen der Höhle des Eigenen zur Suche des Anderen in der Umwelt), handelt es sich bei der Eros-Energie um die Gestaltung der inneren Bindung von Mensch zu Mensch. Die Qualität der Innerlichkeit, deren zentrales Organ das Herz ist, kommt ins Spiel. Deshalb spricht Szondi im Zusammenhang mit der Eros-Kraft auch von "Herzwesen"50. Herzlichkeit, Innerlichkeit, auch eine gewisse Sentimentalität kennzeichnen auch die musikalische Welt, die aus der verborgenen Quelle der Erosenergie hervorgeht. Ihre musikgeschichtliche Zeit hat sie während der Blüte der Empfindsamkeit. Empfindsamkeit wird eine in erster Linie literarische Strömung innerhalb einer Gefühlskultur des 18. Jahrhunderts genannt. Kennzeichnend für sie ist die Hinwendung zu einer 49 50
Szondi, L.: Lehrbuch...1972, S. 66 ebda: S. 40 (Tabelle 2a) ©Mathes Seidl 2011
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„sentimentalen“, antirationalistischen Weltsicht. In der Empfindsamkeit herrscht die Qualität des Feinen und Zarten. Die ästhetische Idee des empfindsamen Stils geht auf in dem Motto nur Ausdruck, keine Form - alles ist auf Rührung angelegt. Es geht nicht um die körperliche Einholung oder gar Eroberung des äusseren Objekts sondern um innere Anrührung, die sich allenfalls im Herzklopfen des empfindsam berührten Objekts auswirkt. Die oftmals harmlos daherkommende Gefühlsseligkeit ist wohl Ursache dafür, dass sich ein Prototyp der Empfindsamkeit, das zu seinen Zeiten beliebte Singspiel, nicht auf den Theaterbühnen halten konnte. Psychologisch ist das plausibel. Eros ist dialektisch gebunden an den „ergänzenden Widersacher“ Thanatos. Dessen Energie - bei Szondi geht sie auf im Thanatosfaktor s - bewirkt Tatkraft und sexuelle Aktivität. Fehlt diese Dynamik im Leben, bleibt das dramatische Geschehen nicht nur auf der Bühne langweilig - auch der sexuelle Akt erschöpft sich nicht im anrührenden Vorspiel. So wie die verspielte Zärtlichkeit der Tiere abgelöst wird von der sexuell-betonten Beisslust, hat die Oper dem Singspiel gegenüber eben jenen dramatischen Biss, der die Zuschauer "packt" und nicht nur anrührt.
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Karl Ditters von Dittersdorf (1739-1799) österreichischer Komponist, *Wien 2.11. 1739, Schloss Rothlhotta (bei Neuhof, heute Nové Dvory, Mittelböhmisches Gebiet) 24.10. 1799; gehört mit seinen etwa 40 Opern und Singspielen (»Doktor und Apotheker«, 1786) zu den Begründern der deutschen komischen Oper. Er ist ebenso wie der Bachsohn Carl Philipp Emanuel Bach ein typischer Vertreter des empfindsamen Stils.51 Charakteristisch für die Qualität der Innerlichkeit ist die einseitige Betonung der Eros-Qualität, sprich: Verbindlichkeit. Diese kippt jedoch vielfach um in Unverbindlichkeit und Harmlosigkeit. Zum absoluten Ideal erhoben und gar noch im Verbund mit der alles überhöhenden Erlösungs-Idee, mündet der reine Eros in Richard Wagners Idee und kompositorischer Ausführung der unendlichen Melodie (unendlicher Eros). Mit dem Ausdruck Unendliche Melodie rechtfertigte Richard Wagner die Melodik in seinen Musikdramen, die sich einer periodischen Gliederung widersetzt (also einerseits nicht deutlich gegliedert ist und andererseits nicht enden will). Über Wagner hinaus ist der Begriff zum Symbol für eine Auflösung der musikalischen Formen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts geworden, oftmals mit schwärmerisch-esoterischem Beigeschmack. Wagner gebrauchte die Bezeichnung erstmals 1860 in seiner Schrift „Zukunftsmusik“, um sein eigenes Kompositionsverfahren zu definieren. Zunächst behauptet er dort, „dass die einzige Form der Musik die Melodie ist.“ Wenn ein Musiker das Unaussprechliche sage, sei „die untrügliche Form seines 51
Wer die Möglichkeit hat, eine der 12 Symphonien oder Streichquartette zu hören oder selbst zu spielen, wird berührt sein von der Authentizität der zu Herzen gehenden Einfachheit und Schlichtheit dieser Musik. Hier herrscht Eros im Sinne reiner Verbindlichkeit ohne Beimischung von schärfendem Willen und entsprechender Dramatik. ©Mathes Seidl 2011
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laut erklingenden Schweigens […] die unendliche Melodie.“ Damit machte er sie also zu einer Art innerem Monolog oder Bewusstseinsstrom. Wagner stellte die unendliche Melodie als historisch notwendige Befreiung von den Tanzformen der italienischen Oper dar. Wohl aufgrund zahlreicher Diffamierungen in der Folgezeit („unendliche Melodielosigkeit“) verwendete er den Begriff später nur noch selten. Der Musikwissenschafter Ernst Kurth sieht im Melodiösen im Sinne der unendlichen Melodie das eigentliche Prinzip der Musik: Im Melodiösen offenbart die Musik den ihr innewohnenden elementaren einheitlichen Bewegungszug, die „klingende Bewegungsenergie“, „kinetische Energie“, die in den Aspekten Rhythmus und Harmonie ihre sekundären Gehilfen hat: Rhythmus ist für ihn ein sekundäres Phänomen, das durch die Projektion kinetischer Energie auf die Motorik zustande kommt. Rhythmische Unterbrechung des melodiösen Stromes wirkt als Pulsierung und lebendige Fortsetzung. Man könnte bei Kurth von der Geburt der Musik aus der - nicht motorisch aufzufassenden - unendlichen Bewegung sprechen. Richard Wagner spricht im Rahmen seiner Musikanthropologie der Melodie das primäre Prinzip der Weiblichkeit zu, während das männliche Prinzip sekundär von aussen dazukommt, wie es der männlich-eindringlichen Sexualität entspricht. Auch in der Psychologie Szondis ist die Eros-Energie weiblicher Natur, während die der „Erosenergie“ entgegenwirkende „Thanatos-Energie“ (s), diejenige Kraft ist, die entbindet, und männlich ist (dazu an entsprechender Stelle mehr). Nach Szondi bewirkt Eros zwei Bindungsformen: Einmal die horizontal verlaufende persönlich-erotische Herz-zu-HerzBindung, die sich im zeitlich-strömenden Ablauf der Melodie ©Mathes Seidl 2011
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manifestiert. Die apersonal-ideelle Eros-Form lässt sich gut verbinden mit den Gesetzen der musikalischen Harmoniebildung und des daraus resultierenden vielstimmigen Zusammenklangs. Ernst Kurth betrachtet harmonikale Strukturen als Träger potenzieller Energie. Im Gegensatz zur strömendmelodiösen personalen Energie - diese Form ist für Kurth die ursprüngliche - bleibt die Energie in den Harmonien gestaut und zusammengeballt, man kann im Sinn der unendlichen Melodie Wagners durchaus von „unerlöst“ sprechen. Ursprünglich bedeutet Harmonie „zusammenfügen“, „Gelenk“. Im Bereich der Harmonik wirkt Eros als Wirkkraft innerer Zusammen-Fügung und innerlicher Verbindung - auch in dieser Funktion kommt das eher Gestaute zum Ausdruck während sie im Bereich der Melodik die nacheinander strömend auftauchenden Töne als Glieder in Bewegung verbindet. Übersetzt in das Szondische Denken würde also persönliche Liebe durch einen Energiefluss zustande kommen während sich der ideelle beziehungsweise harmonikale Eros eher aufgrund einer Stauung der Energie im Sinne potentieller, nicht aufgelöster Energie manifestiert. Das heisst natürlich nicht, dass gestaute Formen gegenüber fliessenden defiziente Formen sind. Im energetischen Sinn sind sie gleichberechtigt. Problematisch wird es nur in dem Falle, wenn es zu keiner lebendigen Rhythmisierung von Spannung und Entspannung kommt. In vielfacher Hinsicht gibt es einen Zusammenhang von ErosEnergie und Streichinstrumente. Der ursprüngliche Sitz des Mutterinstrumentes der Geigenfamilie, der Viola - die anderen Streichinstrumente sind Ableitungen von ihr - war die Herzgegend. Die Viola wurde an die linke Brust gehalten, erst später rutschte der Sitz in Kopfnähe zu Schulter, Schlüsselbein und Hals. ©Mathes Seidl 2011
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Zwischen Musikinstrumenten und Organen besteht ein tiefer Zusammenhang: Organum bedeutet Instrument, Werkzeug und Teil des Körpers, wie ich schon im Zusammenhang mit der Analität erläutert habe. Die Körperstellen, an die wir die Instrumente halten, sind energetische Entladungsorte und psychosomatischer Ursprungsorte. Bei den Streichinstrumenten ist es das Herz. Die Vierteilung der Streichinstrumente in Geige, Bratsche, Cello und Bass entspricht einer archetypischen Gliederung: Die Aufteilung einer Ganzheit in ihre vier Aspekte, wird in der Jungschen Psychologie als Quaternitäts-Prinzip bezeichnet. Dieses anthropologische Grundmuster - am allgemeinsten konkretisiert in der Einteilung der Welt in vier Himmelsrichtungen wie der Jahreszeiten in Frühling, Sommer, Herbst und Winter - erlaubt es, in der Musik die Aufteilung der Stimmlagen in Sopran, Alt, Tenor und Bass, die Viersätzigkeit in der Klassik52, die Viersaitigkeit der Streichinstrumente. Für C.G. Jung ist die Vierordnung Ausdruck der Wirklichkeit des Menschlichen. Welcher Wirklichkeit entsprechen die Streichinstrumente? Die prototypische Form der Geigenfamilie ist das weibliche Körperschema. Dadurch gehört die Geigenfamilie zum Formenkreis der Anima. Die unbewusste Gleichung heisst Geige=Weib. Hier will ich nur andeuten: Die Geigenfamilie entspricht den vier Aspekten des Weiblichen beziehungsweise den vier Arten, in denen der Mensch das Weibliche erlebt: der Mann erlebt es als sein gegengeschlechtliches Prinzip, aber auch seines eigenen Unbewussten (Anima), die Frau erlebt es als Figuration ihrer eigenen Identität. In der Geige manifestiert sich die persönlichste Form des Weiblichen: in der Haltung nahe beim Kopf drückt sich die 52
Siehe dazu: Karbusicky, Vladimir: Empirische Musiksoziologie. Wiesbaden 1975 ©Mathes Seidl 2011
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Bewusstseinsnähe aus. Die Bratsche verkörpert den mütterlichen Aspekt des Weiblichen. Dafür sprechen Stimmlage (Alt), Haltung (die leichte Abhängigkeit im Brustraum) und die musikalische Symbolik. Das Cello entspricht der sitzenden, besitzenden weiblichen Gestalt, deren wie beim Reiten gespreizte Beine nicht nur anale sondern auch phallische Qualität anklingen lassen. Der Kontrabass schliesslich repräsentiert jene Urmutter, die Szondi53 als unbewusstes Urbild für den Erosfaktor h setzt, das hermaphroditische Urweib, die bärtige Urfrau der Mythologie. Der Kontrabass steht für die weibliche Urgestalt mit der tiefen unmenschlichen Stimme, deren Klang sich dem bedrohlichen Geräusch nähert. Deshalb verschwindet der Kontrabass aus der Partitur in dem Moment, wenn in Wagners Walküre Brünnhilde angesichts der persönlichen Liebe zweier Menschen entgöttlicht und vermenschlicht wird: an seine Stelle tritt das Streichquartett als Symbol der Menschenwelt. Die Musikinstrumente entsprechen selbstverständlich mehreren Energiequellen: Bei den oben besprochenen handelt es sich um dominante Formaspekte. Die Geige hat trotz ihrer Erosbetonung auch phallische Qualitäten, wenn wir beispielsweise an den Aspekt der Virtuosität denken. Meine objektiv vorgehende und skizzierende energetische Strukturanalyse kann nur die allgemeinsten Merkmale hervorheben. Die strukturelle Wirklichkeit hängt wesentlich von den individuellen und auch historischen Vorlieben ab. In den bekannten Musizier-Kreisen von Freunden alter Musik beispielsweise wird der phallisch-virtuose Aspekt der Geige kaum dominierend sein.
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Virtuosität ist ein Begriff für musikalisch-artistische Fähigkeit beziehungsweise „Tüchtigkeit“ (lat. virtus), in dem das lateinische vir für Mann, Männlichkeit aufscheint. Geigerische Virtuosität ist meistens gekennzeichnet durch spektakuläre Manöver mit dem phallischen, säbelartigen Bogen, der das akustische Spiel mit dem Bild vom degen- und säbelrasselnden Manne überhöht. Weibliche Virtuosität wird häufig in die Nähe der Lächerlichkeit gerückt. Virtuosität spielte vor allem in der Zeit der konzertanten Helden-Romantik ihre Rolle, die sich dann im Zeitalter der Vermarktung der Solisten zur mythischen Heldenverehrung hochstilisierte. Es sind bei der Geige noch weitere Komponenten im Spiel, die auf phallische Energiequellen hinweisen. Die Geige ist das attraktivste Solo- und Führungsinstrument des Orchesters: ein Geigensolo ist in der Regel hervortretend, vor allem in den hohen Lagen der E-Saite - die E-Saite ist denn auch besonders glanzvoll-durchdringend. Diese Attribute lassen den GeigerSolist als Helden und „wahren Mann“ erscheinen. Zum Formenkreis der Eros-Energie, deren Wesen Bindung ist, gehören aber nicht nur die Streichinstrumente sondern generell die Saiteninstrumente. Saite geht auf die indogermanische Sprachwurzel saisi=binden zurück. Das erste und einfachste Saiteninstrument war der Musikbogen, der aus einem Holzspan bestand, dessen beide Enden mit einer Saite verbunden wurden. Hier erscheint die Eros- beziehungsweise Bindungsenergie geradezu prinzipiell konkretisiert. Der (noch) fehlende Bogen verweist auf die Einseitigkeit der Erosenergie, der der Gegenspieler Bogen als Manifestation der Thanatosenergie fehlt.
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Im Zuge einer vielfältigen Differenzierung entstanden zunächst die Zupfinstrumente. Da bei ihnen die Möglichkeit besteht, durch Zupfen mehrere Saiten gleichzeitig zum Klingen zu bringen zählen sie zu den Harmonieinstrumenten. Wegen ihrer Harmoniefunktion gehören sie also nicht zum Formenkreis der persönlichen Eros-Energie, die eine lineare Verbindung mit einem entgegengesetzten Pol sucht sondern zu jenem der kollektiv- oder ideell erotischen, die umkreisend spiralförmig ist. Sie sind insofern rein Eros-betont als ihnen die aggressive Energiekomponente abgeht, die sich bei den Bogeninstrumenten mit dem ausgreifenden Spielarm manifestiert. Die Instrumente werden in Körpernähe gehalten und feinmotorisch bespielt - eine gewisse aggressive Komponente besteht beim Zupfen in dem Sadismus der Fingerkuppe, der aber erst bei den aggressiveren Zupftechniken wie beim sog. Bartok-pizzicato voll zutage tritt. Bartok-pizzicato nennt man die Zupftechnik, bei der die Saite nicht nur angerissen sondern maximal über dem Griffbrett hochgezogen wird, wodurch sie beim Loslassen auf das Griffbrett knallt und den speziellen aggressiven Klang(Knall)effekt erzeugt. Die sekundäre Entstehung des Streichbogens aus dem Musikbogen entspricht einem allgemeinen sexualpsychologischen Entwicklungsprozess. Der ursprüngliche Musikbogen war ein Saiteninstrument, dessen Ton nicht durch ein anderes zusätzliches instrumentales Werkzeug erzeugt wurde. Es wurde von Hand gezupft. Die kulturelle Erweiterung der Hand beziehungsweise ihre Instrumentalisierung kam mit der Verdoppelung des Musikbogens zustande, indem der dieser in einen aktiv-tonerzeugenden Musikbogen umfunktioniert wurde. Das entspricht exakt der Entwicklung der männlichen Genitalität aus der ursprünglich-weiblichen. Erst im Laufe seiner ©Mathes Seidl 2011
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Entwicklung nahm er Pfeilgestalt an und offenbarte seine bis dahin latente Thanatosgestalt: Er wurde zum virtuosen Streichbogen, mit dem sich sich auch aggressiv-sadistische Spieltechniken wie staccato oder battuto entwickelten. Beim Staccato wird der Bogen nicht kontinuierlich gestrichen wie beim Legato (=Gebunden) sondern gestossen. Dieser Effekt wird erreicht, indem der Strich abrupt gestoppt (unterbrochen, getrennt) und wieder losgelassen wird. Battuto ist eine Spielanweisung, bei der der Bogen aus der Luft auf die Saite geschlagen wird. Eine Variante dieser Technik ist das Peitschen mit dem Bogen. Aus all dem ergibt sich, dass sich im Streichbogen eine ambivalente Mischung aus Eros und Thanatosenergie manifestiert. Im Wort streichen zeigt sich diese Zweideutigkeit: es steht einerseits für die Eros-betonte Zärtlichkeitsgeste andrerseits für die Ausführung des Thanatos-betonten Schwertstreiches. Der in der Einleitung bereits erwähnte Georg Groddeck weist darauf hin, dass griech. Toxon Bogen und Pfeil heisst, beziehungsweise weiblicher Schoss und vergiftender Pfeil (Phallus) in einem. „Dass mit dem Bogen unter Vermittlung des Bogenspannens die Erektion gemeint ist, während Schuss und Gift auf den Geschlechtsverkehr und den Samenerguss zurückgeht, ist klar.“54 Hier eröffnet sich ein Zugang zur Psychosomatik des verkrampften Geigenarms, bei dem der rechte Bogen-Arm blockiert ist.
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Groddeck, Georg (1933): Der Mensch als Symbol. München 1976, S. 79 ©Mathes Seidl 2011
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Aus energetischer Sicht kommt diese Blockierung durch einen ungelösten Konflikt aus im Zusammenspiel von Eros- und Thanatosenergie zustande: der Arm kann sich nicht frei bewegen, da seine Bewegungs-Energie fixiert ist an bestimmte Bedeutungen, die dem Leben ferngehalten werden müssen. In diesem Sinn äussert sich auch Groddeck: „Für das Unbewusste ist die Geige Symbol des Weiblichen, der Bogen Symbol des Männlichen, daher kommt es, dass bei innern ungelösten erotischen Konflikten der Geigenkrampf auftritt. Dasselbe gilt vom Klavierspielen und vor allem vom Singen; es ist nicht gut, dass die Gesanglehrer so wenig von diesen Dingen wissen.“ 55 Zusammenfassend lässt sich folgendes über Eros-Energie und Musikinstrumente sagen: Zu ihrem Bereich gehören generell die Saiteninstrumente. In erster Linie die Zupfinstrumente und von diesen unter den modernen Instrumenten die Harfe. Wegen der Streichbewegung gehören die Streichinstrumente zu den wichtigsten Vertretern der Eros-Energie. Aber auch bei den Blasinstrumenten gibt es Eros-betonte Spieltechniken wie zum Beispiel die pustend-zärtliche Atemführung bei den Querflöten. Hier kommt noch die Armut an Obertönen hinzu, die dem Klang den immateriellen, vokalen, apollinisch-reinen Klangcharakter gibt - alles Hinweise auf die Dominanz der Eros-Energie. Das Konsonantische der Instrumenten mit Blattmundstück entspricht dagegen dem Dionysischen, Trennenden, Störenden der Thanatos-Energie, um die es im folgenden Kapitel geht.
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Groddeck, G.: Psychoanalytische Schriften zur Literatur und Kunst. Frankfurt/M. 1978, S. 250 (Fischer Taschenbuch) ©Mathes Seidl 2011
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Tod s: Aktivität - Passivität Der Faktor s, den Szondi von Sadismus ableitet, steht für Thanatos. Er ist der Gegenspieler von Eros. Sadismus (nach dem französischen Schriftsteller Donatien A.F. Marquis de Sade), ist eine Sammelbezeichnung für sexuelle Orientierungen, bei denen Lust durch das Verfügen über einen sich hingebenden Sexualpartner und dessen Reaktionen hervorgerufen wird. Sadistische Machtausübung kann sich z.B. in Befehlen, Schlägen, Fesselungen oder im Hervorrufen unangenehmer Gefühle und Sinneswahrnehmungen äußern. Während s+ für Sadismus steht ist s- die Bezeichnung für den polaren Masochismus Unter Masochismus versteht man die Tatsache, dass ein Mensch (sexuelle) Lust oder Befriedigung dadurch erlebt, dass er Schmerzen zugefügt bekommt oder gedemütigt wird. Der Begriff Masochismus wurde im Jahr 1886 erstmalig von dem deutschen Psychiater und Gerichtsmediziner Dr. Richard von Krafft-Ebing wissenschaftlich verwendet. Er bezieht sich auf den Schriftsteller Leopold von Sacher-Masoch (1836-1895), der in mehreren Werken Schmerz- und Unterwerfungsverhalten in Beziehungen zu Frauen schildert (z.B. „Venus im Pelz“, 1870). Thanatos ist eine Gestalt aus der griechischen Mythologie: Verkörperung des Todes, Sohn der Nyx, Bruder des Hypnos. Nachdem Sisyphos Thanatos in seine Gewalt gebracht hatte, konnte niemand mehr sterben, bis Ares ihn befreite. ©Mathes Seidl 2011
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Das griechische Wort Thanatos bedeutet den natürlichen Tod; gewaltsames Totschlagen, Mord; Todesstrafe, Hinrichtung; der Leichnam selbst. Die Thanatos-Energie belegt Szondi in Anlehnung an den Wiener Psychoanalytiker Paul Federn (1871-1950) mit dem Begriff Mortitudo: Federn hatte den Begriff als Ausdruck für die spezifische Energie des Todestriebes gewählt und damit der Libido als der spezifischen Energie des Eros die entsprechende Antwort gegeben. Die Pole des energetischen Feldes der Mortitudo heissen Aktivität - Passivität, Zerstörung - Selbstzerstörung. Während das Prinzip des Eros Bindung lautet, ist dasjenige der Mortitudo Entbindung, Destruktion. Die spezifische Thanatos-Energie bewirkt überall auf der Welt Zerstörung und Zerstückelung der Ganzheit: „Unter allen auflösenden und abbauenden Elementen ist er (Thanatos, Faktor s) das mächtigste.“56 Das archetypische Bild beziehungsweise Prinzip der ThanatosEnergie stellt die phallische Männlichkeit dar, personifiziert im Urvater und Hordenvater (Freud), dem Patriarchen, der mit Brutalität die Söhne vertreibt, aber bis zur Selbstaufopferung das erfüllt den Aspekt der Autoaggression bezeihungsweise Masochismus - bereit ist, die Familie kämpfend zu verteidigen. Im musikalischen Kontext verwirklicht sich ist diese Energie in allen Strukturen, die der Bindekraft entgegenstreben: Am deutlichsten im kurzen, gestossenen Staccato-Ton aber auch im gezupften Ton: Zupfen ist etymologisch verwandt mit Zopf und bedeutet ursprünglich das Ausreissen von Haarbüscheln. Wenn wir berücksichtigen, dass Zopf auch Zipfel bedeutet, kommen wir rasch zum Schluss, dass es sich hier um das Thema der Kastration handelt. 56
Szondi, L.: Lehrbuch...1972, S. 73 ©Mathes Seidl 2011
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Musikalisch konstruktiv wirkt sich die Thanatos-Energie vor allem in seiner Gegensatzspannung zur Eros-Energie aus. Legato und staccato sind zwei elementare Spielanweisungen, die sich zueinander verhalten wie Linie und Punkt, aber auch wie Melos und Rhythmus (mythologische gegensätzliche Figuren sind der lichtvolle Apollo und der rauschhafte wilde Dionysos). Apollo griechisch Apollon, lateinisch Apollo, einer der griechischen Hauptgötter. Apoll ist kleinasiatischen Ursprungs und vereinigte viele, zum Teil vorgriechische Kulte in sich (über 200 Kultnamen: so war er als Phoibos Gott des Lichtes, als Musagetes der Gott der Künste und »Führer der Musen«). Auch die Römer verehrten ihn seit dem 4. Jahrhundert v.Chr. Augustus erhob ihn zu seinem Schutzgott. Nach dem Mythos war Apoll der Sohn des Zeus und der Leto, wurde mit seiner Zwillingsschwester Artemis auf der Insel Delos geboren, tötete den Drachen Python und übernahm das Orakel in Delphi, seinem Hauptkultort, wo ihm zu Ehren die Pythischen Spiele gefeiert wurden. Attribute Apolls sind Bogen, Leier, Lorbeer. Die griechische Kunst verkörperte Apoll meist als nackten Jüngling, am hoheitsvollsten im Westgiebel des Zeustempels von Olympia (460 v.Chr Dionysos, Bakchos, lateinisch Bacchus, griechischer Gott der Vegetation, des Weins und der Ekstase, vermutlich ein Bauerngott thrakischer Herkunft, gehörte ursprünglich nicht zu den olympischen Göttern; nach den Mythen Sohn des Zeus und der Semele, mit Ariadne verbunden. Sein Gefolge waren Mänaden und Satyrn; sein Kennzeichen und das der Mänaden war der Thyrsos, ein Stab mit einem Pinienzapfen. Weinstock und Efeu waren ihm heilig. Dionysos wurde in orgiastischen Kulten gefeiert. Seine Hauptfeste waren u.a. die Anthesterien (im Frühjahr) und die Dionysien (mit Theateraufführungen) ©Mathes Seidl 2011
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sowie alle zwei Jahre die Wiedergeburt des Dionysoskindes. Dargestellt wurde Dionysos bis Ende des 5.Jahrhunderts v.Chr. als bärtiger Mann mit Binde oder Efeukranz um das Haupt, einem Trinkgefäß in der Hand, später als Jüngling, mit Reh- oder Pantherfell bekleidet. Die phallische Form vieler Blasinstrumente, wie die nach vorne gestreckten Trompeten, Klarinetten, Oboen bis hin zum Fagott gehören dazu, weist sie als Manifestationen der sEnergie aus. Die beiden Tendenzen s+ (aktiv, hart) beziehungsweise s(passiv, weich) bestimmen das Tongeschlecht, welches durch die Terz determiniert ist. Für die Musikpsychologie bedeutet der Terzschritt die Öffnung des Innenraums: Die grosse Terz mit dem ihrem nach oben strebenden und nach aussen gewandten aktiven Charakter (s+) bestimmt die Dur-Tonart. Die kleine Terz mit dem abwärtsstrebenden, nach innen gerichteten und passiven Charakter das Moll- Geschlecht. Ernst Kurth sieht die entsprechende Energetik („energetischer Dualismus“) auch bei den Vorzeichen realisiert: während für das Kreuzvorzeichen (♯) eine steigende Spannungstendenz Kurth: „die dem Lebendigen innewohnende Aufwärtsstrebung“ - charakteristisch ist, gilt für das b-Vorzeichen das Gegenteil, der Charakter des Spannungsabfalls - „die Abwärtsstrebung“. (Diese subtilen empfindungsmässigen Unterschiede sind in der Temperierten Stimmung natürlich aufgehoben.)
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Temperierte Stimmung Nach 1700 haben sich die temperierten Stimmungen durchgesetzt, bei der die Oktave in exakt 12 gleich große Halbtonschritte aufgeteilt wird. In dieser gleichschwebenden Stimmung ist kein Intervall außer der Oktave wirklich rein, doch die Differenzen sind so gering, daß man die Abweichung nicht wahrnimmt. Die Entwicklung der diatonischen Tonleiter bis zum Terzschritt lässt sich als Analogie einer entwicklungspsychologischen Entwicklung anschauen: Das einheitliche „Intervall“ Prim entspricht der oralen Dynamik (Faktor m), die das Höhlenhaft, noch ganz und gar Innerliche, Perspektivlose bewirkt. − Der Sekundschritt entspricht der analen Dynamik, die auf Veränderlichkeit, Beweglichkeit und Rhythmus in Bezug auf das Objekt aus ist. Hier zeigt sich das Zweite (Perspektive). − Die Terz entspricht der endgültigen Öffnung nach Aussen im Sinne einer zunächst zärtlichen und dann aggressiven InBesitznahme des äusseren Objekts, wie sie im menschlichen Leben durch die sexuelle Energie bewirkt wird. −
Das Zusammenspiel von Eros (h) und Thanatos (s), weiblichmännlich und die aus diesem energetischen Spiel hervorgehenden Formen der Sexualität, eröffnet dem Menschen nicht nur den Zugang zum Anderen sondern auch zur Umwelt; dadurch gewinnt er Perspektive und Zukunft. In der musikalischen Klassik nimmt diese Dynamik auch klingende Form an: In der Sonatensatzform, in der sich die Klassik am deutlichsten ausspricht, wird die Gegensätzlichkeit zum Programm.
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Sonatensatzform ist Bezeichnung für das Formmodell v.a. des ersten Satzes von Sonaten, Sinfonien und Kammermusikwerken seit der 2.Hälfte des 18.Jahrhunderts. In der Regel gliedert sich der Sonatensatz in Exposition, Durchführung und Reprise, der sich eine Koda anschließen kann. Am Beginn kann eine langsame Einleitung stehen. Die Exposition ist in Hauptsatz mit dem 1.Thema in der Grundtonart, Überleitung und Seitensatz mit dem 2.Thema in einer anderen Tonart unterteilt und wird oft durch einen Epilog abgeschlossen. Die Durchführung bringt eine Verarbeitung des thematischen Materials der Exposition mit Modulationen in entferntere Tonarten. Ihr folgt die Reprise mit der Wiederaufnahme der Elemente der Exposition. Im Zentrum ihrer Dynamik stehen die Exposition und Durcharbeitung zweier gegensätzlicher Themen (männlichweiblich) sowie eine grundsätzliche „Gegensatzfreude“ sei es in Form von Dur-moll, hell-dunkel, laut-leise. Formal begegnen wir wiederum der Vierteiligkeit57 (Quaternität) als Ausdruck humaner Wirklichkeit: Exposition, Durcharbeitung, Reprise, Coda heissen die konstituierenden vier Formteile. Zwei musikalische Beispiele für die h- beziehungsweise sEnergie erwähne ich zum Schluss. Für die Erosenergie empfehle ich, das Vorspiel zu Richard Wagners Oper Tristan und Isolde anzuhören. Hier vernehmen Sie einen sich ins Unendliche ziehenden Melodiebogen. Unendliche Melodie, unendlicher Eros, der sich der Erlösung im Unendlichen entgegenspannt. 57
Siehe Kapitel h, S. 60 ©Mathes Seidl 2011
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FĂźr die Erfahrung der Thanatos-Energie schlage ich vor: Gustav Holst: Die Planeten. 1. Satz: Mars (the bringer of war).
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Ethos e: Gut
-
Böse
Im Szondischen Denken beruhen die menschlichen Qualitäten gut und böse auf einer zeitlosen energetischen Dynamik, der Szondi den Faktor e, von Epilepsie abgeleitet, zuordnet. Wie hängt die Krankheit Epilepsie, die durch eine extreme Ausprägung der e-Energetik gekennzeichnet ist, mit den beiden ethischen Richtungen beziehungsweise den beiden Tendenzen e+ (Gutsein) und e- (Bösesein) zusammen? Epilepsie [griechisch »Anfall«], Fallsucht, anfallartig auftretende Funktionsstörungen des Gehirns, meist mit Bewusstseinsstörungen verbunden und von abnormen Bewegungsabläufen begleitet. Die epileptischen Anfälle entstehen durch die synchrone Entladung von Nervenzellen. Die spezifische Dynamik dieses Energiefeldes geht zurück auf den von Szondi formulierten Paroxysmal- oder Überraschungstrieb. Der Überraschungstrieb (Paroxysmaltrieb58) dient ursprün lich der Unschädlichmachung des Feindes. „Das Lebewesen übt Handlungen, ja sogar eine ganze Kette von Bewegungen aus, um durch Überraschung den Feind unschädlich zu machen, ihn zu lähmen und sich auf diese Weise aus einer äusseren Gefahr zu retten.“59
58 59
Paroxysmus = anfallsartige Steigerung. Szondi, L.: Lehrbuch...1972, S. 102 ©Mathes Seidl 2011
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Paroxysmal bedeutet anfallsartige Steigerung bis zur grössten Höhe. Das Ziel des Paroxysmaltriebes, zu dem auch der im System anschliessende hysteriforme Verbergens- beziehungsweise Zeigedrang gehört, besteht in der Unschädlichmachung des Feindes durch eine überraschende Handlung: Während es beim Tier ausschliesslich um den äusseren Feind geht, dreht es sich beim Menschen auch um den als Stressor erlebten inneren Feind. Die Spannungs-Pole e+ bzw. e- vertreten das Gute und das Böse: Im Falle des Böseseins werden die grobaffektiven Kräfte in Szene gesetzt, die die Taten des Bösen bewirken. Aus Wut und Hass, Zorn, Rache, Neid und Eifersucht wird der Mensch potentiell zum Totschläger: Zunächst staut er seine Gemütsbewegungen bis zum Bersten auf, um sie dann explosionsartig und überraschend auf die Mitmenschen zu entladen. Diese Grunddynamik finden wir als Extremform im epileptischen Anfall als auch in den milderen Formen bei einem cholerischen Anfall oder Zornesausbruches vor. Andrerseits werden von der epileptiformen Energetik auch jene Bewegungen gespeist, die wiedergutmachen will, die das Gewissen wachruft, Verbote und Gebote für das ethische Verhalten bringt. Dieser dynamische Aspekt weckt Gerechtigkeit, Frömmigkeit und Wohlfahrt. Als symbolische Figuren, die die beiden Pole des e-Faktors vertreten, figurieren bei Szondi Kain und Abel. Die Figur Moses steht für die Integration der beiden Gestalten - Szondi spricht deshalb von Moses als „Antwort auf Kain“60; Moses, der einen Menschen getötet hat, stiftet im Sinn der aus dem Gewissen hervorgehenden Wiedergutmachung das Gesetz „Du sollst nicht töten“. Das ist mehr als die abelitische Gutmachung, die triebgebunden ist. 60
Szondi, Leopold: Moses Anwort auf Kain. Bern 1973 ©Mathes Seidl 2011
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Der Ablauf der paroxysmalen Energetik lässt sich in folgenden Phasen darstellen: - Phase 1: Aufstauen der groben Affekte (Paroxysmale Phase). - Phase 2: Explosive Entladung in Form eines Anfalls (epileptiform). - Phase 3: Wiedergutmachung. Der epileptoide Charakter - Charakter bedeutet im energetischen Sinn, dass die spezifische seelisch-körperliche Beweglichkeit relativ starr ist (musterhaft, strukturgebunden) - ist gekennzeichnet einerseits durch einen Explosionsdrang, der die Phänomene Wut, Rachsucht, Neid, Mitleidlosigkeit bewirkt, andrerseits durch einen ethischen Drang, der Qualitäten wie Güte, Milde, Mitleid hervorbringt. Im beruflichen Kontext bewirkt die e-Energetik den Um- gang mit starker Dynamik (Flugzeug, Lastwagen, Omnibus), den Umgang mit den Elementen; der e-Typus neigt zu heiligen Berufen (Epilepsie bedeutet auch morbus sacer) und Berufen, bei denen Gerechtigkeit eine Rolle spielt. Die sublimierten Berufsfelder sind Ethik und Religion. Wie manifestiert sich die e-Energie im Bereich des Musikalischen? Das Bedürfnis nach schlagartiger Entladung des groben Affekts ist bei den Schlaginstrumenten natürlich besonders dominierend; aber auch Taktschlagen gehört zu den musikalischen Phänomenen der e-Energetik. Der erste Dirigent der Musikgeschichte, Jean Baptiste Lully, schlug und stampfte ©Mathes Seidl 2011
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noch mit einem grossen Taktstock in den Boden: Bekanntlich traf er sich dabei in den Fuss und starb an den Folgen. Sogar im Wort Schlager, der einschlägt wie ein Blitz, lebt die gestaltende Kraft der e-Energie. Zu den Quellen des Musikalischen gehört das Bedürfnis nach übersteigerter Affektäusserung: ursprünglich in Form von Füssestampfen, In-die-Hände-Schlagen und dem Schlagen auf die Schenkel. Beim Schuhplatteln ist das noch lebendig. Schuhplatteln beziehungsweise der Schuhplattler ist ein in Oberbayern und Tirol verbreiteter Paarwerbetanz, bei dem die tanzenden Männer zur Musik eines Ländlers mit den Händen auf Oberschenkel und Schuhsohlen schlagen (»platteln«), während sich die Frauen um die eigene Achse drehen. Das wichtigste Schlaginstrument ist die Pauke. Die etymologische Verwandtschaft mit Fauchen und Bauch zeigt sowohl den Zusammenhang mit dem anfallartigen Fauchen, das mit aufbauschen (hier äussert sich die Neigung zur Steigerung) verwandt und Index für den gestauten groben Affekt ist. Dass die Wut im Bauch sitzt, ist bekannt. Die Pauke ist ein Gefäss, auf das geschlagen wird, wie es uns auf Gefässe und Magen schlägt. Und nichts symbolisiert das bedrohliche Näherkommen (Heranrollen) der Gefahr effektvoller als ein Paukenwirbel. In seinem Buch Kain. Gestalten des Bösen zitiert Szondi61 Quellen, wonach Jubal, Kain-Nachfahre in der siebenten Generation, der Erfinder von Harfe und Flöte sei, sein Bruder Thubal-Kain der Erfinder der Schmiedekunst. Von 61
Szondi, L: Kain. Gestalten des Bösen. Bern 1969, S. 43 ©Mathes Seidl 2011
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musikwissenschaftlicher Seite62 (Vogel 1973, 412) wird betont, Thubal-Kain sei der Erfinder von Zimbeln und Trommeln. Die apollinischen Instrumente Flöte und Harfe werden also Jubal zu geschrieben, die dionysischen ThubalKain. Das könnte in meinen Augen Resultat einer Projektion des Paares Abel und Kain auf die beiden Nachfahren Kains sein, bei der die abelitischen, apollinischen Instrumente dem gutmütigen Abel, die dionysischen Schlaginstrumente Kain zugeschrieben werden? Zur Urszene der Schmiede gehören das Schlagen des Amboss, das Beschlagen der Huftiere und das Ins-Feuer-Blasen mittels eines Blasrohrs. Sie bilden gemeinsam die Wurzel der Schlagund Blasinstrumente. Das lateinische Wort flare heisst blasen, wehen, ertönen, schmelzen, prägen. Wir können also davon ausgehen, dass Blas- und Schlaginstrumente kainitischen Ursprungs sind. Auch die griechischen Daktylen, die als Erfinder der Musik (des Rhythmus) gelten, waren im übrigen Schmiede. Ich halte fest: Zur Ursprungsituation der Musik gehören Schmiede, das Schlagen, der Amboss, Eisen, Huftiere, Blasen, Feuer - die Szenerie des Kainitischen.63 Ludwig van Beethoven, ein typischer Vertreter dieser explosiven Dynamik, liefert im Gewittersatz seiner 6. Sinfonie (Pastorale) ihren musikalischen Prototyp. Er selbst hält ausdrücklich fest, dass es sich dabei um ein inneres Geschehen, - vermutlich sein eigenes - handelt. In seinem Skizzenheft der Jahre 1808/1809 schreibt er: „Pastoral Sinfonie Worin keine Malerej sondern die Empfindungen ausgedrückt sind, welche der Genuss des Landes im Menschen hervorbringt.“
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Vogel, Martin: Onos lyras. Der Esel mit der Leier. Düsseldorf 1973 Michels-Gebler, Ruth: Schmied und Musik. Über die traditionelle Verknüpfung von Schmiedehandwerk und Musik in Afrika, Asien und Europa. Bonn 1984 63
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Die musikalischen Mittel der paroxysmalen Dynamik der Phase 1 (Stauen und Steigern) sind: - das Tremolieren der tiefen Streicher als Ausdrucksmitttel tiefer Unruhe und Bedrohung von innen (hier erscheint das bekannte „Grummeln“ im Magen).
- die breiten dagegen wirkenden Bläserakkorde als Zeichen der Stauung.
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- die impulshaft durchbrechenden Affektanteile: das Blitzen der Geigen mit dem überraschend wirkenden sforzato.
- Gewaltsame Klangballungen, abgelöst von plötzlichen Piano-Einschüben und den darauf folgenden sforzatoEinbrüchen. - Breite Crescendi als Zeichen einer generellen Steigerung. Die Phase 2 (Entladung) - tritt ein mit dem Einsatz der Posaune als Symbol aussermenschlicher Gewalt beziehungsweise göttlicher Macht. Die Entladung des Bösen ist gleichzeitig der Einbruch der höheren Macht (eigentlich müsste es genau heissen: im Entladen der gestauten Energie - sie ist Form des Bösen verwandelt sich die Energie zu einer „abelitischen“.
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Nun folgt der Übergang zur Phase 3 (Wiedergutmachung) - die langsam aufsteigende Flöte führt zur Klärung. Die Flöte als h-Instrument vermittelt die apollinische Reinheit des Herzens, die himmlischen Regionen als Zeichen der ©Mathes Seidl 2011
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Befreiung von den bedrohlichen dunklen Kräften des Inneren und den Überstieg zur e+-Phase.
„Frohe, dankbare Gefühle nach dem Sturm“ - mit diesen Worten überschreibt Beethoven den Satz der Sinfonie, der psychologisch der Wiedergutmachungsphase entspricht. Zuerst breitet sich der Klang der Klarinetten aus - von jeher sind Klarinetten Symbole der Hirtenmusik, des Pastoralen. Abgelöst werden sie vom Horn, das ich als Organ der projektiven, indirekten Seinsenergie bezeichne: Der nach hinten gebogene Schalltrichter bewirkt den indirekten und geheimnisvollen Klang des Horns: Der Klang kommt aus der Ichferne und transpersonalen Sphäre des Hintergrunds (zu diesem Phänomen mehr im Zusammenhang mit der Energetik des ICHS).
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Nach den Klarinetten, den naturhaften Instrumenten, ertönt das Horn als Ausdrucksorgan der Beseelung. In der Musik breitet sich eine für die Wiedergutmachungstendenz (e+) charakteristische Strömung von Naturfrömmigkeit und Seelenfrieden aus.
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Moral hy: Zeigen
- Verbergen
Den Faktor hy, der den energetischen Bereich von Zeigen (hy +) - Verbergen (hy-) bezeichnet, hat Szondi von Hysterie abgeleitet. Hysterie ist ein in Psychotherapie und Psychiatrie kaum noch gebräuchlicher Sammelbegriff für Zustandsbilder mit meist körperlich anmutenden Symptomen, die jedoch durch eine psychische Ursache bedingt sind. Schon in der Antike wurde ein Krankheitsbild bei Frauen beschrieben, bei dem Symptome wie Lähmungen, Schmerzen, Blindheit oder Taubheit auftraten, die aber anders als das bei solchen schweren Leiden normalerweise möglich ist manchmal auch wieder verschwanden oder von einer anderen Symptomatik verdrängt wurden. Diese Krankheit erklärte man sich damals damit, dass sich bei kinderlosen, unbefriedigten Frauen die Gebärmutter aus ihrer Verankerung im Körper löst und, im Körper herumwandernd, Schaden anrichtet. Erst im 19. Jahrhundert wurde allgemein anerkannt, dass die Störung psychische Ursachen hat. Die »Studien über Hysterie«, die Freud 1895 zusammen mit dem Internisten Josef Breuer verfasste, gelten heute als Geburtsstunde der Psychoanalyse. Der Begriff Hysterie ist heute in den Klassifikationssystemen durch den Begriff der histrionischen Persönlichkeit ersetzt. Die hysterische Persönlichkeit ist dagegen in der Psychoanalyse eine auch heute noch gebrauchte Charakterisierung für Menschen, die durch ein gesteigertes Geltungs- und Anerkennungsbedürfnis, durch einen ausgeprägten Egozent©Mathes Seidl 2011
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rismus und oft auch ein theatralisches Verhalten auffallen. Sich zur Schau stellen beziehungsweise sich verbergen sind die polaren Merkmale dieses energetischen Bereiches. Während die Tendenz hy- Sich-Verstecken oder SichVerbergen bei äusserer und innerer Gefahr bedeutet schamhaft verborgen wird vor allem der Eros-Drang - bedeutet die Tendenz hy+ Geltungsdrang, Exhibitionismus sowie den Wegfall einer moralischen Scham- und Ekelschranke. Phylogenetisch hat der hy-Faktor seinen Ursprung im Bewegungssturm (Flucht nach vorne), Farbwechsel, Mimikry (Schutzfärbung) - insgesamt Mittel, sich hinter der demonstrierten Schutzhülle zu verbergen - ontogenetisch in den Formen von Zeige- beziehungsweise Schaulust. Zusammen mit der Dynamik des e-Faktors bildet er den Überraschungstrieb64. Die Funktionsweise dieses Triebes ist prozesshaft und vollzieht sich in zwei Phasen: - Phase 1: Stauen der erotischen „feinen“ Affekte - im Gegensatz zu den groben epileptiformen Affekten nennt Szondi sie feine; - Phase 2: Entladen durch Zurschaustellen (hy+) oder Verbergen (hy-). Seine Domäne ist die Schauspielkunst und das Auge ist das entsprechende Sinnesorgan. Färbung, Farblichkeit, Verfärbung, sind die wesentlichen Elemente der hy-Dynamik - Farbe zeigt und verdeckt gleich64
S. Kapitel e, S. 79 ©Mathes Seidl 2011
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zeitig! Auch innerhalb der Musik gewinnt die Farblichkeit Bedeutung als historisch spät auftauchender Parameter Klangfarbe. Die Musik hört auf reine Ohrenkunst zu sein. Indem sie der Sinnlichkeit des Auges unterstellt wird, ist sie ihres ursprünglichen Wesens entfremdet. Das musikalische Denken in Klangfarben hat nach Ernst Kurth65 eine energetische Wurzel: Die Farbeffekte sind sinnliche Reflexe gesteigerter Bewegungsenergie und deren Dynamik. Je mehr Energien sich in den Klängen stauen, desto stärker treiben sie auch deren sinnliche Eindruckskomponenten hervor. Sie sind die innere Lebenserregung, die dem Klangorganismus seine Fülle und Saftigkeit verleiht. Schon die intensive begriffliche Analogie mit Lichtwirkungen, welche die Farbeindrücke durchziehen, bestätigt für Kurth die Wechselwirkung von Energie und Klang: Aufhellung, Verdunkelung der Harmonik und ähnliches sind sehr gebräuchliche Begriffe. Kurth spricht von einer „Durchlichtung von innen auf, die in solch eigentümlicher Weise das klangliche Element und die Töne herausdringen lässt. Die ‚Lichtquelle’ ist eine Erregung in uns, eine Intensitätsquelle...“ Aus dieser Quelle schwingen laut Kurth gesteigerte energetische Erlebnisse in jene Empfindungen hinein, die uns auch in der Aussenwelt als Lichtwirkungen als die intensivsten erscheinen. So sind die Farbeffekte sinnliche Reflexe gesteigerter Bewegungsenergie und deren Dynamik, was bedeutet, dass auch in impressionistischer Harmonik Bewegungsenergie wirksam sein muss, deren Präsenz im Erleben von der Farbigkeit verdeckt wird. Je mehr Energien sich in den Klängen stauen, desto stärker treiben sie auch deren sinnliche Eindruckskomponenten 65
Siehe Kurth, Ernst: Musikpsychologie. Berlin 1931, S. 247 ©Mathes Seidl 2011
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hervor. Sie sind die innere Lebenserregung, die dem Klangorganismus seine Fülle und Saftigkeit verleiht. Der Klang bildet die äusserste Schicht des Tones, der durch die Farbe (bzw. die Lichtwirkung) erst zum Phänomen, Erscheinenden, Dargestellten wird. Die Musikwissenschaft spricht von Klang auch im Sinn von Tonhülle. Klang verhüllt und verschleiert die eigentliche Tonsubstanz, die durch Höhe, Dauer, Stärke determiniert ist. Die farbliche Qualität eines Tones ist entsprechend nicht messbar und auch nicht exakt beschreibbar sondern nur durch mehr oder weniger poesievolle Bilder einzufangen. Wie das Hysterische wesentlich das Uneigentliche ist, wird bei der Art von Musik, bei der die Klanglichkeit dominiert die Musik zu einem intermediären Phänomen: vom Sein des Tones zum klingenden Erscheinen und Werden der Töne. Die Klanglichkeit der Musik spielte vor allem in der französischen Ästhetik eine zentrale und stilprägende Rolle. Aus der französischen Malerei ist bezeichnenderweise die Bezeichnung musikalischer Impressionismus entlehnt. Die in der Malerei zentrale Schicht der Oberfläche66 steht in absolutem Gegensatz zur deutschen ästhetischen Kategorie Tiefe. Die geschichtliche Entwicklung der Klangfarbenästhetik führt konsequent zu Arnold Schönbergs Klangfarbenmelodie, die ich deshalb zum Formenkreis des hy-Faktors beziehungsweise der unbewussten Energetik von zeigen/verbergen rechne.
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Zur Veranschaulichung dieser Ausführungen empfehle ich Musik von Claude Debussy, etwa Les nuages oder Les vagues, anzuhören. ©Mathes Seidl 2011
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Klangfarbenmelodie: Man stelle sich eine einfache Melodie vor wie etwa „Hänschen klein“, beispielsweise von einer Klarinette gespielt. Nun stelle man sich vor, dass Hänschen klein von drei verschiedenen, sich ablösenden Instrumenten etwa Posaune, Geige und Oboe -, gespielt wird: Die Posaune spielt „Hänschen klein“ - nun fährt die Geige weiter: „ging allein“ - und nun die Oboe: „in die weite Welt hinein“. Das führt zu einer Irritation unserer Wahrnehmung: Die Melodie verliert ihren einheitlichen Gestaltcharakter. Dieser Vorgang entspricht exakt dem Wesen des Hysterischen: Auflösung der Identität durch wechselnde Färbungen. Musikalisch wirkt die Färbungstechnik als Schrittmacher der Transzendierung der tonalen Identität, zunächst zur freien Tonalität und schliesslich zur Auflösung der tonalen Ordnung zugunsten einer neuen Ordnung von zwölf gleichberechtigten Tönen. An diesem Vorgang können wir die subtile Energetik des hyFaktors studieren. Was bewirkt die Färbung in der Musik nun nicht einfach nur im akustischen Sinne sondern im energetischen? Bleiben wir bei dem Beispiel Hänschen klein. Der Farbwechsel kommt durch den Wechsel von Posaune zu Geige zustande. Wenn wir der im Tonzug der Posaune verlaufende Bewegungsqualität nachspüren, können wir wahrnehmen, dass sie viel weicher, in sich ruhender, quellender verläuft als der Tonzug der Geige mit seiner aufreizenden aufspitzenden intentionalen Qualität während die Oboe mit ihrem gepressten und gestaut-spitzigen und nervenden Ton wiederum ganz andere engschnürige Bewegungsabläufe hervorruft. Der hysteriforme Effekt beruht nun nicht auf der besonnenen Wahl der spezifischen Farbqualitäten mit ihren unterschiedlichen spezifischen energetischen Anreizen sondern auf der Fähigkeit zum Wechselspiel des Farbenreichtums, der sich in der Entladung einer gestauten erotischen-aggressiven Ladung ©Mathes Seidl 2011
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einstellt (wir sehen beim spannungsentladenden Niesen bunte Lichter vor den Augen). So liegt der Klangfarbenmusik ein energetisch erregt-intensiver, schillernder, verschleiernder und flüchtiger Vorgang zugrunde, der gleichsam über die Oberfläche gleitet und die Vielfalt der Klang-(Licht-) brechungen in unsere Wahrnehmung projiziert, um diese in ihrer Färbung vorzuzeigen. In der Instrumentationslehre, welche die zentrale Theorie des Einflusses des hy-Faktors im Kontext der Musik bedeutet, geht es vor allem darum, die Wandlungsformen der Klanglichkeit (Farblichkeit) der verschiedenen Instrumente zu untersuchen, um sie einer musikalischen Darstellungskunst verfügbar zu machen. Instrumentation (auch Instrumentierung) bezeichnet die Verteilung der Stimmen einer musikalischen Komposition auf die einzelnen Instrumente. Bei einem Orchesterwerk kann man auch von Orchestration oder Orchestrierung sprechen. Die Theorie der Instrumentation wird Instrumentationslehre genannt. Bei der Sichtbarmachung von Musik durch Färbung geht es meines Erachtens um eine präverbale Sprachlichkeit der Musik: Durch die Nutzung des Klangs im Sinne einer Individualisierung durch klangfarbliches Erscheinen, übersteigt sie die ohrenmässige Flüchtigkeit und gewinnt Oberfläche, Augenblickliches, augenmässige Fasslichkeit, Merkbares und Bleibendes - mittels der Farbe wird Musik objektiviert. Und verborgen: Zum hysteriformen Leben gehört die Maskierung: Sich zu zeigen und sich gleichzeitig hinter der Maske zu verbergen ist ein Grundzug des Instrumentalspiels ©Mathes Seidl 2011
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überhaupt. Das gezeigte Instrument wird zum Stellvertreter des Ich und zu einem persönlichkeitsbildenden Hilfsmittel: Person geht zurück auf personare=hindurchtönen (durch die schützende Maske). Beim Dirigent ist das Zeigen des Instruments sogar zur totalen Verkörperung gesteigert: Der Dirigent instrumentalisiert seinen ganzen Körper und zeigt sich in verkörperter Rolle/Instrument beziehungsweise vollkommen maskierter Person. Die Rohrblattinstrumente erfüllen dieses energetische Bedürfnis klanglich am idealsten: Wie kein anderes Instrument maskieren sie die menschliche Stimme.67 Sehen wir diese Instrumente genauer an: - Es gibt solche mit einfachem Rohrblatt wie Klarinette und Saxophon und - solche mit doppeltem Rohrblatt wie Oboe und Fagott. Das Mundstück der Rohrblattinstrumente wird fest zwischen die Lippen gepresst. Durch den Atem des Spielers gerät das Blatt in Schwingungen. Bei der Klarinette schwingt es meistens völlig frei, nur in den Tiefen Lagen schlägt es gegen das feste Mundstück - daher der reine pastorale Wohlklang, dem energetisch die wiedergut- und heilsame strömende Atem-Qualität (e+) des guten Hirten entspricht. Bei den Doppelrohrblättern wird der Atem hingegen gestaut und durch die schmale Öffnung der Blätter gepresst (ähnlich wie bei einem Strohhalm), bis die zwei Blätter gegeneinanderschlagen. So entsteht ein vibrierender, hochgradig erregter, schnarrender Ton. Denn der Luftstrom, der bei der Flöte gar nicht, bei der Klarinette sehr wenig gestört wird - es bildet sich wenig Widerstand im Vergleich zur idealen gesanglichen Strömung -, wird bei den Oboen unterbrochen, verfremdet, 67
Dass die menschliche Stimme in allen musikalischen Ausübungen elementare Bewegungsgrundlage ist und durch die Instrumente maskiert wird, belegen beispielsweise Anweisungen Richard Wagners und Chopins, beim Dirigieren bzw. Klavierspielen stumm mitzusingen. ©Mathes Seidl 2011
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maskiert und dient der Möglichkeit des klanglichen Verstellens, Verzerrens und Nachahmens, wie wir es von kreischenden, krächzenden, jaulenden Kehlkopf und Stimmbändern kennen. Die energetisch-hysteriforme Wurzel der Rohrblattinstrumente tritt am deutlichsten bei Einweihungsriten primitiver Völker, bei denen junge Männer auf Grashalmen blasen, um die Frauen vor ihrer bedrohlichen Sexualität zu warnen, zutage: Schutz vor Sexualität und gleichzeitig anfallartige (paroxysmale) Entladung der sexuellen Energie. Eine Spur dieser Dynamik können wir beim Blasen auf dem Kamm erleben. Die Oboeninstrumente, deren Vorbild der dionysische Aulos ist, rechne ich zu den grössten Stimm-Maskierern und -Ver stellern unter den Instrumenten: Ihr organisches Vorbild ist der Kehlkopf, der Maskierer der natürlichen Stimme. Bei den Doppelrohrblatt-Instrumenten kommt hinzu, dass die Luft in Kopf und Brust gestaut und meistens etwas knallartig, d. h. überraschend entladen wird.
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An diesem Beispiel wird erneut die Dynamik der Strukturen deutlich: Die Blasinstrumente sind in erster Linie oral definiert. Aber innerhalb des dominanten Oralen spielen etliche andere Faktoren mit, deren Dominanz oder Latenz von den wechselnden Kontexten abhängt. Das Lebendige bringt zwar strukturelle Schwerpunkte im Sinne von Typen oder Stilarten hervor, die aber gerade im Musikalischen ständiger Verflüssigung und Verflüchtigung unterliegen.
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Bei dem musikalischen Beispiel, das ich für die energetische hy-Qualität anführe, beziehe ich mich vor allem auf den Aspekt der Klanglichkeit bzw. Färbung: Der Impressionist Claude Debussy nutzt die Klangfarben, um ein bestimmtes Bild klanglich aufscheinen zu lassen: In dem „Nuages“ betitelten 1. Satz der Nocturnes für Grosses Orchester (komponiert 1897-1899) vertont Debussy den „Anblick des unbeweglichen Himmels, über den langsam und melancholisch die Wolken ziehen und in einem Grau ersterben, in das sich zarte weisse Töne mischen.“
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Geist p: Allmächtigsein
-
Ohnmächtigsein
Der Energiefaktor p - Szondi leitet ihn ab von Partizipation steht für jenen Erlebensraum, in dem sich die polare Dynamik von Allmacht beziehungsweise Ohnmacht abspielt, identifiziert Szondi mit dem Partizipation heisst bei Szondi die Urform beziehungsweise die Urstrebung des Ichs, die durch die Fähigkeit zu Transzendenz und Integration gekennzeichnet ist. Transzendenz bezeichnet jene energetische Bewegung, die die Verbindung des Subjekts zur Energie des Objekts herstellt, während Integration diese erreichte Verbindung umfasst.68 Die diesem Faktor innewohnende Kraft nennt Szondi „potestas“ - das ist jene Existenzkraft, die als Seinsmacht die Erweiterung des Daseinsraums (Existenz- und Horizonterweiterung) bewirkt. Sie erscheint in zwei unterschiedlichen Formen: Einmal wird die Kraft zum Sein im eigenen Ich angesammelt, wodurch dieses sich aufbläht und allmächtig und überwertig wird69 - dem entspricht die Tendenz p+: Gleichzeitig wird der Umwelt Energie entzogen und sie wird zu einem Echo des Selbst. Gegensätze werden im Ich vereinigt: Der Mensch erlebt sich beispielsweise als Mann und Frau. Im umgekehrten Fall wird die Seinskraft auf die Umwelt übertragen, woraus eine Reduktion des selbstbewussten Ichs resultiert und das Gefühl, ohnmächtig und minderwertig zu 68 69
Nach Szondi, L.: Ich-Analyse. Bern und Stuttgart 1956, S. 33 Szondi, L.: Lehrbuch...1972, S. 138 f ©Mathes Seidl 2011
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sein - bis hin zu dem Gefühl, von einem allmächtigen Anderen verfolgt und überwältigt zu werden. Das Bild vom Kind im Wald, das diesen mit eigenen Gedanken, Phantasien ausstattet, mit den eigenen Seinskräften beseelt und sich deshalb ohnmächtig darin verliert, drängt sich auf. Die elementare, in zwei polare Richtungen verlaufende Partizipations- oder Erweiterungsenergetik - Szondi nennt sie die „diastolische“ Bewegung des Ich - sorgt für die Ausstattung unserer Innenwelt: Die Inhalte der Seele, grossartige, erhebende sowie kleinmachende Phantasien, Wünsche, Begeisterung und Bewunderung, die Idealisierungen, die von unserem Ich ausgehen, unser Selbstbewusstsein, die Welt der Ideale, des Geistes und der Kunst - sie alle sind Manifestationen der elementaren geistigen, diastolichen Erweiterungsbewegung. Dieses Grundbedürfnis des Ich erfüllt sich im musikalischen Kontext am idealsten in der Romantik. (Ernst Kurth zitiert in diesem Zusammenhang übrigens Jean Paul, für den das eigentlich Romantische „das wogende Ansummen einer Saite oder Glocke“ ist.70 Hier ist die diastolische Bewegung zu erkennen, die uns einmal selbst in Mitschwingung und Resonanz versetzt oder uns entleert und die Umwelt als projizierten seelischen Resonanzraum erscheinen lässt.) Die frühe Romantik, für die prototypisch Carl Maria von Weber mit der Oper „Der Freischütz“ steht, symbolisiert die Ichverfassung des partizipativen Menschen. Dieser verlegt seine eigene Seinsmacht nach aussen in die Natur, um in ihr partizipativ aufzugehen. Das Instrument, das diese Aufgabe der Hinausbewegung und -strahlung der Seinsmacht am besten zur Wirkung bringt ist das Horn: Sein Klang erfüllt die Umwelt mit seelenvollen Klängen und verschafft der Natur 70
Kurth, Ernst: Musikpsychologie. Berlin 1931, S. 18 ©Mathes Seidl 2011
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einen unendlich weiten Innenraum. Das liegt an seinem verdeckten und nach rückwärts gewendeten Klang: Der Ton verstrahlt nicht selbstbewusst, ichhaft phallisch und unmittelbar wie ein Strahl vom Kopf aus - so wie es bei den Blechinstrumenten Trompete und Posaune der Fall ist vielmehr wird das Horn vom Spieler rückwärts abgewendet und in die ichferne Welt projiziert. In der Beschallung - und das heisst Beseelung - des unsichtbaren Hintergrunds erscheint der wesentliche Zug der Partizipation: Ich selbst bin nichts; aber ich tauche in den ursprünglichen Hintergrund ein und kann dann überall sein. Zu den Instrumenten, welche aus der icherweiternden (egodiastolischen) Energie hervorgehen zähle ich die Gruppe der Blechblasinstrumente als Ganzes: Obwohl sie phallische Form und Charakter (vor allem die Trompeten) haben, sind sie nur als Einzelne zu- und eindringlich - als Ensemble verkörpern sie Macht, da sie die Seinsmacht des menschlichen Ich am weitesten hinaustragen. Ihr Körperbereich ist weniger die Mundzone (Oralität) als der ichhafte Kopf und die Energie, die beim Blasen freigesetzt wird (lat. flare=blasen, aufblähen >s. Inflation<), kommt aus dem Nacken, dem Sitz des sich behauptenden Ich. Die Symbolik der Blechblasinstrumente ist eng mit Macht verknüpft: Blechbläser begleiten die Herrscher und verkünden deren Macht, wobei die Trompete mehr die hart-aggressive Qualität der Thanatos-Energie (s) beziehungsweise die weltliche Ichmacht manifestiert, während die Posaune als das Instrument der richterlichen Allmacht - und damit weist sie einen ethischen Aspekt (e-Energie) auf Gestaltung des allmächtigen Ich ist (p+). Richard Strauss lässt in Also sprach Zarathustra (nach Friedrich Nietzsche) gleich zu Beginn die Allmachtansprüche des übermächtigen-aufgeblasenen, inflativen Ich erklingen: ©Mathes Seidl 2011
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Die gewaltigen, sich nach einem grossen crescendo entladenden Energien der Blechbläser sorgen für diesen sich ins Masslose steigernden Eindruck. Das musikalische Programm beginnt mit einem Sonnenaufgang bezie- hungsweise der häufig genutzten symbolischen aufsteigenden Geste durch Nacht zum Licht.
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Die Vereinigung der Gegensätze im allmächtigen Ich wird musikalisch wirksam auch in dem Phänomen der Enharmonischen Verwechslung. Enharmonische Verwechslung nennt man das bloße schreibtechnische Auswechseln von ♯ und ♭; enharmonische Umdeutung findet statt, wenn die andere Schreibweise des gleichen Tons eine Modulation in eine andere Tonart anzeigt (z. B. fis in D-Dur wird zu ges in Des-Dur). Ein Paradebeispiel für diesen Vorgang stellt der berühmte Tristan-Akkord im Vorspiel zur Oper Tristan und Isolde dar: In seinem Klang scheint die tonale Identität aufgelöst, - alles bleibt in der Schwebe oder Gleichzeitigkeit, im Sowohl-alsauch, wie es der inflativen Vereinigung der Gegensätze im eigenen Ich entspricht. Die Aufblähung bewirkt im dialektischen Sinn allerdings Vereinfachung: Während innerhalb des tonalen Systems fis und ges zwei verschiedenen Tonarten angehören, wird durch die inflative enharmonische Verwechslung - zwei sind per Gleichschaltung eins - ein neues System geschaffen. In historischer Nähe zu Freuds Traumdeutung schafft sich die Musik ein Tonsystem von 12 gleichberechtigten und voneinander unabhängigen Tönen - die 12-Tonordnung oder kurz die Zwölftonmusik. Es scheint als müsse die auf- und abgehobene Romantik mithilfe „formaler Konstruktivität“ (Hans Eisler) wieder Boden unter die Füsse kriegen. Zwölftonmusik wird eine Musik genannt, die auf Grundlage der Zwölftontechnik bzw. einer Zwölftonreihe komponiert wurde. In diesem System werden die zwölf Töne der chromatischen Skala des gleichstufig temperierten Tonsystems vollkommen gleichberechtigt (das heißt: ohne die Prominenz eines "Grundtones") behandelt. Die Grundlagen der Zwölfton©Mathes Seidl 2011
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musik wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt. Zwölftonmusik ist weder mit chromatischer Musik (bei der zwar auch alle zwölf Töne auf engem Raum vorkommen können, aber immer noch ein tonaler Bezug bestehen bleibt) noch mit Atonalität zu verwechseln. Die Zwölftontechnik übernimmt die Rolle des musikalischen Ordnungsprinzips, die zuvor die Funktions-Harmonik in der Tonalität innehatte. Da die Anwendung der Zwölftontechnik ebenso wie das Hörerlebnis sehr verschieden sein kann, ist Zwölftonmusik kein Musikstil (wie z.B. der Impressionismus) oder eine Musikrichtung, sondern bezeichnet die dem Musikstück zugrunde liegende Kompositionsmethode. Diese Kompositionstechnik ist vor allem mit dem Namen Arnold Schönberg verbunden. Arnold Schönberg (1874-1951) war ein österreichischer Komponist, Musiktheoretiker, Lehrer, Maler, Dichter und Erfinder. Damit Sie einen lebendigen Eindruck vom Übergang der hochromantischen Überladenheit beziehungsweise dem Erleben im energetischen Raum eines aufgeblasenen, inflativen Ich zur notwendigen Ernüchterung und realistischen Einschränkung durch die Zwölftonordnung machen können, empfehle ich Ihnen zwei Werke von Arnold Schönberg: einerseits das Streichsextett Verklärte Nacht und andrerseits das 2. Streichquartett.
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Materie k: Bejahen
- Verneinen
Bejahung beziehungsweise Verneinung sind für Szondi die zentralen Positionen der Realitätswahrnehmung. Sie bilden den Bereich des stellungnehmenden Ich. Diejenige Energie, welche die Stellungnahme bewirkt, wohnt dem Faktor k inne, den Szondi von Katatonie ableitet. In der Krankheit Katatonie, die zu den Schizophrenien gehört, kommt eine übermässige Geladenheit dieser Energie zum Ausdruck. Katatonie, von griechisch katátonos »abwärts gespannt«. psychisches Krankheitsbild mit ausgeprägter Störung der willkürlichen Bewegung. In der Gegenüberstellung zur Ich-Erweiterung (p) nennt Szondi diesen Energieträger beziehungsweise dessen Funktion Egosystole, Ich-Einengung: Die energetische Bewegung beziehungsweise psychische Funktion p verursacht eine Einengung des Ichs und die entsprechende Einengung, Spannung und Verkrampfung des gesamten Körpers. Es erscheint plausibel, dass mit dieser Einschränkungsbewegung die urteilende Stellungnahme einhergeht: Stellungnahme zu den überbordenden Erweiterungsstrebungen des Wunschbewusstseins, wobei die beiden Möglichkeiten Bejahung oder Verneinung die Annahme der Wünsche beziehungsweise deren Verwerfung bedeuten. Während das auf Ausdehnung bedachte Wunschbedürfnis p eine geistige Bestrebung darstellt, geht es bei der realistätsnahen Stellungsnahme (Realisierbarkeit) der egosystolischen Energie k um ©Mathes Seidl 2011
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Konkretisierung und Materialisierung; Es geht um die konstruktive Wahrnehmung der Welt. Die Stellungnahme äussert sich einerseits in der sinnlich bejahenden Wahrnehmung und andrerseits in der körperlichen zur Handlung führenden Bejahung. Ihr Gegenpol ist die Ablehnung und Verneinung der Wunschwelt (geistigen Welt), bis hin zur ernüchternden Einschränkung und Bürokratisierung, die als das pure Gegenteil der Inspiration erscheint bis hin zur Destruktion und Selbstdestruktion. Verneinung kann sich aber auch äussern als Verzicht und Entsagung, als das Nichtseinwollen und damit den Überstieg zur jenseitigen Welt - im Sinne des Philosophen Emmanuel Lévinas - dem Sein „jenseits des Seins“. In der Musik kommen die gegensätzlichen der Energieformen k und p beispielsweise in der ästhetischen Dialektik von Form und Inhalt zum Zug. Die egosystolisch-einschränkende Energie k bringt die objektiv-messbaren Aspekte der Musik hervor wie Takteinteilung, Tonhöhe, Dauer, Stärke. Dagegen entsprechen der p-Energie die energetisch Qualitäten des musikalischen Materials, das sich der Objektivierung entzieht und die geistige Innenseite der Materie ins Spiel bringt. Zu den Musikinstrumenten: Bei keinem anderen Instrument tritt der Aspekt des Stofflichen, des Materiellen so sehr in Erscheinung wie beim Klavier, dessen Stofflichkeit sich sogar in seiner Existenzform als Einrichtungsgegenstand manifestiert. Die Funktionsweise der Tasteninstrumente beruht auf einem praktischen (!) Eingriff in die natürliche (diastolische) Tonwelt: Zwei ähnliche aber nicht identische Töne werden gleichgeschaltet, damit sie mit einer einzigen Taste produziert ©Mathes Seidl 2011
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werden können. Durch die Ferstlegung zweier nuanciert verschiedener Töne zu einem, eine Entscheidung des RealIchs zur Goldenen Mitte, wurde die bereits erwähnte Möglichkeit71 der temperierten Stimmungen geschaffen, das mit den zehn menschlichen Fingern bewältigt werden kann: die Temperierung beziehungsweise die temperierte Stimmung (temperiert=gemässigt, richtig gemischt): Temperierte Stimmung. Nach 1700 hat sich die temperierte Stimmung durchgesetzt, bei der die Oktave in exakt 12 gleich große Halbtonschritte aufgeteilt wird. In dieser gleichschwebenden Stimmung ist kein Intervall außer der Oktave wirklich rein, doch die Differenzen sind so gering, daß man die Abweichung nicht wahrnimmt. J. S. Bach nutzte die Vorteile dieser neuen Stimmung in "Das Wohltemperiertes Klavier", eine Sammlung von Präludien und Fugen in allen Dur- und Molltonarten. Die systolische Energie des Klaviers stellt sich der diastolisch wuchernden Natur entgegen, indem sie Einheitlichkeit in der Vielheit und Einfachheit der Spielbarkeit bewirkt, - das bedeutet Vermenschlichung und Kultivierung. (Eine Vorstellung von diesem Prozess können wir uns machen, wenn wir beispielsweise die 5. Sinfonie von Ludwig van Beethven im Original hören und dann in der Bearbeitung von Franz Liszt für Klavier. Während im Original sich die Energie sich im Reichtum der Stimmenvielfalt und dem Farbenreichtum des klassischen Sinfonieorchesters entfaltet, erschein „dieselbe“ Musik in der Klavierfassung reduziert - aber nicht „ärmer“ sondern energetisch „ausgehaltener“ und weniger entladungsfreudig.
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Es gab im übrigen um 1600 ein Musikinstrument, das die inflative (diastolische) Strebung im Tonreich ad absurdum führte: das sogenannte Universalclavicymbel mit 77 Tasten. Das ist etwa so, als wollte man dem Menschen 1200 Finger an die Hand geben, damit er alle seine Wünsche auf einmal realisieren könnte. Erst der Verzicht auf die gigantische und unbewegliche Vielheit brachte die substantielle Fülle der Klavierliteratur. Es gibt einen verwandten Vorgang in der Musikgeschichte: Die Beschränkung und Einschränkung der tonalen Grundstruktur auf zwölf gleichberechtigte Töne der Zwölftonmusik lässt sich als Antwort auf die kaum noch zu bändigende Ausuferungstendenz der Spätromantik verstehen. Es handelt sich um einen psychologisch notwendigen Schritt vom unbeschränkten Wunschdenken zur realitätsbezogenen und praxisbezogenen Stellungnahme. An diesem Beispiel wird deutlich, dass das Szondische Modell ein organismisches Prozessmodell ist. Jede Energiequelle ist integraler Bestandteil des Systems als Organismus. Die realitätsbezogene Ich-Einengung hat ihren Sinn in der Funktion innerhalb des Gesamtorganismus, der psychische Lebendigkeit heisst. Nach Ansicht der Schicksalspsychologie sollten alle Energiequellen in die Gesamtdynamik integriert sein, damit sich ihre Energetik entfalten kann. Erscheint nicht auch aus dieser Sicht der Vorwurf an die Zwölftonmusik, entartete Kunst zu sein, als absurd? Energetisch ist sie organische Antwort auf die masslos gewordene Tendenz der ins „Allmächtige“ strebenden ichentgrenzenden Potestas-Energie.
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Zum Schluss möchte ich noch einen ganz anderen Blick auf die Verneinungstendenz (k-) der egosystolischen Energie k werfen: Zur Verneinung gehören auch Verzicht, Entsagung und schliesslich Versagung. Das sind wesentliche Aspekte der Musik, die nicht nur vorsprachlich sondern auch „nachsprachlich“ ist. Begonnen habe ich das energetischpsychologische System mit dem Gregorianischen Choral, der im Zeichen des Lebensbeginnens steht. Der Kreis schliesst sich in der Weltentsagung als Übergang in die Lebenssphäre jenseits der Ontologie. Musik ist sowohl Struktur als auch Offenbarung: Musik kommt aus dem menschlichen Sein, das sie aber auch übersteigt, wenn Musik Offenbarung, höher als alle Weisheit und Philosophie ist (Beethoven). Als musikalisches Beispiel weise ich Sie auf die Nummern 1-3 aus den Orchesterstücken von Anton Webern hin: Hier ist allen räumlich-zeitlichen Elementen der Musik entsagt. Der diesseitige Klang erscheint nur mehr als Vorwand für die Unendlichkeit, die durch diese Musik hindurchklingt und vernehmbar wird. Hinter den Tönen herrscht unendliche Stille, die die Fülle des ganz Anderen offenbart. Webern, Anton Friedrich Wilhelm, österreichischer Komponist (1883-1945), war Schüler von G. Adler und A. Schönberg, mit diesem und A. Berg lebenslang eng befreundet. Wie bei Schönberg entwickelte sich sein Kompositionsstil nach spätromantischen Anfängen (Opus1 und Opus2) konsequent zur freien Atonalität (George-Lieder Opus3 und Opus4), seit den Streichquartettsätzen Opus5 gepaart mit einer extremen Kürze und motivischen Verdichtung des Satzes, der »einen Roman durch eine einzige Geste, ein Glück durch ein einziges Ausatmen« ausdrückt (Schönberg). Die folgende Schaffens©Mathes Seidl 2011
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phase (Opus 12 bis Opus 19), die Weberns Weg von der freien zur reihengebundenen Atonalität (Zwölftontechnik) dokumentiert, enthält nur Vokalwerke, bei denen der Text eine wichtige strukturbildende Rolle übernimmt. Die Kompositionen von Opus 20 bis Opus 31 bedienen sich ausschließlich der Reihentechnik. Während bei Schönberg und Berg eine Reihe die Basis zur Themen- und Motivtechnik darstellt, führt Webern Thema und Reihe zusammen. Die Reihe spiegelt zugleich die Idee der Komposition, indem sie in sich bereits (durch Symmetrien, Motiv- und Intervallanalogien) konstruktiv gegliedert ist. So ist z.B. die spiegelförmige Anlage der Sinfonie Opus 21 in einer spiegelförmigen (krebsgleichen) Reihe potenziell vorgegeben. In einigen Werken (z.B. im Konzert Opus 24) bindet Webern rhythmische, dynamische und klangliche Elemente (v.a. durch eine spezifische, quasi punktuelle Instrumentation) eng an die Reihenstruktur, wodurch er durch einen Akt radikaler Weiterführung und Umdeutung nach 1950 zum Vorbild und Anreger serieller Komponisten (K.Stockhausen, P.Boulez, L.Nono) werden konnte.
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Notenbeispiel:
Anton Webern: Sechs Stücke für Orchester Nr III
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Wo sind wir, wenn wir in der Musik sind? So lautete meine Eingangsfrage. Aufgrund der wichtigsten Erkenntnisse bei meiner Grundlegung des Prozesses musikalischen Erlebens kann ich nun folgende Antworten geben. 1. Wir sind in einem spezifisch musikalischen Erlebens-Raum. Dieser kommt zustande durch resonanzhaftes Hören, bei dem es nicht um bestimmte bedeutungsvolle Informationen und Inhalte geht, sondern um körperlich spürbare Resonanzen, bei denen ich mich als Mitseiender erlebe: Kennzeichnend für diesen Raum ist eine Art halbaufgelöster Zustand, in dem keine scharfen Grenzen zwischen mir und der Objektwelt bestehen. 2. In diesem musikalischen Raum bin ich in einem strömenden Fluidum des Werdens. In meinem Erleben zeichnet sich die Hervorbringung des manifesten Tones, der manifesten Töne als subtiler Ausdehnungs- Wachstums- oder Erweiterungsprozess ab, der die Ursprungsbewegungen im Innern, die Ränder des äusseren Körpers bzw. die Ränder der äusseren Instrumente umfasst und diese in die umgebende Welt fortsetzt. 3. Dieses Erleben ist nicht apersonal sondern individuell: Das Tonerlebnis ist identisch mit der körperlichen Verarbeitung des Tones. Da die individuelle Struktur dem Körper eingeschrieben ist, ist das Tonerleben individuell. Jeder hervorgebrachte Ton ist ein individueller Ton. (Das heisst nicht, dass diese personale energetische Schicht nicht transzendiert werden könnte zu einem apersonalen Erleben.) ©Mathes Seidl 2011
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4. In-der-Musik-Sein eröffnet dem Menschen bedeutsame Perspektiven. Wir können einerseits mit den subtilsten anfänglichen, flüssigen, prämateriellen Bewegungen der allgemeinen werdenden Welt in Berührung kommen, andrerseits können wir im Prozess der Verfestigung der Strukturen aufmerksam werden auf jene persönlichen Resonanzen, die unsere differenziert-individuelle Erlebensstruktur besonders stark ansprechen. Da Musik sich ins Unendliche ausschwingt, alle objektiven Strukturen der Welt unterläuft oder durchschwingt können wir durch Musik mit der ganzen Welt in eine persönliche Beziehung kommen. Wir können mit Musik wieder „neu anfangen“ (Sloterdijk). 5. Durch die praktische Interaktion zwischen Musik und Mensch beim resonanzhaften Hören werden die verfestigten oft auch verkörperten (somatisierten) Erlebensstrukturen in den ursprünglich flüssigen Aggregatszustand alles Lebendigen aufgelöst, in ihren statu nascendi versetzt und in den ursprünglichen Lebensstrom zurückgeführt.
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Heilsame Wirkungen Die systematische energetische Erschliessung des Musikalischen erlaubt einen theoretischen Zusammenschluss musikalischer Strukturen mit spezifischen menschlichen Befindlichkeiten (Erlebenstrukturen), bis hin zu pathologischen Zuständen. Auf diese Weise lässt sich eine energetisch begründete „Pharmakologie“ der Musik entwerfen. Aufgrund des Zusammenhangs von persönlicher und musikalischer Energetik, wie sie das Szondische energetische System anbietet, werde ich versuchen, einigen allgemeineren Befindlichkeiten, Stimmungsmustern und pathologischen Zuständen das entsprechende „homöopathische“ musikalische Energetikum gegenüberstellen - ganz im Sinne von Novalis: „Jede Krankheit ist ein musikalisches Problem, die Heilung eine musikalische Auflösung“.
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Musik des Faktors m Chorwerke, Gregorianik, meditative Vokal-Musik Einsamkeitsgefühle, -ängste, Abschied, Trennung, Trauer, Heimweh Musik des Faktors d Barockmusik, virtuose Instrumentalmusik, Brandenburgische Konzerte Fixiertheit, Blockaden, Hemmung, Beharrung, zwanghaftes Nicht-von-der-Stelle-Kommen, Bewegungsunruhe, Ungeduld, Flüchtigkeit, Nervosität Musik des Faktors h Gesang (Lied), Streicher-, Flöten-, Harfenmusik, Lyrische Opern, Singspiel, Oratorien Bei Zärtlichkeits- und erotischen Bedürfnissen, idealistischer Bindungsbedürfnisse, Schwärmerei, Hautprobleme
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Musik des Faktors s Marschmusik, dramatisch-kraftvolle Klänge, Trompeten konzerte Bei Antriebsschwäche, depressiven Zuständen, sexuellen Problemen Musik des Faktors e Musik, bei der Stauung und Entladung von groben Affekten spielt. Vor allem Musik von L. v. Beethoven, R. Wagner Bei Migräne, Kopfschmerzen, Ausschlägen Musik des Faktors hy Musik mit Klangmalerei, Impressionistische Musik (französische Musik) Bei unterdrückten erotischen Spannungen
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Musik des Faktors p Naturhaft-romantische Musik C.M.v. Weber (Freischütz), Grossartige Klangballungen: R. Strauss Sinfonische Dichtungen, F. Liszt Bei Problemen des Selbstbewusstseins, Selbstwertgefühls Musik des Faktors k Rational betonte Musik, J.S. Bach, A. Schönberg Bei Problemen mit der Realität, Fanatismus, Idolisierung
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Literaturverzeichnis Böhme, Gernot: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik. Frankfurt/M. 1995 Fox, Matthew/Sheldrake, Rupert: Engel-Die kosmische Intelligenz. München 1998 Freud, Sigmund (1930): Das Unbehagen in der Kultur. Frankfurt/M. 2001 Groddeck, Georg (1933): Der Mensch als Symbol. München 1976 Groddeck, Georg: Psychoanalytische Schriften zur Literatur und Kunst. Frankfurt/M. 1978 Groddeck, Georg: Das Buch vom Es. Psychoanalytische Schriften an eine Freundin. Frankfurt/M. 2004 Karbusicky, Vladimir: Empirische Musiksoziologie. Wiesbaden 1975 Kurth, Ernst: Romantische Harmonik und ihre Krise in Wagners „Tristan“. Bern 1920; 3. Aufl., Berlin 1922 Kurth, Ernst: Bruckner Bd 1. Berlin 1925 Kurth, Ernst: Musikpsychologie. Berlin 1931 Michels-Gebler, Ruth: Schmied und Musik. Über die traditionelle Verknüpfung von Schmiedehandwerk und Musik in Afrika, Asien und Europa. Bonn 1984 Pöltner, Günther: „Sprache der Musik.“ In: ders. (Hg.): Phänomenologie der Kunst. Frankfurt/M. 2000 Preussner, Eberhard: Musikgeschichte des Abendlandes. Wien 1958 Rakusa, Ilma: Mehr Meer. Erinnerungspassagen. Graz-Wien 2009 Reich, Wilhelm (1933): Charakteranalyse. Köln 1989 Schmitz, Hermann: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie. Bonn 1990 Seidl, Mathes: Fluidum Musik. Die körperliche Wirklichkeit der Töne. Neuried b/München 2005 Sloterdijk, Peter: „Wo sind wir, wenn wir Musik hören?“ in Weltfremdheit. Frankfurt/M. 1993 Szondi, Leopold: Ich-Analyse. Bern und Stuttgart 1956 Szondi, Leopold: Kain. Gestalten des Bösen. Bern 1969 Szondi, Leopold (1960): Lehrbuch der Experimentellen Triebdiagnostik (Bd I). Bern 1972 Szondi, Leopold: Moses Anwort auf Kain. Bern 1973 Szondi, Leopold: Schicksalsanalyse. Wahl in Liebe, Freundschaft, Beruf, Krankheit und Tod. Basel 1944; Basel 1978 Vogel, Martin: Onos lyras. Der Esel mit der Leier. Düsseldorf 1973 Werner, Heinz: Einführung in die Entwicklungspsychologie. München 1959 (Erstausgabe 1926?) Werner, Heinz: „Intermodale Qualitäten (Synästhesien)“, 9. Kap., in: Handbuch der Psychologie, I. Bd., I. Halbband. Göttingen 1966
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Dank: Dem Szondi-Institut, insbesondere Herrn Alois Altenweger sowie Herrn Daniel Zimmermann danke ich für die Unterstützung bei der Publizierung des Buches; Herrn Benjamin Sourlier gilt mein Dank für die grosse Hilfe bei der Fertigstellung desselben. Herrn Prof. Anton Haefeli, Basel, danke ich für die eingehende kritische Lektüre des Manuskriptes - trotz und gerade wegen seiner völlig unterschiedlichen wissenschaftlichen Auffassung. M.S. Über den Autor: Mathes Seidl, geboren 1944 in Rostock. Ausbildung zum Bratschisten in München, Mitglied verschiedener Orchester und Kammermusikformationen. Studium der Musikwissenschaft an den Universitäten Hamburg und Zürich. Promotion. Studium der Psychologie und Ausbildung zum Psychotherapeuten in Zürich. In eigener Praxis tätig. Spezialisiert auf die Arbeit mit Musikern, vor allem die Anwendung der auf Selbstwahrnehmung beruhenden FocusingMethode auf das Musizieren. Weiterhin als Musiker tätig in den Bereichen Kammermusik und Freie Improvisation. Weitere Publikationen: „Die Streichinstrumente als Symbole“ (Hamburg 1998), eine anthropologisch-psychologische Untersuchung zu den Streichinstrumenten Geige, Bratsche, Cello, Kontrabass; „Fluidum Musik - die körperliche Wirklichkeit der Töne“. Mit Essays zu einer Erlebnis- und Focusing-orientierten Praxis, (Neuried-München 2005).
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