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Das Online-Magazin für psychologische Themen, Schicksalsanalyse und therapeutische Arbeit Herausgeber: Alois Altenweger, www.psychologieforum.ch und Szondi-Institut Zürich


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«texte» Bildlegende: Wo enden Therapien – nach steilem Aufstieg?

Das Online-Magazin für psychologische Themen, Schicksalsanalyse und therapeutische Arbeit April 2013 Szondi-Institut Zürich

Die Verantwortung für den Inhalt der Texte, die vertretenen Ansichten und Schlussfolgerungen liegt bei den Autoren bzw. den zitierten Quellen. Fotos: © Alois Altenweger Szondi-Institut, Krähbühlstrasse 30, 8044 Zürich, www.szondi.ch, info@szondi.ch, Tel. 044 252 46 55


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Inhalt Thema im Schnittpunkt Die Zähmung des egoistischen Menschen Die wirtschaftswissenschaftliche Theorie spricht vom Homo oeconomicus, einem grundsätzlich egoistischen Menschen, der nur zu seinem eigenen Nutzen kooperiert. Der Realität wird diese Theorie nur bedingt gerecht. Zwei Arbeiten von Forschern der ETH Zürich liefern nun neue Erklärungsansätze, wie kooperatives Verhalten entstehen und sich durchsetzen konnte. Die wirtschaftswissenschaftliche Theorie spricht vom Homo oeconomicus, einem grundsätzlich egoistischen Menschen. Fabio Bergamin

Psychologisches Näherungen an das Unbewusste Alois Altenweger

Medizin und Gesundheit Die Macht der Verdrängung Dr. Ute Schönfelder

Über den Tellerrand hinaus Schnelles und langsames Denken Denken ist in den wenigsten Fällen rational. Der Psychologe Daniel Kahneman hat analysiert, was unser Denken und unsere Entscheidungen beeinflusst – und dafür den Wirtschaftsnobelpreis erhalten. Theo von Däniken

Das Buch des Monats Gefühle im Wandel der Zeit Christian Wolf

Zur psychotherapeutischen Arbeit Internetbasierte Interventionen: Der Therapeut im Internet Prof. Dr. med. Horst Kächele

Veranstaltungen Psychotherapie im Alter

Zu guter Letzt Geduld Marie Luise Kaschnitz


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__Thema im Schnittpunkt

Die Zähmung des egoistischen Menschen Die wirtschaftswissenschaftliche Theorie spricht vom Homo oeconomicus, einem grundsätzlich egoistischen Menschen, der nur zu seinem eigenen Nutzen kooperiert. Der Realität wird diese Theorie nur bedingt gerecht. Zwei Arbeiten von Forschern der ETH Zürich liefern nun neue Erklärungsansätze, wie kooperatives Verhalten entstehen und sich durchsetzen konnte. Fabio Bergamin

Sind wir alle Homines oeconomici, rational denkende und eigennützig handelnde Menschen? Die wirtschaftswissenschaftliche Theorie ist lange von diesem Konzept ausgegangen. Demnach würden wir als Konsumenten nur das Ziel verfolgen, für jeden ausgegebenen Franken einen maximalen Nutzen zu erhalten. Und als Verkäufer hätten wir keine andere Motivation als die Maximierung des Profits. Heute sind viele Wirtschaftswissenschaftler und Soziologen überzeugt, dass das vereinfachende Konzept des Homo oeconomicus der komplexen Realität der menschlichen Interaktionen nicht gerecht wird. Denn ganz offensichtlich verhalten sich nicht alle Menschen egoistisch. Die meisten von uns sind kooperativ – nicht nur aus Eigennutz –, haben ein Verständnis von Fairness oder gar eine soziale Ader. Doch wie konnte dieses kooperative, «faire» Verhalten in der Menschheitsgeschichte entstehen? Wie konnten sich Menschen, die auch zulasten des eigenen Vorteils auf andere Rücksicht nehmen, gegen Menschen durchsetzen, die nur an den eigenen Vorteil denken? Viele Theorien versuchen dies mit Altruismus, selbstlosem Handeln, zu erklären. Diese Theorien gehen in der Regel davon aus, dass Menschen nicht nur gegenüber Verwandten selbstlos handeln, sondern auch gegenüber wildfremden Menschen, die sie zum ersten Mal sehen. Die gute Behandlung von Verwandten ist evolutiv einfach zu erklären, denn Verwandte haben ähnliche Erbanlagen. Wenn wir sie unterstützen, tragen wir indirekt zur Weitergabe der eigenen Gene bei. Selbstloses Verhalten gegenüber Fremden ist hingegen evolutiv schwierig nachzuvollziehen.

Zwei Modelle, die ETH-Wissenschaftler in diesen Tagen unabhängig voneinander veröffentlicht haben, bieten nun neue Erklärungsansätze für kooperatives Verhalten – auch gegenüber Fremden. Das eine Modell der Gruppe von Dirk Helbing, Professor für Soziologie, liefert eine neue Erklärung, wie sich kooperative, «faire» Menschen während der Evolution durchsetzen konnten. Ein anderes Modell von Andreas Diekmann, ebenfalls Professor für Soziologie, zeigt, dass Kooperation zwischen fremden Menschen nicht zwingenderweise auf


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Altruismus beruhen muss, sofern sich Freiwillige finden, die nicht-kooperatives Verhalten bestrafen. «Homo socialis» Helbing und seine Kollegen simulierten das Verhalten einer Gruppe von einigen hundert Menschen – im Modell Agenten genannt – während 200 Generationen mit einem spieltheoretischen Evolutionsmodell am Computer. Das in der Fachzeitschrift «Scientific Reports» veröffentlichte Modell berücksichtigt nicht nur den – unter anderem wirtschaftlichen – Erfolg der Agenten, sondern auch ihre «Freundlichkeit» und ihr Kooperationsverhalten. Auch beinhaltet es, dass soziale Werte unter bestimmten Voraussetzungen über Generationen hinweg weitergegeben werden, aber auch spontan entstehen und variieren können. Die Wissenschaftler begannen die Simulation mit ausschliesslich egoistischen Agenten, die dem Homo oeconomicus entsprechen. Nach der Simulation von rund 60 Generationen kippte das Modellsystem von einem eigennützigen in einen sozialen Zustand: Die Mehrheit der Agenten zogen ab diesem Punkt Vor- oder Nachteile des Gegenübers in ihren Entscheidungen in Betracht – es entwickelte sich ein «Homo socialis». Helbing und seinen Kollegen gelang es auch, die Umstände zu ermitteln, unter welchen sich das soziale Verhalten in der modellierten Menschheitsgeschichte durchsetzen und verbreiten konnte, nämlich wenn die Nachfahren tendenziell nahe bei ihren Eltern bleiben. Auf diese Weise können Clans oder Dorfgemeinschaften von Individuen mit ähnlichem Freundlichkeitsniveau entstehen. Die in solchen Gemeinschaften lebenden Agenten hatten in einem frühen Stadium der Simulation eine Präferenz für Freundlichkeit, sie verhielten sich jedoch zunächst nur bedingt kooperativ. Zufällig in solche Gemeinschaften hineingeborene, «bedingungslos kooperierende» Agenten vermochten das Verhalten der Clanmitglieder in Richtung Kooperation zu beeinflussen. Über einen Dominoeffekt konnte sich der «Homo socialis» letztlich durchsetzen, wie die Simulation zeigte. Trittbrettfahrer bestrafen Einen anderen Erklärungsansatz veröffentlichte Andreas Diekmann gemeinsam mit seinem Kollegen Wojtek Przepiorka von der Universität Oxford in der Fachzeitschrift «Proceedings of the Royal Society B». Die Wissenschaftler liefern eine mögliche Erklärung für Kooperation zwischen fremden Personen, die sich zum ersten Mal begegnen – eine Erklärung, die ohne das Konzept des Altruismus, des selbstlosen Handelns, auskommt. Die Forscher stellen nicht in Abrede, dass es Menschen gibt, die Rücksicht nehmen auf Fremde. Doch sei es ihnen ein Anliegen gewesen, eine Erklärung für Kooperation zu präsentieren, die ohne dieses Konzept auskomme, sagt Diekmann. Es ist bekannt, dass Kooperation entstehen kann, wenn nicht-kooperative Trittbrettfahrer in einer Gemeinschaft bestraft werden. «Voraussetzung dafür ist aber, dass sich Freiwillige finden, die diese Trittbrettfahrer im Eigeninteresse bestrafen», erklärt Diekmann. Das Problem ist als Freiwilligendilemma bekannt: Jemand, der einen anderen bestraft, hat oft negative Folgen zu gewärtigen. Niemand prescht gerne vor, wenn es darum geht, einen Trittbrettfahrer zu bestrafen oder – als konkretes Beispiel – jemanden, der im Zug zu laut Musik hört, um Ruhe zu bitten. Die Frage ist also, ob jemand aktiv wird, statt auf das Eingreifen der anderen zu warten. Asymmetrie steigert Kooperationsniveau In einem spieltheoretischen Experiment mit 120 Versuchspersonen haben Diekmann und Przepiorka das Freiwilligendilemma auf das Kooperations- und Sanktionsproblem angewandt. Dabei untersuchten sie, wie die Versuchsteilnehmer in einem Spiel um Spielgeld mit einem


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betrügenden Mitspieler umgingen. Das Experiment bestätigte, dass kooperatives Verhalten in einer Gruppe entstehen kann, solange es eine Person gibt, die straft.

Wir sind alle miteinander verknotet.

Ausserdem zeigte das Experiment, dass die Kooperation in einer Gruppe grösser ist, wenn die Mitglieder eine sichtlich unterschiedliche Bereitschaft haben, Trittbrettfahrer zu bestrafen. Die Verantwortung zur Sanktion wird dann nicht gleichmässig auf die Gruppenmitglieder verteilt, sondern konzentriert sich in der Regel auf die Person, die aus der Bestrafung den grössten Nutzen zieht oder für die die Bestrafung mit den geringsten negativen Folgen verbunden ist. Wenn beispielsweise eine Reisegruppe im Zug von Herrn Meier weiss, dass er sich besonders stark an lauter Musik stört, werden alle Gruppenmitglieder darauf warten, dass Herr Meier einen Störenfried sanktioniert. «Von dieser Person wird erwartet, dass sie für alle die Kohlen aus dem Feuer holt», sagt Diekmann. So führe die Ungleichheit der Mitglieder zu einer effizienten Sanktionierung und gleichzeitig zu einem hohen Kooperationsniveau. Literaturhinweis Grund T, Waloszek C, Helbing D: How Natural Selection Can Create Both Self- and Other-Regarding Preferences, and Networked Minds, Scientific Reports, 2013, 8: 1480, doi: 10.1038/srep01480 Przepiorka W, Diekmann A: Individual heterogeneity and costly punishment: a volunteers’s dilemma. Proceedings of the Royal Society B, 2013, doi: 10.1098/rspb.2013.0247


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__Psychologisches

Näherungen an das Unbewusste Das Konzept vom Unbewussten ist der Kern aller tiefenpsychologisch orientierten Therapien und Analysen. Etabliert hat sich nach Szondi das Drei-Schichten-Modell des Inhalts des Unbewussten: persönliche, familiäre und kollektive Inhalte. Ferner nehmen alle drei Schöpfer des Konzepts vom Unbewussten in sehr unterschiedlicher Konsequenz an, dessen Inhalte seine genetisch fixiert, wobei die schicksalsanalytische Lehre hier ein umfassendes und in sich schlüssiges System aufweist. Bei einer näheren Untersuchung des Begriffs vom Unbewussten stellt sich nun rasch die Frage, ob es nicht mehr Inhalte gibt, als Freud, Szondi und Jung postulieren und ob die genetische Verortung dieser Inhalte nicht zu eng gefasst ist. Alois Altenweger Bei C.G. Jung lesen wir vom «psychoiden Unbewussten» und davon, dass das kollektive Unbewusste einen Potentialitätsraum ausmache, während wir von Erich Fromm vernehmen, dass das Unbewusste hingegen den universalen, den ganzen Menschen verkörpere, der im Kosmos verwurzelt sei; «es verkörpert die Pflanze, das Tier und den Geist in ihm. Es verkörpert seine Vergangenheit bis zur Morgendämmerung des menschlichen Seins, und seine Zukunft». Bei Leopold Szondi hingegen geht’s stringenter zu: da ist das Unbewusste in erster Linie «Warteraum der Ahnen» oder Kraftraum genetischer (rezessiver) Dispositionen; die Einschränkung auf «in erster Linie» ist darum nötig, weil Szondi in der inhaltlichen Definition des Unbewussten noch Ungeklärtes offen lässt, indem er zwar prinzipiell den Regelkreis von «Genetischer Disposition > im Unbewusste befindlich > den Wahlzwang auslösend» postuliert aber am Rande anmerkt, dass es Quasi-Vererbungen gäbe, die nicht in dieses Schema passen würden.

Auf Grund dieses Umrisses, der noch durch die Definition des Unbewussten bei Freud zu ergänzen wäre, zeigt sich, dass die Frage nach dem Unbewussten sich in mehrere Teilaspekte auflöst: Erstens wo befindet sich das Unbewusste, zweitens in welchem Medium ist es, drittens wie kommuniziert das Unbewusste und wir mit ihm, viertens wie ist – wenn überhaupt – das Unbewusste gegliedert, fünftens welche Inhalte hat das Unbewusste, sechstens welche Funktion nimmt das Unbewusste wahr, falls man von Funktion im Sinne einer Aufgabe sprechen kann siebtens: welches Ordnungsprinzip regelt das Unbewusste achtens: von welcher Energie wird das Unbewusste betrieben.


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Fragen, die wir in einem Zyklus von Texten zu beantworten versuchen. Wenden wir uns zuerst dem schicksalsanalytischen Credo zu, nachdem die unbewussten Zwangswahlhandlungen eine Funktion der im Unbewussten lagernden (rezessiven) familiären vererbten Genansprüche sei: «Das familiäre Unbewusste ist das unbewusste Wirkungsgebiet der verborgenen familiären Erbanlagen. Die unbewusste Funktion des familiären Unbewussten nennen wir Genotropismus. (Szondi, 1956/1999, S. 71)» Zur Klärung gilt es festzuhalten, dass die unbewusste Wahl zwar für uns unbewusst erscheinen mag, diese Wahl aber gemäss der Schicksalsanalyse einem Motivkomplex von Triebbedürfnissen entspringt, der für die möglicherweise zuständigen Gene nicht unbewusst ist, sondern einem dem Gen bekannten Programm, also dem Bewusstsein des Gens folgt. Wenn man sich die Vielfarbiges Unbewusstes und viel Dunkles Aktivitäten in den Zellen, einem der Aufenthaltsorte der Gene, dem nahezu hektischen und minutiösen Arbeiten in den Zellen – wie in einer Fabrik! - sich vor Augen führt, gewinnt man schon den Eindruck, da sei äusserst bewusstes und programmiertes Schalten und Walten dahinter. Unbewusst ist nicht mit dem Unbewussten gleichzusetzen und es als «Warteraum der Ahnen» zu bezeichnen, dürfte insofern zutreffen, als dass die «Ahnenansprüche» eben nicht genetisch bedingte Aktivitäten sind, sondern präformierte Formen, Programme und Methoden der Daseinsbewältigung wie sie die fast unendlichen Reihe von Vorfahren in einem kollektiven Raum der Erinnerungen abgespeichert hat. Der Begriff «Potentialitätsraum» von C. G. Jung dürfte die Qualität dieses Raumes gut umschreiben und schliesst die genetisch verlaufende Vererbung von psychischen Manifestationen und vorab Krankheiten in keiner Weise aus, sondern würde eben auf ein transgenerationales «Gedächtnis» (Schützenberger) hindeuten, in dem eben familiäre Ereignisse, Traumata, Erfahrungen und Lebensmodi gespeichert sind, die nicht die Gene als Speichermedium benützen. Der springende Punkt dabei ist, dass der Inhalt dieses Gedächtnisses für uns unter normalen Umständen nicht bewusst abrufbar ist wie das Geburtsdatum oder eine Telefonnummer, sondern eben unbewusst bleibt, ergo im Unbewussten abgelegt worden ist. Es sind die Antworten unserer Ahnen auf spezifische Problematiken des Daseins – so gesehen durchdringen uns die Lebenserfahrungen unserer Vorfahren als ererbte «pattern of behaviour» (Jung), als Lösungswege und Leitmotive und werden von uns unbewusst (Zwangswahl nach Szondi) in unsere persönliche und aktuelle Art der Lebensbewältigung eingebaut. Also gilt es, das Unbewusste aus dem genetischen Korsett zu befreien, denn das Unbewusste sitzt nicht im Baustoff der Gene, der DNA, der Aminosäuren und der daraus geformten Proteine, vielmehr sind die in der DNA codierten Informationen der Gene Inhalte eines viel umfangreicheren kosmischen Unbewussten. Unbewusst ist die Übernahme der sich über x-Generationen hinziehenden ererbter Programmierungen und unser – vom ersten Lebenstag an - persönliches Schreiben an diesem familiären Fortsetzungsroman. Solcherart leisten wir unseren Beitrag an die familiäre Ahnengeschichte. Nebenbei bemerkt, ist es völlig offen, ob und wann und wie familiäres Ahnenerbe modifiziert, umgeformt oder gelöscht werden kann, denn eine beispielsweise schicksalsanalytische Therapie ermöglicht im besten Fall eine Sozialisierung oder eine freudsche Sublimierung, aber damit wird nur für eine individuelle Person die negative Manifestation eines Triebbedürfnis «gezähmt», aber nicht auf Dauer «unschädlich» gemacht, denn wie es Szondi in seinen Büchern «Triebdiagnostik» und «Ich-Analyse» schlüssig dargelegt hat, sind die Triebbedürfnisse unveränderlich, sie treten nur immer in wechselnden Schaustücken auf der «Drehbühne der Triebbedürfnisse» (Szondi) auf. Die in diesem Text vorgenommene erste Annäherung an das Unbewusste hat wie nicht anders zu erwarten, mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet wurden und zu mehr Hypothesen


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geführt, als vorauszusehen war. Erfreulich wäre es, wenn die skizzierten Überlegungen und vorläufigen Schlüsse zu einer Diskussion unter SchicksalsanalytikerInnen führen würden.

Häufig findet sich nicht die Blaue Blume sondern violetter Kohl im Unbewussten.

__Medizin und Gesundheit

Die Macht der Verdrängung Dr. Ute Schönfelder Wer unangenehme Gefühle permanent unterdrückt, wird über kurz oder lang krank. Das postulierte bereits Ende des 19. Jahrhunderts der „Vater“ der Psychoanalyse Sigmund Freund. Obwohl häufig zitiert und in der Alltagspsychologie mittlerweile fest verankert, stand der wissenschaftliche Beweis für die Richtigkeit dieser These bislang aus. „Die Forschung zum direkten Zusammenhang zwischen der Verdrängung negativer Emotionen und dem Auftreten physischer Symptome und Beschwerden beruht bisher auf vielen teils widersprüchlichen Einzelbefunden“, erklärt Prof. Dr. Franz J. Neyer von der Friedrich-Schiller-Universität Jena diese Forschungslücke. Zwar seien Spekulationen vor allem in der populärwissenschaftlichen Literatur weit verbreitet, so der Psychologe. „Doch ob Menschen, die negative Gefühle vermeiden, tatsächlich häufiger unter körperlichen Krankheiten leiden als andere, ist bislang nicht nachgewiesen worden.“ Am Lehrstuhl für Differentielle Psychologie, Persönlichkeitspsychologie und Psychologische


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Diagnostik sind jetzt – mehr als ein Jahrhundert nach Freud – Nachwuchsforscher erstmals systematisch daran gegangen, eine neuere Version von dessen Theorie zu überprüfen. In der Fachzeitschrift „Health Psychology“ haben Marcus Mund und Kristin Mitte die erste Meta-Analyse veröffentlicht, die den Zusammenhang von emotionaler Verdrängung und körperlichen Erkrankungen quantitativ untersucht hat (DOI: 10.1037/a0026257). Dafür haben sie sämtliche weltweit verfügbaren Einzelergebnisse zusammengetragen, die das Auftreten von Krankheiten wie Krebs, Herz-, Kreislauferkrankungen, Asthma oder Diabetes im Zusammenhang mit Verdrängungstendenzen untersucht haben. Das Ergebnis: Tatsächlich gibt es Zusammenhänge zwischen der Verdrängung und einigen Krankheiten. „Das Unterdrücken unangenehmer Gefühle ist ein allgemeiner Abwehrmechanismus, den jeder Mensch von Zeit zu Zeit nutzt“, erläutert Marcus Mund, Hauptverantwortlicher der Studie: „Es gibt aber auch Menschen, in deren Persönlichkeit das Prinzip der Abwehr wesentlich verankert ist.“ Diese Eigenschaft nennen die Psychologen „Repression“. Im Mittelpunkt der in die Studie eingegangenen Daten standen typische „Represser“ – also Menschen, die negative Gefühle generell unterdrücken. „Diese Menschen zeichnen sich dadurch aus, dass sie einerseits angeben, wenig Angst zu verspüren und sich andererseits sehr defensiv verhalten, also wenig risikofreudig sind und stets eine hohe Kontrolle über sich und die jeweilige Situation suchen“, so Marcus Mund. Interessanterweise sind Represser aber weitaus ängstlicher als sie selbst glauben oder zugeben wollen. „Setzt man Represser psychischem Stress aus, so zeigen sie heftige körperliche Angstreaktionen, wie Schwitzen oder einen beschleunigten Puls.“ Auch im Vergleich zu „Nicht-Repressern“ reagieren sie häufig stärker. Genau an diesem Punkt, so der Psychologe weiter, setze auch der Einfluss auf die körperliche Gesundheit ein. So bestehe ein eindeutiger Zusammenhang zwischen Repression und einem erhöhten Blutdruck. Chronischer Bluthochdruck wiederum kann schwerwiegende Folgeerkrankungen wie koronare Herzerkrankungen, Nieren- oder Augenschäden verursachen. Für andere Krankheiten, wie Krebs, lasse sich allerdings kein Zusammenhang zwischen der Unterdrückung von Emotionen und dem Risiko zu erkranken feststellen. „Die häufig ins Spiel gebrachte sogenannte Krebspersönlichkeit gibt es definitiv nicht“, ist sich Marcus Mund sicher. Allerdings bedeute die persönliche Veranlagung zur Repression nicht, dass auftretende Krankheiten auch schwerer verlaufen als bei Nicht-Repressern. Im Gegenteil: „Aufgrund ihres hohen Kontrollbedürfnisses sind Represser in der Regel sehr diszipliniert und motivierter, ihren Lebensstil an die Krankheit anzupassen.“ Werden diese Ressourcen genutzt, könne sich das günstig auf den Therapieerfolg auswirken. Jedoch betonen die Psychologen auch, dass viele der vorliegenden Studien keine Rückschlüsse darüber erlauben, was eigentlich „Henne“ und was „Ei“ ist: Führt die Verdrängung zu chronischen Krankheiten oder verdrängt man, weil man chronisch krank geworden ist. (Foto: Anne Günther/FSU)

Kontakt: Marcus Mund Institut für Psychologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena Humboldtstraße 11, 07743 Jena Tel.: 03641 / 945165 E-Mail: marcus.mund[at]uni-jena.de


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__über den Tellerrand hinaus

Schnelles und langsames Denken Denken ist in den wenigsten Fällen rational. Der Psychologe Daniel Kahneman hat analysiert, was unser Denken und unsere Entscheidungen beeinflusst – und dafür den Wirtschaftsnobelpreis erhalten. Am Dienstagabend sprach er auf Einladung des UBS International Center of Economics in Society.

(Text und Bild: Theo von Däniken)

Wie kein Zweiter hat sich der Nobelpreisträger Daniel Kahneman in seiner Forschung damit auseinandergesetzt, was eigentlich unser Denken und Entscheiden lenkt. Damit hat er weite Kreise in der Wissenschaft beeinflusst. Unter anderem entzauberte Kahneman den «homo oeconomicus», der sich bei genauerem Hinsehen keineswegs als der rational abwägende, alle Informationen berücksichtigende Mensch erweist, als den ihn die Wirtschaftswissenschaftler lange Zeit gern gesehen haben. Kahneman sei einer «der wichtigsten und einflussreichsten lebenden Psychologen», erklärte UZH-Wirtschaftsprofessor Ernst Fehr in seiner Begrüssung zum Vortrag Kahnemans an der Universität Zürich. Als einer der wenigen Nichtökonomen erhielt Kahneman 2002 den Wirtschaftsnobelpreis für seine Erkenntnisse, wie sich Menschen entscheiden. Rationales und vernünftiges Denken ist dabei weniger bedeutend, als schnelles, assoziatives Denken, das zudem von irrationalen Neigungen gesteuert wird. Mühelos und automatisch Schnelles Denken, so erläuterte Kahneman, basiere auf Eindrücken und darauf folgende automatisierte Reaktionen des Gehirns. Ohne dass wir aktiv etwas dazu tun, steigen je nach Situation Worte, Assoziationen, Erinnerungen und Emotionen in uns hoch. Das schnelle Denken, das die Psychologen als «System 1» bezeichnen, passiert einfach so und fordert uns keine Mühe ab. In den meisten Fällen geben wir uns damit zufrieden, Eindrücke und Wahrnehmungen zu verarbeiten, auch wenn uns dazu eigentlich nur wenige Informationen zur Verfügung stehen. Solange sich diese kohärent in unsere Wahrnehmung einbinden lassen, sind wir bereit, diese Interpretation ohne weiteres Nachdenken zu akzeptieren. Denn das langsame Denken, das «System 2», mit dem wir zum Beispiel die Reaktionen des «Systems 1» kontrollieren oder komplizierte Rechenaufgaben lösen, ist mit echter Anstrengung verbunden. Diese ist durchaus mit körperlicher Anstrengung vergleichbar. Und selbst wenn wir «langsam» oder nach «System 2» denken, so ist auch dieses wiederum vom schnellen Denken beeinflusst. Denn wir neigen dazu, darin vor allem jene Informationen und


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Einschätzungen zu berücksichtigen, die unseren ersten Eindruck stützen. Was nicht dazu passt, vernachlässigen wir. Irrationale Neigungen Nun wird insbesondere das schnelle Denken von einer ganzen Reihe von Irrationalitäten beeinflusst, denen Kahneman in seiner Forschung auf den Grund gegangen ist. So neigen wir etwa dazu, mögliche Verluste viel höher einzuschätzen als mögliche Gewinne. Haben wir die Gelegenheit, ein Geschäft zu machen, bei dem wir 200 Franken gewinnen können, bei dem aber auch mit gleicher Wahrscheinlichkeit ein Verlust von 100 Franken droht, werden wir es in der Regel nicht machen. Diese Verlustaversion hat weitreichende Konsequenzen für unser Verhalten in vielen Bereichen. In Verhandlungen etwa werden eigene Konzessionen, die man dem Gegenüber macht, als Verluste empfunden und deshalb hoch gewertet. Die Konzessionen des Gegenübers hingegen stellen für einen selbst Gewinne dar, die jedoch nicht gleich hoch eingeschätzt werden. Rat von Freunden Die Verlustaversion spielt jedoch keine Rolle, wenn es um Gewinne oder Verluste von Anderen geht. Deshalb werden Politiker oder Wirtschaftsführer oft von den heftigen Reaktionen auf ihre Entscheide überrascht, weil sie die Gewinne und Verluste ganz anders einschätzen als die Betroffenen. Für diese haben die Verluste emotional ein anderes Gewicht. Deshalb, so riet Kahneman, sei es aber auch eine gute Idee, sich externen Rat, beispielsweise von Freunden einzuholen. Denn ein Aussenstehender kann mögliche Verluste und Gewinne objektiver abwägen. In scheinbarem Widerspruch zu der Verlustaversion steht ein anderer irrationaler Faktor, der unser Denken verzerrt: der «übersteigerte Optimismus». Die Menschen sind gemäss Kahneman fast unverbesserliche Optimisten. Obwohl zum Beispiel der weitaus grösste Teil von neuen Unternehmen innert weniger Jahre wieder in Konkurs geht, lassen sich immer wieder unzählige Menschen von Neuem auf das Abenteuer Unternehmensgründung ein. Weil sie der festen Überzeugung sind, ihr Unternehmen werde es schon schaffen. Antriebskraft des Kapitalismus Dieser Optimismus sei die «Antriebskraft» des Kapitalismus, erläuterte Kahneman. Denn dadurch würden Menschen Innovation wagen, auch dann, wenn ein nüchterner Blick auf die Chancen zeigen würde, dass nur in den wenigsten Fällen ein wirtschaftlicher Erfolg zu erzielen ist. Für die gesellschaftliche und technologische Entwicklung ist dieser übertriebene Optimismus deshalb eine wichtige Voraussetzung. «Planungen», so erklärte Kahneman, «sind immer zu optimistisch.» Dabei hilft nicht einmal die Einsicht in dieses Phänomen, um ihm nicht zum Opfer zu fallen. Das musste Kahneman selber erfahren, als er plante, sein Buch «Thinking, fast and slow» in achtzehn Monaten zu schreiben. Letztlich wurden viereinhalb Jahre daraus. Theo von Däniken, Journalist und Mitarbeiter von UZH News


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_zur psychotherapeutischen Arbeit

Internetbasierte Interventionen: Der Therapeut im Internet Prof. Dr. med. Horst Kächele Therapeuten, seien sie nun als Berater oder Psychotherapeuten tätig, sind ein eigenartiger Berufsstand. Sie verdanken ihre Popularität der Veränderung sozialer Netzwerke in der westlichen Kultur (Kächele 2000), worunter nicht nur die religiöse Bindung gemeint ist, sondern überhaupt die Auflockerung sozialer Beziehungssysteme. Jede Gesellschaft schult einige ihrer Mitglieder für die Ausübung einer speziellen Form von Einflussnahme, die im alltäglichen sozialen Umfeld nicht oder nicht mehr verfügbar ist, schrieb der US-Psychiater J. Frank (1961, dt. 1981. S. 20). Durch Jahrhunderte kultureller Entwicklung hat sich der frühgeschichtliche Schamane zum modernen Heiler entwickelt, dessen Charisma ungeachtet seiner methodischen Kompetenz sich in sehr unterschiedlichen Überzeugungen auszudrücken scheint. Es vereint sie, wie es scheint, das Gefühl einen „unmöglichen“ Beruf auszuüben (Kernberg et al. 2005). Es ist nun der Frage nachzugehen, wo der Therapeut im Gefolge der technischen Veränderungen bleibt, die die neuen Medien mit ihren rasanten Kommunikationsmöglichkeiten mit sich bringen?

Allerdings, ob mit den „neuen Medien“ ein ganz neues kulturelles Phänomen in Erscheinung getreten ist, das uns als Psychotherapeuten nur irritiert und das wir nur zögerlich zur Kenntnis nehmen, kann zunächst offen bleiben. Denn es könnte hilfreich sein, sich durch einen Rückgriff auf ein „altes und ehrwürdiges Medium“ eine hilfreiche Orientierung zu verschaffen, die dann auch bei der Bewertung der sog. neuen Medien nützliche Anregungen liefern könnte. Botschaften wurden schon ausgetauscht, als die Menschheit noch „auf den Bäumen hockte“. Übermittlung von Hinweisen erfolgt mit vielfältigen Materialien; doch erst mit der Entwicklung elaborierter Sprachsysteme konnte ein kommunikatives Phänomen entstehen, das wir heute als „Briefwechsel“ kennen. Vom lateinischen „brevis (libellus)“ stammend, handelt es sich um eine schriftliche, meist verschlossene Mitteilung an einen bestimmten Adressaten, die persönlich durch Boten überbracht oder seit Jahrhunderten durch organisierte Postsysteme befördert wurde. Neben dem eigentlich privaten Brief gab es immer schon den offiziellen Brief für Mitteilungen oder Anweisungen sowie den meist auf politische Wirkung berechneten „offenen Brief“. In jeder Form – privat oder als literarischer Brief fiktiv und zur Veröffentlichung bestimmt - stellen Briefe wichtige Zeitdokumente dar. Sie verdeutlichen den jeweiligen Stand der Medialität in einer Kultur. Eine kommunikative Kultur durch Briefwechsel konnte geographische und oder soziale


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Entfernungen überbrücken (Beyrer & Täubrich 1996). Viele Zeugnisse belegen, dass auch im Medium des Schreibens „therapeutisch wirksame Kommunikation“ vermittelt werden kann. Allerdings stellt sich eine Frage, die allem Briefeschreiben zugrunde liegt: Die Unsicherheit einer Antwort, die nicht nur durch physische Abwesenheit des Kommunikationspartners oder die geographische Ferne bestimmt ist, lässt jeden Brief zunächst zu einem monologischen Ereignis werden, dem erst durch die verzögerte Antwort eine dialogische Qualität zukommt. Im alltäglichen dialogischen Sprechen sind die Möglichkeit einer Antwortverweigerung erheblich schwieriger, da sich der Sprechende unmittelbar dazu äußern kann (Streeck 2004). Er kann insistieren, nachfragen, darauf bestehen, dass eine Antwort erfolgt, und nicht selten geschieht dies dann auch unter Einsatz physischer Mittel. Briefe haben diese Möglichkeit nicht. Sie sind in einem hohen Masse erwartungsunbeständig; sie werden geschrieben in der Hoffnung auf eine Antwort, doch bleibt unsicher, ob sie kommt. Sie nehmen oft eine Antwort vorweg. Damit markieren sie einen oft vergeblichen Versuch, eine Trennung zu überbrücken, wie Koopmann (2002) am Beispiel des recht einseitigen Briefwechsel Goethes mit Frau von Stein belegt hat. Die sog. neuen Medien haben besonders in der Form des emailens viele Aspekte des altehrwürdigen Briefeschreibens abgewandelt aufgegriffen. Wir können die vordergründigen Merkmale der e-mail Kommunikation, die schon vielfältig untersucht wurden (Döring 2003), bei Seite lassen, um uns auf die Frage zu konzentrieren, ob und wie sich psychotherapeutische Prozesse in diesen Medien ereignen, wie man sich als Therapeut dieser neuen Situation stellt.

Auch Online sollte die Übertragung blühen

Eine ungewöhnliche Kommunikationsleistung dürfte die von dem Ulmer Psychoanalytiker Andreas Bilger in eine Kunstgalerie präsentierte Fax-Therapie darstellen, der sich mit seinem Patienten, einem Architekten, auf zeichnerische Weise, dessen diesen stark einschränkende Tierphobie therapeutisch genähert hat. Durch Fax übermittelte Zeichnungen des Patienten seines phobischen Objektes wurden vom Analytiker überzeichnet, korrigierend umgezeichnet und wieder an den Patienten zurückgefaxt. Die Arbeitsweise erinnert an das Winnicottsche Schnörkel Spiel (1973); das Fax als Medium schuf Kontakt und Abstand, die Zeichnungen wurden als Medium des Austausches Träger von deutender Annäherung aus Aussöhnung mit dem gefürchteten Objekt. Die grundlegende Situation therapeutischer Tätigkeit ist durch eine prägnante zeitliche und örtliche Beschränkung gegeben. Ob einmal in der Woche oder mehrmals, macht da keinen Unterschied; die meiste Zeit ist ein Therapeut real nicht verfügbar. Der Klient oder Patient muss mit dieser Beschränkung leben und muss lernen, daraus seinen Gewinn ziehen. Die Funktionalität eines Therapeuten besteht in der Verfügbarkeit als symbolisches Objekt, als quasi den psychischen

Stoffwechsel anregende Person, die gerade durch ihre überwiegende Nicht-Verfügbarkeit der kurzen Präsenz der Sitzung eine bedeutungsvolle Rolle zuweist.


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Ermöglicht man nun eine therapeutische Beziehung überwiegend durch den Austausch von Briefen, e-mails, oder gar nur durch SMS-Botschaften, wird dieser Prozess der physischen Nicht-Präsenzradikalisiert; gleichzeitig wird durch die zeitlich unspezifizierte Kontaktmöglichkeit das Phantasmaeiner Omnipräsenz bestätigt. Der bedeutungsvolle Andere, als der ein Therapeut zu agieren hat, muss noch stärker vom Kunden, vom Klient oder Patient, eigenständig „erfunden“ werden. Je betonter eine Intervention die Rolle des Therapeuten zurückfährt, desto mehr wird dem Nutzer diese Ausgestaltung des therapeutischen Einflusses überlassen. Dies dürfte Auswirkungen auf die Herstellung der therapeutischen Allianz haben, die anerkanntermaßen das wichtigste technische Prinzip nicht nur der psychodynamischen Therapieformen ist, sondern wie heute allgemein anerkannt wird, in allen Behandlungsmodalitäten. Was ist damit gemeint?

Die hilfreiche Beziehung, wie Luborsky (1976) diese Allianz als Thema der Therapieforschung initiierte, ist eine Bezeichnung für eine Reihe offensichtlich verwandter Phänomene, in denen sich widerspiegelt, in welche Masse der Patient die Beziehung zum Therapeuten als hilfreich bzw. möglicherweise hilfreich für das Erreichen der Behandlungsziele erlebt. Dieses steht im Einklang mit Freuds (1912b) Empfehlung, dass die milde positive Übertragung als "Trägerin des Erfolges" (S. 371) betrachtet werden sollte. Im Kontext der neuen Medien stellt sich also die Frage, inwieweit diese dieser Herstellung förderlich oder hinderlich sind. Das Konzept der „hilfreichen Beziehung“ ist ein multidimensionales Konstrukt, an dem vier Aspekte differenziert werden können (Horvath u. Greenberg 1994); es ist lohnend, diese vier Aspekte darauf zu betrachten, inwieweit sie unter den Bedingungen einer indirekt-medial gestalteten Kommunikation – im Gegensatz zur face-to-face Kommunikation - erreichbar sind: a. „Die Fähigkeit des Patienten zielgerichtet in der Therapie arbeiten zu können“ wird je nach den Eigenarten der kommunikativen Situation unterschiedlich zum Tragen kommen; klar strukturierte Vorgaben einer direktiven Intervention fördern eher die mehr oder weniger bestehenden Fähigkeiten eines Patienten als die indirekten Einladungen sich über seine Probleme spontan zu äußern. b. „Die affektive Verbundenheit des Patienten mit dem Therapeuten“ sicher zu stellen, erfordert eine spezielle Fähigkeit des Therapeuten, sich im schriftlichen Kontakt so deutlich zu zeigen, dass ein Gefühl des Verbundenseins sich ausbilden kann. c. „Das empathische Verstehen und die Involviertheit des Therapeuten“ dürfte zu einem nicht geringen Grad von dessen Bereitschaft abhängen, mögliche textuelle Hinweise in den schriftlichen Äußerungen zu erfassen und in seinen wiederum schriftlichen Antworten zu expandieren. d. „Die Übereinstimmung von Patient und Therapeut hinsichtlich der Behandlungsaufgaben - und –ziele“ zu sichern, hängt wiederum stark vom Grad der Strukturiertheit der Vereinbarung ab. Hierzu liegen auch bereits Befunde vor, die sich auf die Qualität der Patienten- Therapeut Beziehung richten. Ott (2003) berichtet in seiner Übersicht zu klinischpsychologischen Interventionen und Psychotherapie im Internet zwar, dass noch „keine eindeutigen Trends gefunden werden konnten“, aber eine Reihe von Studien zeige, dass „Internet-Basierte Interventionen“ häufig mit einer negativen Compliance und einer Unzufriedenheit mit der Intervention verbunden waren“ (S.141). Massive Drop-out Raten von über 50% innerhalb der IBI-Bedingung sind nicht nur ein Hinweis, welche Personen unabhängig von Störungsbildern


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für solche Interventionen geeignet sind, – was einen Rückfall hinter den Stand der Indikationsforschung darstellen würde (Kächele & Kordy 2011) – sondern mehr noch, welches Ausmaß von ‚concern’ ein Therapeut aufbringen muss, um den Erwartungen gerecht zu werden und die Tücken des Mediums ausreichend in Rechnung zu stellen. Wird im Extremfall via einer Internet-Seite die personale Ausgestaltung durch einen real existierenden Therapeuten auf Null gebracht, - was vermutlich für rein psychoedukative Vorschläge sinnvoll sein mag -, verbleibt die kühne Hoffnung, dass auch Lesen bildend wirken kann. In meiner therapeutischen Praxis haben sich verschiedene Möglichkeiten etabliert. Schon lange war mir in der Handhabung schwieriger therapeutischer Konstellationen ein telefonischer Kontakt zwischen Sitzungen nützlich, um Rupturen der therapeutischen Allianz aufzufangen (s.d. Safran 2002; Scharff 2012). Botschaften, in denen Patienten ankündigten, nie mehr wiederkommen zu wollen, wurden rasch mit telefonischen Rückanrufen meinerseits beantwortet. Dies hat sich bewährt, da solche außergewöhnlichen Krisenzeichen stets auch mögliche Fehler in meiner Behandlungsführung anzeigten. Das nachfolgende Beispiel aus meinen Behandlungsunterlagen illustriert jedoch, dass solche Reparaturversuche auch durch Tücken des Mediums gefährdet sein können: Gestern Mittag hat die Patientin A. angerufen, nachdem sie am Tag vorher schon angerufen hat und es wegen schlechter Verbindung sehr wackelige Gesprächskontakte gab. Abends erreicht sie mich zu Hause und kündigt diesmal „endgültig“. Sie werde nicht mehr wiederkommen, sie wünscht mir alles Gute, sie sei halt wiedermal die Verliererin. Ich habe ihr dann auch alles Gute gewünscht und das Gespräch auch dann nicht weiter fortgesetzt. Trotzdem wurde die Behandlung Monate später auf Wunsch der Patientin wieder aufgenommen. Zunehmend stellte die Patientin ihre Kontaktwünsche statt durch Telefonanrufe, die stets durch mein Sekretariat gingen, auf Kontaktnahme mittels e-mails um. Wie im nachfolgenden Ausschnitt zu erkennen, reguliert sie nun selbst die (durch meine Abwesenheit bedingte) Phase der Unterbrechung lieber Herr K., Danke fuer die schnelle Reaktion, das hilft schon enorm; es reicht dann auch noch spaeter als Dienstag. Sie muessen sich nicht zerreissen. Ich weiß ja jetzt, dass ich nicht aus ihren Gedanken bin, dann kann ich warten. Ich schlage vor, Sie mailen, wenn Sie sehen, dass es ohne Stress reinpasst: es ginge bei mir leider nur Mittwoch, weil einmal den ganzen Tag Besprechungen sind und ich ein Gespräch mit dem neuen Chef habe, das kann ich schlecht umlegen. die neue Technik hat doch auch Riesenvorteile ich wünsche Ihnen eine gute Zeit, bis dann und nochmals danke beste Gruesse A. Eine andere, heute schon nicht mehr, ungewöhnliche Situation ist durch den Gebrauch von längeren e-mails gekennzeichnet, in denen belastende Themen „angesprochen“ werden, die sich ein Patient vor Aufnahme einer Behandlung oder während einer Sitzung nicht mitzuteilen getraut. Hier fungiert das andere, schriftliche Medium als Träger von Botschaften, denen die mündliche Mitteilung (noch) versagt ist und das Medium etabliert eine eigenständige Ebene der therapeutischen Beziehung (Cook & Doyle 2002). Ein chronisch schweigender Patient erprobte mit längeren e-mails versuchsweise die Mitteilbarkeit von schwer Sagbarem; die Frage, ob in der nachfolgenden Sitzung dieses Material besprochen werden kann, überlasse ich stets dem Patienten – nur er kann wissen, was sagbar ist und was noch verschwiegen werden muss. Manche Therapeuten würden eine solche Zugänglichkeit durch ein alternatives


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Medium nicht tolerieren wollen. Man warnt vor der Gefahr einer intrusiven Objektmanipulation durch unkontrollierbares Agieren. So berichtet Gabbard (2001) über e-mail vermittelte Übertragungslieben. Es scheint eine Frage der individuellen Toleranz zu sein, welchen Belastungen man sich aussetzen möchte. Ein schlicht praktisches Problem stellt sich mit der Frage, in welchem Zeitraum man als Therapeut eine e-mail beantworten sollte. Bei vereinbarten Terminen in regulärer Therapie ist dieses Problem geklärt; bei vereinbarter Möglichkeit des e-mail Austausches bleibt dies offen. Das folgende Beispiel reagiert auf die Klage der Patientin: Liebe Frau A es wiederholt sich in der Tat etwas. Sie schreiben einen persönlichen e-mail Brief und erwarten, dass ich Ihnen bald antworte. In der guten alten Zeit der Schneckenmail war das Schreiben eines Briefes noch nicht mit der Erwartung verknüpft, dass eine Antwort sogleich eingeht. Warum gilt dies nicht auch für e-mails. Ich lese Ihre mail, ob kurz oder lang, denke darüber nach, und wenn es für mich stimmt, dann antworte ich Ihnen. Als medizinisch identifizierter Therapeut sehe ich solche zusätzliche Inanspruchnahme als eine Art Analog zu Nacht- und Sonntagsdiensten an, deren Verpflichtung mir sonst erspart bleibt.Unterbrechungen der regelmäßigen Sitzungen, durch meine beruflich oder privat bedingten Abwesenheiten begründet, sind ein weiterer Anlass, auch von mir aus die Möglichkeit eines e-mail Austausches anzubieten: Mittwoch vermisse Sie da ich jedoch im Moment keine Probleme habe, kann ich auch nicht kommen, obwohl ich es gern täte gruss A. Mittwoch, Liebe Frau A. das klingt nach einer vernünftigen Einstellung hoffentlich hält diese Wetterlage über den Sommer an gruss Ihr K. Mittwoch lieber Herr K., habe so über das Wort "Wetterlage" lachen müssen - das Wetter wechselt das ganze Jahr über und "vernünftig" bin ich gottseidank nicht immer und Sie hoffentlich auch nicht - oder ? ! einen herzlichen Gruss Ihre A. Dankenswerterweise hat die Patientin dieser Wiedergabe unseres Austausches zugestimmt und fügt ihre Erfahrung mit dem Internet bei: Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Kommunikation mit dem Internet ohne eine vorherige intensive Arbeit mit der physischen menschlichen Anwesenheit für mich möglich gewesen wäre. Am Anfang hat mir der knappe Stil große Schwierigkeiten gemacht, da für mich Knappheit bedrohlich war. Mit der Zeit und auf dem Hintergrund eines vollständigeren Bildes des Analytikers (Stimme, Gestik, Mimik etc.) sprich dem Zunehmen einer inneren Repräsentanz habe ich gelernt, dies zu akzeptieren, ohne mich abgelehnt zu fühlen. Zudem


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hatte ich die Hoffnung, dass sich dies auch ändern könnte. Ich glaube, dass es für mich hauptsächlich darum ging, dass jemand antwortet. Erst dann aber dann nach Buchstaben und einzelnen Wörtern (O-Ton Kächele: ein einziges Wort genügt), wie der Analytiker antwortet. Deswegen konnten die Botschaften auch kurz sein und verschoben werden. Gleichwohl halte ich eine virtuelle Kommunikation im Allgemeinen für problematisch. da sie einen ganz dünnen Korridor der Verständigung ausmacht.

Ich fände es wichtig, den Einfluss von Stimme zu untersuchen. Noch radikaler als der Austausch von elektronischen Briefen wirkt sich der Gebrauch von SMS-Botschaften auf die therapeutische kommunikative Situation aus. Ganz abgesehen davon, dass das Verfassen solcher Botschaften nicht gerade ein Vergnügen ist – besonders wenn einem die jugendkulturspezifischen Codes nicht zur Verfügung stehen – stellt die radikale Vereinfachung der Mitteilungen eine wahre Herausforderung dar. Es beginnt mit

Und der Online-Raum für narzisstische Spiegelungen?

dem Problem, ob das handy – der Namen gibt vor, dass es permanent in der Hand gehalten werden muss - dauernd eingeschaltet sein soll, und endet mit der Frage, was man denn nun vernünftigerweise auf einen verdichteten Aufschrei eines leidenden Menschen antworten kann, ohne seinen Zeigefinger zu überfordern. SMS am ... um 14.51 Stelle mir vor, das ich bei Ihnen sein darf, ganz nah und dass Sie mich aushalten, bis ich tot


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bin. Solche Botschaften erfordern eine kommunikative Dichte, die für poetische Kompetenz des antwortenden Therapeuten eine Herausforderung darstellen. Feststellen konnte ich jedoch, dass zeitliche Kontiguität in der Beantwortung einer SMS-Botschaft eine Wirkung ausübt, die bei wiederholter Betätigung durchaus das Gefühl eines In-Kontakt-Seins generieren kann. Aus meiner Erfahrung heraus kann ich folgern, dass selbst ein so reduzierter Austausch genügend Kontaktwirksamkeit vermitteln kann, um kritische Zeiten zu überbrücken. Eine systematische Diskussion, jenseits meiner persönlichen Erfahrungen, zu veränderren Situation für Therapeuten, steht noch am Beginn. Immerhin weisen Knaelsrud et al. (2004) darauf hin, dass zur Diskussion der therapeutischen Beziehung selbstverständlich auch die Perspektive des Therapeuten gehöre. Sie betonen als Vorteil die asynchrone, also zeitverzögerte Kommunikation bei der Online-Therapie, da „sowohl Patient als auch Therapeut ausführlich über die vorherige Korrespondenz reflektieren können und nicht wie bei einer Sitzung unter dem Druck stehen, unmittelbar reagieren zu müssen“ (S.178). Dies ist ein interessantes Argument, denn es verknüpft die Online-Therapie einmal mehr mit den Vor und Nachteilen des Briefeschreibens. Die Funktion des Rahmens in der face-toface Therapie ist nun nicht, „Druck“ herzustellen, zumindest nicht in der psychodynamischen Therapie. Auch dort darf geschwiegen werden, nachgedacht werden, und ein Therapeut, der sich unter Druck fühlt, sofort antworten zu müssen, dürfte bald ein burn-out Syndrom entwickeln. Allerdings wird eine zeitlich-örtliche Begrenzung eingeführt; am Ende der Sitzung trennen sich beide, um sich wie verabredet wieder zu treffen.

Es wird gerne betont, der Online-Therapeut könne sich mit Kollegen besprechen. Er habe sogar die Möglichkeit, „den gesamten therapeutischen Prozess anhand der ausgetauschten Texte zu verfolgen“. Das mag für kurze therapeutische Online-Kontakte, wie sie Cook & Doyle (2002) skizziert haben, zutreffen. Bei längeren therapeutischen Kontakten, die meine klinische Erfahrung ausmachen, macht dieses Argument wenig Sinn. Psychoanalytisch bedacht ist dieses ein totalistisches Argument. Ein ganz anderes, ebenfalls zum Nachdenken anregendes Argument wird aus der OnlineTherapie von posttraumatischen Belastungsreaktionen berichtet. Da nach dem Konzept der sekundären Traumatisierung Therapeuten durch Patienten mit belastet sind, wurde überprüft, ob die online-Therapeuten in der Studie von Dijk und Verkuijl (2000) sich emotional sehr involviert fühlten; ein Grossteil beschrieb emotionale Reaktionen wie Besorgheit und Mitfühlen. Knaevelsrud et al. (2004) deuten dies so, dass die Online-Form der Behandlung dem emotionalen Miterleben mit dem Patienten nicht im Wege steht. Der potentielle Schutz für psychologische Beraterinnen, die Frauen, sog. „survivors“ von sexueller Traumatisierung, online beraten haben (Schauben u. Frazier 1995), arbeitet noch ein neues Moment heraus. Auf Grund des „digitalen Kontaktes“ – welch ein schlimmes Wort - seien diese Beraterinnen keinen Belastungen durch nonverbale Eindrücke ausgesetzt gewesen; die belastende Qualität des Traumanarrativs werde durch das Medium des Internet möglicherweise vermindert (zit. nach Knaevelsrud et al. 2004, S.179). Wenn dies zuträfe, wenn die Lektüre von Traumanarrativen bei einem Glas Wein dem Berater seine Arbeit erleichtert (s.d. Knatz & Dodier 2003, S.115), dann eröffnen sich neue Horizonte für das therapeutische Personal. Eine diskrete Brückenfunktion zwischen stationärer Psychotherapie und anstehender ambulanter Therapie durch eine Computer-gestützte SMS-Kommunikation, wie sie im Stuttgarter Bulimie-Projekt (Bauer et al. 2003) realisiert wurde, legt nahe, dass für Menschen nach einer formellen Therapie-Phase die Erfahrung hilfreich ist, noch weiter wahrgenommen zu werden. Dies gilt für traditionelle Psychotherapie (Schachter u. Kächele 2012) und wird auch für das Angebot einer SMS-Brücke (oft in Ermangelung einer nur selten zu erreichenden


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unmittelbaren Anschlussbehandlung) gelten. Das Gefühl eines ‚containments’ wird anscheinend ausreichend durch die wöchentlichem Computer-generierten SMS Nachfragen gestützt. Es wäre allerdings interessant, sich auszumalen, in welchem Ausmaß die jungen Teilnehmerinnen des Projektes sich vorstellten, in welcher Weise ein lebendiger therapeutischer Begleiter den NachsorgeProzess begleitet hat. Ob es eine Frau war oder ein Mann, ob diese oder dieser auch telefonisch erreichbar wäre und wie oft versucht wurde, einen solchen ausgedehnteren Kontakt zu bahnen. Auch hier werden sich die bekannten Risiken therapeutischer Arbeit einstellen, nämlich das Problem der therapeutischen Vereinbarung, der Möglichkeiten und Grenzen derselben sowie die Gefährdung durch phantasmatische In-Beziehung-Setzungen. In allen einschlägigen Veröffentlichungen wird deutlich, dass Mobilmedienunterstützung vorwiegend Methoden der kognitiven Verhaltenstherapie einsetzt. „Mögliche Erweiterung auf psychodynamische Ansätze wäre zu prüfen“, schreiben Döring u. Eichenberg (2007, S. 134). Warum psychodynamische Therapeuten hier eine Medienresistenz zeigen, ob dies „psychodynamisch“ begründbar ist oder nur Verweigerung, muss offen bleiben und könnte Gegenstand von qualitativen Interviews mit Medien-affinen und Medien-resistenten Therapeuten sein. Als Therapeut im Umgang mit den neuen Medien bestätigt sich mir die Alltagserfahrung, dass die Nutzung solcher Medien einer Ich-Du Beziehung nicht unbedingt im Wege stehen muss. Denn diese wird auch in Situationen etabliert, in denen keine menschliche Person unmittelbar als Dialogpartner anwesend ist. In diesen Situationen wird technisch hergestellten Dingen („mein handy“) und medial erzeugten Fiktionen mit Gefühlen, Erwartungen und Zuschreibungen begegnet, die häufig unbemerkt die Prämisse implizieren, dass es sich um Subjekte handele. Die Menschheit hat schon immer „Servonen“ (Allert & Kächele 2000) benutzt; das sind technische Hilfsmittel – auch Prothesen genannt – die erfolgreich in das körpergebundene Selbstbild eingebunden werden und in kommunikativen Prozessen in die immer wieder neu zu generierende Selbst- und Körperbilder einfließen. Neue Medien dringen in altes Gemäuer.


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Neu ist wohl an den <neuen Medien>, an den „KommunikationsServonen“, dass sie dramatisch die räumlichen und zeitlichen Dimensionen therapeutischer Prozesse vereinfachend verändern, und damit – so wäre zu hoffen - die Ausübung einer speziellen Form von Einflussnahme ermöglichen, die Menschen im alltäglichen sozialen Umfeld unterstützend zur Verfügung gestellt werden können, die nicht oder noch nicht Zugang zu direkten face-to-face Situation therapeutischer Kommunikation haben. So finden wir im Internet hoffnungsvolle Töne derart: Der Psychologe XYZ outed sich als Experte für Psychologie im Internet. Er sieht eine große Zukunft für die Online-Beratung. Beliebt und fast schon bestätigt sei die Kontaktaufnahme per Internet in der Zukunft „zumindest für einen gewissen Teil der Bevölkerung“. Erreicht werden soll derjenigen Teil der Bevölkerung, der Schwierigkeiten hat, Kontakte aufzubauen, „dem es schnell peinlich wird, wenn er jemand anderem unter die Augen tritt, die Unsicherheiten und Ängste haben“. Das Problem der Unverbindlichkeit, das bis zu angenommenen Netz-Identitäten reicht, wird bislang m. E. nicht ausreichend ins Auge gefasst. Optimistisch wird gehofft, dass „mit den neuen Technologien Lücken im Versorgungsystem geschlossen werden können“ – Lücken, die die herkömmliche Versorgung offen lasse. Doch sind auch Zweifel erlaubt! Es ist wohl kaum davon auszugehen, dass Patienten, wenn sie wählen können zwischen einer erreichbaren face-to-face Situation gegenüber eine virtuellen Therapiesituation, der Virtualität den Vorzug geben würden. Offen ist jedoch, ob mit den neuen Medium ein Kontakt zu Menschen hergestellt werden kann, die sich aus welchen Gründen auch immer nicht in eine face-toface Situation begeben wollen, selbst wenn sie könnten. Eine wachsende Literatur zum Schreiben als therapeutischem Prozess, für den auch systematische Untersuchungen sprechen (Pennebaker 1997), mahnt zur Besonnenheit. Ob E-Mail Beratung eine offenere Problemkommunikation als eine Face-to-Face Beratung erlaubt, wie schon vollmundig behauptet wird (Knatz & Dodier 2003, S. 123), dürfte mehr geklärt werden. Vermutlich gibt es Themen, sich zunächst einmal besser schriftlich darstellen lassen, da durch das Schreiben eine Art off-line Kommunikationssituation hergestellt wird. Eine solche Situation schuf ein Patient, der mir in der ersten Sitzung sein Tagebuch übergab mit der Bitte, es zu lesen. Es sei dort ein ihn sehr beschämendes Symptom genannt, über das er zwar nicht sprechen möchte, das er aber bei mir aufgehoben wissen wolle (Thomä u. Kächele 2006, S.124). Der Umgang mit solchen besonderen Situationen, sei es Tagebuch, seien es e-mail basierte Mitteilungen, erfordert Takt und die Fähigkeit, gelassen damit umzugehen. Es muss deshalb noch besser spezifiziert werden, für welche Klientel in welchen Umständen solche ungewöhnlichen, aber nicht unmöglichen Wege der Mitteilung hilfreich sein können. Und wer und warum als Therapeut sich einer solchen Situation aussetzen möchte, dürfte ebenfalls noch weiter zu klären sein. Vermutlich sind verhaltenstherapeutische, störungs-spezifische Interventionen, die Manual-basiert appliziert werden können, einfach besser geeignet; psychodynamische Interventionen lassen sich eher nicht auf Anweisungen reduzieren. Ein gesellschaftlicher Trend zur Nutzung virtueller Welten ist nicht zu übersehen und Prognosen auf das spätere Nutzerverhalten von Computer-Kids als Kunden von Psychotherapie-Angeboten sind riskant. Aber gewiss werden sich auch Internet-Therapeuten finden, die von sicherer Basis aus operieren wollen. Aber es werden auch schon scheinbar mahnende Stimmen laut: Die Klienten von Internet-Notruf und Telefonseelsorge sind im Netz gut aufgehoben, doch nicht auf jeder virtuellen Couch liegen sie so gut. Klingt gut und frech; ob dies auch zutrifft, wer weiß es derzeit schon. Die Psychotherapie im Netz kann ganz schön teuer werden. Die Zahl der Anbieter wächst und nicht alle sind wirklich seriös. Es ist im Internet nahezu unmöglich zu überprüfen, wer letztendlich dahintersteckt. Bei einzelnen Therapeuten - selbst wenn die ihre Diplome ins Netz stellen - sollte


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man vorsichtig sein. Offensichtlich geht dieser Internet-Therapeut, aus dessen Homepage die mahnenden Worte zu finden sind, dass die Mehrzahl der Anbieter, ihn selbst eingeschlossen, seriös seien. Da er selbst die Gefahr der fíngierten Diplome benennt, wäre die Gründung von lizenzierenden Institutionen zeitgemäß. Noch gilt, dass Ärzte ohne in Augenscheinnahme eines Patienten keine Diagnosen stellen dürfen, geschweige denn Behandlungen durchführen. Mutatis mutandis dürfte dies auch für psychologische Psychotherapeuten gelten. So schließt denn der hier zitierte Internet-Anbieter mit einer soliden Warnung: Wer im Internet nach dem richtigen Therapeuten sucht, sollte schon etwas genauer hinschauen. Nur wohin soll der potentielle Kunde hinschauen? Diese Gretchenfrage bleibt unbeantwortet. Huxley´s „Schöne Neue Welt“ zu lesen, dürfte wieder angezeigt sein. Die Auswirkungen virtueller kommunikative Prozesse, die natürlich gar nicht virtuell sind, wird uns noch viel beschäftigen. Einen Therapeuten zu haben, mit dem sich trefflich streiten lässt, solange er oder sie aus Fleisch und Blut zu haben ist, sollte nicht unterschätzt werden. Man könne niemand ‚in absentia’ erschlagen, meinte Freud. Vermutlich haben die Herausgeber einer Sammlung von Texten zur intersubjektiven Wende in der Psychoanalyse (Altmeyer & Thomä 2006) nicht absichtlich den irreführenden Titel „Die vernetzte Seele“ gewählt. Vermutlich dachten sie nicht daran, selbst als Therapeuten im Netz zur Verfügung zu stehen – oder doch? Vortrag im Rahmen der 62. Lindauer Psychotherapiewochen 2012 (www.Lptw.de)

Sind wir noch Online oder irgendwo?


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Literatur Allert G, Kächele H (Hrsg) (2000) Medizinische Servonen. Stuttgart, Schattauer Altmeyer M, Thomä H (2006) (Hrg) Die vernetzte Seele. Die intersubjektive Wende in der Psychoanalyse. Stuttgart, Klett-Cotta Beyrer K, Täubrich H-C (Hrsg) (1996) Der Brief eine Kulturgeschichte der schriftlichen Kommunikation, Heidelberg, edition braus Bauer, S, Percevic R, Okon E & Kordy H (2003) Use of text messaging in the aftercare of patients with bulimia nervosa. Eur Eat Disord Rev 11: 279-290 Cook JE, Doyle C (2002) Working alliance in online therapy as compared to face-toface therapy. CyberPsychology & Behavior, 5, 95-105 Dijk T & Verkuijl O (2000). Kract van de behandeling en risicofaktoren voor online traumatherapeuten. Master thesis. University of Amsterdam Döring N (2003) Sozialpsychologie des Internet. Die Bedeutung des Internet für Kommunikationsprozesse, Identitäten, soziale Beziehungen und Gruppen. Göttingen, Hogrefe Döring N, Eichenberg C (2007) Klinisch-psychologische Interventionen mit Mobilmedien. Ein neues Praxis- und Forschungsfeld. Psychotherapeut 52: 127-135 Frank J (1961) Persuasion and healing – A comparative study of psychotherapy. Baltimore, Johns Hopkins Press; dt. Die Heiler. Stuttgart, Klett-Cotta 1981 Freud S (1912b) Zur Dynamik der Übertragung. GW Bd 8, S 363-374, Gabbard G (2001) Cyperpassion: E-Rotic transference on the internet. Psychoanal Q 70: 719-737 Hanlon J (2001) Disembodied intimacies: Identity and relationship on the internet. Psychoanal Psychol 18: 566-571 Horvath A, Greenberg L (Hrsg) (1994) The working alliance: theory, research and practice. Wiley, New York Kächele H (2000) Ohne Rücksicht auf Verluste Die Durchsetzung der westlichen psychoanalytischen Deutungsmacht. In: Strauss B, Geyer M (Hrsg) Psychotherapie in Zeiten der Veränderung. Westdeutscher Verlag, Wiesbaden, S. 253-258 Kächele H, Kordy H (2011) Indikation als Entscheidungsprozess. In: Adler RH (Hrsg) von Uexküll Psychosomatische Medizin. Modelle ärztlichen Denkens und Handelns. München - Jena, Urban & Fischer, S 399-410 Kernberg OF, Dulz B, Eckert J (Hrsg) (2005) WIR: Psychotherapeuten über sich und ihren »unmöglichen« Beruf. Stuttgart, Schattauer Knaevelsrud C, Jager J, Maercker A (2004) Internet-Psychotherapie: Wirksamkeit und Besonderheiten der therapeutischen Beziehung. Verhaltenstherapie 14: 174-183 Knatz B, & Dodier B (2003) Hilfe aus dem Netz. Theorie und Praxis der Beratung per E-Mail. Stuttgart, Pfeiffer bei Klett-Cotta. Seite -10-


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_das Buch des Monats

Gefühle im Wandel der Zeit Empfinden alle Menschen Trauer und Freude, Stolz und Einsamkeit gleich? Um solche Fragen zum Wesen von Gefühlen zu beantworten, unternimmt Jan Plamper von der University of London eine Reise in die Vergangenheit. In diesem Sachbuch gibt der Historiker einen beeindruckenden Überblick über die Emotionsforschung und speziell die noch relativ junge Disziplin der Emotionsgeschichte. Christian Wolf In zwei zentralen Kapiteln stellt Plamper die beiden gegensätzlichen Pole dieser Disziplin vor. Der konstruktivistischen Sichtweise der Sozial- und Geisteswissenschaftler zufolge sind Gefühle vor allem eines: ein Produkt sozialer, kultureller und historischer Bedingungen. Für diese Perspektive habe die Ethnologie zahllose Belege gesammelt; hier schöpft Plamper aus reichhaltigen und äußerst anschaulichen Materialien. So verspüre etwa eine Volksgruppe auf Papua-Neuguinea das Gefühl der Einsamkeit als Hunger. Diesen empfänden sie aber nicht als körperliches Verlangen, sondern als emotionalen Missstand, denn Gesellschaft sei für sie lebensnotwendig. Widerpart des Sozialkonstruktivismus ist der Universalismus, eine Position, für die vor allem Experimentalpsychologen Partei ergreifen. Demnach äußern sich Gefühle bei Menschen in allen Kulturen und zu allen Zeiten in ähnlicher Weise. Der wohl bekannteste Vertreter dieser Sichtweise ist der Anthropologe Paul Ekman, emeritierter Professor von der University of California in San Francisco. Aus seinen empirischen Erkenntnissen zur menschlichen Mimik filterte er eine Reihe von basalen Emotionen wie Wut und Ekel heraus, die Menschen kulturübergreifend in gleicher Weise ausdrücken und erkennen. Im abschließenden Kapitel schildert Plamper Versuche, die beiden vermeintlich unvereinbaren Positionen miteinander in Einklang zu bringen. Zuvor legt er vor allem die Schwächen von Ekmans methodischem Vorgehen offen. Auch manche überzogene Interpretation der boomenden Hirnforschung zu sozialen Emotionen kritisiert der Historiker zu Recht. Das Konzept der Spiegelneurone etwa hätten einige Neurowissenschaftler in den vergangenen Jahren überstrapaziert und diesen Nervenzellen eine Beteiligung an höheren kognitiven Leistungen zuerkannt, zum Beispiel beim Sprachverständnis. Für besonders problematisch hält es der Autor, wenn Kollegen aus Geistes- und Sozialwissenschaften die keineswegs unumstrittenen Ergebnisse der Spiegelneuronenforschung unkritisch auf ihre eigene Arbeit übertragen. So erkläre etwa ein Kunsthistoriker den Erfolg einiger Kunstwerke damit, dass sie die dargestellten Emotionen körperlich nachfühlbar machten. Mit diesem anschaulichen Sachbuch liefert Plamper trotz den erwähnten Schwächen einen faszinierenden Einblick in die Welt der Emotionen und ihrer Erforschung. Obwohl er selbst Historiker ist, gelingt es ihm, nicht nur geistes- und sozialwissenschaftliche, sondern auch naturwissenschaftliche Analysen fundiert darzulegen. Allerdings sollte der Leser neben einigem Vorwissen auch eine Portion Geduld und Wissensdurst mitbringen. Denn des Öfteren geht es dem Autor weniger um die Emotionen selbst als um ihre Erforschung. Nüchterne wissenschaftstheoretische Überlegungen sind da keine Seltenheit. Jan Plamper Geschichte und Gefühl Siedler-Verlag, 2013, ISBN: 3886809145 Fr. 37.90


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_veranstaltungen

Einladung zur VOPT-Fachtagung vom 16. Mai 2013

Psychotherapie im Alter In der Vergangenheit wurden nur wenige ältere Menschen psychotherapeutisch behandelt, weil auf Seiten der Psychotherapeut/innen wie auf der der Patient/innen erhebliche Vorbehalte bestanden. Doch immer deutlicher zeichnet sich ab, dass das Altern der Gesellschaft und der Kohortenwandel sich auch in einer Zunahme der Inanspruchnahme von Therapieangeboten durch ältere Menschen widerspiegelt. Damit wächst auch der Wunsch, sich auf diese wachsende Patientengruppe besser einzustellen: Wie denken und fühlen ältere Menschen, welche Probleme und Konflikte bringen sie mit in die Therapie, und wie gestaltet sich die Beziehung zu ihnen? Die Fachtagung soll einige dieser Fragen beleuchten und so dazu beitragen, dass sich die therapeutische Arbeit mit älteren Patienten konstruktiv entwickeln und zu einem fruchtbaren Arbeitsfeld werden kann.

Themenleitung: Meinolf Peters, Prof. Dr. phil., geb. 1952, Diplom-Psychologe, Psychotherapeut und Psychoanalytiker. Honorarprofessor an der Universität Marburg, niedergelassen in eigener Praxis, leitender Psychologe im Funktionsbereich Gerontopsychosomatik in der Klinik am Hainberg in Bad Hersfeld. Mitherausgeber der Zeitschrift ‚Psychotherapie im Alter’

Programm Referate zur Psychotherapie mit Älteren und Arbeit an Fallvignetten zu klinischen Problemen in der Behandlung Älterer wechseln sich ab. Die Tagung dauert von 9.00 bis 16.00 Uhr. Mittagspause mit Mittagessen von 12.30 bis 14.00 Uhr. Kosten inklusive Mittagessen Fr. 150.-(Mitglieder VOPT), Fr. 180.-(Nichtmitglieder) Anmeldung Die Bezahlung der Tagungsgebühr auf das Postkonto 90-11656-1, Vereinigung Ostschweizer PsychotherapeutInnen (VOPT), 9000 St. Gallen, gilt als Anmeldung. Für Rückfragen: Sabina Kunz, Telefon 078 880 80 03, sabina.kunz@bluewin.ch oder Erich Zimmermann, Telefon 076 251 57 89, zige@sunrise.ch Lageplan/Wegbeschreibung: Schloss Wartegg, CH-9404 Rorschacherberg Tel. 071 858 62 62 / schloss@wartegg.ch, www.wartegg.ch


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__zu guter Letzt

Geduld Geduld. Gelassenheit. O wenn gelänge Es still in sich in dieser Zeit zu ruhn, Und wer vermöchte die Zusammenhänge Mit allem Grauen von sich abzutun? Zwar blüht das Land. Die reichen Zweige wehen, Doch Blut und Tränen tränken rings die Erde Und in der Tage stillem Kommen, Gehen Verfällt das Herz der tiefsten Ungebärde Und ist das Leiden satt und will ein Ende Und schreit für Tausende nach einer Frist, Nach einem Zeichen, dass das Kreuz sich wende. Und weiss doch nicht, mit welchem Mass der Bogen Des Unheils über diese Welt gezogen Und welches Schicksal ihm bereitet ist. Marie Luise Kaschnitz «Überallnie»


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