Texte april mai 2014

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«texte» Nr. 4/5, April/Mai 2014

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Das Online-Magazin für psychologische Themen, Schicksalsanalyse und therapeutische Arbeit Herausgeber: Alois Altenweger, www.psychologieforum.ch, www.szondi.ch, Szondi-Institut Zürich


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Das Online-Magazin für psychologische Themen, Schicksalsanalyse und therapeutische Arbeit April/Mai 2014 Szondi-Institut Zürich

Die Verantwortung für den Inhalt der Texte, die vertretenen Ansichten und Schlussfolgerungen liegt bei den Autoren bzw. den zitierten Quellen Fotos: Alois Altenweger Szondi-Institut Zürich, Krähbühlstrasse 30, 8044 Zürich, www.szondi.ch, info@szondi.ch , Tel. 044 252 46 55


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Inhalt Thema im Schnittpunkt Das kosmische Unbewusste – die vierte Dimension des Unbewussten Alois Altenweger

Psychologie Gibst Du mir – so geb‘ ich Dir.

Psychotherapie Angststörungen: neue Leitlinie definiert Behandlungsstandards Janina Wetzstein

Genetik Vererbte Traumata

Forschung

Das Gedächtnis nimmt es nicht immer so genau Karl Guido Rijkhoek


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Veranstaltungen „Brave New Work“ – Arbeit und Psyche

Bücher Asperger-Autismus Katharina Müller Der Gefühlscode Alexander Soutschek

Zu guter Letzt Noch Botho Strauss

Das Schlussbild Gras, vom Wasser gekämmt


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_Thema im Schnittpunkt

Das kosmische Unbewusste – die vierte Dimension des Unbewussten Bis vor noch nicht allzu langer Zeit haben sich Tiefenpsychologen mit dem Drei-Qualitäten-Modell des Unbewussten nach Freud, Jung und Szondi zufrieden gegeben. Bioenergetische Überlegungen führen jedoch zu starken Zweifeln an der These der ausschliesslichen biologischen Vererbung und der Platzierung von allem und jedem unbewussten Material in den Genen. An dieser Stelle sei hier die These aufgenommen, dass ein allumfassendes Unbewusstes, ein kosmisches Unbewusstes, existieren muss, um die von den drei Grossmeistern der Tiefenpsychologie postulierten Ahnen, Archetypen und persönlich Verdrängtem unterbringen zu können. Alois Altenweger Es bestehen Traumelemente, die als psychische Muster – hypothetisch im Gedächtnis – eingelagert sind und im Traum dann als „Geschichten“ inhaltliche Aussagen machen. Bei Jung sind dies die Archetypen, die – ich zitiere Jolande Jacobi – «nach Jung eine strukturelle Bedingung der Psyche darstellen, die unter einer gewissen Konstellation (innerer und äusserer Natur) die gleichen ‚Gestaltungen‘ hervorzubringen imstande ist, was rein gar nichts mit Vererbung von bestimmten Bildern zu tun hat; (…) sie sind ‚vererbt‘ nur in dem Sinne, als die Struktur der Psyche, wie sie ist, ein allgemein menschliches Erbgut vergegenwärtigt und die Fähigkeit in sich trägt, sich in bestimmten spezifischen Formen zu äussern. (…) Es soll darum besonders betont werden, dass es sich bei den Archetypen nicht um vererbte Vorstellungen handelt, sondern um vererbte Möglichkeiten von Vorstellungen» (Jacobi, „Komplex, Archetypus, Symbol“, Rascher 1957). Bei Jung werden also Gestaltungsvorschriften oder Algorithmen in Form von Archetypen vererbt, aber diese sind keine spezifischen Inhalte.

Das Unbewusste: chaotisch, zeitlos, unchronologisch Auch Freud beschäftigt sich mit dem Problem, «dass Sprachgebrauch, Mythologie und Folklore die reichlichsten Analogien zu dem Traumsymbolen erhalten. Die Symbole, an welche sich die interessantesten, noch ungelösten Probleme knüpfen, scheinen ein Stück uralten, seelischen Erbgutes


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zu sein.» (GW, Bd. XI, S. 208) Der Begriff vom uralten seelischen Erbgut ist zwar schön, sagt aber nichts über den Speicherort und die Speichermethode der Erbinhalte aus. Wenn also nur Teile des Traummaterials genetisch gespeichert sind – um dies als These mal anzunehmen – dann muss es einen Ort geben, der einen Teil, wahrscheinlich den überwiegenden, des Traummaterials beinhaltet. Diese Örtlichkeit nenne ich hypothetisch «Cloud», um damit einen Begriff aus der modernen Kommunikationstechnik aufzugreifen. Eine diskutierte These ist, dass diese «Cloud» oder Wolke in Form eines bioenergetischen Feldes existiert, in dem alles Wissen und Geschehen der Menschheit seit Anbeginn der Existenz gespeichert worden ist. Dieses bioenergetische Feld wäre dann das von mir postulierte «kosmische Unbewusste», quasi ein Behälter in dem Material eingefüllt und aus dem Traummaterial wahlweise bezogen werden kann. Herkömmliche Auffassung über die Struktur des Unbewussten Das Unbewusste als tiefenpsychologische Instanz wurde von den «klassischen» Tiefenpsychologen nach Herkunft gegliedert, aber kaum geordnet in einem archivarischen Sinn. So wird nach Freud das Persönliche Unbewusste als «das Unbewusste» festgelegt. Freud beschreibt das System des Unbewussten als einen grossen Vorraum, «in dem sich seelische Regungen wie Einzelwesen tummeln.» Dieser Vorraum wird durch einen zweiten, engeren Raum, eine Art Salon ergänzt, sagt Freud, «in welchem auch das Bewusstsein verweilt.» Sehr plastisch erzählt er weiter, fast wie bei Kafka, dass zwischen diesen beiden Räumen ein Wächter seines Amtes walte, «der die einzelnen Seelenregungen mustert, zensuriert und sie nicht in den Salon einlässt, wenn sie sein Missfallen erregen.»(19. Vorlesung, III. Teil Neurosenlehre, «Verdrängung und Widerstand» GW Band XI). Gehen wir weiter in der gängigen Strukturierung des Unbewussten, dann kommen wir zum Familiären Unbewussten nach L. Szondi. Ich zitiere hier Leopold Szondi: «Das familiäre Unbewusste ist derjenige Teil des ‚Kerns des Unbewussten‘, in die Ahnenansprüche, Ahnenbilder, Ahnenfiguren, also familiäre (und nicht persönliche oder kollektive) Genotypen im Zustand der Latenz vorhanden sind und im Leben der Nachkommen nach Manifestationen streben. Wir lokalisieren das familiäre Unbewusste im (DNA)Kernsystem, d.h. in den Chromosomen, in den Genen der Zellen. Es bedingt somit das Erb- oder Zwangsschicksal der Person.» (Schicksalsanalytische Therapie, S.31)

Das Ahnenorchester spielt im Unbewussten ständig mit.


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Bei Szondi wird das Unbewusste klar biologisch geortet: es ist in den Genen und nicht wo anderes. Deren Inhalte, sofern sie die von Szondi postulierten Ahnenansprüche umfassen, sind unbewusst. Die Unbewusstheit gilt selbstverständlich nicht für die durch Gene fixierten körperlichen Funktionen des Menschen. Nur: die Gene als Organisatoren der Triebbedürfnisse werden bei Szondi pauschal als Quelle genannt, weil er der Ansicht war, dass das Erleben der Ahnen, seien es traumatische Ereignisse, Lebenserfahrungen oder Krankheiten, mittels Vererbung weitergegeben wird. Nachdem Szondi empirisch die Existenz von Ahnen und deren Ansprüche durch seinen Test, durch Stammbaumforschungen und durch Traumanalysen erhärten konnte, blieb ihm als biologische Grundlage nur die These der Vererbung mittels Genen, wobei er auch die unbewussten Instanzen Freuds und Jungs einbezieht. Zur Freudschen Topographie des Psychischen nimmt er wie folgt Stellung: «Unseres Erachtens besteht ‚die Topik des Psychischen‘ einerseits in den Genen der Zellkerne, worin[einerseits]das kollektive und familiäre Unbewusste, die familiären Abwehrmechanismen und Spaltungsbereitschaften des unbewussten Ichs und des archaischen Erbteils des Über-Ichs als Anlagen zu besonderen Funktionen lokalisiert werden; andererseits in den Zellen der Hirnrinde, wo die persönlichen Wahrnehmungen, Erlebnisse aufbewahrt werden. Das Wesen des Psychischen, also die Freiheit als Transzendenz, hat keine Topik.“ In Bezug auf die Einfügung von aktuellen Erfahrungen ins Erbgut, das heisst in die Gene, via einer Vorspeicherung im Gehirn, sind etliche verfahrenstechnische Lücken noch offen, denn die Übertragung der entsprechenden Informationen und die Implementierung in Gene ist alles andere als geklärt. Nur schon die Umformung von bioelektrischen Informationsimpulsen des Gehirns in Codierungsvorschriften der Gene zur Herstellung von speziellen Proteinen ist völlig unklar. Auch die seit über einem Jahrzehnt laufende Erforschung epigenetischer Aktivitäten Traumbild: Das könnte ein wachender Ahne sein.

am Gen ergab zwar interessante Perspektiven genetischer Funktionen aber nur in sozusagen negativer Form: epigenetische Mechanismen können durch umweltbedingte Anregungen die Arbeit von Genen ausschalten, programmieren – gemäss aktuellem Stand des Wissens – mutmasslich nichts Neues.

Bei C.G. Jung wird das Unbewusste zum „kollektiven Unbewussten“. Das Unbewusste bei Jung, oder die von ihm als «objektive Psyche» bezeichnete Instanz ist diejenige, die wir mit Familienclans, Gruppen, Völkern und schliesslich der gesamten Menschheit teilen. (Vogel, 2008, S.27). Man kann beispielsweise davon ausgehen, dass kollektiv mindestens passiv mitgetragene


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Verbrechen wie das der Nazis an den Juden als Inhalte mittels «Gruppierung eines Komplexes» sich um einen archetypischen Kern ansammeln, der diesen Inhalten motivational am nächsten kommt; Inhalte die solcherart über Generationen und Generationen psychisch in allen denkbaren Ausprägungen und Erscheinungsformen wirksam bleiben werden. «Jung sieht im kollektiven Unbewussten eine nicht aus den individuellen Erfahrungen des Einzelmenschen hervorgegangene Tiefenschicht unserer Seele. Im Gegensatz zum persönlichen Unbewussten waren diese Schichten nie bewusst, werden eben deshalb auch nie vergessen oder verdrängt, sondern entstammen – nach Jung – der ‚vererbten Struktur des Gehirns‘». (Vogel, C.G. Jung für die Praxis, Kohlhammer 2008, S. 28) Noch einmal das Kosmische Unbewusste Fassen wir das bisher zum Begriff «kosmisches Unbewusste» gesagte zusammen: Wir wissen, dass in Träumen Material verwendet wird, welches -

weder als Erinnerung engrammatisch im Gehirn,

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noch genetisch in der DNA

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noch als aktuelles Wissen im Gedächtnis gespeichert ist.

Wie könnten sonst noch Erinnerung, Wissen, Ereignisse, traumatische Erlebnisse gespeichert werden? Dafür müssen wir das Unbewusste um die Qualität des kosmischen erweitern, denn wir bleiben damit in einem tiefenpsychologisch akzeptierten Speichermedium, nur eben um eine vierte Dimension neben dem persönlichen, familiären und kollektiven Aspekt erweitert. Grundsätzlich ist zu sagen, dass die Inhalte des Unbewussten weder schichten- noch klümpchenweise neben- und übereinander hausen, sondern dass diese Inhalte – könnten wir sie denn irgendwie empfinden – für uns mutmasslich chaotisch wären und wahrscheinlich keine für uns ersichtliche «Ordnung» aufwiesen. Zwischen den gespeicherten Informationen im Unbewussten gibt es keine Distanzen, zeitlichen Folgen, keine Chronologie und keine Prioritäten, sondern höchstens Zugriffsregeln, die wir nicht kennen, die wir aber im Traum mit mehr oder weniger Erfolg benützen. Qualität, Inhalt und Menge des kosmischen Unbewussten gehen weit über die «lokalen» Aspekte des Unbewussten eines einzelnen Menschen, einer Gruppe, eines Volkes hinaus. Es speichert Informationen über und vom Menschen, seiner Aktivitäten, seiner Interaktion mit Natur und Welt, seiner Daseinsgestaltung seines geschichtlichen Werdens und Handelns. Wesentlich dabei ist, dass der gesamte Inhalt des kosmischen Unbewussten prinzipiell dem Zugriff – und nicht nur dem traumhaften – aller Menschen offensteht. Dieses Unbewusste wiederum ist nicht biologisch an den Menschen gebunden. Es existiert als kosmisches Energiefeld, dem sog. «Quantenvakuum», «ein feines, aber extrem dichtes, fluktuierendes Energiefeld, das den gesamten Raum erfüllt» (Ervin Laszlo, 2005). Ein Energiefeld, mit dem der Mensch sich in Interaktion befindet und das für uns die Qualität und Funktion eines kosmischen Unbewussten entfaltet. Diese Interaktion ist beileibe nicht auf Psychisches beschränkt, sondern umfasst – so meine These - alles künstlerische, kreative und innovative Schaffen der Menschen.


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_Psychologie Gibst du mir, so geb‘ ich dir Die Bereitschaft von Kindern, zu teilen, verrät viel über ihre soziale und kognitive Entwicklung. Erst mit fünf Jahren unterscheiden sie beim Teilen, ob ein anderer mit ihnen befreundet ist oder nicht. Luise Dirscherl Stabsstelle Kommunikation und Presse Ludwig-Maximilians-Universität München Beim Teilen macht es einen großen Unterschied, ob ein Kind drei, vier oder fünf Jahre alt ist. „Für die Entwicklung unseres sozialen Verhaltens sind die Kindergartenjahre entscheidend“, sagt Professor Markus Paulus von der Fakultät für Psychologie und Pädagogik an der LMU. In einer Studie mit Kindergartenkindern hat er erstmals untersucht, wie sich in der frühen Kindheit die Erwartungen über das Teilen und die eigene Bereitschaft, zu teilen, entwickeln. „Unsere Erwartungen darüber, ob sich jemand sozial verhält, spielen für unsere zwischenmenschlichen Beziehungen eine große Rolle. Wir passen unser eigenes Verhalten an, je nachdem, ob wir von Anderen Hilfe erwarten oder nicht. Doch bislang war wenig darüber bekannt, wie sich diese Erwartungen bei Kindern entwickeln“, sagt Paulus. Glaube an den guten Willen des Gegenübers Die Studie wurde in drei Kindergärten im Kreis Landsberg am Lech erhoben. In dem Experiment mit drei-, vier- und fünfjährigen Kindern bekamen die Kinder zwei Aufgaben in einer Art Rollenspiel. Zuerst sollten sie einschätzen, wie sich ein Dritter beim Teilen verhalten würde. In einer zweiten Aufgabe sollten sie selbst Spielzeug teilen. In beiden Aufgaben ging es darum, sowohl mit Menschen zu teilen, die man mochte, als mit solchen, die man weniger mochte. Dreijährige Kinder machten keinen Unterschied, wer beim Teilen etwas erhielt, ob sie also jemanden bedachten, mit dem sie befreundet oder nicht befreundet waren. Sie verhielten sich meistens sozial und erwarteten dies auch von anderen. „Dreijährige scheinen darauf zu vertrauen, dass sich ihr Gegenüber sozial verhält. Dieses Vertrauen in den guten Willen des Gegenübers könnte die Grundlage dafür sein, dass sie Beziehungen aufbauen können und bereit sind, Hilfe zu holen, wenn es nötig ist. Es könnte auch ein Anzeichen dafür sein, dass sie bereits gelernt haben, welche sozialen Normen das Miteinander bestimmen“, sagt Paulus.


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Vier- und Fünfjährige dagegen teilten mehr mit jemandem, den sie mochten, als mit jemandem, den sie nicht mochte. Zugleich erwarteten sie, dass der Gebende beim Teilen darauf achtet, wen er mag oder nicht mag. Doch erst bei den Fünfjährigen gibt es einen klaren Zusammenhang zwischen der Erwartung, wie andere teilen, und der eigenen Bereitschaft, zu teilen. Die Kinder, die selbst viel teilten, erwarteten auch von anderen, dass sie häufig teilen. „Mit fünf Jahren haben Kinder offenbar gelernt, wie man sich beim Teilen anderen gegenüber verhält. Dies könnte daran liegen, dass sie in diesem Alter bereits die Fähigkeit haben, zu erfassen, wie ein Anderer über eine Situation urteilt und daraufhin handelt“, sagt Paulus. Sie haben offenbar zudem bereits eine klare Vorstellung von Freundschaft erworben und davon, wie man sich als Freund verhält. Ansprechpartner: Prof. Dr. Markus Paulus E-Mail: markus.paulus@lmu.de Tel: 089/2180-5150


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_Psychotherapie Angststörungen: neue Leitlinie definiert Behandlungsstandards Angst kann krank machen. Rund 15 Prozent der Bevölkerung erkranken in Deutschland im Verlauf eines Jahres an einer Angststörung. Damit sind Angststörungen die häufigsten psychischen Erkrankungen. Sie nehmen oftmals einen chronischen Verlauf und wirken sich erheblich auf die Lebensqualität der Betroffenen aus. Eine neue, Fachdisziplinen übergreifende Behandlungsleitlinie trägt nun dazu bei, die Versorgung von Patienten mit Angststörungen nachhaltig zu verbessern. Janina Wetzstein

Angst vor realen Bedrohungen zu haben, ist sinnvoll. Sie hilft, Gefahren zu erkennen, darauf zu reagieren und uns davor zu schützen. Kommt es jedoch zu übertriebenen, unrealistischen und auch grundlosen Reaktionen – zum Beispiel in Situationen, die gar nicht gefährlich sind – kann eine Angststörung vorliegen. Zu den Angststörungen zählen die Panikstörung (plötzliche Angstanfälle), die generalisierte Angststörung (übertriebene Angst vor alltäglichen Gefahren) und die soziale Phobie (extreme Schüchternheit). Werden Angststörungen nicht erkannt und richtig behandelt, kommt es häufig zu Chronifizierungen, oftmals mit längeren Krankschreibungen und Frühberentungen. Zudem besteht bei Angsterkrankungen ein erhöhtes Risiko für Komorbidität mit anderen psychischen Erkrankungen wie Depressionen oder Suchterkrankungen. Sie sind zudem mit einem erhöhten Suizidrisiko verbunden. Trotz ihrer Häufigkeit werden Angststörungen heute in knapp der Hälfte der Fälle nicht erkannt und infolgedessen nicht fachgerecht behandelt. Deshalb will die neue S3‐Leitlinie deutscher Fachverbände durch die Entwicklung transparenter und nachvollziehbarer Standards die Erkennung und Behandlung von Angststörungen für die verschiedenen Versorgungsebenen verbessern. Die Leitlinie empfiehlt, Patienten mit Angststörungen eine Psychotherapie und/oder Pharmakotherapie anzubieten. Dabei soll der Wunsch des informierten Patienten berücksichtigt werden. Eine wichtige Rolle im Informationsgespräch müssen daher insbesondere der Wirkeintritt, die Nachhaltigkeit, die unerwünschte Wirkungen und die Verfügbarkeit spielen. Psychotherapeutisch empfiehlt die S3‐Leitlinie bei allen Angststörungen die kognitive Verhaltenstherapie, deren Wirksamkeit zahlreiche kontrollierte Studien nachweisen konnten. Sie wird – z. B. bei Panikstörung oder der Angst vor bestimmten Orten, Plätzen oder Reisen (Agoraphobie) – mit angeleiteten Expositionen mit angstauslösenden Situationen kombiniert. In den letzten Jahren gibt es zunehmend auch Studien, welche die Wirksamkeit


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psychodynamischer Therapien bei der Panikstörung, der generalisierten Angststörung und der sozialen Phobie belegen. Professor Manfred E. Beutel (Mainz) erläutert: „Wir empfehlen in der S3‐Leitlinie eine psychodynamische Psychotherapie, wenn sich eine kognitive Verhaltenstherapie nicht als wirksam erwiesen hat, nicht verfügbar ist, oder wenn dies der informierte Patient wünscht.“ Als ergänzende Maßnahmen raten die Experten zur Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe, bei der Panikstörung auch zu Sport (Ausdauertraining). Wegen ihrer Wirksamkeit und Verträglichkeit empfiehlt die S3‐Leitlinie zur pharmakologischen Therapie von Angststörungen in erster Linie Oft kann auch die Behandlung massive Ängste auslösen

Medikamente wie die selektiven Serotonin‐Wiederaufnahmehemmer (SSRIs) und selektive Serotonin‐Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRIs). Professor Borwin Bandelow (Göttingen) von der Steuerungsgruppe erläutert: „In zweiter Linie können Mittel wie trizyklische Antidepressiva oder Pregabalin verordnet werden. Von der Anwendung der Benzodiazepine, die derzeit noch sehr häufig bei Angsterkrankungen verordnet werden, wird wegen der Möglichkeit einer Abhängigkeitsentwicklung abgeraten.“ In Fällen, in denen eine Psychotherapie oder eine pharmakologische Behandlung nicht ausreichend wirksam war, soll die jeweils andere Therapieform oder eine Kombination von Psychotherapie und Pharmakotherapie angeboten werden Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie (DGPM) Postfach 30 11 20, 70451 Stuttgart, Tel: 0711 8931-457; Fax: 0711 8931-167 wetzstein@medizinkommunikation.org www.dgpm.de


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_Genetik Vererbte Traumata Extreme Erlebnisse verändern die Betroffenen. Und oftmals auch Jahre später ihre Kinder. Forschende der Universität und ETH Zürich haben nun einen Puzzlestein entlarvt, wie die Vererbung von Traumata zustande kommen könnte.

Die Folgen traumatische Erlebnisse können von Generation zu Generation vererbt werden. (Bild: Isabelle Mansuy / UZH / ETH Zürich) In der Psychologie ist das Phänomen schon lange bekannt: Traumatische Erlebnisse lösen Verhaltensauffälligkeiten aus, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Dass physiologische Vorgänge dahinterstecken, beginnen Wissenschaftler erst langsam zu verstehen. «Es gibt Erkrankungen, wie zum Beispiel bipolare Störungen, die familiär auftreten, aber nicht auf ein bestimmtes Gen zurückzuführen sind», erklärt Isabelle Mansuy, Professorin an der ETH und Universität Zürich. Mit ihrer Forschungsgruppe am Institut für Hirnforschung der Universität Zürich untersucht sie die molekularen Prozesse der nichtgenetischen Vererbung von Verhaltensveränderungen nach extremen Stresserfahrungen (ETH Life berichtete). Nun ist es den Forschenden um Mansuy gelungen, eine wichtige Komponente dieses Phänomens zu identifizieren: kurze RNA-Moleküle. Diese werden durch Enzyme hergestellt, welche einzelne Abschnitte der Erbinformation (DNA) ablesen und anhand dieser Vorlage RNA produzieren. Andere Enzyme schneiden anschliessend diese RNAs zurecht, so dass daraus eine Vielzahl verschiedener als Micro-RNAs bezeichneten Moleküle entstehen. Diese kommen natürlicherweise in Zellen vor und übernehmen regulierende Aufgaben, beispielsweise steuern sie, wie viele Kopien eines bestimmten Proteins produziert werden.


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Kleine RNAs mit grosser Wirkung Mansuy und ihr Team untersuchten die Anzahl und Art verschiedener Micro-RNAs in Mäusen, die sie stressigen Situationen ausgesetzt hatten, und verglichen die Werte mit nichtgestressten Mäusen. Dabei entdeckten sie, dass Stress zu einem Ungleichgewicht der MicroRNAs in Blut, Gehirn und in Spermien führt. Das heisst, von einigen Micro-RNAs gab es mehr, von anderen weniger als in entsprechenden Zellen der Kontrolltiere. Dadurch laufen Zellprozesse, die durch diese Micro-RNAs gesteuert werden, aus dem Ruder. Nach den Stresserfahrungen verhielten sich die Mäuse deutlich anders: Sie verloren zum Teil ihre natürliche Scheu vor offenen Räumen und hellem Licht. Diese Verhaltensauffälligkeiten übertrugen sich auch auf die nächste Generation durch Spermien, obwohl der Mäusenachwuchs selbst keinem Stress ausgesetzt wurde. Noch bis zur Enkelgeneration vererbt Auch der Stoffwechsel des Nachwuchses der gestressten Mäuse ist beeinträchtigt: Insulinund Blutzuckerspiegel lagen bei diesem tiefer als bei Jungtieren, deren Elterngeneration keinen Stress erfahren hatte. «Wir konnten erstmals beweisen, dass traumatische Erfahrungen den Stoffwechsel beeinträchtigen und diese Veränderungen erblich sind», sagt Mansuy. Die Stoffwechsel- und Verhaltensänderungen setzten sich sogar noch bis in die nächste Generation fort. «Mit dem Ungleichgewicht der Micro-RNAs in Spermien haben wir einen Informationsträger entdeckt, über den Traumata vererbt werden könnten», erklärt Mansuy. Es seien jedoch noch einige Fragen offen, zum Beispiel wie genau es zu dem Ungleichgewicht der kurzen RNAs kommt. «Sehr wahrscheinlich sind sie Teil einer Wirkkette, die damit beginnt, dass der Körper zu viele Stresshormone produziert.» Der gleiche Mechanismus könnte aber auch der Vererbung anderer erworbener Eigenschaften zugrunde liegen, vermutet die Forscherin. «Die Umwelt hinterlässt ihre Spuren im Gehirn, den Organen und auch in Keimzellen. So werden diese Spuren teilweise an die nächste Generation weitergegeben.» Derzeit arbeiten Mansuy und ihr Team daran, die Rolle der kurzen RNAs in der Traumavererbung auch bei Menschen zu untersuchen. Da sie das Ungleichgewicht der Micro-RNAs bei Mäusen auch im Blut nachweisen konnten, sowohl bei der Eltern- als auch bei der ersten Nachwuchsgeneration, hoffen die Wissenschaftler, daraus einen Bluttest für die Diagnostik entwickeln zu können. 14.04.2014 Info der ETH Zürich


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_Forschung Das Gedächtnis nimmt es nicht immer so genau Erinnerung ist ein dynamischer und zuweilen geradezu kreativer Prozess: Was aus dem Gedächtnis abgerufen wird, kann sich deutlich von dem unterscheiden, was ursprünglich abgespeichert wurde. Wissenschaftler der Universität Tübingen unter der Leitung von Professor Christian Plewnia von der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie haben zusammen mit Kollegen der Universität Bielefeld die Rolle eines bestimmten Bereichs der Großhirnrinde bei der Formung von Erinnerungen untersucht. Dr. Karl Guido Rijkhoek Eberhard Karls Universität Tübingen Die Forscher liessen freiwillige Probanden unter dem Einfluss schwacher, über den Schädel angelegter Stromreize in einem ausgeklügelten Test bekannte von erstmals präsentierten Bildern unterscheiden und maßen ihre Leistungsfähigkeit. Während sich die Rate der richtig als bereits bekannt eingeordneten Bilder kaum beeinflussen ließ, modulierte Strom mit unterschiedlicher Richtung (Polarität) die Rate der fälschlich als bekannt eingestuften Bilder deutlich. Diese Ergebnisse geben den Forschern neue Einblicke in die komplexe Funktionsweise der Speicherung und des Abrufs von Erinnerungen. Auch für die potenzielle Anwendung dieses elektrischen Stimulationsverfahrens bei neuropsychiatrischen Störungen liefert die Studie Anhaltspunkte. Die Erinnerungen an erlebte Dinge, das sogenannte episodische Gedächtnis, gelten als besonders anfällig für Verzerrungen und Fehler. Allerdings betreffen die Ungenauigkeiten nicht so sehr die Hauptaussagen oder das Hauptmotiv des Erlebten, sondern die Details. „Dies ist kein krankhafter Prozess, denn das Gedächtnis muss eine Balance zwischen dem ökonomischen Umgang mit seiner Speicherkapazität und der benötigten Genauigkeit der Erinnerungen finden“, erklärt Christian Plewnia. Es war bereits bekannt, dass ein bestimmter Bereich der Großhirnrinde im linken Stirnlappen an der Steuerung dieser Vorgänge beteiligt ist. Die Nervenzellen im Gehirn verständigen sich untereinander über elektrische Reizleitung. Daher können Wissenschaftler durch schwache Stromreize, die von außen an der entsprechenden Stelle des Kopfes gegeben werden, die Erregbarkeit einzelner Hirnbereiche beeinflussen. Die Tübinger Wissenschaftler unter der Leitung von Christian Plewnia teilten für ihre Experimente 96 Probanden in drei Gruppen ein: Alle wurden verkabelt, doch nur bei zwei der Gruppen wurde das Gehirn der Probanden tatsächlich gezielt mit schwachen Stromreizen verschiedener Polarität (anodal oder kathodal) stimuliert. In zehn Minuten wurden ihnen 90 Bilder von alltäglichen Situationen und Objekten gezeigt, etwa von Bäumen, Häusern oder


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Bussen. Nach jedem Bild wurde eins von drei Symbolen präsentiert, das die Probanden instruierte, sich an das vorherige Bild zu erinnern, es zu vergessen oder ohne weitere

Bildillusion – was haben wir wirklich gesehen? Vorgabe. So erreichten die Forscher, dass die Probanden die Bilder unterschiedlich intensiv abspeicherten. Für die Wiedererkennungsphase mischten sie die bekannten Bilder mit ähnlichen neuen Bildern, der gleiche Baum zu anderer Jahreszeit, die Häuserzeile aus anderer Perspektive oder der vormals gelbe Bus in Rot. Die Probanden sollten aus den nun 180 Bildern alle identifizieren, die sie bereits kannten – unabhängig von den früheren Anweisungen. Bei der korrekten Wiedererkennung bereits bekannter Bilder unterschieden sich die Leistungen der drei Gruppen nicht. Nur ein Effekt der Anweisungen aus der ersten Testphase ergab sich: Alle identifizierten besser die alten Bilder, an die sie sich erinnern sollten. Deutliche Unterschiede zwischen den Gruppen ergaben sich jedoch bei der Rate der fälschlicherweise als bekannt bezeichneten Bilder: Im Vergleich mit der Kontrollgruppe zeigten Probanden, die Stromreize mit kathodaler Polarität erhielten, eine deutlich geringere Fehlerrate und solche, die mit Stromreizen anodaler Polarität behandelt wurden, eine deutlich gesteigerte Fehlerrate. „Die Muster der korrekten und falschen Bildwiedererkennung legen nahe, dass durch die Stromreize die Genauigkeit bei der falschen Wiedererkennung moduliert wird“, stellt Christian Plewnia fest. „Wir wissen nun zum einen, dass die Stimulation polaritätsspezifisch wirkt und zum anderen, dass dieser Mechanismus vom Aktivitätszustand des Gehirns abhängig ist.“ Kontakt: Prof. Dr. Christian Plewnia, christian.plewnia[at]med.uni-tuebingen.de


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_Veranstaltungen Interdisziplinäre Tagung «Brave New Work» Arbeit und Psyche Die zunehmende Invalidisierung aufgrund psychiatrischer Diagnosen wird viel beklagt. Einerseits scheint es einen Trend zu geben, psychische Krankheiten durch Endogenisierung und Objektivierung zu naturalisieren, andererseits eine Tendenz, psychische Störungen als Modekrankheiten zu denunzieren und ihre Träger als arbeitsscheue Subjekte zu verdächtigen, Invalidenversicherung und Sozialsystem gezielt und eigennützig auszubeuten. Trauma und Arbeitswelt sind die Felder, die der neueren rein symptomatisch beschreibenden und a-ätiologischen Klassifizierung widerstehen. Wenn zur posttraumatischen Belastungsstörung ein äusseres Trauma als verursachender Faktor gehört, das von der vorbestehenden psychischen Persönlichkeitsstruktur weitgehend unabhängig sein soll, so ist dieser Befund in Bezug auf die Arbeitsbedingungen zwiespältig. Erkrankungen wie Depression und Burn-out können für viele klinisch tätige Ärzte und Psychiater nur im Rekurs auf die Bedingungen der modernen Arbeitswelt erklärt werden, während die so-genannten Schmerzstörungen kraft administrativ-juristischer Entscheidungen von ihrer möglichen vermuteten Verursachung durch bestimmte Arbeitsbedingungen isoliert werden und als Diagnose für eine (Teil-)Invalidität nicht mehr in Frage kommen. Die Verfasstheit der Arbeitswelt verweist somit auf eine dilemmatische Perspektive: Sie wird explizit aus den Bedingungen der Krankheitsverursachung ausgeschieden (Schmerzstörung), gleichzeitig soll sie in Diagnosen wie Mobbing und Burn-out explizit als Ursache psychischen Leidens beschrieben und anerkannt werden. Die Frage ist nun, wie wir mit diesem paradox anmutenden Befund umgehen? Die Vorträge der Tagung „Brave New Work“ zielen auf diesen Zwiespalt: Wie verhalten sich „subjektiver Faktor“ und „objektive gesellschaftliche Bedingungen“ zueinander? Oder: Ist diese Frage möglicherweise schon falsch gestellt? Datum: Freitag/Samstag, 4./5. Juli 2014 Veranstaltungsort: ETH Zürich (Aula), Rämistrasse 101, 8092 Zürich Kosten /*für Entresol-Mitglieder Freitag/Samstag ..................................................... 200 Fr. / *150 Fr. Studierende ............................................................. 40 Fr. Zuschlag Tageskasse ............................................... 20 Fr. Anmeldung an: info@entresol.ch Das detaillierte Programm mit Abstracts und Infos zu den Beteiligten finden Sie auf unserer Homepage unter www.entresol.ch


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_Bücher Asperger-Autismus

Warum ist "mit Klaus nicht gut Kirschen essen"? Werden die Kirschen bei ihm etwa immer schlecht? Und warum sagt Tina erst, dass sie sich total auf das nächste Treffen mit Susi freut, und zieht dann gemein über Susi her? Die meisten von uns haben wohl verstanden: Mit Klaus sollte man sich nicht anlegen und Tina möchte Susi einfach nicht ins Gesicht sagen, was sie wirklich von ihr denkt. Für Daniela Schreiter war all das sehr lange ein Rätsel. Es fällt ihr schwer, nicht alles wortwörtlich zu nehmen, ihre Mitmenschen verhalten sich für sie oft sonderbar. Was ist an Daniela so anders? Die Comic-Zeichnerin hat Asperger-Autismus. Asperger-Autisten nehmen ihre Welt anders wahr als Menschen ohne Autismus. Das merkt man in zwei Bereichen: Zum einen im Sozialen – das heißt, im zwischenmenschlichen Miteinander. Wenn jemand nicht genau das sagt, was er meint, versteht ein Asperger-Autist das nur schwierig. Zum anderen spüren die Betroffenen Reize in ihrer Umwelt viel stärker als wir. So fühlt sich Omas gestrickter Pulli für Daniela sehr unangenehm an, da sie das kratzige Gefühl der Wolle auf der Haut zu intensiv wahrnimmt; hohe Töne tun ihr regelrecht weh – und ganz anstrengend wird es auf einer Party, wo sich zig Menschen gleichzeitig unterhalten und im Hintergrund der Bass brummt. Daniela Schreiter zeichnet seit vielen Jahren unter dem Namen "Fuchskind" witzige Bildergeschichten – unter anderem den Comic "Sofia & Nyno", der hier bei Spektrum neo erscheint. "Schattenspringer" ist ihr erster Comic in Buchform, in dem sie uns mit auf eine humorvolle Reise durch ihre Kindheit und Jugend nimmt. Auf dieser Reise lernt der Leser eine Menge über den Asperger-Autismus. Sie zeigt, dass diese andere Art der Wahrnehmung durchaus ihre Vorzüge haben kann: Weil Daniela so einen empfindlichen Geruchssinn hat, erkennt sie zum Beispiel viel früher als Nichtautisten, wenn Lebensmittel schlecht geworden sind. Außerdem ist sie sehr gerecht und mag es nicht, wenn Menschen über andere herziehen.


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Nicht zuletzt berührt die Geschichte mit ihren liebevoll angefertigten und lebhaften Zeichnungen. Ihr werdet überrascht sein, an wie vielen Stellen ihr euch wiedererkennt. Auch wenn ihr vielleicht keine Autisten seid, kennt wahrscheinlich jeder dieses Gefühl, anders zu sein. "Schattenspringer" zeigt uns, wie liebenswert eben diese Eigentümlichkeiten sind, die jeden Menschen zu etwas Besonderem machen. Katharina Müller

Titel: Schattenspringer Autorin: Daniela Schreiter Verlag: Panini Comics, 2014 ISBN: 3862019500 Fr. 29.90

Der Gefühlscode Was können wir von der Neurowissenschaft über die Wirkung eines Theaterspiels lernen? Und was trägt die Genetik zur Erklärung spontaner Wutausbrüche bei? Solchen Fragen widmet sich der in Berlin und London forschende Neurowissenschaftler Giovanni Frazzetto in seinem neuen Buch. Dabei vertritt der Autor – anders als es der deutsche Titel vermuten lässt – keineswegs den Standpunkt, dass die Wissenschaft unsere Gefühle vollständig zu erklären vermag. Sie könne zwar Auskunft über die biologischen Ursachen von Emotionen geben und Therapieansätze bei Gefühlsstörungen aufzeigen. Doch sie biete keine Antwort darauf, wie Emotionen erlebt werden oder wie kulturelle Einflüsse unseren Gefühlsausdruck prägen. Exemplarisch zeigt sich das an Frazzettos Darstellung der Trauer. Aus Sicht der Neurobiologie ist das Gefühl von Kummer an bestimmte Neurotransmitter, Botenstoffe im Gehirn, gebunden. Forscher nehmen an, dass bei psychiatrischen Erkrankungen wie der Depression ein Ungleichgewicht dieser Botenstoffe vorliegt, das zur Verstetigung der Trauer führt. Doch sagen uns solche neurobiologischen Erklärungen nichts darüber, wie der kulturelle Hintergrund den Umgang mit diesem Gefühl beeinflusst. Um das zu veranschaulichen, schildert Frazzetto, wie seine sizilianische Großmutter noch Jahre nach dem Tod ihres Mannes ihre Trauer bekundete, ohne dass ihr eine Depression im klinischen Sinne attestiert werden konnte. Das Wissen über Neurotransmitter gebe keinen Aufschluss darüber, wie jemand seine Gefühle auslebe und was in einem kulturellen Rahmen als normal gelte. (Alexander Soutschek) Titel: Der Gefühlscode Verlag: Carl Hanser, München 2014 Autor: Giovanni Frazzetto Klaus Binder, Bernd Leineweber (Übersetzer) Preis: Fr. 29.90


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_zu guter Letzt

Noch Noch der sternenklare Himmel, noch das Leuchten der blauen Wegwarte. Noch das Sommerlicht, noch das heitere Kind. Stösse der Erfüllung noch. Noch einmal Dem endzeitlichen Bramarbasieren Getrotzt. Der Wahrscheinlichkeit, den elektronischen Raubzügen, den feindlichen Sinnen noch ein wenig Existenz entgegengesetzt. So dass Das digitale Zählwerk des Herzens


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«texte» Nr. 4/5, April/Mai 2014

Noch einmal Vom Pochen des Glücks Unterbrochen ward. Das Noch der verblichenen Schönheit Genügt, um dich die Frist vergessen zu lassen. Botho Strauss, aus «Die Fehler des Kopisten», Prosa in Versform umgesetzt dtv 1999, S. 166

Gras, vom Wasser gekämmt


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