Texte august september

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«texte» August.September Nr. 5

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Überprotektion – aber wo sind dann die Haie?

Das Online-Magazin für psychologische Themen, Schicksalsanalyse und therapeutische Arbeit Herausgeber: Alois Altenweger, www.psychologieforum.ch, www.szondi.ch, Szondi-Institut Zürich


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Das Online-Magazin für psychologische Themen, Schicksalsanalyse und therapeutische Arbeit August/September 2014 Szondi-Institut Zürich

Die Verantwortung für den Inhalt der Texte, die vertretenen Ansichten und Schlussfolgerungen liegt bei den Autoren bzw. den zitierten Quellen Fotos: Alois Altenweger Szondi-Institut Zürich, Krähbühlstrasse 30, 8044 Zürich, www.szondi.ch, info@szondi.ch , Tel. 044 252 46 55


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Inhalt Thema im Schnittpunkt Wenn die Familie im Traum erscheint – zur Aufarbeitung transgenerationeller Komplexe Kristina Schellinski

Genetik und Psychiatrie Psychiatrische Diagnosen zu oft ungenau Max Planck Institut für Psychiatrie

Genetik Ist Glück eine Frage der Gene? Daniel Lingenhöhl Kindliches Trauma hinterlässt bei manchen Opfern Spuren im Erbgut Max Planck Institut für Psychiatrie

Medizin Warum haben wir bei Stress mehr Lust auf Süßes? Achim Peters


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ÂŤtexteÂť August.September Nr. 5

Forschung Psychotherapie-Wissenschaft Heft 1 (2014)

Das Buch Willensfreiheit (Marco Stier) Yoga und Embodiment (Elisabeth Baender-Michalska und Rolf Baender)

Zu guter Letzt Hoch hinauf Du Fu

Schluss.Bild


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_Thema im Schnittpunkt Wenn die Familie im Traum erscheint – zur Aufarbeitung transgenerationeller Komplexe

Das Fortwirken des familiären Unbewussten: Wir ringen im Leben nicht nur mit unseren persönlichen Komplexen sondern auch mit Komplexen die wir „geerbt“ haben. Die Entdeckung von transgenerationellen Symptomen und Symbolen in Träumen kann unsere Seele von Lasten befreien und helfen, diese Inhalte nicht unverändert an spätere Generationen weiterzugeben. „Nichtwissen um die Vergangenheit der Vorfahren kann die individuelle Psyche schädigen.“(Coles, p. 10) Kristina Schellinski Man sagt: “Die Zeit heilt alle Wunden“ – (Voltaire: Der ehrliche Hurone/Der Freimütige, Kapitel 20). Als analytische Psychologin muss ich hinzufügen: „aber langsamer als man denkt“. Nur träumen ist manchmal „schneller“. „Sie haben es mir nicht gesagt, aber ich hab’s dann im Traum erfahren,“ so eine Klientin, deren Träume nicht nur von Ihrem Unbewusstem ihr etwas mitzuteilen hatten, sondern auch vom Unbewussten ihrer Eltern und Grosseltern. Träume aus uralten Zeiten...wie von weit her, traumhaft, bisweilen albtraumhaft, aber wahr... Wie in diesem Bild von Goya: „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer....“ ungeheuerliche Wahrheiten. Jung spricht von der selbstheilenden Kraft der Seele, einer zentrierenden Kraft, die uns zur Ganzheit entwickeln lassen will, uns auf unseren Individuationsweg bringt und begleitet. Gilt dies auch wenn weitergegebene, transgenerationelle Traumata uns leiden machen? Seelisches Heilen ist Entwicklung; seelisches Heilen wandelt. Entwicklung, so denken wir, geht nicht zurück, sondern vorwärts. Und doch müssen wir


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für dieses seelische Heilen, im Sinne von Ganzwerdung, und für das Fortschreiten im Bewusstsein zurück schauen auf die Geschichte derer, die vor uns waren. Dann ist es anders nachher, als es vorher war, dann können wir anfangen unsere Geschichte zu leben, befreit von den seelischen Altlasten vorheriger Generationen. Es gibt Träume, in denen die Komplexe von Vorfahren, oft aufgrund von Folgeerscheinungen von Traumata oder Geheimnissen, die über Generationen vererbt wurden, bewusst werden. Jung dachte, dass Zurückphantasieren die Vergangenheit verändern kann (siehe auch Faimberg, p. 110). In der Jung’schen Analyse bemühen wir uns darum beim Analysand/in den Dialog zwischen dem Bewusstsein und dem Unbewussten herzustellen: wir schauen uns die persönlichen Komplexe an, wie Vater und Mutterkomplexe, innere oder verinnerlichte Bilder der Eltern Kind Beziehungen (1), sowie archetypische Inhalte, Bilder die auf den Mutter und Vater Archetypus (2) verweisen. Jenseits dieser sehr wichtigen Ebenen, gibt es wesentliche Bereiche der Seele, in denen diese Art von Beleuchtung und Bewusstmachung von (1) und (2), nicht ausreicht, um den Sinn des jeweiligen Leidens zu verstehen oder um das Leid zu lindern. Wir müssen unser Bemühen um Bewusstwerdung auch auf die Weitergabe familiärer Komplexe richten. Komplexe können von A nach B, von B nach C und von C nach D weitergegeben werden, von den Gross Eltern bis zu den Ur Enkeln. „Ein „gefühlsbetonter Komplex“ ... ist das Bild einer bestimmten psychischen Situation, die lebhaft emotional betont ist und sich zudem als inkompatibel mit der habituellen Bewusstseinslage ...erweist ...(er)verfügt zudem über einen relativ hohen Grad von Autonomie...(bis hin) zu einer Teilpersönlichkeit“ (CW 8, para 201f). Jung betonte den Teilseelencharakter von Komplexen und sagte, dass Komplexe personifiziert auftreten, ja wie Geister erscheinen mögen, in Fällen von Psychosen gar als Stimmen erscheinen. (ibid, Para 203) In manchen Fällen sind dies nicht Geister oder Symptome von Psychosen sondern Hinweise auf unbewusst weitergegebene, transgenerationelle Traumata. Mir ist es häufig in meiner psychoanalytischen Arbeit mit Menschen begegnet, dass wenn Traumata oder sehr schweres Leid, nicht durchgearbeitet worden ist, sondern vergessen, verdrängt oder abgespalten geblieben, dass es dann zu sehr starken, gefühlsbetonten, familiären Komplexen gekommen ist die weitergereicht wurden, von Generation zu Generation. Oft fiel es einem später geborenen Mitglied der Familie zu, die seelische Arbeit zu leisten diese bewusst zu machen. Besonders wenn schwere individuelle oder kollektive Traumata oder wohl gehütete Geheimnisse ihre Spuren im Unbewussten hinterlassen haben, werden wir die Träume, Symbole und seelische Fragestellungen unserer Analysand/innen besser verstehen, wenn wir in der Analyse transgenerationelle Gesichtspunkte miteinbeziehen. Jung war ein Pionier dessen, was wir heute die Erforschung der Transgenerationellen Übertragung nennen. Schon sehr früh empfand er den Einfluss von Ahnen auf seine eigene Entwicklung; er schrieb dazu in seinen Memoiren: „...mir ist die merkwürdige Schicksalsverbundenheit deutlich geworden, die mich mit den Vorfahren verknüpft. Ich habe sehr stark das Gefühl, dass ich unter dem Einfluss von Dingen oder Fragen stehe, die von meinen Eltern und Grosseltern und den weiteren


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Ahnen unvollendet und unbeantwortet gelassen wurden. „ (C.G. Jung, Erinnerungen, Träume, Gedanken, Patmos Verlag, 2011, p. 258 Es kann sein dass „die familiäre Konstellation so stark (ist), dass dem Streben nach der Individualität bloss der schmale Raum der Neurose bleibt.“ (CW 4, para 715) Natürlich ist nicht alles traumatisch was uns von unseren Vorfahren weitergegeben oder übertragen worden ist; nicht alles bedarf der Analyse oder Behandlung; denn die Übertragung kann ja auch dazu dienen, dass wertvolle Erfahrungen und Entdeckungen übertragen werden; Bilder und Einsichten, Talente und Fähigkeiten, aber meistens geht man deshalb nicht in Analyse.

Nach dieser Einführung möchte ich Ihnen nun die Definition und Forschungen zum transgenerationell weitergegebenen Trauma mitteilen und ein paar Modelle vorstellen wie es zu so einer transgenerationellen Übertragung kommen kann. Transgenerationell weitergegebene Traumata – Definition und Forschung Der Begriff Trauma ist uns mit seinen psychologischen Folgen seit dem Ersten Weltkrieg bekannt; Trauma kommt aus dem Griechischen: traumatikos heisst Wunde. Es gibt viele Definitionen von Trauma, gemeinsam ist diesen, dass Trauma die Folge eines den Menschen überwältigenden, schmerzhaften Erlebnisses ist. „Ein psychisches Trauma ist ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst und Weltverständnis bewirkt.“ (Fischer und Riedesser, in: Rauwald, S. 47) Es kann sich um die tatsächliche


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oder angedrohte Gefahr von Tod oder schwerer Verwundung handeln, akute Gefahr also für die Unversehrtheit der eigenen Person oder anderer, durch psychische, physische oder sexuelle Gewalt, Krieg, Tortur, Geiselnahme, natürliche oder von Menschen verursachte Katastrophen, Unfälle, eine lebensgefährliche Krankheit. „Traumata sind überwältigende Ereignisse, sie überschwemmen und überfordern die Betroffenen, so dass diese die bedrohlichen Situationen, Bilder und Gefühle nicht verarbeiten können.“ (Schmidt, p. 30) Diagnostisch kann es zu einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD) kommen, bei sehr langzeitigen Belastungen zu einer complex PTSD (DESNOS, Disorders of Extreme Stress Not Otherwise Specified). (add criteria) Aber diese diagnostischen Hilfsmittel greifen zeitlich viel zu kurz; Traumata werfen Schatten auf die Seele, über Generationen, oftmals über Jahrhunderte. Ein traumatisches, also überwältigendes, oft schmerzhaftes Erlebnis, kann beim direkt Betroffenen gegebenenfalls nicht im expliziten sondern nur im impliziten Gedächtnis gespeichert sein. In der Praxis stehen wir also vor der folgenden Frage: „Wie können zwei Menschen über etwas sprechen wovon eine Person, (Patient) nicht weiss, dass es sie/ihn angeht und die andere Person (Analytiker/in) nicht weiss, worum es (überhaupt) geht. Wie kann ein Patient in einer Geschichte involviert sein die zu jemandem anderen gehört?“ (Faimberg, p. 7) Wenn das Trauma einst nur im impliziten Gedächtnis gespeichert war konnte es ja nicht angeschaut, emotional erfahren und verarbeitet werden! „Die Übertragung zwischen Generationen ist oft ein unsichtbares Objekt in der Psychoanalyse.“ (Faimberg, p. 2) Es geht also um eine analytische Haltung das Nicht Wissens. Im Wissen um dieses Nicht Wissen, lohnt es sich einen geschulten Blick auf diese Ebene zu werfen, ein hellhöriges Ohr zu haben. In der Praxis erfahre ich, dass ein transgenerationell weitergegebenes Trauma Spuren in der Seele hinterlässt, die sich noch Generationen später auswirken. Was immer einem Menschen traumatisch widerfahren ist und diesen seelisch überfordert, ja überwältigt hat, und von diesem auch später nicht angeschaut und aufgearbeitet hat werden können, das kann bei späteren Generationen zu Symptomen führen. „Heute wird unter ‚transgenerationaler Weitergabe’ verstanden, dass die Elterngeneration an die Generation der Kinder und Enkel ihre Vorstellungen, Verhaltensweisen, Scham und Schuldgefühle, aber auch ihre Geheimnisse und unverarbeiteten Traumata weitergibt.“ (Rauwald, p. 50)


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Auf den ersten Blick mag transgenerationell weitergegebenes Trauma späteren Generationen als eine mühsame, oftmals als ‘unverdient’ empfundene, äusserst beschwerliche, wenn überhaupt zu bewältigende Bürde anmuten. Es mag sich aber als Wunder herausstellen, das transgenerationell weitergegebene Trauma zu entdecken. Wenn man sich dieser Bürde annimmt, kann es dem Einzelnen erlauben zur Heilung, im Sinne von psychischer Ganzheit fortzuschreiten, bisweilen auch zur Erkenntnis des Sinns des Lebens. Das Erkennen von transgenerationell weitergegebenen Traumata trägt zur Entlastung nachkommender Generationen bei, und, so meine spekulative These, es trägt möglicherwiese auch zur Erlösung der Seelen von diesen Altlasten jener bei, die vor uns waren und nicht mehr sind. Wenn wir uns mit der transgenerationellen Weitergabe von T T T (Transgenerational Transmission of Trauma) beschäftigen, ist dann ein Heilen vorwärts und rückwärts möglich? Jung dachte dass Zurückphantasieren die Vergangenheit verändern kann (zitiert in Faimberg, p. 110) und ich werde darauf in meinem letzten Kapitel noch näher eingehen. Bei der Bearbeitung von transgenerationell weitergegebenen Traumata geht es also nicht darum, dass ein einzelner Mensch sich mit den traumatisch erlebten Inhalten im persönlichen Unbewussten auseinandersetzt, sondern mit Inhalten, die mehrere Generationen zurückliegen können. Traumata können übertragen oder weitergegeben werden, von A nach B, vom Ich zum Du, nicht nur zwischen den Generationen sondern auch zwischen zwei Partnern, Freunden, zwischen Eltern und Kindern. Sehr oft findet man in der Praxis, dass ein Trauma, oder auch ein Familiengeheimnis, nicht nur von A nach B weitergegeben wurde, und von B erkannt und aufgearbeitet wird, sondern oft ist es C, dem diese Aufgabe zufällt, dem Enkel oder der Enkelin, in manchen Fällen Nichten und Neffen, auch Ur enkel/innen. Das Spannende daran ist, dass sich diese Menschen – über Generationen getrennt, nie direkt begegnet sind; und doch „treffen“ sie sich im Traum oder über Symptome welche auf lang vergessene Traumata aufmerksam machen. Für die Betroffenen bedeutet ein transgenerationelles Trauma, das sie oft unbewusst in sich tragen, eine tragische Einschränkung ihrer eigenen Entwicklungsmöglichkeiten (Rauwald, Faimberg, Coles). Es ist wie wenn die eigene Subjektivität zu mehr oder weniger grossen Anteilen verloren geht oder nicht zugänglich ist. Die Beziehung vom Ich zum Selbst und vom Ich zum Du, sowie zum Anderen ist erschwert; Faimberg spricht von einer unerträglichen „Leere“ weil der Innenraum zu voll („overfull“). In Fällen von


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transgenerationell weitergegebenen Traumata gibt es nicht genug Platz! Weder für das

Ich, noch für das Selbst, noch für den anderen wirklich, da „andere“ diesen Platz einnehmen. Ich bin wie „n ich t“. „Vererbte Wunden“ (Rauwald) „verschlucken“ wie Teile des Ich und des Selbst – und ich erachte es als eine sehr lohnende Aufgabe, diese von dem „Schutt von Jahrhunderten“, so formulierte es eine Betroffene, zu befreien. Weitergegebenes Trauma kann dazu führen, dass Nachgeborene „ihre wahre Identität nicht entfalten“ können, dass „die Identität tief beschnitten“ wird. (Schmidt, p. 71) Manche die von diesem Leid betroffen sind, beklagen ein Gefühl von Verwirrung, von Konfusion (Zusammen Schmelzen), sprechen von „ich fremden“ Gefühlen, Bildern, psychischen Inhalten. Manche beklagen auch ein Gefühl von Wurzellosigkeit oder extremer Ambivalenz (Coles). Die Arbeit mit transgenerationell weitergegebenen Traumata ist eine Arbeit auf dem Trapez, über dem Familien-Abgrund, oftmals „ohne Netz“ (Allais)! Das Familiäre Unbewusste kann uns, besonders wenn in früheren Generationen Bedrohliches gab, als abgründig erscheinen und der Schritt es zu ergründen als waghalsig. Über diesem Abgrund hören wir oft nur wie von ferne ein Echo... Manche fühlen sich angesichts


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dieser Aufgabe energielos, sie beklagen eine grosse Müdigkeit – vielleicht sogar Lebensmüdigkeit. Wenn man über einem solchen Abgrund schwebt, dann kann es gefährlich sein, alleine mit den unbewussten Inhalten transgenerationell weitergegebener Traumata zu sein. Es ist wichtig dann eine Person zur Seite zu haben, die einem hilfreich zur Seite steht, beim schrittweisen Verstehen einer historischen Last, die man oft ohne es zu wissen, zu tragen bekommen hat. In Fällen wo es um das Böse geht, ist es vital, nicht dem Bösen direkt in’s Auge zu schauen, sondern wie beim Kampf gegen die Medusa, über einen Spiegel reflektiert, die Schlangen zu bekämpfen. Wenn es innen „zu voll“ ist von „anderen“, kann es zu einem Gefühl von Leere, von Abgrund kommen. Abgrund und Leere sind häufig gebrauchte Metaphern wenn Menschen diesen Balance Akt beschreiben transgenerationell weitergegebene Traumata zu erkennen und diese zu aufzuarbeiten. Diese Vorstellung von einer Art Nichts, oder einem schwarzen Loch, oder einem „weissen Fleck“ oder einer „verbotenen Kammer“ (Wieland Burston, München), drückt bildlich aus, dass die Vorfahren, die direkt von Leid, Krieg, Grausamkeit überwältigt waren, das was sie überwältigte sich nicht anschauen konnten und so ein Bewusstseinsraum unausgefüllt oder unbesetzt bliebt. „Trauma zerstört die Fähigkeit zu erkennen, zu symbolisieren, zu erinnern und reisst ein Loch in der Seele.“ (Fromm, meine Übersetzung). Margaret Wilkinson, Jungianerin und Vertreterin der neurowissenschafentlichen Forschung (Shore, Fonagy et al), schreibt: „in der Konstitution unseres Wesens, das durch unsere frühesten Erfahrungen geformt wird, hören wir die Stimmen der Vergangenheit, als Echo über Generationen hinweg.“ („Changing Minds in Therapy, Emotion, Attachment, Trauma and Neurobiology, Norton, 2010 p. 64). Bei Trauma bleiben die erlebten und geschauten Ereignisse im impliziten Gedächtnis, in der rechten Gehirnhemisphäre, und sind wie durch eine undurchlässige Mauer – Jahrzehnte oder gar lebenslang – getrennt vom expliziten Gedächtnis (linke Hemisphäre). Das so im familiären Unbewussten als höchst emotionell aufgeladener aber unbewusster Komplex gelagerte, kann als Abgrund, Loch oder als Leere gespürt werden. In späteren Generationen kann es dann vielleicht nur erahnt werden, es ist unbewusst bedrohlich. Die rechte Gehirnhemisphäre ist für Affekt und Selbstmodulation zuständig (Rauwald, p. 50) und die rechte Gehirnhälfte reguliert den Körper (Coles, p. 90); so erkläre ich mir dass bei Betroffenen sich die Symptome nicht nur psychisch sondern auch körperlich äussern können, und dass es in manchen Fällen auch fehlende Affektmodulation beobachten kann, wie unkontrollierbare Wutausbrüche oder auch Selbst oder Fremdaggression. Eventuell sind auch Fälle von „hyperarousal“ (Hyper Erregung) unter diesem Gesichtspunkt zu verstehen, wenn man mit Coles (p. 91) bedenkt, dass erst der


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wieder „in one’s right mind“ ist, der gelernt hat die Hyper oder Übererregung zu verstehen und zu beruhigen. Wenn die solches auslösenden, übertragenen Inhalte ins Bewusstsein gehoben werden können, dann wird graduell der Abgrund weniger „tief“ erscheinen selbst wenn recht Abgründiges darin erschaut wird. Der erkannte Abgrund kann gar zu einer Quelle werden, die neue Lebensbereiche, neue Äste im Stammbaum bewässern und wachsen lassen kann. Behutsam angegangen können transgenerationell weiter gegebene Traumata erkannt, benannt und behandelt werden, so dass was einst gewesen ist Geschichte wird und so der Betroffene frei wird seine eigene Geschichte zu leben. Erkannte Geschichte kann den Betroffenen dann ins eigene Leben, in die eigene Geschichte hinein frei „entlassen“... Die Auf und Entdeckung in der Analyse von transgenerationellen Inhalten des familiären Unbewussten kann das Bewusstsein des Betroffenen erweitern und dazu führen, dass der Mensch sich wieder ganz, also heil, fühlt. Dies kann geschehen mit Hilfe von Symptomen, Symbolen oder Synchronizitäten, dank des Erkennens von Schicksalen oder psychischen Inhalten früherer Generationen zum Beispiel in unseren Träumen, aber auch mit Hilfe von Übertragung und Gegenübertragung. So wir diese Inhalte erkennen, und zwar als solche, die weit über unsere Zeit hinausreichen, können wir auch unser Schicksal erfüllen: wenn wir uns diesen Inhalten stellen, sie zu erkennen suchen. Denn angeschaut und vielleicht sogar bis zu einem gewissen Masse integriert, werden diese seelischen Inhalte an spätere Generationen nicht mehr unbewusst weitergegeben; wenn sie denn weiter gegeben werden, so zumindest geläutert. (läu|tern [V.1, hat geläutert; mit Akk.] 1 etwas l. klar machen, klären, von unerwünschten Bestandteilen befreien; eine Flüssigkeit l. 2 jmdn. L. reifer machen, zum Überwinden von Fehlern bringen; das Unglück, das Leid, seine schwere Krankheit hat ihn geläutert). Falls wir uns nicht über die Schicht des familiären Unbewussten bewusst werden, oder falls diese Ebene in der Analyse ausgespart bleibt, nicht behandelt wird, kann es zu unangenehmen, leidvollen oder gar gefährlichen Wiederholungen kommen. Wenn wir uns aber der transgenerationnell weitergereichten Traumata annehmen, und die so unbewusst übertragenen oder „ererbten“ Komplexe bewusst machen, dann leisten wir vielleicht nicht nur uns, sondern sogar jenen, die nicht mehr am Leben sind, mit dieser Art von innerer Arbeit, einen Dienst, posthum. Und wir schreiten auf dem Individuationsweg voran, wir werden mehr „ich“, mehr „ich selbst“, je mehr wir erkennen in wie weit wir von anderen Inhalten, von anderen Generationen in unserem psychischen Leben wie „besetzt“ worden sind. Ein Beispiel aus der Praxis: Ein etwa 60jähriger Mann kam zu mir in die Praxis weil er an Angst litt, mit nächtlichen Alpträumen. Er war mir von seinem Arzt überwiesen worden, nach einem Panikanfall in einem Einkaufszentrum; der Patient meinte einen Herzanfall zu erleiden und hielt sich an der Perlenkette einer ihn begleitenden Frau so sehr fest, dass er sie beinahe erwürgt hätte. Diese Frau war seine Schwägerin, die Witwe seines Bruders, der mit knapp 50 Jahren ein paar Jahre vorher verstorben war. In dieser ersten Stunde erzählte er mir auch, dass er fast jede Nacht mit einem herzerschütternden Schrei aufwache, der in


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seiner Brust wie gefangen war, wie festgeklemmt in seiner Gurgel. Ich versuchte das nachzufühlen, zu erspüren, wie es ihm erging. Das gelang mir nicht. Stattdessen roch ich etwas Seltsames; das „etwas“ roch wie Asche. Hatte er Todesängste, der Bruder war so früh gestorben? Warum? Wieso wollte er –wenn auch unbewusst – sich am Leben festklammernd dabei die Frau seiner Bruders erwürgen? Wozu der nächtliche Schrei, der wie er sagte einfach nicht raus kam, sondern in einem kläglichen babyhaften Wimmern stecken blieb?

Ich folgte nach einigem Überlegen meiner Intuition die mich etwas Seltsames riechen liess und fragte ihn: „Könnte es sein, dass ich Asche rieche?“ fragte ich meinen Klienten, und ob das eine Bedeutung für ihn habe. Er schaute mich mit grossen Augen an: „Ja“ sagte er, „wir haben die Asche meiner Mutter auf einem Hügel verstreut, so wie sie es wollte, weit weg von ihrer Heimat.“ Nachdenklich fügte er hinzu: „Ich habe sehr lange nicht mehr an sie gedacht; sie war aus Land X, sie hatte meinen Vater während des Krieges kennengelernt und geheiratet und war ihm gefolgt nach Land Y.“ Es stellte sich heraus dass diese vor Jahren verstreute Asche seiner Mutter ganz wesentlich mit dem jetzigen Leiden meines Klienten zu tun hatte. Der Schrei, der in der Kehle meines Klienten steckengeblieben war nicht der seinige. Es war der Schrei seiner Mutter und seiner Grossmutter. Nach gut zwei Jahren kam dieser Schrei endlich raus, in meiner Praxis, so laut, dass ich dachte man werde mich raus schmeissen... (sic!)


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Die Geschichte, die mein Patient Zeit seines Lebens in seiner Brust unbewusst herumgetragen hatte, war eine vielschichtige; die folgende Ebene davon kann ich Ihnen, mit Einwilligung des Patienten, mitteilen: seine Grossmutter war nämlich nicht seine Grossmutter. Seine Mutter war die Tochter des Dienstmädchens, die schwanger, nach der Entdeckung einer Affäre mit dem Herrn des Hauses, davongejagt geworden war. Als das Kind der Hausherrin kurze Zeit danach vorzeitig verstarb, wurde das Kind dem Hausmädchen weggenommen und als quasi eigenes adoptiert und aufgezogen. Dieses Kind war die Mutter meines Klienten, die nichts davon wusste: nicht dass ihre Mutter nicht in Wahrheit ihre Mutter war, und nicht dass ihre eigene Mutter irgendwo weit weg nach ihrem Kinde schrie, und nichts davon wusste, dass etwas in ihr nach ihrer wahren Mutter schrie ... kurz vor ihrem Tod soll die Mutter es dann doch noch erfahren habe, aber sie hatte es keinem erzählt, so sagte mir mein Patient. Er wollte ja schon meinem Riecher folgen, aber zögerte und zögerte – bis ihm ein Traum schliesslich sagte: „Du musst ein Flugticket lösen, Du bist schon viel zu spät dran, Du musst da und da hin und nachschauen, was da war. Und dort fand er in den Archiven von Land X die Wahrheit, und dazu noch einige Halbgeschwister und Cousins sowie das Grab der echten Grossmutter. Eigentlich war er der Dynamik des Schreis gefolgt des Schreis der Ungerechtigkeit, der Verzweiflung, der unendlichen Trauer und des nicht wieder gut zumachenden Verlustes der ihm das Herz hätte zerreißen wollte. Was der Mutter widerfahren war, ein Geheimnis, das sie gar nicht hüten musste, da es ihr selbst nicht bis kurz vor ihrem Tod offenbart worden war, hatte seelische, vielleicht auch körperliche Folgen für sie und ihre Kinder. Was die Grossmutter an traumatischen Ereignissen erlebt hatte, blieb dem Enkel zu entdecken. Dass diese Erfahrungen des Weiblichen, über drei Generationen, nicht ohne Folgen für meinen Patientin und seine Beziehung zur Anima und den Beziehungen zu Frauen in seinem Leben blieb, ist eine seelische Tatsache, ebenso wie die unterdrückte Wut gegen das Männliche. Aus der Asche seiner Beziehungen, so blieb zu hoffen, konnte auf dem Boden der neu entdeckten seelischen Realität, ein Phönix sich erheben – ein Mann, wieder verbunden mit seiner Seele, der Seele seiner Mutter und der Seele seiner Grossmutter. Jahre nach der Analyse, teilte mir der Analysand mit, dass er im Heimatland seiner Mutter eine Familienzusammenführung plante. Er nahm Steine mit von dem Hügel, wo einst die Asche seiner Mutter, weit weg von ihrer Heimat und ihrer Mutter, verstreut worden war, und legte sie am Grab seiner Großmutter nieder. An einer Stelle vergleicht Jung das Unbewusste, ich würde sagen, das familiäre Unbewusste, mit dem Land der Toten. Jung schrieb“…denn das Unbewusste entspricht dem mythischen Totenland, dem Lande der Ahnen.” (C.G. Jung, Erinnerungen, Träume, Gedanken, p. 213)


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Modelle zum Verständnis der transgenerationellen Übertragung Wie kann man das erklären? Es gibt verschiedene Modelle, aus psychodynamischer, soziologischer, entwicklungs- und familientherapeutischer Sicht, sowie neurobiologische, genetische und epigenetische Forschungsbeiträge. Die transgenerationelle Übertragung wurde von systemischer und familientherapeutischer Sicht ab den 1950er, 1960er Jahren erforscht; insbesondere die Holocaust Forschung (Epstein, Kogan, Wardi) hat wertvolle Pionierarbeit geleistet; sie fand bei der zweiten und dritten Generation von Überlebenden der Shoah, Symptome, die auf die von ihren Vorfahren erlebten, schweren Traumata hinwiesen. Auch die Schicksalsanalyse (nach Leopold Szondi) mass ab 1950 dem familiären Unbewussten grosse Bedeutung für das Schicksal des einzelnen bei, das familiäre Unbewusste als „Sitz und Wartesaal der Ahnen“ von wo aus die „Ahnenfiguren“... „die Wahlhandlungen eines Menschen (lenken) ...mit dem Ziel, im Leben eines Abkömmlings ... zurückzukehren“. (damals war noch die Annahme, dass diese Existenzformen psychische Korrelate genetischer Strukturen sind, umstritten). (siehe www.szondi.ch) Es gibt inzwischen viele Beiträge zu dem Thema der transgenerationellen Weitergabe, dankenswerterweise auch jungianische Perspektiven.


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Christian Roesler schreibt über “Das gemeinsame Unbewußte unbewußte Austausch und Synchronisierungsprozesse in der Psychotherapie und in nahen Beziehungen, in der Zeitschrift der Analytischen Psychologie (2013). p. 5 “Einen aktuellen und fundierten Überblick über das Forschungsfeld gibt Rauwald (2013). So wird insbesondere in Israel in den Familien der überlebenden Opfer der Shoah beobachtet, dass die zweite und mittlerweile auch die dritte Generation, das heißt die Kinder und Enkel der Opfer, massive Symptomatiken aufweisen, die dem Erscheinungsbild von Traumafolgestörungen hochgradig ähneln, wobei die Betroffenen nachweislich keine eigene Traumatisierung erfahren haben. Das Phänomen ist umso stärker ausgeprägt, je stärker die erste Generation traumatisiert wurde und insbesondere je weniger sie darüber mit den Nachkommen gesprochen hat.“ Auf die Arbeiten der folgenden jungianischen Kolleginnen möchte ich besonders hinweisen: Dafnea Sorgedrager hat sich in „Familienwahrheiten. Spurensuche in uns“, (Verlag Schmidt, 2007), mit dem Fortwirken von Familiengeheimnissen und mythen befasst; in ihrer Praxis hat sie oft erlebt, wie unverarbeitete Konflikte der Eltern sich bei den Kindern in psychischen und physischen Blockaden äußern. Bekanntlich arbeitete auch Jung mit Träumen der Kinder, falls der Erwachsene (Elternteil) sich nicht an seine Träume erinnern konnte. Erika Prümm hat in einem poetischen Buch Zeugnis von der transgenerationellen Traumata Übertragung abgelegt, in “Elas unfertiges Erinnern”(Ingrid Lessing Verlag, 2009) das sich mit den tiefen Wunden beschäftigt, die Kinder in sich tragen, deren Eltern von den Erfahrungen des 2. Weltkrieges geprägt waren. Helga Thomas hat in einem Gedichtband sowie in autobiographischer Prosa sich den existentiellen Fragen dieses transgenerationellen Dialoges zugewandt. (Helga Thomas, Als das Mondkind im Wasser ertrank, Möllmann, 2012, Kriegskindheit, Möllmann, 2012) Wenn ein Mensch Hilfe sucht, weil er tief in der Seele, am Körper, oder am Geist leidet, wird dieser Mensch beim Jung’schen Analytiker auf Verständnis und Begleitung hoffen dürfen, bei der Gratwanderung, der es bedarf Bewusstes von Unbewusstem zu unterscheiden, und letzteres dem ersteren zuzuführen. Als Analytiker sollten wir deshalb sorgsam darauf achten, ob die seelischen Konflikte und Inhalte von weit her kommen, von früheren Generationen. Sigmund Freud hat uns mit seiner Pionierarbeit, die Zugänge zum persönlichen


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Unbewussten eröffnet; Freud sprach aber auch von „Erinnerungsspuren an das Erleben früherer Generationen“ (Der Mann Moses und die monotheistische Religion. In. S. Freud: Fragen der Gesellschaft, Ursprünge der Religion. Studienausgabe. Bd. IX, S. 455 481); Carl Gustav Jung entdeckte im persönlichen Unbewussten jene Kräfte die unbewusste seelische Komplexe auf uns ausüben können, und postulierte die Existenz von universalgültigen Archetypen und Symbolen im kollektiven Unbewussten, deren Bilder einen grossen Einfluss auf unser Leben und in unserer Seele ausüben können. Zwischen diesen zwei, an sich schon enorm anmutenden Schichten des Unbewussten, dürfen wir uns dazu noch das familiäre und das kulturelle Unbewusste vorstellen. Mit dem folgenden Diagramm möchte ich diese Schichten veranschaulichen:

Schichten des Unbewussten Ego Persönliches Unbewusstes Das Familienunbewusste Das kulturelle Unbewusste Das kollektive Unbewusste Selbst (Man könnte es sich in auch konzentrischen Kreisen vorstellen.) Text: K. Schellinski Zwischen dem individuellen und dem kollektiven Unbewussten, gibt es die Schichten des kulturellen und des familiären Unbewussten. In Fällen von schweren individuellen oder kollektiven Traumata, aber auch von Geheimnissen, können diese auf spätere Generationen übertragen werden. Das familiäre Unbewusste definiert mein belgischer Kollege Michel Cautaerts wie folgt: „das familiäre Unbewusste sind all jene Verhaltensweisen, die aus der Zugehörigkeit zu einer Familie stammen, denen sich ein Subject anpasst ohne es zu wissen.“ (Cautaerts : Je tu€ il – Psychanalyse et mythanalysedes perversions (De Boeck 2010) Verschiedene Modelle geben Erklärungen wie solche Übertragungen zustande kommen, entweder als Inhalte oder über Prozesse, die solche Inhalte übertragen. Psychodynamische Modelle benennen die unbewusst übertragenen Emotionen in interpersonellen Beziehungen, familiensystemische Theorien schauen auf Verhalten, Kommunikation oder das Ausbleiben von Kommunikation, soziokulturelle Erklärungen auf Erziehungsmethoden und Modelle, biologische Theorien erforschen die neurobiologische und epi /genetischen Weitergabe. (siehe: Integratives Modell von Kellermann) Hochtraumatische Erlebnisse, wie Erlebnisse im Krieg, alle Arten von Gewalterfahrung oder Missbrauch werden oft von einer Mauer von Schweigen umgeben; so schützt sich zunächst der betroffene Mensch und „überlebt“, oder versucht auf diese Weise auch die


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Nachgeborenen zu schützen. Doch nichts spricht lauter als das Schweigen um einen sehr schmerzhaften oder peinlichen Komplex herum. Es kann zu einer Übertragung von Arten der Selbstrepräsentation kommen (Heike Glaesmer et al. “Transgenerationale Übertragung traumatischer Erfahrungen,” in Trauma & Gewalt, 5. Jahrgang, Heft 4/2011): angeschlagenes Selbstwertgefühl, veränderte Identitätsgefühle, Schuldgefühle. Wenn ein Kind versucht, den Elternteil psychisch zu tragen, spricht man von parentifizierten Kindern, das Kind wird dann auch die seelische Last des Elternteils mit tragen. Gerade der Sohn der Autorin die diese Parentifizierung aufdeckte kann es erster Hand bezeugen. Im Buch von Martin Miller, dem Sohn von Alice Miller lesen wir in einem späten Brief an ihn: „Ich habe mich in viele Menschen einfühlen können, nur in meinen Sohn konnte ich es nicht... Gerade bei ihm fehlte mir die Empathie. Trotz meiner Ausbildung ist es mir nicht gelungen, diesem Schicksal zu entgehen.“ In Martin Miller: Das wahre „Drama des begabten Kindes“. Die Tragödie Alice Millers, Kreuz, Freiburg, 2013) Er hatte es nicht gewusst dass seine Mutter 1940 aus dem Warschauer Ghetto entflohen war, und auch sie schrieb dass sie erst mit über 60 erkannte dass sie mit einer Mutter aufgewachsen war, die sie als „grausam, zerstörerisch, ausbeuterisch, durch und durch verlogen und lieblos“ beschrieb. Je mehr ein Eltern oder Grosselternteil psychische Verteidigungsmechanismen gebraucht, wie Vergesssen, Verleugnung, Verdrängung von zum Beispiel negativen Gefühlen, oder projektive Identifikation oder Identifizierung mit dem Angreifer oder dem Opfer, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Inhalte übertragen werden können: Bilder, die gesehen und erlebt wurden, aber auch seelische Bilder, können übertragen werden. Wenn es kein übertragenes Bild gibt, kann es Bilder vom Nichts geben, die werden auch übertragen: der schwarze Fleck (da sieht man ja noch was) oder gar ein weisser Fleck oder die verbotene Kammer (Wieland Burston), die Leere, der Abgrund... Die aussergewöhnliche Anstrengung und Leistung sich den Abgrund oder das Nichts dann anzuschauen, und dabei nicht hinein zu fallen, fällt oft einem Familienmitglied, ein, zwei, drei oder gar mehr Generationen später zu. Systemisch orientierte Therapien wie auch Familienaufstellungen nach Bert Hellinger (siehe auch Daan van Kampenhout: Tränen der Ahnen, Carl Auer Verlag, Heidelberg, 2010,) werden versuchen jene mit einbeziehen, die abwesend sind, denn ohne das, was ausgeschlossen ist, wird die wichtige Arbeit der Integration nicht gelingen. Von der Jung’schen Analytischen Psychologie her können wir die Übertragung mit Hilfe der Komplextheorie verstehen: Komplexe formen sich im Unbewussten um die Kerne von emotional aufgeladenen Erlebnissen und Ereignissen; vom Unbewussten her wirken sie dann um so stärker. Diese Komplexe oder Spuren von Komplexen können von Generation zu Generation weitergereicht werden. Nicht dass der Komplex bewusst weitergereicht wird, im Gegenteil, je unbewusster ein Komplex, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein anderer, oft ein später geborenes Familienmitglied es mit diesem Komplex zu schaffen bekommen wird.


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Roesler schreibt dazu (p.13): „Unter bestimmten Umständen...findet eine Interaktion zwischen zwei Personen, die im Bereich der erfahrbaren Welt körperlich getrennt sind, über den gemeinsamen potentiellen unbewussten Raum statt, in dem diese physische Getrenntheit nicht vorliegt (vgl. auch Fach, 2011). Voraussetzung ist .... dass eine Gegensatzspannung vorliegt, hier in der Psyche der Person 1, wobei ein Pol unbewusst, verdrängt oder abgespalten ist. Bilden die beiden Personen ein verschränktes System, indem sie ein gemeinsames Unbewusstes/interaktives Feld gebildet haben, dann lässt sich vorhersagen, dass der unbewusste Pol des archetypischen Gegensatzpaares aus dem potentiellen Raum in die Person 2 transferiert wird und sich dort manifestiert (z.B. in einem Traum oder Synchronizitätsphänomen).“ Mit Hilfe des Übertragungsdiagramms von Jung können wir uns auch veranschaulichen wie Komplexe transgenerationell übertragen werden können. Wann immer sich zwei Menschen begegnen, werden beide Unbewusste und Bewusstseine miteinander in Kommunikation stehen und die jeweils mit Emotion aufgeladenen Komplexe können „zueinander“ in Beziehung treten.


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Über die manchmal recht subtilen und weitgehend unbewussten „Übertragungen“, die aber schwerwiegende Konsequenzen über Generationen hinweg haben können, sollten wir uns bewusst werden. Ab der ersten Stunde, sollte der transgenerationelle Kontext bewusst mit einbezogen werden. Ansonsten laufen wir Gefahr, dass wir eine wichtige Ebene in der Analyse übersehen. Wir sollten also schon während der Anamnese, zu Beginn der Analyse, nach den Groß Eltern und Ur Groß Eltern fragen, nach deren Lebensumständen und Beziehungen zum Analysanden; später mögen wir uns einen Stammbaum anschauen um nach Wiederholungsmustern Ausschau zu halten und ein Genosoziogramm (Schützenberger) entwerfen.

Wenn wir es mit transgenerationell weitergegebenen Traumata zu tun haben, können Träume und Symptome die auf den ersten Blick nichts mit dem Träumer oder Analysanden selbst zu tun haben scheinen, uns einen Hinweis geben; die Inhalte wirkenunter Umständen „Ich-fremd“ oder kommen wie „von weit her“. Ein Beispiel aus der Praxis Vor kurzem kam eine junge Mutter mit ihrem Erstgeborenen, drei Monate alten Baby in die Praxis. Die Mutter sagte, sie habe die Geburt als Überraschung erlebt. Immer wieder wenn sie mir die Geburt beschrieb, fiel das Wort Überraschung, gemischt mit der Sorge, dass es einige Tage gebraucht hätte, bevor sie ein Gefühl der Verbindung mit ihrem Kind hatte entwickeln können. Dann erzählte sie mir einen Traum, wo sie nicht nur ein Baby zur Welt bringt sondern zwei und das zweite ist ein winzig kleiner Fötus. Sie vergisst dieses winzig kleine Wesen zu füttern und fühlt sich furchtbar schuldig dabei. „Ob sie oder ihre Mutter denn ein Kind verloren hätten?“ frage ich. Nein, nicht dass sie wüsste. Ich frage: „und ihre Grossmutter?“ „Ach, herrje!“ Nun erinnert sie sich, dass die Grossmutter der Mutter


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drittes Kind mit dem Vorwurf begrüsste: „Was? Noch ein drittes Baby? Hast Du Dir überlegt, was das heisst!“ Nun so war es denn schon einmal so geschehen: schon die Mutter meiner Klienten war eine „Überraschung“ gewesen, ein ungewolltes Kind, das die Grossmutter versucht haben soll abzutreiben. Die Mutter war wohlauf geboren worden, aber das Bild des abzutreibenden Fötus war im Unbewussten lebendig geblieben – über zwei Generationen hinweg. Wenn jetzt diese junge Mutter (3. Generation) sich nicht dessen bewusst geworden wäre, hätte ihr kleines Baby diese Last – unbewusst – in sich weiter tragen müssen. Die Konsequenzen einer potentiellen zukünftigen Bindungsstörung waren absehbar in der Sorge der Mutter nach der Geburt keine richtige Verbindung zu ihrem Baby empfunden zu haben. Wenn ich diesen Traum oder diese analytische Szene subjektstufig, als zu meiner Analysandin gehörend angesehen hätte, im Sinne von „verhungerndem innerem Kind“ wäre Wesentliches übersehen worden, wenn nicht sogar ein Unrecht geschehen, ihr gegenüber und ihrem Baby gegenüber. Auch wenn wir auf die archetypische Ebene „gesprungen“ wären, und uns den Mutter Archetypus, mit den zwei gegenseitigen Polen, die nährende Mutter und ihr Gegenteil, Kali, die zerstörende, nicht nährende Mutter, angeschaut hätten, hätten wir eine Chance zur Heilung und Versöhnung verpasst, für die Klientin und ihr Kind, und auch für die Mutter und Großmutter. Erst wenn wir die transgenerationelle Ebene mit einbeziehen, kann die innere Arbeit des Erkennens beginnen, dessen, was vor langer Zeit geschehen ist, und was unter Umständen wie ein Hindernis den Weg zum Selbst für spätere Generationen versperren mag. Das Ich kann nur schwer zum Selbst oder auch zum Anderen eine Beziehung haben, wenn es voll „Leere“ ist, oder aber über voll mit Inhalten aus vorhergehenden Generationen. Wenn wir aber den Weg gehen um zu erkennen was unerkannt geblieben war, ist das Selbst konstelliert, der Archetyp der Ganzheit. Als Analytiker haben wir die Fähigkeit und damit die Verantwortung dem Menschen der zu uns kommt zu helfen, auf dem Weg zur Bewusstseinsfindung, auch über die Vergangenheit und die Vorfahren zu reflektieren und sei es um nicht dem Wiederholungszwang, der Projektion oder anderen leidlichen Verteidigungsmechanismen anheim zu fallen. Wir wissen zu gut, dass der Pol des Komplexes der unbewusst geblieben ist, nur zu gerne auf den anderen projiziert wird. Dies ist menschlich, kann aber eine wahre Gefahr für den anderen, den Nächsten bedeuten. Ein Beispiel aus der Praxis Ich habe über viele Jahre hinweg mit einer älteren Frau gearbeitet; sie kam in die Praxis weil sie sich um ihre beiden Kinder, die an einer Immunkrankheit erkrankt waren, fast zu Tode sorgte. Sie selbst litt an einer chronischen Krankheit und während ihrer Kindheit hatte sie mehrere, schwere Brandwunden erlitten. Als sie die Analyse anfing, gab es mehrere Träume, in denen sie versuchte, dem Feuer zu entrinnen; in einem Traum sprang sie aus dem 8. Stock, von einem Balkon. Ich folgte einer Intuition und fragte, was denn vor acht Generationen geschehen war? Jahrelang fanden wir keine Antwort darauf. Als ihre Schwester starb, die an psychotischen Schüben gelitten hatte, kam Licht in die Finsternis. Die Schwester hatte Dokumente gesammelt und Lieder registriert, die dokumentierten, dass Mitglieder der Familie im 15. Jahrhundert während der Inquisition und Vertreibung der Juden aus Spanien, verbrannt worden waren. In einem anderen Fall, arbeitete ich mit einem Nachfahren einer Hugenottischen


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Familie, die in Genf Refugium gefunden hatten, nach dem Edikt von Nantes. Es dauerte Jahre bis auch nur ein Anflug von Selbstfindung möglich war; bis dahin zeigten Träume

die Träumerin immer wieder unter Betondecken verirrt, und nach Luft und Raum suchend. Oft sind dies sehr lange Analysen. Die Entdeckung eines solchen ererbten Komplexes, eines transgenerationell weitergegebenen Traumas als der tiefere Grund des persönlichen Leidens, kann so paradox es klingt, entlasten. Es kann dann ein längerer Prozess anfangen, manchmal unterstützt von einem Ritual für längst Verstorbene, die, so sieht man es manchmal in Träumen, Seelenfrieden suchen und eine Erlösung durch Anerkennung ihrer in Vergessenheit geratenen Leiden. Manchmal kann ein transgenerationell weitergegebenes Trauma geheilt werden, wenn das was abgespalten und verschollen war, integriert wird. Manchmal können Täter und Opfer, auf der symbolischen Ebene, über Generationen hinweg, einen Dialog aufnehmen und den Weg, nicht des Vergessens, sondern der Versöhnung einschlagen. Wenn wir in den Prozess unserer Bewusstseinserweiterung auch einen Blick werfen auf die unbewusst gebliebenen Komplexe der Vorfahren, dann führen wir vielleicht nicht nur den Analysanden in die Freiheit und eine neue Verantwortung, sondern auch die Nachfahren. 4. Erlösung vom transgenerationell weitergegebenen Trauma Gemäss einer Studie von Professor Perroud der Psychiatrischen Fakultät an der Genfer Universität kann man die Spuren von weitergegebenen Traumata auf der DANN nachweisen, bis zur 3. Generation. In Fällen von Kindesmisshandlung und Missbrauch, wurden Spuren von Methylisierung (methylation) am Glucocorticoid Rezeptor Gen NR3C1 gefunden, die noch nach drei Generationen messbar waren, danach scheint es,


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dass die Transmission des Traumas nicht mehr nachgewiesen werden kann. (N. Perroud “Increassed methylation of glucocorticoid receptor gene (NR4C1) in adults with a history of childhood maltreatment: a link with the severity and type of trauma”, in Translational Psychiatry (2011) 1, e59; doi:10.1038/tp.2011.60 Published online 13 December 2011.) Im Alten Testament steht geschrieben: Denn ich, der HERR, dein Gott, bin ein eifriger Gott, der da heimsucht der Väter Missetat an den Kindern bis in das dritte und vierte Glied… (Luther Bibel 1912/2. Mose 20,5) In manchen meiner Fälle schien mir das weitergegebene Trauma noch deutlich später sichtbar – nicht auf der DANN aber in Träumen. Sich selbst und andere, die Vorfahren und die Nachfahren, von der bisweilen sehr schweren Last unverarbeiteter Traumata zu befreien, die ihre Bilder und Spuren, tief im Unbewussten, aber vielleicht dennoch für uns erkennbar in der Seele gelassen haben, kann einer Erlösung gleichkommen. Dann ist der einzelne Mensch frei, oder sagen wir freier, sein eigenes Leben zu leben, sein Wesen zu entdecken, das Potential auszuleben, das in ihr oder ihm angelegt war, aber überschattet von den unbewussten Komplexen früherer Generationen. Die nachfolgenden Generationen mögen so unbelasteter in die Zukunft gehen. Und was mag diese Art von innerer Arbeit für die Seelen der Verstorbenen bedeuten? Oder zumindest unserer Erinnerung, des Bildes unserer Vorfahren in unserer Seele? Es scheint mir manchmal als ob Inhalte des Unbewussten vorwärts und rückwärts „reisen“, dass wir hoch und runter auf dem Stammbaum klettern können und Dinge zu wissen oder zu sehen bekommen, oft in unseren Träumen, die von verschiedenen Schichten des Unbewussten stammen. Daher müssen wir diese unterscheiden: das persönliche, das familiäre, das kulturelle und das kollektive Unbewusste. Ist Heilen unsere Aufgabe oder eine Chance, gar Gnade? Auf einer Ebene erfolgt Heilung transgenerationell – über weite Zeit-Räume. Wir verpassen, unter Umständen, das Ziel, wenn wir denken es gehe um eine Menschenszeit oder 10 Sitzungen in Kurzzeittherapie. (Hamartia – gk, to miss the mark, Jean Yves Leloup : „Hamartia ist Sünde“) Heilt die Zeit? Oder heilen wir, in der Zeit? Ist das Unbewusste nicht zeitlos? Doch der Mensch lebt in einer chronologischen Zeitenfolge und wir sind konditioniert Abläufe in einer Zeitdimension zu sehen. Quantumphysiker sprechen von parallelen Welten (parallel universes) und statt von drei oder 4 Dimension von (fast un ) vorstellbaren 9 oder 11 Dimension. Leben wir auf 3, 4 Generationen gleichzeitig, nebeneinander, im Unbewussten? Jung schrieb in seinen Erinnerungen: „Bin ich eine Kombination von Ahnenleben und verkörpere deren Leben wieder?“ (p. 346) Dies sind Fragen, auf die ich keine Antwort habe, aber es ist mir als ob ich in der Praxis den Prozess des Heilens „vorwärts“ wie „rückwärts“ beobachten und begleiten darf. Zwei Beispiele aus der Praxis Ich arbeite mit zwei jungen Frauen, Anfang Dreissig; beide beklagten „ein Problem mit Männern“. In dem einen Fall, konnte sich meine Klientin erst nach dem Tod der


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geliebten Großmutter in einen heiratsfähigen Mann zu verlieben. Die Großmutter war unglücklich verheiratet gewesen war, sie war eigentlich die 2. Wahl gewesen, und ihr Ehemann hatte in den späten Ehejahren ein Dreiecksverhältnis geführt, das die Grossmutter des lieben Frieden willens geduldet hatte. Was war hier die unausgesprochene, aber wirksam weitergegebene Nachricht der meine Klientin sehr liebenden Großmutter gewesen? Trau nicht dem Mann, heirate nicht! Im zweiten Fall war es auch die mütterliche Großmutter die schrecklich unglücklich verheiratet gewesen war. Sie hatte sich scheiden lassen und zog zu ihrer verheirateten Tochter, wo sie meine Klientin, ihre Enkelin, mehr oder weniger aufzog. „Sie hat sich nichts aus ihrem Leben gemacht!“ meinte die Analysandin, „aber sie wollte immer, dass es mir gut gehe und hoffte auch, dass ich den Beruf ergreife, den ich jetzt ausübe.“ Meiner Analysandin wurde es in der Analyse langsam klar, wie sehr ihr Geschick mit dem der Großmutter verstrickt war: deren hochaufgeladener, gefühlsbetonter Komplex war gewesen: bloss keinen Mann! Erst auf diese Erkenntnis hin, gelang es meiner Klientin aus ihrer Abhängigkeit und spürbaren Lethargie heraus kommen und aktiv in ihr eigenes Leben zu treten. Sie träumte nun dass sie jetzt in einem Haus wohne wo jedes Zimmer sein eigenes Badezimmer (also Intim Bereich) hatte! Die Zimmer waren so angelegt, dass die Badezimmer innen waren, und die Wohnzimmer aussen, wie in einem Atrium, mit Mauern, also Abtrennungen, von einem zum anderen. Erst nach dieser Differenzierung, dieses Bildes der Abgrenzung, begann meine Klientin sich vor vorstellen zu können, wie sie aus der sich nahezu selbst auferlegten Einsamkeit heraus komme könnte. Früher hatte sie gemeint, dass sie entweder mit einem „schrecklichen“ Mann ausgehen müsse, was sie schon ein paar Mal getan hatte, oder aber alleine bleiben müsste. Nach diesem geträumten Umbau in ihrem inneren Zuhause, konnte sie sich langsam auf die Vorstellung zu bewegen “wie wäre es wenn ich mich – glücklich – verlieben könnte?“ Es geht also darum, nicht nur den Zugang zum anderen, im innerseelischen, oder im interpersonalen zu finden, sondern auch zum anderen im transgenerationellen, und dies um zu sich zu kommen. Wir sind, so scheint es, nicht ganz so frei, wie wir es uns a priori wünschen würden; der Individuationsweg kann in manchen Fällen von transgenerationellen Komplexen, wie von Hindernissen, versperrt erscheinen. Solange wir auf dieser Ebene unbewusst sind, bleibt Individuation leider eine nur theoretische Möglichkeit. Wenn diese Bewusstwerdung nicht geschieht, dann kann es sein, dass der konstruktive und kreative (statt destruktive ) Zugang zu sich selbst, zu den anderen in der Gesellschaft, sowie zum ganz Anderen, zum Selbst, zum Transzendentalen erheblich erschwert ist.


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Wenn wir uns aber dieser Arbeit stellen, dann gehe ich davon aus, dass der Archetyp des Selbst konstelliert ist und uns dabei hilft, transgenerationell weitergegebene Traumata bewusst zu machen und „heile“ oder ganz zu machen, was einst abgespalten war. Dies kann positive Auswirkungen haben, nicht nur für das Individuum, sondern die Familie, die Gesellschaft. Das Nichts des (familiären) Abgrundes ist dann nicht mehr eine gähnende Leere, wenn wir die Kräfte von Seele und Geist spüren und bei der Arbeit das was im Dunklen liegt erkennen und es ans Licht der Erkenntnis zu bringen. Licht, das physikalisch entweder ein Partikel oder eine Welle ist, erkennen wir Menschen nur wenn es reflektiert ist... 5. Die transzendentale Komponente der Heilung transgenerationell weitergegebener Traumata Wir ringen im Leben also nicht nur mit unseren persönlichen Komplexen sondern auch mit Komplexen die wir von früheren Generationen „geerbt“ haben. Außer dem Heilen von Familien Traumata und unserer Ganzwerdung und Individuation, könnte dies auch noch einem anderen Zweck dienen.

Anne Ancelin Schützenberger hat mit Rückgriff auf Freud, Jung, Moreno, Dolto, Boszorenyi Nagy und andere psychoanalytische Vorfahren ausgeführt „Wie das Leben unserer Vorfahren in uns wiederkehrt“ (Carl Auer Verlag, Heidelberg, 2007), erschienen im französischen Original schon 1993. Schützenberger nimmt Bezug auf Jungs Archetypentheorie und schreibt: „Nach Jung macht uns das kollektive Unbewusste zu dem was wir sind. Es wird von Generation zu Generation... weitergegeben und lässt die menschliche Erfahrung anwachsen.“ (p. 22) Ich könnte mir vorstellen, dass dies eine zweiseitige Beziehung ist: die Archetypen wirken auf uns und geben uns Erfahrung weiter und wir – wenn wir erkennen was die verschiedenen Schichten des Unbewussten sind, die in uns weiter wirken, wie weiter gegebene Traumata. Dann könnten wir die archetypischen Kräfte, die in uns wirken, „neu informieren“, sozusagen an deren Entwicklung teilhaben. (Vgl. dazu auch die neueren Forschungen von Jean Knox und Christian Roesler, dass Archetypen nicht genetisch weitergegeben werden sondern über menschliche Interaktionen. (JAP, 2012). Oder wir könnten es uns auch noch anders vorstellen: dass wir alle uns aus dem Unbewussten heraus entwickeln, und zu dem Unbewussten gehört eben auch das familiäre Unbewusste. Insofern könnte die bewusste Auseinandersetzung mit allen Schichten des Unbewussten, insbesondere auch mit dem was unsere Vorfahren erlebt haben und uns unbewusst weitergegeben worden ist, eine Art co-kreatives Schaffen sein, ein dialektischer Prozess des Werdens zwischen dem entstehenden Bewusstsein und den verschiedenen Schichten des Unbewussten. Schützenberger ging bei psychoanalytischen Behandlungen mindestens 200 Jahre zurück, wenn es irgendwie möglich war gar tausend Jahre. Jung hatte einen Traum, wo er viele Stockwerke in “seinem Haus” nach unten ging, er entdeckte Fussböden aus dem 15. Jahrhundert, dann Mauern aus römischer Zeit, und einen prähistorische Höhle, worin er zwei “sehr alte und halb zerfallene Menschenschädel entdeckte. (C.G. Jung, Erinnerungen, Träume und Gedanken, S. 180)


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Freud argwöhnte, dass einer der beiden Schädel seiner sei, und interpretierte den Traum dahingehend, dass Jung seinen Tod wünsche – der Rest ist psychoanalytische Geschichte... Aber wir wollen ja nicht wie lethargisch belastet von Familien Altlasten in diesen verharren. Die französische Autorin Allais schreibt (Juliette Allais: La psycho généalogie Comment guérir de sa famille. Eyrolles, Paris, 2013 p. 229 Collection Comprendre&Agir p. 229) dass man sich von der Familie heilt (guérir de sa famille), wenn man sich mit dem auseinandersetzt, was übertragen wurde und man im Begriff ist zu wiederholen. In diesem Prozess des sich von den Familien Altlasten Heilens, wird man (nach Allais) in die eigene Identität mit jedem Erkenntnisschritt neu hineingeboren. Für den Prozess der Individuation ist es wesentlich, dass wir erkennen, was vor uns war, dass wir erkennen, wer wir sind, und wir uns damit auseinandersetzen, wer wir werden können. Dafür gilt es zwischen persönlichen und transgenerationell weitergegebenen Traumata zu unterscheiden. Wenn dies gelingt, auch nur zu einem geringen oder relativem Masse, leistet der einzelne wiederum einen Beitrag zur eigenen Heilung, zur Heilung der Familie, der Kontinuität des Wachstums des Stammbaumes, dem man entstammt, herauswächst, und weiterwachsen lässt, sowie der Entwicklung der Archetypen. Allais betont das „sich von der Familie heilen“. Sie sagt diese Art von Arbeit ist „Pionierarbeit“. Aus jungianischer Perspektive würde ich hinzufügen, dass ich nicht zur Individuation und zur Erkenntnis des Selbst in mir gelangen kann solange unerkannte, familiäre Komplexe den Blick für die Erkenntnis eben dieses Selbst verstellen. Darüber hinaus scheint es mir wichtig, dass neben oder nach “sich von der Familie heilen“ man zur Erkenntnis gelangen kann, dass man mit dieser inneren Arbeit einen Beitrag zur Heilung von Vor und Nachfahren leistet. Werfen wir einen anekdotischen Blick auf Jungs Großmutter. Andreas Jung, Jungs Enkel, hat vor zwei Jahren einen Artikel im Journal of Analytical Psychology veröffentlicht, in dem er beschreibt wie Jungs mütterliche Großmutter Augusta, im Alter von 18 Jahren, sehr schwer erkrankt war und für tot erklärt wurde. Als sie nach 36 Stunden in den Sarg gelegt werden sollte, nahm Augustas Mutter, also Jungs Ur Großmutter, ein heißes Bügeleisen und brachte mit diesem ihre Tochter zurück zum Leben. (Andreas Jung (2011) JAP, para 16) Dieser Artikel hat mich angeregt nochmals darüber nachzudenken inwieweit Tod und Auferstehung für Jung und die Jung’sche Psychologie sehr wichtige Themen sind, und was dies für uns bedeuten könnte, wenn wir mit dem leiblichem Tod oder Momenten des seelischen Todes konfrontiert sind. Ich glaube, die analytische Psychologie kann in diesen „letzten“ Fragen einzigartige Beiträge leisten. Selbst wenn es keine schlüssigen Antworten gibt oder geben kann, ruht oft den Fragestellungen schon eine das Bewusstsein transzendierende Qualität inne. Jung hat sich in seinem Lebenswerk zentral mit dem was ich Auferstehung nennen könnte, beschäftigt, mit dem in das „wahre Leben“ Fortschreiten, einer Selbstverwirklichung, in dem Sinne, dass das Ich im Dienste der Verwirklichung des


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Selbst steht, sich zu seinem Wesen hin fortentwickelt. Jung hatte mit 69 Jahren eine Nahe Tod Erfahrung hatte und er schreibt in seinen Memoiren, dass er eigentlich recht ungern „zurück“ ins Leben gekommen sei. Dennoch schrieb er in den Jahren danach einen wesentlichen Teil seines Werkes, darunter Aion (1950), seine umfassende Monographie über den Archetypus des Selbst, sowie Mysterium Coniunctionis (1955/1956). Jahrzehnte vorher schon brachte Jung einen visionären Text zu Papier unter dem Pseudonym „Basilides“. 1916, nur 41 Jahre alt, schrieb Jung: „Die sieben Belehrungen der Toten. Geschrieben von Basilides in Alexandria, der Stadt wo der Osten den Westen berührt.“ (oder dieser schrieb sich aus ihm heraus). In den „Erinnerungen, Träumen und Gedanken“, beschreibt Jung wie es dazu kam. Eines hellen Sonntages klingelte es an der Eingangstüre seines Hauses, wo drüber gemeisselt steht : « Vocatus atque non vocatus deus aderit. » Gerufen und ungerufen wird Gott da sein. (Spruch des Orakels von Delphi.) „Ich hörte ...(die Glocke) und sah, wie der Klöppel sich bewegte. Alle liefen an die Tür um nachzusehen, wer da sei, aber es war niemand da! ... Das ganze Haus war angefüllt wie von einer Volksmenge, dicht voll von Geistern. Natürlich brannte in mir die Frage: „Um Gottes willen, was ist denn das?“ Jung schreibt es waren die Seelen von Toten, die bei ihm anklingelten, um Antworten auf Fragen zu bekommen, die sie in Jerusalem vergeblich zu beantworten gesucht hatten. Jung schreibt einleitend in den „Sieben Belehrungen der Toten“: „Die Toten kamen zurück von Jerusalem, wo sie nicht fanden, was sie suchten. Sie begehrten bei mir Einlass und verlangten bei mir Lehre und so lehrte ich sie:“ Sermo I (Septem Sermones ad Mortuos, (1916), Um sich zu seinem Wesen hin entwickeln zu können, ist es nach Jung wichtig auf die Unterschiedenheit zu achten, er sagt die Unterschiedenheit ist das Wesen der Creatur. (Im Gegensatz zum Pleroma, das Unterschiedenheit und Ununterschiedenheit gleichzeitig ist, Fülle und Nichts.) („It seemed to me that the dead pressed hard on me, forcing me finally to give an answer.... Everything matters, that a living person, a conscious man gives an answer. They cannot get out of their timelessness, their eternity. That obviously only a human being can do, who has been pushed into the world. „ (Protocols, C.G. Jung/A. Jaffé: Gespräche mit C.G. Jung 1956 58, Typescript quoted in Andreas Jung, The Grandfather, JAP, 2011) Er schreibt: “Unser Wesen ist Unterschiedenheit. Wenn wir diesem Wesen nicht getreu sind, so unterscheiden wir uns ungenügend. Wir müssen darum Unterscheidungen der Eigenschaften machen.“ (Sermo I) Wenn ich an die Menschen denke, die an transgenerationell übertragenen Traumata litten, dann scheint es mir wesentlich, dass wir unterscheiden was von woher kommt, an Bildern in Träumen, Symbolen, Symptomen. Wenn Jung vom Wesen spricht, das sich durch Unterschiedenheit auszeichnet, wissen wir es geht ihm um Individuation, er nennt denn auch den „Kampf gegen uranfängliche, gefährliche Gleichheit das ‚Principium


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Individuationis’“ und sagt: „Also sterben wir in dem Masse, als wir nicht unterscheiden.“ “(Sermo I). Im Zusammenhang mit meinem heutigen Thema, lese ich diese Textstellen aus Sermo I aus Septem Sermones ad Mortuos, so dass ein Stück von uns stirbt, wenn weitergegebene Traumata oder hochaktive Komplexe in uns sind, unseren seelischen Platz beanspruchen und unerkannt und unerlöst bleiben. Sie sind bei den Vorfahren unter Umständen unerkannt geblieben und wirken in den Nachfahren ununterschieden weiter. Wenn wir nicht die psychologisch anspruchsvolle Arbeit leisten, diese vom Unbewussten ins Bewusstsein zu befördern, zu unterscheiden was mein und Dein ist, in diesem Falle was von den ererbten Komplexen oder Traumata der Eltern, Gross Eltern oder Ur Gross Eltern erkannt sein will, „sterben“ wir ein wenig, schon hier und jetzt und unsere toten Vorfahren bleiben „tot“. Jung schreibt: „Unterscheidung (von den Eigenschaften) erlöst.“ Ich glaube, unsere Vorfahren können zu neuem Leben finden und uns auf unserem Stammbaumast sitzend, mit belebendem Geiste erfüllen, wenn wir das bisher Unerlöste zu erkennen, zu benennen, und es zu erlösen in der Lage sind. Dann ist das Heilen von transgenerationell weitergegebenen Traumata nicht Herstellung eines ursprünglich, vielleicht illusorisch angenommenen heilen Zustandes, sondern Evolution, Entwicklung: aufgrund von etwas das einmal gewesen ist ein Fortschreiten, hin zum wahren Wesen. Im Neuen Testament 2.Korinther 5:17 (Luther Bibel 1912) steht: Darum, ist jemand in Christo, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden! Transgenerationell weitergegebene Traumata können so zu animierenden Erlebnissen unserer Vorfahren gewandelt werden. Was einst wie eine unbewusste seelische Last anmutete, wird zum Fundament unseres Seins von dem wir, befreit, fortschreiten können. Und in jenen Fällen wo wir es nicht erkennen können, finden wir vielleicht Trost in einem Zitat von Rilke: „Die Zeit heilt nicht alle Wunden, sie lehrt nur, mit dem Unbegreiflichen zu leben.“ (Rainer Maria Rilke)

Literature Allais Juliette La psycho généalogie Comment guérir de sa famille. Eyrolles, Collection Comprendre&Agir, Paris, 2013 Bode Sabine, Kriegsenkel, Die Erben der vergessenen Generation, Stuttgart, Klett Cotta, 2009 Cautaerts Michel, Je tu€ il – Psychanalyse et mythanalyse des perversion, De Boeck, 22010 Coles Prophecy, The uninvited Guest from the unremembered past, Karnac, 2011 Haydee Faimberg The Telescoping of Generations Listening 28ft he Narcissistic Links


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between Generations, Routledge, 2005 Epstein Helen: Children 29ft he Holocaust, Putnam, 1979 Fromm Gerhard, Lost in Transmission, Studies of Trauma Across Generations, Karnac, 2012 K. Grünberg & J Straub, Die Gegenwart der Vergangenheit, in K. Grünberg & J. Straub (Eds) Unverlierbare Zeit, Tübingen, discord, 2001 Glaesmer Heike et al. “Transgenerationale Uebertragung traumatischer Erfahrungen,” in Trauma & Gewalt, 5. Jahrgang, Heft 4/2011) Gruen Arno, Der Fremde in uns, dtv, 2010 (2002) Jung Andreas, The Grandfather, Journal of Analytical Psychology, 56, 5, pages 653 673, November 2011 Jung Carl Gustav, Erinnerungen, Träume, Gedanken, Patmos Verlag, 2011, Hellinger Bert, Farewell. Family Constellations with Victims and Perpetrators Heidelberg, Carl Auer, 2003 Hirsch Mathias, Schuld und Schuldgefühl, Vandenhoeck, 2002 Huber Michaela Der Fein im Innern. Psychotherapie mit Täterintrojekten. Wie finden wir den Weg aus Ohnmacht und Gewalt? Junfermann, Paderborn, 2013 ______Transgenerationelle Traumatisierung, 2012 Keilson Hans, Sequentielle Traumatisierung bei Kindern, Enke Verlag 1979 Kellermann, N.P.F. Transmission of Holocaust trauma – An integrative view. Psychiatry Interpersonal and Biological Processes, 64 (3), 256 267 Kogan Ilany, The cry of the mute children, London, Free Association Books, 1995 N. Perroud “Increassed methylation of glucocorticoid receptor gene (NR4C1) in adults with a history of childhood maltreatment: a link with the severity and type of trauma”, in Translational Psychiatry, 2011, 1, e59, published online, also in: Pulsations, Geneva, mai juin 2012 Miller Martin Das wahre „Drama des begabten Kindes“. Die Tragödie Alice Millers, Kreuz, Freiburg 2013 Müller Hohagen Jürgen, verleugnet verdrängt verschwiegen. Seelische Nachwirkungen der NS Zeit und Wege zu ihrer Überwindung, Kösel, 2005 Radebold (Hg.) Kindheiten im 2. Weltkrieg und ihre Folgen Rauwald Marianne (Hg.) Vererbte Wunden. Transgenerationale Weitergabe traumatischer Erfahrungen, Beltz, Weinheim/Basel, 2013 24 Roesler Christian, “Das gemeinsame Unbewußte unbewußte Austausch und Synchronisierungsprozesse in der Psychotherapie und in nahen Beziehungen, in der Zeitschrift der Analytischen Psychologie (2013, Im Druck) Schmidt, Christa, Das entsetzliche Erbe, Träume als Schlüssel zu Familiengeheimnissen, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2004 Schützenberger, Anne Ancelin: Oh, meine Ahnen! Wie das Leben unserer Vorfahren in uns wiederkehrt, Carl Auer, Heidelberg, 2007; Äïe mes Aïeux, Paris, 1993; The Ancestor Syndrome, Transgenerational Psychotherapy and Hidden Links in the Family Tree Sorgedrager, Dafnea B., Familienwahrheiten, Spurensuche in uns. Erhältlich bei ihr Erika Prümm Elas unfertiges Erinnern, Ingrid Lessing Verlag, 2009


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Tisseron, Serge, Nos Secrets de Famille, Ramsay 1999 Van Kampenhout Daan, The Tears of the Ancestors : Victims and Perpetrators in the Tribal Soul, Phoenix, Arizona : Zeig, Tucker and Theisen, 2008 Wieland Burston Joanne, “Introduction 30ft he Panel, The Third Generation after the Holocaust,” Proceedings 30ft he Fifteenth International Congress for Analytical Psychology, Cambridge, 2001, edited by Mary Mattoon, Robert Hinshaw (Einsiedeln: Daimon Verlag, 2001) Wieland Burston Joanne, Chaos and Order in the World of Psyche, Routledge, London, 1992 Wirtz Ursula, Trauma and Spirit, New Orleans: Spring Journal Books (in print) Kristina Schellinski, kschellinski@bluewin.ch Quelle:ISAP Märztagung 30. März 2014, Zürich Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin. Die weitere Verbreitung des Textes in anderen Medien ist untersagt. Copyright©Kristina Schellinski

Was steht geschrieben? Was taucht aus dem Unbewussten auf?


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_Genetik und Psychiatrie Psychiatrische Diagnosen zu oft ungenau Genomweite Studie zeigt erstmals, wie sich bei Patienten mit Posttraumatischer Belastungsstörung verschiedene Traumata unterschiedlich auf die Biologie der Erkrankung auswirken Behandlungen psychischer Störungen folgen bisher meist dem Schema, dass bei gleicher Diagnose und gleichen Symptomen verschiedene Patienten gleich behandelt werden. Ein internationales Forscherteam, unter Leitung von Wissenschaftlern des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie, legt mit einer neuen Studie den Schluss nahe, dass dieses Konzept überdacht werden muss: Gleiche Diagnose bedeutet nicht automatisch gleiche Behandlung. Erstmals ist es in einer genomweiten Studie an Patienten mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) gelungen, den Einfluss unterschiedlicher Traumata auf die Biologie der Erkrankung eindeutig darzustellen. Danach sind auf der Ebene der Genregulation und Epigenetik in erster Linie nicht die diagnostizierten Symptome entscheidend für die Biologie eines Patienten, sondern die sogenannten Umweltrisikofaktoren – wie etwa Zeitpunkt, Dauer, Intensität oder Art eines erlittenen Traumas. Die bisher für längere Zeit unbeantwortete Frage, ob biologische Veränderungen bei Angststörungen wie PTBS diese individuellen Umweltfaktoren abbilden oder nicht, konnte damit erstmals beantwortet werden. Den Einfluss unterschiedlicher Umweltfaktoren untersuchten die Forscher am Beispiel der Auswirkungen von Missbrauch und Misshandlung in der Kindheit bei Patienten mit PTBS. Dazu analysierten sie periphere Blutzellen von 169 männlichen und weiblichen Personen im Durchschnittsalter von 45 Jahren und verglichen sie miteinander. Alle Personen waren stark traumatisiert und stammten aus Atlanta, Georgia. Eingeteilt wurden sie nach ihrer Vorprägung in drei Gruppen: eine Gruppe, die zwar traumatisiert, aber nicht an PTBS erkrankt war, sowie zwei weitere Gruppen, die an den Symptomen einer PTBS litten und sich dadurch unterschieden, dass eine der beiden über Missbrauch und Misshandlung in der Kindheit berichtete. Um die Veränderungen der Genregulation darzustellen, schauten sich die Forscher sogenannte mRNA-Transkripte an – kurze, einsträngige Kopien der DANN-Sequenz, die Informationen für die Herstellung der Proteine und Enzyme codieren. Außerdem wurden die lang anhaltenden Veränderungen in der DANN gemessen, die sogenannten DANN Methylierungen, die eine Art der epigenetischen Regulation des Stoffwechsels jeder Zelle darstellen. Überraschenderweise zeigten sich bei den zwei PTBS Gruppen, im Vergleich zu den Kontrollgruppen, komplett unterschiedliche und nicht überlappende molekulare Muster. Nur zwei Prozent der Transkripte waren in beiden Gruppen gleich verändert. Der Rest war spezifisch verändert – je nachdem, ob die Person eine Misshandlung im Kindesalter erlitten hatte oder nicht. „Es sieht danach aus, dass Patienten mit der gleichen Diagnose und den gleichen Symptomen, aber unterschiedlichen Umweltbedingungen klare messbare Unterschiede aufweisen“, erklärt Divya Mehta, Erstautorin der Studie. „Das zeigt sich auch bei den epigenetischen Markierungen, die von ihrem Umfang her zwölf Mal so häufig in der Gruppe mit Kindesmisshandlung vorkommen.“


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„Das Ergebnis bestätigt unseren Verdacht, dass die Biologie psychiatrischer Erkrankungen komplexer ist, als bisher oft angenommen“, kommentiert Elisabeth Binder, Leiterin der Studie: „Traumatische Ereignisse, die in früher Kindheit geschehen, schreiben sich über sehr lange Zeit in der Zelle fest. Nicht nur die Erkrankung an und für sich, sondern unser gesamtes Erleben bis zur Erkrankung scheint eine große Rolle in der Biologie von Angststörungen und Depression zu spielen“. Bei der Behandlung von Angststörungen und Depressionen solle dies berücksichtigt werden, betont Binder. Für die zukünftige Entwicklung von Biomarkern sei das Studienergebnis ein wichtiger Schritt voran, hebt Erstautorin Mehta hervor: „Es gibt uns ein besseres Verständnis für die Risikofaktoren psychiatrischer Erkrankungen und hilft uns, individuelle Diagnose- und Behandlungsstrategien dafür zu entwickeln. Forschungsgruppe: Mehta D, Klengel T, Conneely KN, Smith AK, Altmann A, Pace TW, Rex-Haffner M, Loeschner A, Gonik M, Mercer KB, Bradley B, Müller-Myhsok B, Ressler KJ, Binder EB. Max Planck Institut für Psychiatrie, April 2014

_Genetik Ist Glück eine Frage der Gene? Regelmäßig landet Dänemark in internationalen Statistiken zum Glücksgefühl ganz weit oben. Die Ursache dafür könnte in den Genen liegen. Daniel Lingenhöhl

Regelmäßig schneiden die Dänen bei einer Frage spitzenmäßig ab: Wenn es darum geht, welche Nation im Schnitt am glücklichsten ist. Neben den üblichen Faktoren wie Wohlstand, saubere Umwelt oder ausreichend Arbeitsplätze warfen Wissenschaftler um Eugenio Proto von der University of Warwick nun auch einen Blick auf die Gene der beteiligten Nationen, denn womöglich spielt auch dieser Faktor eine sehr wichtige Rolle bei der allgemeinen Zufriedenheit. Deshalb verglichen die Forscher die von verschiedenen Meinungsumfrageinstituten ermittelten Tabellen der Glückseligkeit mit dem jeweiligen genetischen Abstand der beteiligten 131 Staaten, also wie stark die durchschnittlichen Genome der einzelnen Populationen voneinander abweichen. Das Ergebnis überraschte Proto und Co: „Je größer der genetische Abstand zum Durchschnittsgenom der Dänen abwich, desto unglücklicher waren auch die Nationen im Mittel – unabhängig von Religion, tatsächlichem Wohlstand oder Kultur.“ Im zweiten Schritt untersuchten die Wissenschaftler daher den Zusammenhang zwischen dem Glücksgefühl und dem Auftreten einer Genmutation, die für die Serotoninaufnahme mitverantwortlich ist. Das Hormon ist an der Steuerung unserer Emotionen mitbeteiligt, und


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eine bestimmte Genvariante sorgt dafür, dass Serotonin nur schlecht an die entsprechenden Rezeptoren im Gehirn andocken kann. Tritt diese Mutation in einer Bevölkerungsgruppe verstärkt auf, so finden sich in ihr auch häufiger depressive Verstimmungen oder emotional instabile Personen. Unter den 30 Nationen, von denen Datensätze über das Auftreten dieser Mutation vorlagen, wiesen Dänemark und die Niederlande den geringsten Anteil daran auf: In diesen Staaten kommt als im Umkehrschluss sehr viel häufiger eine Genvariante vor, die die Serotoninaufnahme begünstigen und damit Glücksgefühle und Selbstzufriedenheit erleichtern. Dieser Zusammenhang hielt schließlich noch einem dritten Test stand, bei dem die Wissenschaftler die Glücksgefühle von US-Amerikanern untersuchten und deren Abstammung rekonstruierten. Auch hier stammten die glücklichsten Menschen von Vorfahren ab, deren genetische Ausstattung am stärksten jener der Dänen glich. © Spektrum.de

Kindliches Trauma hinterlässt bei manchen Opfern Spuren im Erbgut Misshandelte Kinder sind erheblich gefährdet, angst- oder gemütskrank zu werden, weil der einwirkende hohe Stress die Regulation ihrer Gene dauerhaft verändern kann. Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München dokumentieren nun erstmals, dass manche Varianten des FKBP5-Gens durch ein frühes Trauma epigenetisch verändert werden.

Bei Menschen mit dieser genetischen Veranlagung verursacht das Trauma eine dauerhafte Fehlregulation des Stresshormonsystems. Die Folge ist eine lebenslange Behinderung im Umgang mit belastenden Situationen für den Betroffenen, welche häufig zu Depression oder Angsterkrankungen im Erwachsenenalter führt. Die Ärzte und Wissenschaftler erwarten sich von ihren aktuellen Erkenntnissen neue, auf den einzelnen Patienten zugeschnittene, Behandlungsmöglichkeiten, aber auch eine verstärkte gesellschaftliche Aufmerksamkeit, um Kinder vor einem Trauma und dessen Folgen zu schützen.


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Viele Erkrankungen des Menschen sind das Ergebnis des Zusammenwirkens seiner individuellen Gene und der ihn umgebenden Umwelteinflüsse. Traumatisierende Ereignisse vor allem in der Kindheit stellen dabei starke Risikofaktoren für das Auftreten von psychiatrischen Erkrankungen im späteren Leben dar. Ob der einwirkende frühe Stress aber tatsächlich das Opfer krank macht, hängt entscheidend von dessen genetischer Veranlagung ab. Arbeitsgruppenleiterin Elisabeth Binder vom Max-Planck-Institut für Psychiatrie untersuchte daher das Erbmaterial von fast 2000 Afro-Amerikanern, die als Erwachsene oder auch bereits als Kinder mehrfach schwer traumatisiert wurden. Ein Drittel der Traumaopfer war erkrankt und litt mittlerweile unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Die Wissenschaftler wollten durch den Vergleich der genetischen Sequenzen von erkrankten und nicht erkrankten Traumaopfern den Mechanismus dieser Gen-Umweltinteraktion aufklären. Ihre Untersuchung ergab, dass tatsächlich das Risiko, an Posttraumatischer Belastungsstörung zu erkranken, mit steigender Schwere der Misshandlung nur in den Trägern einer speziellen genetischen Variante im FKBP5-Gen zunahm. FKPB5 bestimmt, wie wirkungsvoll der Organismus auf Stresshormone reagieren kann, und reguliert so das gesamte Stresshormonsystem. In Experimenten an Nervenzellen konnten die Max-Planck Forscher im Weiteren nachweisen, dass die von den Münchner Forschern entdeckte FKBP5-Variante für den betroffenen Menschen tatsächlich einen physiologischen Unterschied macht. Extremer Stress und somit hohe Konzentrationen an Stresshormon bewirken eine sogenannte epigenetische Veränderung: Von der DANN wird an dieser Stelle eine Methylgruppe abgespalten, was die Aktivität von FKBP5 deutlich erhöht. Diese dauerhafte Veränderung der DANN wird vor allem durch Traumata im Kindesalter erzeugt. So lässt sich bei Studienteilnehmern, die ausschließlich im Erwachsenenalter traumatisiert wurden, keine krankheitsassoziierte Demethylierung im FKBP5-Gen nachweisen. Torsten Klengel, Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Psychiatrie, erklärt die Studienbefunde wie folgt: „Traumata im Kindesalter hinterlassen je nach genetischer Veranlagung dauerhafte Spuren auf der DANN: Epigenetische Veränderungen im FKBP5Gen verstärken dessen Wirkung. Die mutmaßliche Konsequenz ist eine anhaltende Fehlsteuerung der Stress-Hormonachse beim Betroffenen, die in einer psychiatrischen Erkrankung enden kann. Entscheidend für das kindliche Traumaopfer ist aber, dass die Stressinduzierten epigenetischen Veränderungen nur dann auftreten können, wenn es auch diese spezielle DANN-Sequenz besitzt.“ Die aktuelle Studie verbessert unser Verständnis von psychiatrischen Erkrankungen als Folge der Interaktion von Umwelt- und genetischen Faktoren. Die Ergebnisse werden helfen, Menschen individualisiert zu behandeln, bei denen vor allem eine Traumatisierung in früher Jugend das Erkrankungsrisiko erheblich vergrößert hat.


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_Medizin

Warum haben wir bei Stress mehr Lust auf Süßes? Wer gestresst ist, hat oft Heißhunger auf Schokolade und andere Leckereien. Der Hirnforscher Achim Peters erklärt weshalb. Der Autor ist Hirnforscher und Diabetologe. An der Universität zu Lübeck leitet er die Forschergruppe „Selfish Brain“. Er hat zwei Bücher darüber geschrieben, wie das „egoistische Gehirn“ unter chronischem Stress das Gewicht beeinflusst. Glukose ist der wichtigste Treibstoff fur das Gehirn. Obwohl unser Denkorgan nur zwei Prozent des Körpergewichts ausmacht, verbraucht es die Hälfte unseres täglichen Bedarfs an Kohlenhydraten. Unter Stress benötigt es sogar noch mehr Energie, wie eine Studie meiner Arbeitsgruppe an der Universität zu Lubeck zeigt. Achim Peters Wir untersuchten 40 Probanden jeweils zweimal. Während einer der Sitzungen mussten sie vor Fremden eine zehnminütige Rede halten, in der anderen nicht. Am Ende jedes Termins bestimmten wir die Konzentrationen von Cortisol und Adrenalin im Blut der Teilnehmer und ließen sie an einem reichhaltigen Bufett eine Stunde lang essen. Wer zuvor eine Rede gehalten hatte, war nicht nur deutlich gestresster, sondern aß auch im Schnitt 34 Gramm Kohlenhydrate mehr – das sind fast zwei kleine Brötchen zusätzlich, ein Sechstel des Tagesbedarfs! Unter Stress braucht das Gehirn mehr Energie Der Grund: Unter akutem Stress braucht das Gehirn zwölf Prozent mehr Energie, sonst leidet unsere Leistungsfähigkeit. Und aus Kohlenhydraten gewinnt der Körper am schnellsten Energie. Tatsächlich schnitten die gestressten Probanden vor dem Essen in kognitiven Tests schlecht ab, erst danach kehrte ihre Leistungsfähigkeit zurück. Wenn wir Hunger haben, ist ein ganzes Netzwerk von Hirnregionen aktiv. Im Zentrum stehen der ventromediale und der laterale Hypothalamus, zwei Regionen im oberen Hirnstamm. Hier laufen aus dem ganzen Körper Informationen darüber zusammen, wie gut Nervenzellen, Blut, Muskel- und Fettgewebe sowie Verdauungstrakt mit Energie versorgt sind. Allerdings gibt es einen vorgeschalteten „Pförtner“, den Nucleus arcuatus im Hypothalamus. Wenn dieser registriert, dass dem Gehirn selbst Glukose fehlt, blockiert er die Informationen aus dem restlichen Körper. Deshalb greifen wir zu kohlenhydrathaltigen Nahrungsmitteln, sobald unser Gehirn meldet „Ich brauche Energie!“ – selbst wenn der restliche Körper gut versorgt ist. Schlemmern fürs Gehirn Wenn jemand zum Beispiel immer nachmittags Lust auf Schokolade bekommt, rate ich ihm, die Schokolade zu essen, um leistungsfähig zu bleiben und die Stimmung zu halten. Denn im Beruf ist man häufig gestresst, und das Gehirn hat einen gesteigerten Energiebedarf. Isst man dann nichts, gibt es zwei Möglichkeiten: Das Gehirn kann sich bei Glukose aus dem Körper bedienen, die eigentlich für Fett- und Muskelzellen gedacht war. Dafür muss es jedoch noch viel mehr Stresshormone ausschütten. Das macht uns nicht nur mies gelaunt, sondern erhöht


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auf Dauer wohl auch das Risiko, einen Herzinfarkt, einen Schlaganfall oder eine Depression zu bekommen. Alternativ kann das Gehirn an anderen Funktionen sparen – dabei sinken allerdings Konzentration und Leistung.

Lesen Sie mehr in Spektrum der Wissenschaft Spezial Biologie – Medizin – Hirnforschung 2/2014 Ernährung Um den erhöhten Bedarf des Gehirns zu decken, kann man entweder mehr von allem essen, wie es die gestressten Probanden in unserem Experiment getan haben – oder man macht es dem Körper einfach und isst vor allem süße Speisen. Schon Säuglinge haben eine ausgeprägte „Süßpräferenz“. Ihr Gehirn ist im Vergleich zum Körper extrem groß und braucht daher immens viel Energie. Die bekommt es etwa durch die Muttermilch, die viel Zucker enthält. Im Lauf der Zeit nimmt unsere Vorliebe für Süßes zwar ab, aber sie verschwindet selbst bei Erwachsenen nie ganz. Wie stark sie erhalten bleibt, ist individuell verschieden und scheint unter anderem von den Lebensumständen abzuhängen. So deuten Studien darauf hin, dass Menschen, die in der Kindheit viel Stress erleben, auch später noch eine stärkere Präferenz für Süßes haben. Energiemangel trotz Fettpolster Bei manchen Menschen kann sich das Gehirn seine Energie nicht gut aus den Körperreserven holen, selbst wenn genugend Fettpolster vorhanden sind. Die wichtigste Ursache dafur ist chronischer Stress. Damit ihr Gehirn trotzdem nicht unterversorgt wird, mussen diese Personen stets genug essen – und dabei in Kauf nehmen, dick zu werden. Dennoch essen auch sie bedarfsgerecht: Sie orientieren sich am Bedarf des Gehirns, nicht des restlichen Körpers. Oft ist der einzige Ausweg, eine dauerhaft belastende und stressige Umgebung zu verlassen. Dann braucht das Gehirn wieder weniger Nahrung, und die Person kann abnehmen. Twa 80 Prozent der Deutschen denken, dass Übergewichtige mehr essen, als sie eigentlich brauchen, weil sie zu wenig Disziplin haben. Aus diesem Grund werden „Dicke“ oft diskriminiert. Tatsächlich gibt es keinen wissenschaftlichen Beleg dafur, dass Menschen dauerhaft mehr essen, als sie benötigen, also aus reiner Lust. Vier große Studien mit Kindern und Erwachsenen kamen zu dem Ergebnis, dass sich Übergewichtige beim Essen sogar besser zügeln können als Normalgewichtige. Vermutlich haben sie das gelernt, um den gesellschaftlichen Druck, der auf ihnen lastet, etwas zu lindern – doch der Preis dafür ist ständiger Hunger.


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Literaturtipps Peters, A.: Mythos Übergewicht: Warum dicke Menschen länger leben. Überraschende Erkenntnisse der Hirnforschung. C. Bertelsmann, Munchen 2013 Warum Übergewichtige nicht undiszipliniert essen und warum ein paar Pfunde zu viel sogar gesund sein können Peters, A.: Das egoistische Gehirn: Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft. Ullstein, Berlin 2011 In diesem Buch erklärt der Autor erstmals ausfuhrlich, wie Stress und Übergewicht zusammenhängen.

_Forschung Psychotherapie-Wissenschaft Jg. 4, Heft 1 (2014): Die therapeutische Beziehung Inhaltsverzeichnis http://www.psychotherapie-wissenschaft.info/index.php/psy-wis/issue/view/153 Heftinhlt Editorial

Rosmarie Barwinski

Originalarbeiten (Themenheft) Neurowissenschaftliche Aspekte der therapeutischen Beziehung (6-18) Damir Lovic Beziehungen und Selbst-Beziehungen der Körperlichkeit (19-27) Kurt Mosetter, Reiner Mosetter Mentalisierungsgestützte Eltern-Kind-Intervention: ein bindungsorientierter Therapieansatz im Kontext traumatisierter Familiensysteme (28-34) Marianne Rauwald Die Bedeutung der Übertragung und Gegenübertragung im Alltag und in der Psychotherapie (35-42) Hans Holderegger Berichte: 21. Weltkongress der IFP 9.-11. Mai 2014, Shanghai (43-46) Peter Schulthess Rezensionen: Naema Gabriel: Sinus (47-47) Rosmarie Barwinski

http://www.psychotherapie-wissenschaft.info/index.php/psy-wis


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_Das

Buch

Mensch und Willensfreiheit Marco Stier Willensfreiheit

„Ein Pfund Menschenhirn gab, außer vielem Wasser, zwei Drachmen Laugensalzgeist, 1 2/3 Unzen ranziges Öl, 40 Gran flüchtiges Salz.“ Mit diesen Worten des deutschen Naturforschers Samuel Thomas von Soemmerring (1755-1830) beginnt das amüsant und verständlich geschriebene Buch von Marco Stier, der als Philosoph und Historiker arbeitet. Wie kann von einer so unspektakulären Stoffmischung ein freier Wille ausgehen? Viele Forscher bestreiten, dass es den freien Willen gibt. Der Philosoph Marco Stier kennt ihre Einwände. „Wenn die Hirnforscher Recht haben, dann ist das Gefühl, sich nach reiflicher Überlegung frei entscheiden zu können, nur eine Illusion“, stellt er fest. Stier geht auf die Versuche des amerikanischen Physiologen Benjamin Libet (1916-2007) ein, die unter Neurowissenschaftlern und Philosophen noch immer zu den meistdiskutierten Experimenten zählen. In den 1980er-Jahren hatte Libet die zeitliche Abfolge zwischen einer Handlung, ihrer Einleitung auf neuronaler Ebene und dem dazugehörigen bewussten Willensakt untersucht. Die Versuchspersonen bewegten ihre Hände zu einem selbst gewählten Zeitpunkt, den sie an einer Uhr ablesen konnten. Währenddessen wurde die elektrische Aktivität der Muskeln und des Gehirns aufgezeichnet. Das Ergebnis war für Libet selbst überraschend. Das Gehirn leitet die Bewegung etwa 500 Millisekunden vor ihrem Beginn ein. Der Willensakt jedoch, also die Entscheidung, die Hand zu bewegen, wird den Teilnehmern erst 200 Millisekunden vor Ausführen der Bewegung bewusst – also nachdem das Gehirn die Handlung bereits eingeleitet hat. Viele Wissenschaftler haben hieraus weitreichende Schlüsse in Sachen Willensfreiheit gezogen. Ihrer Meinung nach zeigen die Libet-Experimente, dass menschliches Handeln nicht von bewussten Entscheidungen abhängt, sondern von unbewussten Hirnprozessen. Dem Bewusstsein um sieben Sekunden voraus Aktuelle Studien scheinen das zu bestätigen. Mithilfe der funktionellen Magnetresonanztomografie zeigte ein Team um John-Dylan Haynes, Professor am Bernstein Center for Computational Neuroscience in Berlin: Die Entscheidung, ob ein Versuchsteilnehmer den linken oder rechten Zeigefinger bewegen wird, fällt bereits sieben


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Sekunden, bevor er sich dessen bewusst wird. Demnach verfügen unbewusste Vorgänge im Gehirn darüber und stellen den Menschen dann vor vollendete Tatsachen. Stier erkennt diese Ergebnisse an, denkt aber weiter. Menschen, schreibt er, seien in ihrem Dasein auf Begriffe wie „Willensfreiheit“, „Kontrolle“ und „Verantwortung“ angewiesen. Das deute möglicherweise darauf hin, dass sich ihr Leben auf einer Ebene abspiele, auf der es gar nicht um physikalische Ursachen gehe. Menschen hätten Gründe für ihr Handeln, und auf die käme es an. Daraus ergibt sich schon die nächste Frage: Inwiefern sind Gründe etwas anderes als Ursachen? Ausführlich beleuchtet Stier die verschiedenen philosophischen Positionen hierzu. Die Deterministen gehen davon aus, dass in dieser Welt immer Bedingungen existieren, die festlegen, was in der Zukunft geschehen wird. Da alle Ereignisse durch Vorbedingungen eindeutig festgelegt seien, gebe es keinen freien Willen. Libertäre lehnen diese Sichtweise ab; ihrer Meinung nach lässt sich die Freiheit von äußeren und inneren Zwängen erreichen. Andere wiederum folgen dem Konzept der „kompatibilistischen Willensfreiheit“: Sie sind überzeugt davon, freier Wille und Determinismus seien miteinander vereinbar. Den Kompatibilisten zufolge ist der Mensch nicht frei, sobald er gezwungen wird, etwas zu tun. Eine Willensfreiheit erlebe er hingegen dann, wenn er aus seiner persönlichen Perspektive heraus die Überzeugung gewinne, sich entscheiden zu können. Ob irgendwelche hypothetischen Ursachenketten hierbei seinen Willen bestimmen, nehme er nicht wahr und sei auch nicht unbedingt interessant. Der postulierte Zwang des Determinismus ist nach Ansicht der Kompatibilisten nicht vergleichbar mit dem Zwang, den man erfährt, wenn man unter körperlicher oder seelischer Bedrohung handeln muss – etwa als Geisel. Ohne Verantwortung keine funktionierende Gemeinschaft Gibt es die Willensfreiheit nun oder gibt es sie nicht? Und haben die hochgelehrten Argumente dafür oder dagegen überhaupt etwas mit dem wirklichen Leben zu tun? Stier holt seine Leser auf den Boden der Tatsachen zurück. Im Alltag ginge es meist nicht um Theorien der Kausalität, sondern um ein funktionierendes Dasein in der Gemeinschaft. „Jemand muss verantwortlich sein, sonst ist uns unwohl“, fasst der Autor die Ergebnisse von Befragungen zusammen. Stier will keine abschließenden Antworten geben, sondern den Leser selbst entscheiden lassen. „Wenn Sie nun (…) ein wenig in Verwirrung geraten sind, dann ist das überhaupt nicht von Nachteil“, resümiert er. Sein Buch solle lediglich Anregungen zum Nachdenken geben. Und die seien wichtig, schließlich gehe es beim Problem des freien Willens um nahezu alle Facetten des menschlichen Zusammenlebens. Denn die Frage, ob und wie wir für unsere Handlungen geradestehen müssen oder nicht, sei von elementarer Bedeutung für das Miteinander. (Claudia Borchard-Tuch ) Titel: Autor: Verlag: ISBN: Preis:

Willensfreiheit Marco Stier Ernst Reinhardt, München 2014 9783497024346 Fr. 29.90


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Elisabeth Baender-Michalska und Rolf Baender haben aus vielfältigen Erfahrungen mit stress- und schmerzgeplagten Menschen ein Konzept entwickelt, das dem negativen Stress und seinen körperlichen Folgen entgegenwirkt. Hierfür nutzen sie das Prinzip des Embodiments: Nicht nur die Psyche beeinflusst den Körper – auch umgekehrt wirken sich die Selbstwahrnehmung und der Umgang mit dem Körper auf die Psyche aus. 2014. 311 Seiten, 124 Abb., 25 Tab., kart. Fr. 44.90 ISBN 978-3-7945-3062-5


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_zu guter Letzt

Hoch hinauf Unter dem weiten Himmel Sturmgetöse und die Klageschreie der Affen. Vögel kreisen über weissglitzernden Sandbänken an den endlosen Wogen des Grossen Stroms. Ringsum das Rascheln fallenden Laubes. Ganz auf mich gestellt erklimme ich den Turm: zermürbt vom Herbstschmerz


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zehntausend beschwerlicher Meilen, gepeinigt von hundert Jahren voller Gebrechen – mit Reif überzogen bereits das Schläfenhaar vor Kummer und Gram. Es ist zum Verzweifeln. Und dann soll ich auch noch das Trinken aufgeben! Du Fu

(aus dem Jahre 766) in «Windgeflüster», C.H. Beck 2013

_Schluss.Bild


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