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«texte» Nr. 6, Dezember 2012
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Foto ©Alois Altenweger
Das Online-Magazin für psychologische Themen, Schicksalsanalyse und therapeutische Arbeit Herausgeber: Alois Altenweger, Szondi-Institut Zürich Nr. 6, Dezember 2012
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Inhalt Artikel - Ein turbulentes Leben, gespiegelt in Träumen (Rezension) Alois Altenweger -Neurodermitis in der Schicksalsanalyse Susann Urfer Küng und Ines Grämiger
-Psychologie der Gewalt: Der Krieger in uns Roland Weierstall, Maggie Schauer, Thomas Elbert
-Depression und Manie als Zeitkrankheiten Thomas Fuchs -Stadtleben: Psychisch krank durch Ausgrenzung Caroline Ring
Bücher Dazu fällt mir eine Geschichte ein Direkt-indirekte Botschaften für Therapie, Beratung und über den Gartenzaun
Über den Tellerrand hinaus Was gibt’s Neues bei der Daseinsanalyse? Aus dem Bulletin der Gesellschaft für hermeneutische Anthropologie und Daseinsanalyse Ausgebufft oder ausgepowert? Ältere haben weniger Stress „Sie bewerben sich also um unsere freie Stelle…“ Sexistisches Verhalten im Alltag: Eine Heidelberger Sozialpsychologin weist deutliche Effekte selbst bei scheinbar geringfügiger Bedrohung nach
Mitteilungen Zu guter Letzt «Heim» von Gottfried Benn
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Das Online-Magazin für psychologische Themen, Schicksalsanalyse und therapeutische Arbeit
Dezember 2012
Szondi-Institut Zürich
Die Verantwortung für den Inhalt der Texte, die vertretenen Ansichten und Schlussfolgerungen liegt bei den Autoren.
Szondi-Institut, Krähbühlstrasse 30, 8044 Zürich, www.szondi.ch, info@szondi.ch, Tel. 044 252 46 55
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Artikel
Rezension von Arthur Schnitzlers Buch der «Träume»
Ein turbulentes Leben, gespiegelt in Träumen Alois Altenweger
Träume waren bei Arthur Schnitzler ein Marktplatz der verborgenen Wünsche, ein inneres Diskussionsforum, ein Laboratorium der Leidenschaften, ein Spiegelkabinett des Daseins und ein Begegnungsraum mit seinen Vorfahren. Sein ganzes Leben lang hat Schnitzler seine Träume notiert. Mal täglich, mal in grösseren Abständen, mal unter Druck der täglichen Ereignisse, mal behaglich räsonierend. Zwischen 1921 und 1931 diktierte er seine Träume einer Sekretärin, mit dem Ziel, diese Texte einmal unter dem Titel «Träume – Das Traumtagebuch 1875–1931» zu veröffentlichen.
Elf Tage vor seinem Tode las er noch seiner Freundin Suzanne Clauser aus dem 428-seitigen Typoskript «Träume» vor, so wie er es ziemlich regelmässig mit seinen Manuskripten vor der Veröffentlichung zu tun pflegte. 81 Jahre später sollte es zur Publikaktion kommen. Die „Träume“ liegen jetzt im WallsteinVerlag herausgegeben vor. Zum Formalen: Das Buch umfasst bei gesamthaft 493 Seiten rund 750 Träume verschiedenster Länge auf 268 Seiten. Die restlichen Seiten sind Anmerkungen, Nachwort und Personenregister. Wie ist das Buch einzuordnen? Dies kann in dreierlei Hinsicht geschehen, nämlich lebensgeschichtlich, literarisch und psychologisch. Wer sich mit Schnitzler als Schriftsteller befasst, wird tunlichst bei der Lektüre der Träume das Tagebuch Schnitzlers und eine umfassende Biographie wie diejenige von Giuseppe Farese aus dem Beck-Verlag (1999) neben sich haben, denn – und hier ein grosses Lob an die Herausgeber der «Träume», Peter Michael Braunwarth und Leo A. Lensing – die dem Buch angefügten, höchst akribischen «Anmerkungen» von 138 Seiten zu den einzelnen Träumen (Recherchearbeit vom Besten!) bringen Details, die man gerne mit den Ereignissen aus Schnitzlers Leben, mit seinem Schreiben und seinen Beziehungen verknüpft nachlesen möchte. In den Träumen kommt zum wach erlebten Dasein eine parallele Bearbeitung des Alltags dazu, die eben traummässig bruchstückweise – oft nüchtern trostlos, dann wieder witzig-ironisch – erzählend-memorierend daherkommt. Schnitzler «erfährt» so häufig in seinen Träumen, was er eigentlich gedacht haben würde oder getan hätte, wenn's Anstand und Sitte erlaubt hätten. Aber auch Sorgen im Haushalt, Streit mit seiner Frau, Hickhack mit 4
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Schriftstellerkollegen, Schauspielern und Schauspieldirektoren widerspiegeln sich in den Träumen. Hin und wieder gibt er Deutungen dazu ab, die sich eng an jüngst Erlebtes anlehnen und, wie er mehrmals betont, nicht nach Freud verlaufen, sondern nach eigenem Gusto und eigener «Traumtheorie». Literarisch gesehen, ist das Buch letztlich ein moderner Roman in der Art von «Ulysses» oder des Nouveau Roman. Die «Träume» können wie ein innerer Monolog, wie Schnitzler es konsequent schon in seiner Erzählung «Leutnant Gustl» oder eingestreut in «Fräulein Else» realisiert hat, gelesen werden. Träume werden zudem als Erzählmaterial in «Fräulein Else» verwendet, die ihr eigenes Begräbnis träumt, analog zu den «Eigenes-Begräbnis-Träumen» von Schnitzler selbst. Die «Traumnovelle» ist ein weiterer Text, in dem ein Traum von Albertine und die fast tödlich ausgehenden, zeitlich parallelen Nachterlebnisse ihres Mannes Fridolin gleich gewichtige und gleich wirksame Räder an der gemeinsamen Schicksalsachse des Ehepaars darstellen. Ja, der Traum wird streckenweise lustvoller, grausamer und verstörender empfunden als die Erlebnisse Fridolins, in denen er scheitert, während Albertine in ihrer Traum-Realität ihre sexuellen Wünsche als auch ihre aggressiven Triebe auslebt. Psychologisch gesehen sind die «Träume» eine Fundgrube für angehende Psychotherapeuten tiefenpsychologischer Richtungen, das heisst solcher, die das Konzept des Unbewussten in ihrer therapeutischen Arbeit und im Deuten von Träumen voraussetzen. Das sind vorab freudsche Psychoanalytiker, Jungianer und Schicksalsanalytiker nach Szondi, die in den Träumen Expressionen des persönlichen und des kollektiven Unbewussten sowie des familiär-ahnenhaften Unbewussten der Schicksalsanalyse finden. Schliesslich ist der Traum nach Freud der «Königsweg zum Unbewussten». Die Träume Schnitzlers liefern nun reichlich Material in allen drei Qualitäten des Unbewussten; Material, das auch ohne Assoziationen des Träumers plausibel gedeutet werden kann. Dabei muss hier ausdrücklich festgehalten werden, dass es sich erstens um Träume handelt, die Schnitzler ausgesucht hat und die ihm aus irgendeinem aktuellen Grund notierwürdig erschienen, und zweitens dass es sich bei dieser Art von Deuten ohne Klient um ein Tasten im Bereich mehrerer Möglichkeiten, um das Erörtern von Plausibilitäten handelt, so wie es sich auch in der realen Sitzung zwischen Klient und Therapeut abspielt, wobei hier zum therapeutischen Dialog noch die «störenden» und dynamischen Elemente des Widerstandes gegen eine Deutung, d.h. gegen den Therapeuten, und/oder das Akzeptieren einer Deutung aus Zuneigung zum Therapeuten verfälschend dazukommen. Elemente also, die bei der Arbeit an Schnitzlers Träumen ohne den «Klienten» Schnitzler fehlen. Gehen wir ans Eingemachte: Schnitzler selbst beschäftigte sich mit gelinder Skepsis mit der Psychoanalyse, las schon im Jahre 1900 die «Traumdeutung» von Sigmund Freud und formulierte 1926 in einem Zeitschriftenartikel sein Unbehagen u.a. mit dem Hinweis, «…die Psychoanalyse gräbt in den seltensten Fällen so tief, als sie glaubt». Insbesondere entwickelt er eine Ergänzung der tiefenpsychologischen Theorie durch die Schaffung des Begriffs vom «Mittelbewusstsein». Solches schlägt sich auch in einem Traum nieder, in dem er den Psychoanalytiker und Weggefährten Freuds Theodor Reik trifft und – wir wiederholen – im Traum feststellt: «Ich spreche es aus: Der nächste grosse Mann wird der sein, der der Psychoanalyse ihre genauen (?) Grenzen anweist, was zu meiner Verwunderung auch Reiks Beifall findet.» Wer kann wohl der nächste grosse Mann sein? Doch nur derjenige, über den Reik das Buch «Schnitzler als Psycholog» – übrigens noch heute mit Gewinn zu lesen – verfasst hat. Rivalisieren mit Freud! Dem aufmerksamen Leser bietet sich eine ganze Reihe von Träumen, so beispielsweise ein Besuch bei Goethe, die der Wunscherfüllung Schnitzlers dienen und vom Ehrgeiz, mit dem anderen gleichzuziehen, bestimmt sind. Nicht erstaunlich ist, dass dies mit der Entwertung des «Konkurrenten» verknüpft wird. Dass Schnitzler dabei noch Schiller vereinnahmt, rundet das Bild ab. So heisst es im «Goethe-Traum» kurz und 5
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bündig: «Bin in einer Gesellschaft mit Goethe, der klein, unansehnlich, dem Hanslick [gefürchteter Wiener Musikkritiker] ähnlich ist. Ich, im Schillermantel, biete ihm die Hand.» Nur am Rande sei vermerkt, dass sich in diesem und anderen Träumen für Psychoanalytiker – und insbesondere für Adlerianer – reichlich Hinweise auf einen latenten Minderwertigkeitskomplex finden, der schon bei bescheidener Kritik an Schnitzlers Arbeit zu ärgerlichen Reaktionen führen konnte. Auch die Tatsache seines zunehmenden und – für den Musiker Schnitzler! – höchst störenden Ohrenleidens müsste für die an Alfred Adlers Individualpsychologie orientierten Psychotherapeuten als effektive Organminderwertigkeit Anlass zu weiteren biographischen Untersuchungen geben. Beispielsweise wie kompensatorische und überkompensatorische Reaktionen Schnitzlers – in den Träumen vorgespurt – im Leben Wirklichkeit werden. Für die Psychoanalytiker freudscher Richtung finden sich die «klassischen» Themen, insbesondere alles, was mit Sexualität zusammenhängt, in Hülle und Fülle. Beispielsweise: «Im Schlafrock auf der Stiege. Lili [seine Tochter] will allein auf den Franz Josefbahnhof gehen. Ich verweise sie zur Ruhe. Da drin im Salon schlafen meine Eltern.» Ergänzung durch Schnitzler: Neulich einmal träumte ich: «Neue Wohnung. Ich habe ein helles, schönes Zimmer, nur ärgerlich wegen des Ausgangs; man sagt mir, Besuche könnten mich ja durch das anschliessende Wartezimmer meines Vaters verlassen.»
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Einem Psychoanalytiker fällt zuerst einmal die elterliche Dominanz auf: Vater und Mutter schlafen im Salon, man muss deswegen still sein. Da drängt sich die Frage auf, was soll verschwiegen (= still sein) werden? Nun ist der Salon nicht das intimere Schlafzimmer, sondern in damaligen Bürgerwohnungen das bessere Zimmer mit den guten «geerbten» Möbeln, in dem Personen empfangen werden, mit denen man verkehrt. Im Salon finden auch die Soirées statt, dort pflegt man Unterhaltung, aber man schläft nicht dort. Will die Traumregie zeigen, wie unterhaltsam das gemeinsame «Schlafen» der Eltern gewesen ist (Verkehr haben?) und dass Schnitzler gemäss seines erinnerten Vortraumes immer noch durch das vom Vater kontrollierte Wartezimmer von den Freuden des Salons ausgeschlossen ist? Der von Freud postulierte «Ödipus-Komplex» (die sexuellen Wünsche des Kindes gegenüber dem gegengeschlechtlichen Elternteil) lässt grüssen. Dass die Traumregie des Unbewussten die Schnitzlersche Tochter Lili eingefügt hat, ist ein weiterer Hinweis auf die Kindheit.
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Wenden wir uns nun den schicksalsanalytischen Aspekten der Schnitzlerschen Träume zu. Vorauszuschicken ist, dass die Schicksalsanalyse in den Träumen Botschaften von Vorfahren und Ahnen liest, die den Träumenden in aller Regel hinweist einerseits auf ungelöste, über Generationen weitergegebene Konflikte mit der impliziten Forderung, Lösungen zu suchen. Andererseits sind es die hartnäckig vorgetragenen Ansprüche der «Ahnen» – faktisch in der biologischen Gestalt von erbmässig weitergegebenen Genkonstellationen –, die sich im Alltag wiederkehrend aufdrängen, und zwar als Wahlhandlungen, die dann bei näherer Betrachtung weder vernünftig noch förderlich, noch nützlich sind. Unbewusst determinierte Zwangswahlen nennt dies Leopold Szondi, der Begründer der Schicksalsanalyse. Wie sehen nun S chnitzlersche Träume unter diesem Blickwinkel aus? Lesen wir einen Teil des «BernsteinpfeifenTraumes» vom 24.10.1875: «Plötzlich sah ich mich vor einem alten eigentümlichen Hause [Unterstreichungen A. Altenweger] mit einem Knaben, ich glaube es war Josef Kranz [Mitschüler, Rivale um eine Jugendliebe, schrieb nach Schnitzlers Ansicht die besseren Liebesgedichte]. Wir gingen hinein, ich weiss nicht, was ich drin tun sollte. Plötzlich war ich allein in einer dunklen Kammer. Die Türe ging schwer auf, endlich war ich in einem finsteren Gang, und noch eine Türe, ich war draussen. Ich befand mich in einem Saal. Viele gläserne Kästen mit Bernsteinpfeifen standen herum, und viele Leute befanden sich im Saal. Rechts von mir stand sie [die Jugendliebe], links Professor Blume [Prof. in Geschichte und Deutsch]. „Guten Tag, Arthur, wollen Sie Pfeifen kaufen?“ fragte er. „Na, aber meine Freunde Gauermann [populärer Biedermeierzeit -Maler] und Saurüben könnten schon da sein. Führen Sie mich zu Ihrem Papa.» Ganz grundsätzlich stellt sich die Frage, welche bio-psychischen Dispositionen der Ahnen bei Schnitzler zur «Auferstehung» und zur Wiederkehr drängen? Mutmasslich dürften es u.a. ein Minderwertigkeitsgefühl der jüdischen Vorfahren und eine damit parallel verlaufende Abwehrstruktur gegen die in aller Regel feindliche Umwelt in Form eines unterschwellig destruktiven und sich rächenden Verhaltens sein; in der schicksalsanalytischen Bedürfnis- und Trieblehre wird dieser «Negativismus» als kainitische Option bezeichnet, wobei Kain als Metapher dafür steht, dass Anerkennung und Wertschätzung (subjektiv) als viel zu gering empfunden werden. In der schicksalsanalytischen Trieb- und Bedürfnislehre ist die von Schnitzler selbst diagnostizierte Hypochondrie eine «klassische» Sorge des «Kain», die ihn auch in Träumen beschäftigt. Doch «Kain» ist zu allem überragend schöpferisch und in hohem Masse eifersüchtig und zugleich böse, hinterhältig und verschlagen. So kommentiert Schnitzler selbst einen Traum wie folgt: «Dass ich grausam oder tückisch bin, werde ich sicher nie träumen. Dass die psychische Kains-Disposition bei Schnitzler eine Traumrolle spielt, wird auch dadurch deutlich, dass der bedeutende Schauspieler Josef Kainz, dem Schnitzler in «Das weite Land» die Rolle des Hofreiter «auf den Leib geschrieben» hat, siebenmal in Träumen vorkommt, so dass Name «Kainz» unschwer als Problem-Marker gelten kann. Ein Traum-Beispiel vom 3. Januar 1911: «Hatte gestern wieder von Kainz geträumt. An seinem Krankenbett, er wusste nicht, dass er sterben müsste.» (Kainz ist 1910 gestorben!) Kommentar von Schnitzler: Heut Nacht wieder böse Träume von Krankheiten. Wache aber ganz frisch auf. – Frage: Von welchen Krankheiten wird Schnitzler im Traume heimgesucht? Nun zu den einzelnen Elementen des «Bernsteinpfeifen-Traumes», die auf einen Ahnentraum schliessen lassen: Was spielt sich in dem «alten eigentümlichen Hause» ab? Ist es die Klinik, die vom Vater gegründet wurde? Sind dort die in Mutters Familie beheimateten psychisch Kranken und deren Vorfahren «versorgt»? Um zum familiären Unbewussten zu gelangen, gilt es, finstere Gänge – d.h. Schicksalsschläge – zu bewältigen (analog der Bemerkung, mit der Luther auf dem Reichstag zu Worms 7
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1521 vom Landsknechtführer v. Frundsberg begrüsst wurde: «Mönchlein, Mönchlein, du gehst einen schweren Gang»), bevor man endlich drinnen (nicht draussen wie die Traumregie vorgaukelt) im Ahnensaal ist, in dem sich viele Leute befinden. Und sogleich wird Schnitzler von einem Professor begrüsst, der ihm Ahnengeschichten deutsch und deutlich erzählen könnte, die im Saal in den zahlreichen Vitrinen in Form von Bernsteinpfeifen ausgestellt sind. Unübertrefflich, wie die Traumregie in knappster Weise Inhalte zusammenzieht. Denn was zeichnet Bernstein aus? Vor Urzeiten als Harz aus verletzten Bäumen geflossen, quasi versteinert, nicht selten mit einem Einschluss. Der Professor fragt ihn, ob er eine Pfeife kaufen möchte. Welche Ahnen-Pfeife er wohl rauchen/spielen soll? Da rechts neben Schnitzler seine Jugendliebe steht und links der Professor, der von ihm verlangt, er solle ihn zu seinem Vater führen, müssten wir mutmasslich die Beziehung zum Vater, die Liebe (Sex) in der Jugend, den Umgang mit Autoritäten und entsprechende Reaktionsbildungen wie Krankheiten und psychische Störungen in den verwandten Familien ansehen. (Dass Freudianer die Bernsteinpfeifen mit Penissen gleichsetzen und die Versteinerung des Harzes evtl. als Angst vor Impotenz betrachten würden, sei der guten Ordnung halber auch erwähnt.) Die Nennung von [Friedrich] Gauermann, dem Biedermeierzeit-Maler – 13 Jahre vor dem Traum gestorben! – lässt schliessen, dass sich die Ahnenansprüche offenbar im Biedermeier, also in der Zeit bis Mitte des 19. Jahrhunderts, wieder «saumässig» meldeten, im Vater und im Sohn, denn eine Person namens «Saurüben» haben die Herausgeber nicht gefunden. Im weiteren Zusammenhang mit dem «Ahnenzwang» sollte untersucht werden, was die Träume zu der in der Familie und im Freundschaftskreis auftretenden Suizidalität an Aufklärung beizusteuern hätten. Hier noch ein Traum von 1882: «Verworrenes Zeug, das ich wachend vor mir sah: Einen Tanzsaal [Unterstreichungen A. Altenweger], in dem plötzlich ein Skelett oder sowas Ähnliches eintritt, und Eugen Brüll [Cousin eines Jugendfreundes] stand plötzlich zwar sehr wohlgelaunt, aber geköpft vor meinen Augen.» Der Arbeitsweise des Unbewussten entsprechend ist der Beginn mit «verworrenem Zeug». Damit soll der Trauminhalt von vorneherein abgewertet werden, in dem Sinne als alles, was folgt, nur verwirrlich ist und keine weitere Bedeutung hat. Nun, diese Zensur gelingt nicht, denn der Tanzsaal ist der Saal, in dem die Ahnen (das Skelett!) nach wie vor nach alten Melodien und Musikstücken tanzen, auch wenn dies zum «Brüllen» ist. Aber: signalisiert wird, dass die alten Lieder immer noch gespielt werden und die Ahnen putzmunter tanzen. Um dieser Aufführung ein Ende zu bereiten, wird geköpft. Wer dabei wohlgelaunt ist, sei dahingestellt. Schliesslich noch eine Traumvignette, die fast klassisch einen Ahnentraum erfasst: «Ich muss auf einem Post- oder Meldungsamt (etwa am Ballplatz) nicht nur Heimats- und Geburts-, sondern auch Todesschein vorlegen. Habe ihn, versiegeltes Couvert, erbrochen, feuchte Knöchelchen, Totenkopf wie gezeichnet darin, empfinde Ekel. Mit Richard [Beer-Hofmann, Schriftsteller]und Brandes [Georg, Literaturhistoriker]. Ich ärgere mich über den lauten Ton Richards. Brandes sagt: Aber Liebster, wiederholen Sie doch nicht alles» [Unterstreichung A. Altenweger]. Schnitzler fügt der Traumnotiz bei, dass er zu dieser Zeit die Traumdeutung von Freud gelesen habe. Gehen wir nur auf zwei Mitteilungen im Traum ein: erstens befindet sich das Meldeamt «etwa am Ballplatz», der heute Ballhausplatz heisst, aber das gleiche meint, in dem eben der Ahnenball stattfindet, zu dem sich Schnitzler anmelden sollte, und zweitens die Mahnung von Georg Brandes, er solle doch nicht alles wiederholen, also sich nicht dem Wiederholungszwang der Ahnen ausliefern. (Die ausführliche Deutung dieses Traumes würde Seiten füllen.) Letztlich stellt sich die Frage, nach welcher Bernsteinpfeife Schnitzler sein Leben lang tanzen musste? Waren es sexuelle Obsessionen, war es der wütende «Kain», der sich vom Vater verschmäht sah, oder 8
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waren es unstillbare Bedürfnisse nach gesellschaftlicher Anerkennung? Oder ist es ihm mittels seiner immensen schriftstellerischen und sehr erfolgreichen Arbeit gelungen, sich aus dem Wiederholungszwang der Ahnen zu lösen? Schliessen wir mit einem «Goethe-Traum»: «Sitze mit Goethe und Eckermann an einem Tisch. Zwischen Goethe und Eckermann irgend ein junges Wesen (P.M.?), Goethe tätschelt ihren Nacken; ein ganz junger Bursche kokettiert auch mit ihr. Ich weise Goethe hinaus. Er geht ruhig. Ich bereue, eigentlich aber habe ich Eckermann hinausgewiesen und sage zu Goethe im Bedürfnis gebildet zu reden: „Bitte mir zugute zu halten“.» Nun, wir halten Arthur Schnitzler manches zugute, auch sein Bedürfnis, mit Goethe auf Augenhöhe zu verkehren. Was gäbe es noch anzumerken? Wünschenswert wäre ein Stammbaum der Familie Schnitzler und der durch Heirat zugewandten Personen, insbesondere der Familien von Suppé und Markbreiter, aus der die Mutter von Arthur Schnitzler stammt. Ferner könnte man sich noch eine knappe Krankengeschichte Schnitzlers sowie als Ergänzung des Personenregisters eine Übersicht über seinen Bekannten- und Freundeskreis (Hugo v. Hofmannsthal!), seine weiblichen Bekanntschaften sowie von Personen aus der Theaterszene Wiens und Berlins vorstellen. Einen Dank an die Herausgeber für ihr Nachwort, in dem sie Schnitzlers Traumleben umreissen. Schliesslich ist als finaler Pluspunkt das sorgfältig edierte Personenregister, das sich als unentbehrlich erweist, zu erwähnen. Im Übrigen hätte das schöne Buch ein Lesebändchen verdient. Alois Altenweger
Das Buch Titel: Arthur Schnitzler «Träume» Das Traumtagebuch 1875–1931 Herausgeber: Peter Michael Braunwarth, Leo A. Lensing Verlag: Wallstein Verlag, Göttingen 2012 ISBN: 978-3-8353-1029-2 Preis: Fr. 46.90
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Neurodermitis in der Schicksalsanalyse Susann Urfer Küng und Ines Grämiger
Vorwort Die Schilderung ihrer Krankheit Neurodermitis durch Anna Wolff wurde von Susann Küng anlässlich des 5. Lötschentaler Workshops zusammengefasst und wird hier dem schicksalspsychologischen Kommentar von Ines Grämiger vorangestellt. So kann sich der Leser einen Eindruck über die qualvolle Symptomatik dieser Krankheit verschaffen. Der daran anschliessende schicksalspsychologische Kommentar aber geht über die Erklärungsversuche und psychisch-medizinischen Deutungen von Anna Wolff hinaus, denn im Kommentar werden sowohl tiefenpsychologische Hypothesen zur Krankheitsgenese behandelt als auch Heilswege der schicksalsanalytischen Therapie dargelegt.
Zusammenfassung von Susann Urfer Küng
Inhalt Erläuterungen zu verwendeten Begriffen Ursachen der Neurodermitis Wichtige Faktoren im Kampf gegen die Neurodermitis Autobiographie von Anna Wolff Klinikaufenthalt Auseinandersetzung mit der Vergangenheit
Erläuterungen zu verwendeten Begriffen Neurodermitis auch als endogenes oder atopisches Ekzem bezeichnet, gehört genau wie Heuschnupfen und allergisches Asthma zu den Erkrankungen des atopischen Formenkreises und bezeichnet eine chronische Erkrankung der Haut. Neurodermitis leitet sich von den Worten „Neuron“, Nerv, und „Dermitis“, Entzündung der Haut ab. Sie macht sich durch extrem trockene Haut, quälenden Juckreiz, Rötungen, Nässe und eine starke Verschuppung der Haut bemerkbar und läuft in „Schüben“ ab. Meist sind vor allem die Augenpartien, der Hals, die Armbeugen und die Kniekehlen betroffen, aber es gibt durchaus Fälle, bei denen auch andere Körperteile oder sogar der ganze Körper mit Ekzemen überzogen sind. Oft tritt sie zugleich mit anderen Erkrankungen des atopischen Formenkreises auf. Anna beschreibt ihr Leiden während eines Klinikaufenthaltes folgendermassen: „Ich hatte in der vergangenen Nacht noch mehr gekratzt als in der vorherigen und war immer wieder von meinem elenden Herumgeschabe wach geworden… Ich erhob mich und torkelte schlaftrunken zum Spiegel, sah mein Gesicht und musste zweimal hinsehen, bis mir klar wurde, dass ich nicht träumte, sondern in der Tat mich selbst dort sah. Auf meiner Stirn flammte eine grosse rote aufgekratzte Stelle und mein rechtes Auge hatte ein saftiges Ödem. Dazu hatte ich natürlich weiter all die anderen Ekzeme, ….welche noch grösser und röter geworden waren. Die Schwellungen um die Augen waren …massiver 10
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geworden und dazu hatte ich auf einmal eigenartige dicke Falten unter den Augen, die mich auf einen Schlag fünfzehn Jahre älter aussehen liessen. Hinzu kam, dass die Haut im Gesicht und am Hals feuerrot war, wie verbrüht aussah und dermassen spannte, dass ich kaum die Miene verziehen konnte. Auch die Lippen waren aufgesprungen, taten bei jeder geringsten Regung weh und rissen weiter auf.“ Atopisch = griechisch = ungewöhnlich, sonderbar Atopiker = Menschen, die auf Stoffe aus der Natur (Nahrungsmittel, Pflanzen, Hausstaub, Tierhaare etc.) in ungewöhnlich heftiger Weise reagieren. Zum atopischen Formenkreis gehören Krankheiten wie Neurodermitis, Heuschnupfen, Asthma bronchiale, Nesselsucht Histamine = Neurotransmitter (Botenstoffe), welche bei allergischen Reaktionen im menschlichen Immunsystem eine grosse Rolle spielen, d.h. sie sind an der Abwehr körperfremder Stoffe beteiligt. Als Transmitter bewirken sie z.B. bei der Entzündungsreaktion, dass das Gewebe anschwellt. Histamine sind besonders in den Mastzellen (Untergruppe der weissen Blutkörperchen) und in Nervenzellen gespeichert. Histamine entstehen aber auch in verschiedenen Lebensmitteln durch den bakteriellen Abbau der Aminosäure Histidin. Diese befindet sich vor allem in leicht verderblichen, eiweissreichen, tierischen Lebensmitteln (z.B. im Fisch), aber auch in biochemisch und mikrobiell veränderten Nahrungsmitteln wie Sauerkraut, Essig, Bier, Käse, Wurst. Histaminintoleranz kommt bei Neurodermitikern häufig vor und wird wahrscheinlich durch einen Mangel an histaminabbauenden Enzymen ausgelöst. Eine Ernährung mit histaminarmen Lebensmitteln verbessert meist das Hautbild der Neurodermitiker und Atopiker wesentlich.
Ursachen der Neurodermitis Die Veranlagung zum atopischen Ekzem ist genetisch festgelegt (Annas Mutter und ihr kleiner Sohn leiden auch an Neurodermitis); damit es zum Ausbruch kommt, bedarf es aber eines Auslösers, welcher individuell ganz unterschiedlich sein kann (verschiedene Allergene, Reize von Seifen, Duftstoffen, Desinfektionsmitteln, Infekte, chronische Krankheitsherde, organische Erkrankungen, verschiedene Medikamente, toxische Belastungen durch Umweltgifte, Ernährungsgewohnheiten und psychische Belastungen). Auch Impfungen werden von Neurodermitikern oft nicht vertragen. Wie wir später sehen werden, verschlimmern Stress und Angst sofort und immer wieder das Hautbild von Anna. Die meisten Schulmediziner sehen in der Neurodermitis eine Hauterkrankung mit unbekannter Ursache und behandeln nur die äussere Erscheinung. Naturheilkundler gehen davon aus, dass ein Neurodermitisschub durch eine Überbelastung der Ausscheidungsorgane (Darm, Lunge, Haut) ausgelöst wird und die Ernährung eine entscheidende Rolle spielt. Sie sehen die Schlüsselrolle im Darm: Durch das Aufkratzen der juckenden Haut wollen Neurodermitiker die dort abgelagerten Schadstoffe (Schlacken, auch hervorgerufen durch Übersäuerung) ausschwemmen.
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Die betroffenen Bereiche werden schlechter durchblutet und die Sauerstoffsättigung sinkt, was das Hautbild weiter verschlechtert. Ist Neurodermitis heilbar? Nein, sie ist genetisch bedingt und ein lebenslanger Begleiter, wobei ein erscheinungsfreier Zustand erreicht werden kann, wenn man lernt, mit der Neurodermitis umzugehen, d.h., nur wer die Auslöser der Schübe kennt und diese vermeiden lernt, kann einen erscheinungsfreien Zustand erreichen. Bei vielen Kindern verliert sich die Überempfindlichkeit während der Pubertät, bei andern wird sie stärker. Einige Erkrankte haben ihren ersten Neurodermitisschub erst im Alter von 50 Jahren, andere haben nur einen einzigen Schub. In keinem Fall kann von Heilung, sondern lediglich von «Erscheinungsfreiheit» gesprochen werden. Interessant scheint mir in diesem Zusammenhang die Schilderung Annas über ihre Allergien gegenüber Tieren Als Kind hätte Anna gerne einen Hund gehabt, ihre Mutter war aber wegen Annas Überempfindlichkeiten strikte dagegen. Der alte Hausarzt, den die Mutter konsultierte, erklärte, seiner Meinung nach könne man nicht auf Dinge allergisch reagieren, die man liebe. Also erhielt Anna einen Hund und stellt seit dieser Zeit fest, dass sie zwar öfter auf Tiere von andern Menschen mit Heuschnupfen, Asthma oder Ekzemen reagiert, aber nie auf die eigenen Tiere.
Wichtige Faktoren im Kampf gegen die Neurodermitis -gesunde, ausgewogene, allergen- (= individuell verschieden) und histaminarme Ernährung -Abbau von Stress (Unterstützung durch autogenes Training, Meditation, Yoga u.ä.m) -Schutz und Stärkung des Immunsystems (z.B. durch Bioresonanz, Homöopathie, Akupunktur, Magnetfeldtherapie etc.) -Einnahme von Vitaminen und Mineralstoffen, wie B-Vitamine, Selen, Zink, Nachtkerzen- und Borretschöl -„Sanierung des Darms“ (durch spezielle Diäten, Einnahme von Enzymen, Vermeidung von Hefepilzen im Darm etc.) -Vermeidung von Übersäuerung durch diverse Nahrungsmittel und Stress (Nahrungsmittelumstellung, Einnahme von Basenpulver) -Sonnenbäder, Bestrahlung der Haut mit UV1-Licht, Meerbäder -Ernährung der Haut durch spezielle Crèmes (eine gut genährte Haut ist widerstandsfähiger) -Unter keinen Umständen Einnahme von Cortison, denn Cortison hilft nur kurzfristig, heilt nicht, sondern überdeckt lediglich die Symptome (Weiteres siehe im Verlaufe des Textes) -Spezielle Vorsicht in der Schwangerschaft. Durch das, was die Mutter schon vom ersten Tag der Schwangerschaft zu sich nimmt, werden in dem entstehenden Kind die ersten Allergien angelegt. Asthmatiker, Allergiker, Neurodermitiker sollten sich deshalb unbedingt schon vor einer Schwangerschaft von einer kompetenten Anlaufstelle beraten lassen. -Imaginationstraining nach Simonton vgl. S. 6
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Autobiographisches von Anna Wolff Anna Wolff wurde 1963 in Deutschland geboren und lebt heute als freischaffende Schriftstellerin und Journalistin sowie Übersetzerin mit ihrem Mann (Franzose, Arzt) und ihren beiden Kindern in Spanien. Sie beschreibt sich im Prolog als ungeduldig, ängstlich, als ein Mensch, der sich ständig Sorgen macht. Sie leidet seit Kindheit an Neurodermitis, vor allem am Hals, im Gesicht, Nacken, am Décolleté, dem Schultergürtel, den Oberarmen und in den Beugeseiten der Arme. Anna ist eine Ästhetin, sie schämt sich vor den anderen Menschen wegen ihres Aussehens. Ein massiver Schub im Jahre 2004 führt dazu, dass Anna im Dezember 2005 in eine Spezialklinik in Deutschland eintritt, wo sie sich Heilung und die Erkenntnis über den Auslöser ihres letzten, massivsten Neurodermitisschubes erhofft. Vor dem Eintritt hatte sie bereits „ALLES“ versucht (Diäten, Akupunktur, Homöopathie) und als nichts nützte, bekam sie von ihrem Hausarzt eine Cortisondepotspritze und nahm anschliessend regelmässig Riesendosen von Cortisontabletten ein. Zu den Nebenwirkungen von Cortison Haarausfall / Ödeme / Schwächung des Immunsystems und als Folge gehäuftes Auftreten von Infektionskrankheiten, Magen- und Zwölffingerdarmgeschwüren, Entkalkung der Knochen und Osteoporose. Wenn das Cortison abgesetzt wird, explodiert die Haut; viele Neurodermitisschübe erfolgen explosionsartig.
Klinikaufenthalt 1. Ausleitung des Cortisons Zu Beginn, vor der eigentlichen Behandlung, wird in der Klinik das Cortison aus Annas Körper geleitet, ein sehr schmerzhaftes Unterfangen, das Monate dauern kann. Der Cortisonentzug kommt einem Drogenentzug gleich mit manifesten physischen Entzugserscheinungen (z.B. Schmerzen in den Beinen, in den Knochen). Anna sieht furchtbar aus, alle Symptome werden durch das Absetzen des Cortisons nur noch schlimmer, das Brennen und Jucken der Haut wird fast unerträglich, klebrige Lymphflüssigkeit tritt aus den Poren der Haut, weil diese so stark entzündet ist. 2. Ernährung Eine wichtige Rolle in der Behandlung von Neurodermitis spielt die Ernährung. Zu Beginn der Behandlung in der Klinik darf Anna praktisch nur Reis essen. Allmählich werden andere Lebensmittel dem Essen beigegeben, aber immer nur 1 bis 2 auf einmal, damit bei allfälligen Reaktionen die allergenen Nahrungsmittel eruiert werden können. 3. Suche nach dem Auslöser der Neurodermitis
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Der Auslöser von Annas bisher massivstem Neurodermitisschub war eine grosse Liebesenttäuschung. Ihr Geliebter, Arno, schwankte ständig zwischen Anna und Belen, seiner zuerst getrennt von ihm lebenden, dann geschiedenen Frau hin und her. Er konnte sich nicht entscheiden und wurde zusätzlich von seiner Exfrau durch das gemeinsame Kind erpresst. Anna beschreibt die für sie so belastende und äusserst schmerzhafte Situation folgendermassen: „Er war da, dann plötzlich wieder weg, und jedes Wiedersehen mit ihm mündete in nicht enden wollenden Küssen. Es war wie eine Explosion. Der pure Magnetismus. Eine blosse Berührung reichte aus, um mich alles andere vergessen zu lassen….“ Weiter beschreibt Anna Belen, die Exfrau ihres Geliebten: „Sie platzte vor Wut und Empörung, dass der Mann, den sie aus dem Haus geworfen hatte, nicht verzweifelt vor ihrer Türe lag und sie um Wiederaufnahme anflehte, sondern sich mit einer anderen vergnügte…Sie rächte sich und erklärte Arno, dass er ihre gemeinsame Tochter nicht mehr sehen durfte…Arno verlor den Boden unter den Füssen, seine Tochter war sein Ein und Alles.“ Von der Geliebten wird Anna zur Trösterin, sie kann sich nicht abgrenzen, zu wenig deutlich eine Klärung der Situation verlangen, immer wieder „kippt“ sie. Sie verzichtet zu Gunsten von Arno auf vieles, hält auch Versprechen den Kindern gegenüber nicht ein und hat deswegen ein sehr schlechtes Gewissen und Schuldgefühle. „Arno hatte viel von einem Vogel. Man wusste nie genau, durch welche Ritze er als Nächstes ins oder aus dem Haus flatterte. Er war da, dann plötzlich wieder weg…“ Es kommt zu Auseinandersetzungen mit Arno und die Haut „explodiert“, Ekzeme treten auf, begleitet von einem unerträglichen Juckreiz „…und die Haut juckt, juckt so schlimm wie noch nie zuvor.“ Der Juckreiz treibt Anna fast in den Wahnsinn und sie kratzte sich nächtelang wund. Daraufhin verabreicht ihr der Hausarzt eine Depotspritze mit Cortison. Die Wirkung lässt bereits nach sehr kurzer Zeit nach und Anna schluckt daraufhin Riesendosen von Cortison in Tablettenform. Diese Cortisoneinnahme stürzt Anna zusätzlich in Schuldgefühle, weil sie die schädlichen Nebenwirkungen von Cortison kennt – sie weiss keinen Ausweg mehr aus diesem Teufelskreis. Belen, die Exfrau von Arno zieht mit dem gemeinsamen Kind weg und so verlässt auch Arno Anna, weil er nicht vom Kind getrennt leben kann. Kurze Zeit später lernt Anna Julien, einen französischen Arzt, kennen. „Es wurde keine langsame Annäherung, sondern es fühlte sich an, als sei Julien schon immer bei uns gewesen. Es lief alles mühelos, reibungslos, glatt… er wurde zum ruhenden Pol, zum Ratgeber.“ Arno erfährt von Annas neuer Beziehung und reagiert äusserst eifersüchtig, er möchte beide Frauen „behalten“, Belen und Anna. Julien drängt Anna wegen ihres massiven Neurodermitisschubes zu einem längeren Klinikaufenthalt. Anna hat einerseits ihren Kindern gegenüber ein schlechtes Gewissen, gleichzeitig aber auch Angst, durch ihr furchtbares Aussehen Julien zu verlieren und zögert lange mit dem Klinikeintritt. Anna muss sich während ihres Klinikaufenthaltes mit ihrer Kindheit und Jugend auseinandersetzen.
Auseinandersetzung mit der Vergangenheit 1. Frage: Was gewinnt Anna durch die Krankheit? Aus der Vergangenheit kristallisiert sich heraus, dass Anna durch Krankschreibung vor einer 14
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unangenehmen Arbeit flüchten konnte und sie wegen ihrer Neurodermitis und der damit verbundenen „Dünnhäutigkeit“ bei Auseinandersetzungen immer geschont wurde und noch wird (Flucht von Konflikten/Auseinandersetzungen). Beispiel Als Kind hasste Anna die sonntäglichen Spazierfahrten mit dem Auto, ihr wurde regelmässig übel und sie musste sich dauernd erbrechen. Schliesslich ertrug der Vater diese Brechattacken nicht mehr und stellte die Autofahrten ein.
Foto©Alois Altenweger
2. Thema Scham Beispiel: Anna zog in der Pubertät einen schwarzen Pulli mit einem riesigen Rollkragen an, um den zerkratzten, entzündeten Hals zu verdecken. Eine Klassenkameradin liess die die Tarnung auffliegen: „Igitt!“ rief sie. „Was rieselt denn bei dir da auf den Kragen? Das sieht ja eklig aus!“ Sofort sprang Anna auf, rannte auf die Toilette und sah dann selbst, dass ihr schwarzer Pulli voller weisser Hautschuppen war. Am liebsten wäre sie im Boden versunken und nicht mehr in die Klasse zurückgegangen. Daraufhin erhält sie Cortison.
3. Durch Cortison wird die Haut wieder rein, aber das zugrunde liegende Problem sucht sich andere Ventile. Cortison heilt das Problem nicht, sondern überdeckt die Ursachen nur und wenn Haut nicht mehr reagieren kann, sucht sich die Krankheit ein anderes Ventil. Die Neurodermitis sucht sich auch bei Anna neue „Ventile“, so bekommt Anna 15
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mit 14 Jahren Heuschnupfen mit 16 Jahren Asthma. 4. Anna wird zur Kämpferin Nach einer schmerzhaft durchlebten Pubertät wird Anna zur Kämpferin sie lässt sich nichts mehr gefallen. Sie wird durch die Willkür ihres Körpers schon genug geplagt (das Gemeine an Neurodermitis ist, dass man nie weiss, was als Nächstes kommt), da will sie nicht noch zum Spielball anderer gemacht werden. Weil sie auch vor Autoritätspersonen keine Angst hat, sagt, was sie denkt und sich furchtlos für andere einsetzt (sie hat nur Angst, sich vor andern mit ihren Wunden zu zeigen), bekommt sie von aussen, vor allem von Älteren, Anerkennung und das Gefühl, etwas zu “taugen“. Anna schreibt: „Ich versuchte die Schwächen, die ich in einem Bereich hatte, in einem anderen zu kompensieren. Und in der Tat finde ich, dass ich das, was ich auf der einen Seite durch die Krankheit verloren, sehr wohl auf der anderen Seite gewonnen habe. Es hat mich unabhängiger, selbstständiger und ein Stück weit freier gemacht.“ 5. Anna wird zur Aussenseiterin und flüchtet in eine eigene Welt Negative Erlebnisse mit Schulkameradinnen und Gleichaltrigen führen dazu, dass sich Anna immer mehr abgrenzt und bewusst zur Aussenseiterin wird – sie ist nicht wie die andern, also will sie auch nicht wie die andern sein. „Ich zog mich immer so dezent und unauffällig wie nur möglich an. Mit meiner Haut fiel ich ohnehin schon genug auf. Ich setzte mich ab von ihnen, ihren Idealen, Zielen und Idolen und da ich dies aus freiem Entschluss tat, fühlte ich mich nicht einmal einsam dabei. Ausserdem war ich das Alleinsein gewohnt: Schon zu viel Zeit meines Lebens hatte ich auf der Zuschauerbank verbracht, um mir daraus noch etwas zumachen…“ In diesem Alter fängt die Neurodermitis an, für Anna einen Sinn zu machen. Anna ist anders, will anders sein und sucht sich eigene Wege. Sie liest, träumt, denkt nach, versinkt in ihrer eigenen Welt und beginnt zu schreiben. Auch während des Studiums (Wirtschaftswissenschaften, Ausbildung zur Wirtschaftsdolmetscherin) bleibt sie eine Aussenseiterin und schreibt sich an Fernuniversitäten ein. Am liebsten hätte sie Sprachen studiert, aber auf dem „normalen“ Weg wäre dies für Anna unmöglich gewesen. Dieser „Fernweg“ erspart ihr den Umgang mit Menschenmassen, die sie noch nie hatte ertragen können und zwar nicht nur wegen der vielen Parfum- und Rasierwasserdüfte, die ihr im wahrsten Sinne des Wortes den Atem rauben, sondern auch wegen der zwischenmenschlichen Reibungen, im positiven wie im negativen Sinn.
6. Anna und ihre Ängste Menschenmengen erdrücken Anna, machen ihr Angst, verunsichern sie. „Alleine zu Hause oder mit wenigen, mir vertrauten Personen, fühle ich mich wohler und brauche meine Haut nicht zu verstecken….Wichtig ist nur, dass mein Kopf funktioniert…“ Als sie doch einmal an einer „normalen“ Uni zu studieren beginnt, weil die Haut zu dieser Zeit heil ist, reagiert ihr Immunsystem erneut massiv. Wegen der Klimaanlagen in den Hörsälen stellen sich Stirn- und Nebenhöhlenvereiterungen, Bronchitis und Asthma ein, gefolgt von Atemnot. 16
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7. Anna zieht in den Süden, nach Spanien Anna beschliesst, aus gesundheitlichen Gründen ans Mittelmeer zu ziehen, die dortige Lebenshaltung und –einstellung entsprechen ihr. Laissez-faire, kein Stress, keine Hektik, nur sitzen, leben und leben lassen und die Sonne geniessen, welche ihrer Haut gut tut. Die Querelen mit ihrem damaligen Partner lassen die Neurodermitis wieder aufflackern. Für Anna ist „die Neurodermitis eine Krankheit, die einen immer wieder aus dem Leben mit den anderen reisst…einsam macht – und einen zwingt, mit der Ablehnung anderer leben zu lernen. Und es ist eine Krankheit, die einen schon früh lehrt, dass das Leben voller Unwägbarkeiten ist, und dadurch grosse Ängste in einem hervorruft.“ In der Klinik kommt Anna mit der Immaginationstechnik von O. Carl Simonton in Berührung, die ihre Beschwerden und die Entzündungshitze stark lindert. So tritt sie z.B. mit ihrem Immunsystem in Kontakt und redet diesem gut zu, immaginiert kühle Wasserfälle und Bäche, welche die Entzündungshitze ihrer Neurodermitis eindämmen u.ä.m. Das Immaginationstraining ist vom amerikanischen Radiologen und Krebsforscher O. Carl Simonton und seiner Frau Stefanie, einer Psychologin, entwickelt worden. Die beiden haben herausgefunden, dass mithilfe der eigenen Vorstellungskraft körperliche Genesungsprozesse und Behandlungsmethoden in ihrer Wirksamkeit unterstützt werden können. In der Klinik ist Anna nicht mehr die Aussenseiterin, sie befindet sich im Kreis von Mitleidenden und tauscht mit ihnen Erfahrungen und mögliche Strategien aus. Zudem erlebt sie auch das Mitgefühl von anderen Patienten, welche ihre Probleme verstehen und Anteil nehmen können, da sie selber auf die gleiche oder ähnliche Weise leiden. Bei den Ärzten und Schwestern steht Anna im Mittelpunkt, sie wird ernst genommen mit ihrem Leiden, ihren Ängsten und Gefühlen. Aber die Ängste und die Scham begleiten sie weiter, auch Schuldgefühle ihren Kindern, Julien und ihrer Mutter gegenüber, welche während des langen Klinikaufenthaltes die beiden Kinder betreuen. Obschon die Haut alles andere als heil ist, muss Anna nach sechs Wochen die Klinik verlassen, da die Krankenkasse nicht weiter zahlt. Anna weiss nicht, wie sie den Stress zu Hause aushalten soll, ohne dass ihre Haut wieder mit massiven Schüben reagieren wird, sie hat Angst vor der komplizierten Ernährung, vor den Eltern der Kameraden ihrer Kinder, wenn diese ihre zerkratzte, offene Haut sehen etc. Zudem hat sie nun auch noch einen grossen Teil ihrer langen Haare verloren, hinter denen sie sich sonst so gut hatte verstecken können. Die Haarwurzeln sind unter dem Wundschorf und der dicken Schuppenschicht erstickt.
Zu Hause probiert Anna Bioresonanz aus Mit Hilfe von Bioresonanzbehandlungen können Allergien „gelöscht“ werden. Die Bioresonanztherapie beruht, ähnlich wie die Homöopathie und Akupunktur, auf dem Gedanken, dass unsere Zellen, Organe und unser Gewebe unterschiedlich messbare Schwingungen aussenden. Bei Krankheiten oder allergischen Reaktionen sind diese Schwingungen verzerrt. Mit Bioresonanz kann man nun diese verzerrten Schwingungen harmonisieren, worauf die körpereigenen Regulationskräfte die biologischen Vorgänge im Körper wieder ungestört steuern und die energetischen Prozesse des Körpers erneut normal ablaufen 17
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können. Bei der Bioresonanzbehandlung von Allergien wird die falsche Information im Körper gelöscht. Zu Hause wird Anna mit der Tatsache konfrontiert, dass ihr Leiden und ihre „Empfindlichkeit“ auch für ihre Paarbeziehung enorm belastend sind. Hier die Schilderung eines Ausbruchs von Julien nach einer Auseinandersetzung wegen der Ernährung: „Weisst du, mir reicht es jetzt! Ich bemühe mich ja, alles zu tun, was dir hilft oder dich entlastet….Auch deine Kratzerei jede Nacht nehme ich klaglos hin, dein Hin-und-her-Werfen, dein Gestöhne im Schlaf. Ich lebe wegen dir in einem ständig unterkühlten, kaum beheizten Haus, weil die Wärme deine Haut reizt….und dich anfassen – und das ist das Tollste - darf man meist auch nicht, weil jede Berührung deine Haut irritiert und sie dann wieder zu jucken anfängt…“ Dies und andere Stressfaktoren führen dazu, dass Annas Haut nicht heilen kann. Die Krankenkasse, welche nicht mehr länger Lohnausfallzahlungen leisten will, verordnet Anna einen vierwöchigen Rehabilitationsaufenthalt. Dort wird sie mit der Abhängigkeit der Ärzte von der Pharmaindustrie konfrontiert. Ärzte propagieren vehement den Einsatz von Cortison und cortisonhaltigen Präparaten, weil sie an deren Verkauf beteiligt sind. Anna begehrt heftig auf – ohne jeden Erfolg. Die Ruhe während des Klinikaufenthaltes und in die darauffolgenden Schulferien zu Hause führen zu einer markanten Verbesserung von Annas Hautbild. Aber wie schon so oft ist die Besserung nur von kurzer Dauer, sobald Anna mit dem Alltagsstress konfrontiert wird, explodiert ihre Haut erneut. Um sich nicht länger nur immer mit sich und ihrer Krankheit zu beschäftigen, beginnt Anna zu schreiben und sich wieder wie wild in ihre Arbeit zu stürzen. Da sie zu Hause an ihrem Laptop arbeiten kann, muss sie nicht unter die Leute und sich wegen ihres Aussehens schämen. Psychisch beflügelt Anna die Arbeit an einem neuen Buch, physisch aber ist die Haut nach wie vor extrem entzündet.
Psychologische Beratung Nach den guten Erfahrungen in der Klinik entschliesst sich Anna, erneut zu einer Psychologin zu gehen und diese zeigt ihr den Mechanismus zwischen Angst und Neurodermitis auf. -Anna hat Angst, gewisse Lebensmittel nicht zu vertragen und schon reagiert die Haut. -Anna hat Angst, dem Stress mit den Kindern nicht gewachsen zu sein und schon reagiert die Haut. -Anna hat Angst, den Arbeitsstress nicht zu bewältigen und schon reagiert die Haut mit einem Neurodermitisschub. Anna muss unbedingt lernen, ihre Ängste abzubauen , aber wie? Wie zur Ruhe kommen, wie das innere Gleichgewicht erlangen? Neben dem Rat zu täglichen Entspannungsübungen spricht die Psychologin von einer verminderten Fähigkeit vieler Neurodermitiker, negative Empfindungen zum Ausdruck bringen zu können. Neurodermitiker zeigten in der Regel viel seltener Traurigkeit, Schmerz, Eifersucht und Enttäuschungen als Nicht-Neurodermitiker. Weil sie diese Gefühle unterdrückten, lebten sie diese dann über die Haut aus. Anna findet, das treffe auf sie nicht zu, sie reagiere sogar schneller und heftiger als andere, genau sowie sie auf Lebensmittel heftiger reagiere. Sie werde schneller wütend, leide unter der kleinsten Zurückweisung - sie sei in jeder Hinsicht hyper-reaktiv und bringe ihre Gefühle zum Ausdruck. Aber sie
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gibt der Psychologin recht, dass Neurodermitiker auffallend sensible Menschen seien und ihnen eine gewisse Grundverletztheit eigen sei. Erst beim Tod ihrer Mutter kommt bei Anna deutlich zum Vorschein, dass sie ihre Gefühle immer unterdrückt (vor allem Trauer und Schmerz). Sie leistet keine Trauerarbeit und flüchtet nach dem Verlust ihrer Mutter - wie immer in solch schmerzhaften Situationen - in die Arbeit. Sie merkt nun, dass sie dieses Problem unbedingt angehen muss, um ein innerseelisches Gleichgewicht zu erhalten und „heil“ zu werden. Den Zugang dazu erhofft sie sich durch Meditation. Während einer Yogaübung, im Wach-Traum-Zustand, sieht sich Anna auf einmal von innen. In ihr ist ein riesiges schwarzes Loch, welches ihren ganzen Leib ausfüllt und alle inneren Organe überlagert – und in diesem Loch schreit und tobt es. Wut, Verzweiflung, Verlassenheit, Angst, Traurigkeit sind im schwarzen Loch, aber dessen Schale ist so hart und fest, dass nichts davon nach aussen dringen kann.
Endlich wagt sich Anna bewusst an das schwarze Loch heran, sie stellt sich der inneren Trauer, den inneren Tränen und mit der Zeit wird das schwarze Loch tatsächlich kleiner und die Haut beginnt nun zu heilen. Persönliche Anmerkung Ich finde es aus persönlicher und auch szondianischer Hinsicht schade, dass Anna diesen Prozess nicht näher beschreibt. Von den 332 Seiten des Buches widmet sie nur knapp zwei Seiten dieser äusserst wichtigen und interessanten Thematik. Hat sie die Thematik wirklich bearbeitet? Will sie diese aus persönlichen Gründen nicht näher schildern? Am Schluss ihres Buches schreibt Anna: „Nach alldem, was ich vor allem die letzten Jahre mit meiner Neurodermitis erlebt und durchgemacht habe, kann ich sagen, dass sie trotzdem einen grossen Teil ihres Schreckens für mich verloren hat. Ich habe nicht länger das Gefühl, ihr ausgeliefert zu sein…ich kann ihren Zustand ein gutes Stück weit selbst mitbestimmen. Ich werde gewiss immer eine sensible und empfindliche Haut behalten und fast möchte ich sagen: hoffentlich! Denn sie ist zugleich das Abbild meines Innern….statt sie anzusehen (die wunden Stellen) schaue ich lieber in mich hinein und frage mich: Was ist mit mir los? Was liegt mir auf der Seele? Was geht mir „unter die Haut“? Sehr geholfen hat mir, dass ich gerade in der schwersten Zeit die Erfahrung gemacht habe, dass die Menschen, auf die es ankommt, mich auch mit meinem zweiten Gesicht annehmen und lieben und dass ich keinen Grund habe, mich mit meiner Neurodermitis zu verstecken…Ich bin, was ich bin – und ich will auch gar nicht anders sein. Selbst wenn die Haut einmal wieder rot wird. Sie gehört zu mir.“ Im Nachwort, in welchem der Bericht der Autorin gewürdigt wird, berichtet Dr. med. Raphael Shimshoni, ein deutscher Dermatologe, dass ihm erst mit der Zeit durch die intensive Beschäftigung mit Neurodermitikern und Psoriatikern aufgegangen sei „was wir Schulmediziner den Patienten mit der Vorgabe antun, die bis heute gilt: erscheinungsfrei zu werden, koste es was es wolle. Was zählt ist die makellose Haut, unabhängig davon, wie es im Innern aussieht.“ Der Autorin sei es sehr gut gelungen, ihren Weg zu beschreiben, den Weg, in dem die Einheit von Körper, Geist und Seele die Heilung bringt. Weiter fordert er alle Patienten auf, endlich anzufangen, über sich nachzudenken und zu verstehen, dass 19
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sie ihr Leben selbst ändern, das heisst in die eigenen Hände nehmen müssten; sie sollten nicht darauf hoffen, dass der Arzt schon richtig entscheiden werde, weil er ja so viele Jahre studiert habe und das, was er tue, schon richtig sei.
Das Buch: Titel: Verlag: Autorin: ISBN-10: Preis:
Das zweite Gesicht: Neurodermitis. Mein Weg aus der Verzweiflung. Bastei-Lübbe Taschenbücher, Band 61659, 2009 Anna Wolff 3-404-61659-6 Fr. 16.90
Schicksalspsychologischer Kommentar (Ines Grämiger)
1. Neurodermitis als Widerstreit zwischen Wut und Liebeswünschen Gemäss Schicksalsanalyse gehört die Neurodermitis mit ihren vielen allergischen Reaktionen auf Nahrungsmitteln, mit ihren explodierenden und schubartigen Entzündungen einerseits zum epileptiformparoxysmalen Bereich der somatischen Anfalls- und somatisierten Affekterkrankungen (e-), anderseits auch zu den libidinösen Somatisierungen, da die Haut, das erotische Streichelorgan, das Organ der Nähe und Taktilität und des Eros betroffen ist (h+). Bei den epileptiformen Erkrankungen haben wir es mit den sogenannt groben Affekten wie Wut, Hass, Zorn, Neid, Eifersucht, Rivalitätsproblemen bis zu Tötungsimpulsen (= Kain, das Böse) zu tun, welche durch die Krankheit, die Somatisierung ausgelebt werden und eventuell zu wenig auf natürlichem AffektWeg. Die unausgesprochene Wut fährt mithin gleichsam in den Körper hinein. Die Wut bei der Neurodermitis fährt nun speziell in die Haut ein, das Organ der Berührung, der Nähe, der Taktilität, des Eros und der Sexualität. Wut und Zärtlichkeitswünsche scheinen im Widerstreit zu sein. Wutgefühle und Wünsche nach Zärtlichkeit und Nähe sind auch sehr schwer zu vereinen: wie kann ich Wut und Störungen äussern, wenn ich gleichzeitig geliebt werden möchte? Wie kann ich lieben und nahe sein, wenn ich latent doch wütend bin und mich über etwas ärgere? Wut und Zärtlichkeitswünsche sind die zwei Triebbedürfnisse des Menschen, welche sich am schwersten vereinen lassen. Es gibt aber auch das Gesetz, dass Nähe nur möglich ist und echt zugelassen wird, wenn zuerst die hintergründige Wut ausgedrückt wird.
2. Kratzanfälle stärkster Art begleiten die Neurodermitis das heisst, hier werden die Nägel als Aggressionsinstrumente des Menschen gegen sich selbst gerichtet (s-!). Es scheint, dass bei der Neurodermitis Wut und Aggression lieber gegen sich selbst gerichtet werden, im eigenen Körper rumoren als dass dieser Impulse nach aussen auf die Beziehungsebene getragen werden. 20
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3. Der Kain, das Böse, der Ärger wütet gegen sich auf der Haut und verschont die Beziehung. Man muss sich demzufolge nicht wundern, wenn Neurodermitiskranke Mühe mit zwischenmenschlichen Konfrontationen, mit Streit und direktem Sich wehren haben.
4. Die Haut zeigt dabei, anstelle einer verbalen Auseinandersetzung, immer den Grad der Verletztheit durch Konflikte an.
Foto©Alois Altenweger
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5. Der Leidensgewinn aus der Krankheit ist es auch, dass die Haut nun diese Schutzfunktion anstelle des bewussten Ichs übernimmt: man fasst die Patienten mit Samthandschuhen an, niemand zwingt sie nun mehr zu ungeliebten Dingen.
Die Ekzeme und der Ekel vor diesen verschaffen teils auch die Abwehr von Nähe, halten die andern Menschen fern oder bewirken auch den Rückzug des Kranken aus dem Kontakt oder aus der Sexualität und Nähe. (m- = Rückzug aus dem Kontakt). Ebenso entstehen massive Verstecktendenzen (hy-), man verbirgt die Krankheit unter Kleidern oder verbirgt sich gar selbst. Eskaliert die Erkrankung, so macht sie extrem einsam und reisst einen aus dem Leben mit den andern.
6. Was lehrt nun aber die Krankheit? Anhand der Schilderung von Anna Wolff wird klar, was sie lernen muss, wenn sie nicht total in die Isolierung und Einsamkeit abgleiten will: Sie muss lernen, sich zu zeigen mit der Krankheit, mit ihrer Verletztheit. Sie muss von der Versteckreaktion (hy-) in die Zeige-Reaktion (hy+) gehen und muss trotz ihrem Gezeichnetsein im Kontakt bleiben (m+). Die Haut selbst macht es vor: sie zeigt extrem penibel und aufdringlich auf, dass etwas innerseelisch nicht stimmt, dass Konflikte bestehen, latente Wüte. Die Haut lehrt: zeige Dich – trotz Deiner Schwäche! Oder auch: zeige und äussere Deine Konflikte, sag, was Dir nicht passt! Komm mit Deiner Wut heraus, melde Deine Störungen an! Werde mutig und äussere auch negative Gefühle! Freunde Dich an mit dem Kain in Dir und äussere Dich, zeige Dich. Es gibt demgegenüber andere somatisierte Wutäusserungen, welche sich in den tieferen Organen als Krämpfe äussern. Diese sind von aussen nicht zu sehen, zeigen sich nicht. Diese Krankheiten der inneren Krämpfe tragen mithin auch nicht den Lernplan des Sichzeigens in sich. Bei der Neurodermitis aber verhält es sich anders : Die Wut soll gezeigt werden (e- hy +), sie zeigt sich bereits schon auf der Haut. Leider aber zeigt sich die Wut noch nicht auf der seelischen Ebene und in der Kommunikation. Das Brennende, das Feuer auf der Haut, das Explodieren der Haut zeigt sowohl die latente Leidenschaftlichkeit, die Affekte an wie auch als Wunde die Verletzung oder sogar bei nässenden Wunden die dazu gehörigen Tränen und Trauer (d+). Deshalb berichtet auch Anna Wolff, dass, sobald sie mehr weinen und trauern konnte, die nässenden Symptome sich besserten. Neurodermitiskranke unterdrücken Wut, Eifersucht, Enttäuschung, Schmerz, Trauer mehr als Gesunde. Oft ist dies ihnen aber gar nicht bewusst. Sie verleugnen oft diese Tatsache - so wie es auch Anna Wolff anfangs tat gegenüber ihrer Therapeutin. Und nicht von ungefähr werden in ihrem Buch keinerlei Konflikte zu den Eltern, Geschwistern und Kindern erwähnt.
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7. Tiefenpsychologische Therapie der Neurodermitis Der Erkrankte muss lernen, den Kain in sich und andern zu sehen, ihn wahrzunehmen und kreativ mit ihm umzugehen. Die Neurodermitis ist die Abspaltung des eigenen und fremden Kains und sein Ausleben auf der Haut und ist der Kain im Konflikt mit Liebes- und Nähewünschen.
Foto©Alois Altenweger
Aus dem Traum eines depressiven Klienten
Es besteht die Gefahr, dass der Kranke mit der Zeit dann nur noch die Haut als Problem und die Haut als das Böse ansieht und sich auf extensive Hautbeobachtung und die Terrorisierung durch die Haut einlässt. Diese Projektion des Bösen auf die Haut aber muss in einer Therapie zurückgenommen werden und das Böse muss wieder oder erstmals richtig in seelischen Dimensionen erlebbar werden. Das eigene und das fremde Böse muss tiefenpsychologisch angegangen werden und in den Fokus der Beobachtung gelangen (nicht die Haut!) sowie der zugrundliegende Konflikt mit den Liebes- und Nähewünschen. 8. Neurodermitis lehrt zudem auch die Absage an den Perfektionsdrang: die Haut demaskiert alles: sie ist niemals mehr perfekt. Und obwohl wir nicht perfekt sind, sollen wir uns mit unseren Schwächen nicht verbergen oder aus dem Kontakt zurückziehen.©
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Psychologie der Gewalt: Der Krieger in uns (Anriss des Artikels aus „Gehirn und Geist“ Nr. 11/12)
Roland Weierstall, Maggie Schauer, Thomas Elbert
In vielen Krisenregionen der Erde geschehen schreckliche Gräuel. Was treibt Menschen dazu, ihre Mitmenschen zu quälen oder zu töten - und warum empfinden sie oft sogar Lust dabei? Psychologen der Universität Konstanz gingen dieser Frage in Feldstudien im Kongo nach.
Aus Gehirn und Geist 11/2012
"Ich habe andere richtig gequält. Nachts sind wir losgezogen, um Dörfer zu überfallen. Alle, die wir trafen, haben wir kaltgemacht. Wenn uns eine Frau über den Weg lief, haben wir sie vergewaltigt. Männer haben wir geschlagen … Nach einem Kampf töteten wir alle – außer hübschen Frauen. Die nahmen wir mit. Wenn sie sich gewehrt haben, mussten sie bestraft werden … Kämpfen ist alles im Leben eines Mannes. Wenn ich das Feuern von Gewehren höre, wünsche ich mir nichts anderes, als zu kämpfen. Dieser Durst sitzt tief in mir." Es fällt schwer, die unglaublichen Gräuel, die der junge Mann schildert, mit seiner ausgemergelten, aber freundlichen Miene in Verbindung zu bringen. Wir sind in Goma, einer düsteren Stadt am östlichen Ende der vom Bürgerkrieg zerrütteten Demokratischen Republik Kongo. Unser Team aus Wissenschaftlern der Hilfsorganisation "vivo international" und der Universität Konstanz sitzt fröstelnd in einem Zeltlager, in dem die Vereinten Nationen ehemalige Kindersoldaten unterbringt. Die mittlerweile jungen Männer, die per Hubschrauber oder Lkw über Hunderte von Kilometern aus dem Busch hierher gebracht wurden, sind nervös. Seit ihrer Evakuierung aus den Kampfgebieten geschieht nichts. Ihren Drogenkonsum mussten sie schlagartig abbrechen, manche von ihnen zeigen starke Entzugserscheinungen. Ein Junge leidet an einer Lungenentzündung. Jeder seiner Atemzüge rasselt, er stöhnt im Fieber vor Schmerzen. Andere kommen mit Schussverletzungen, die sich entzündet haben. Zunächst aber Verhöre. Kalt und misstrauisch werden die ehemaligen Kämpfer von Mitarbeitern der MONUSCO, der UNOrganisation zur Stabilisierung des Kongo, befragt: "Welche Einheit? Wer war der Kommandant? Wie groß ist eure Truppe? Wo steht ihr? Und versuch erst gar nicht zu lügen, Kerl!"
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Drei Thesen zur Gewalt: In kriegerischen Extremsituationen kommt es zu "appetitiven Aggressionen", bei denen Gewaltexzesse als lustvoll erlebt werden. Eine evolutionäre Ursache für dieses scheinbar pathologische Verhalten liegt im angeborenen Jagdinstinkt des Menschen. Traumatisierende Kriegserlebnisse verändern die Psyche von Soldaten und fördern die Gewaltbereitschaft nachhaltig. Erst danach gibt es etwas zu essen und, mit ein wenig Glück, eine Hand voll Paracetamol. Dann können sie mit den Weißen sprechen – den Psychologinnen und Psychologen aus Deutschland. Vorausgesetzt, sie wollen. Doch alle wollen. Forschungen über Gewalt müssen sich auch auf die Angreifer erstrecken – das haben wir nach vielen Einsätzen in den Krisenregionen der Erde verstanden. In Hunderten von strukturierten Interviews wollen wir daher die menschliche Tötungsbereitschaft näher ergründen. Unser Team nimmt erstmals die Leidensgeschichten der kongolesischen Kämpfer auf. Die Realität in diesem riesigen, unzugänglichen Gebiet in der Mitte Afrikas bleibt uns in den industrialisierten Ländern verborgen. Sie erscheint uns fremd, mitunter primitiv und sadistisch, sie entzieht sich unserer Vorstellungskraft und ist mit unseren gängigen moralischen Wertvorstellungen kaum vereinbar. Doch ist diese unbekannte Welt wirklich so weit weg von unserem ureigenen Wesen? Wie verändern sich Menschen angesichts einer Umwelt, die von Grausamkeit geprägt ist?© (Umfassender Artikel in „Gehirn und Geist“. Probenummer kann bei: www.gehirn-und-geist.de/abo kostenlos bezogen werden.)
Depression und Manie als Zeitkrankheiten Thomas Fuchs Der holländische Psychiater Piet Kuiper, der mit 60 Jahren an einer schweren Melancholie erkrankte, schreibt in seiner Selbstschilderung: ”Was geschehen ist, kann man nicht ungeschehen machen. Nicht nur die Dinge vergehen, sondern auch die Möglichkeiten verstreichen ungenutzt. Wenn man etwas nicht zur rechten Zeit tut, tut man es niemals mehr. ... Das eigentliche Wesen der Zeit ist untilgbare Schuld" (Kuiper 1991, S.58). Dass Depressionen und Manien etwas mit der Zeitlichkeit des Menschen zu tun haben, ist eine Einsicht, die bis auf die Antike zurück reicht. Chronos oder Saturn, der Gott der Zeit, war auch der Gott der Melancholie, der Schwere, der bleiernen Lähmung und des Stillstands. In Dürers berühmter Darstellung der Melancholie von 1514 hat dieser Stillstand der Zeit und die Erstarrung der Welt in der melancholischen Gemütsverfassung ihren bleibenden Ausdruck gefunden (Abb. 1).
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Abb. 1. Albrecht Dürer: Melencolia II (1514)
Die Psychiatrie hat vor allem dem Zusammenhang von Zeit- und Schulderleben in der Depression seit jeher besondere Aufmerksamkeit zugewandt, wie es auch in Kuipers Selbstschilderung zum Ausdruck kommt. Die Zeit fließt und vergeht nicht mehr, sondern gerinnt fortwährend zu Schuld. Umgekehrt lässt sich aber auch die Manie als eine Zeitkrankheit auffassen. Nicht nur die Antriebssteigerung, die rastlose Betriebsamkeit, die Ideenflucht des Manikers weisen auf die Beschleunigung seiner Lebensbewegung hin. Auch der Wegfall aller Hemmungen und Schuldgefühle, die sonst eine Person an ihre Verpflichtungen und Versprechen und damit an ihre Vergangenheit binden, gehört zur grundlegend veränderten Zeitlichkeit des manischen Patienten. Er ist sich ständig selbst vorweg, offen für die unbegrenzten Möglichkeiten, die sich ihm schon in der nächsten Zukunft aufzutun scheinen. Somit sind Depression und Manie Zeitkrankheiten, und zwar nicht nur aufgrund einer Verzögerung bzw. Beschleunigung des Zeiterlebens, sondern, wie wir noch sehen werden, weil sie auch mit einer Abkoppelung von der gemeinsamen sozialen Zeit einhergehen, mit einer Desynchronisierung. – Auf der anderen Seite sind Depression und Manie aber auch Zeitkrankheiten in einem zweiten Sinn, nämlich in dem einer Kultur- und Zeitdiagnose: In ihnen werden wie in einem Spiegel gesellschaftliche Tendenzen der Gegenwart erkennbar, die ebenfalls mit Verlangsamungen bzw. Beschleunigungen, d.h. mit Entkoppelungen in sozialen Zeitabläufen verbunden sind. Im Folgenden werde ich daher Depression und Manie zunächst als Krankheiten des Zeiterlebens, dann als gesellschaftliche Zeitdiagnosen betrachten.
A. Depression und Manie als Störungen des Zeiterlebens 1) Retardierung – Akzeleration Verlangsamungen und Beschleunigungen des Zeiterlebens lassen sich nicht isoliert feststellen, sondern nur im Verhältnis zwischen der Eigenzeit des Individuums und der Weltzeit, den Abläufen der gemeinsamen sozialen Welt. Betrachten wir dies etwas näher (vgl. zum Folgenden auch Fuchs 2001, 2012).
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Zunächst sind wir mit den anderen und mit der Gesellschaft insgesamt auf vielfältige Weise zeitlich gekoppelt oder synchronisiert. Bereits der alltägliche Kontakt mit anderen bedeutet eine ständige Feinabstimmung der körperlichen und emotionalen Kommunikation, ein "Mitschwingen" oder eine Resonanz (Fuchs 2000, S.244ff.). Hört man einem anderen zu, so gleicht sich die Atmung dem Redefluss des anderen an, und feinste Mikrobewegungen der beiden Körper synchronisieren sich (Scollon 1981; Davis 1982). Die Säuglingsforschung hat gezeigt, wie dieser sympathetische Kontakt schon das früheste Erleben bestimmt: Die Kommunikation von Säugling und Mutter ist charakterisiert durch rhythmischmelodische Interaktionen, wechselseitige Resonanz von Mimik und Gestik, oder durch ”Affektabstimmung", wie Daniel Stern (1998) es genannt hat. Dieser grundlegenden zeitlichen Resonanz mit den anderen werden wir freilich in der Regel kaum gewahr. Spürbarer – oft unangenehm spürbar – werden die Prozesse sozialer Synchronisierung in den vielfältigen Formen des ”Timings”: in der Tages- und Wochenregulierung, in der Abstimmung von Terminen, in einem weiteren Sinn überhaupt in allen wechselseitigen Verpflichtungen, Absprachen und Koordinationen, die wir ja oft nur mittels eines hohen Aufwandes an Disziplin und Selbstüberwindung einhalten können. Auf der anderen Seite treten im sozialen Miteinander fortwährend Desynchronisierungen auf. Vereinfacht gesagt: etwas verläuft „zu langsam“ oder „zu schnell“ für uns – die Ereignisse, die Handlungen der anderen, die Veränderungen, die das soziale Leben mit sich bringt. Wir können dabei ein Zurückbleiben und ein Vorauseilen der eigenen oder individuellen Zeit gegenüber der sozialen oder der Weltzeit unterscheiden, oder Retardierung und Akzeleration:
Retardierung Synchronie Akzeleration _______________________________________________________________ Verweilen / Resonanz Zeitdruck Warten Krankheit Langeweile / Ungeduld Trauer / Schuld Getriebenheit Depression Manie Verhältnis von Eigenzeit und Weltzeit Die Übereinstimmung oder Synchronie von Eigen- und Weltzeit vermittelt das Wohlbefinden, die erfüllte Gegenwart, in der man ohne eigentliches Zeitbewusstsein verweilt, ganz dem eigenen Tun oder der Resonanz mit der Umgebung hingegeben: etwa einer geschickt ausgeübten Tätigkeit, einem intensiven Gespräch oder der Betrachtung eines Kunstwerks. Hingegen macht das ”Zu-früh”, also die Beschleunigung der Eigenzeit gegenüber äußeren Abläufen das Warten erforderlich. Ungeduld oder Langeweile bedeutet Leiden unter der Langsamkeit, dem Zurückbleiben der äußeren Zeit. Unruhe und Getriebenheit als weitere Akzeleration der Eigenzeit können sich in pathologischen Fällen bis zur manischen Erregung steigern. Hier entkoppelt sich die Zeit des Individuums weitgehend von den natürlichen und sozialen Rhythmen, und wir können von einer Desynchronisierung sprechen. Leidvoller als die Akzeleration wird in der Regel die Verspätung, Verzögerung oder Retardierung der Eigenzeit erfahren. Als Pendant zum Warten ergibt sich zunächst der „Zeitdruck“, der aus einem aufzuholenden Rückstand resultiert. Andere Erfahrungen des Zurückbleibens sind einschneidender und nicht rasch auszugleichen: Krankheit als ein Nicht-mehr-Können, Erfahrungen von Verlusten in der Trauer, von 27
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Versäumnissen in der Schuld, die die Person in der Vergangenheit festhalten. Eine mehr oder minder ausgeprägte Entkoppelung oder Desynchronisierung von der gemeinsamen sozialen Zeit kennzeichnet schließlich die Depression. Betrachten wir dies etwas näher.
2) Depression als Desynchronisierung Tellenbach (1983) sah das Charakteristische des zur Depression veranlagten Menschen, des Typus Melancholicus, in seiner Orientierung an der Gemeinschaft, in seinen übermäßigen Ansprüchen an Pflichterfüllung, Normorientierung und Ordentlichkeit. Man kann sagen: Mit anderen Menschen in ständiger „Synchronisierung“, d.h. Abstimmung, Rückversicherung und in ausgeglichenen Konten zu leben, ist für den Typus Melancholicus lebenswichtig. Depressive Menschen geraten daher leicht in das Gefühl, hinter ihren Aufgaben und Verpflichtungen zurückzubleiben, anderen etwas schuldig zu bleiben, etwas zu versäumen – Tellenbach sprach von der „Remanenz“ der Melancholischen. Besonders empfindlich reagieren sie auch auf Lebensereignisse wie unerwartete Verluste, Trennungen, Berufswechsel, Umzüge, den Auszug der Kinder, Arbeitslosigkeit oder Berentung. Solche Situationen des Herausfallens aus vertrauten sozialen Prozessen oder der Desynchronisierung sind die wichtigsten Auslöser depressiver Störungen. Der Depressive fühlt sich den Veränderungen nicht gewachsen, er bleibt innerlich zurück, an das Verlorene und Vergangene gebunden, oft unfähig, in einem Trauerprozess diese Bindungen zu lösen und Abschied zu nehmen, um in anderer Weise oder an anderer Stelle neu zu beginnen. An die Stelle der Trauer und der Bewältigung tritt dann die Depression. Die Situation erzwungener Arbeitslosigkeit illustriert diesen Verlauf besonders deutlich. Eine Vielzahl von Forschungsarbeiten hat belegt, dass anhaltende Arbeitslosigkeit zu schwerwiegenden psychischen und somatischen Gesundheitsfolgen führen kann (Mohr 1997). So zeigen Arbeitslose nach den Ergebnissen einer seit 1987 laufenden sächsischen Längsschnittstudie (Berth et al. 2003, 2004) eine höhere psychische Belastung, mehr Angst und Depression als Vergleichsgruppen. Typischerweise beginnen die subjektiven Reaktionen auf eine Kündigung mit einer Schockphase, gefolgt von einer Erholung (1.-2. Monat), einer Latenzphase (3.-6. Monat), einer Phase des Pessimismus (7.-12. Monat) und schließlich der fatalistischen Resignation (nach 1 Jahr). Hier ist der Punkt, wo das erzwungene Warten und Zurückbleiben, die soziale Desynchronisierung häufig in die Depression führt.
Physiologische Desynchronisierung Versagen die Bewältigungsleistungen, so wird nun ein psychophysischer Mechanismus ausgelöst, der in einer weitgehenden Blockade und Lähmung besteht. Tatsächlich kommt es in der Depression auch körperlich zu einer Art Verlangsamung oder Starre, und die normale biologische Synchronisierung mit der Umwelt ist gestört. Die Depression weist daher eine typische Tagesperiodik auf; statt mit Energie in den Tag zu gehen, leiden die Kranken unter dem bekannten Morgentief. Der Biorhythmus von Hormonen und Stoffwechsel ebenso wie von Schlafen und Wachen ist gestört, der Appetit geht verloren, der Körper bleibt den ganzen Tag hindurch antriebs- und kraftlos. Bleierne Schwere, Erschöpfung, Beengung und Panzergefühl lassen zugleich den eigenen Körper im Erleben des Depressiven übermäßig hervortreten (Fuchs 2005). Gestört ist in der Depression auch die Regeneration im Schlaf. Depressive wachen früh morgens nach einem zerhackten, oberflächlichen Schlaf auf; die Traumphasen sind reduziert, die Traumerinnerungen 28
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überwiegend negativ, d.h. die psychohygienische Wirkung des Schlafs geht verloren. Zahlreiche rhythmische Funktionen des Organismus sind also desynchronisiert. Hingegen führt der therapeutische Schlafentzug offenbar zu einer vorübergehenden Resynchronisierung, mit unmittelbar positiver Auswirkung auf die Stimmung am nächsten Morgen.
Psychosoziale Desynchronisierung Betrachten wir nun die Desynchronisierung in Bezug auf die soziale Zeit. Sie äußert sich zunächst im Rückzug von sozialen Verpflichtungen: Depressive Patienten meiden die Umgebung mit ihren sozialen Zeitgebern. Sie stehen nicht mehr rechtzeitig auf, ihre Arbeiten werden von Anderen übernommen, wichtige familiäre Entscheidungen ohne sie getroffen. Vergebliche Versuche des Nachholens und Ausgleichens verstärken das Gefühl des Zurückbleibens. Dazu kommt der Verlust der Resonanz mit Anderen, der Schwingungsfähigkeit im unmittelbaren Kontakt. Während Gespräche gewöhnlich von wechselseitiger Mimik und Gestik begleitet sind, erstarrt und versteinert der Ausdruck des Depressiven, und die Gefühlsabstimmung mit den Anderen misslingt. Der Depressive ist nicht mehr in der Lage, an den Menschen und Dingen emotional teilzunehmen, von ihnen angesprochen oder berührt zu werden. Besonders schmerzhaft erlebt der Kranke seine Erstarrung im Kontrast zur Lebensdynamik der Umwelt: Feste, Sonnenschein, das Wachstum der Natur im Frühling oder auch die Leistungskraft der anderen wirken bedrückend, denn sie führen ihm nur seine eigene stockende Lebensbewegung vor Augen. Die Depression ist selbst der sichtbare Ausdruck dieser Stockung. Die Antriebshemmung, die Verlangsamung und Erstarrung signalisieren der Umgebung, dass der Betroffene nicht mehr belastbar und damit von den gemeinsamen Zeitabläufen desynchronisiert ist. Aber auch der Kranke selbst erlebt mit zunehmender Verstimmung das Stocken der Zeit. „Meine innere Uhr scheint stillzustehen, während die Uhren der anderen weiterlaufen. In allem, was ich tue, komme ich nicht voran, ich bin wie gelähmt. Ich bleibe hinter meinen Pflichten zurück. Ich stehle Zeit“, so ein Patient. Ein eindrucksvolles Zeugnis dieser Störung depressiven Zeiterlebens gibt eine Patientin des Psychiaters von Gebsattel: „Ich habe den ganzen Tag ein Gefühl, das mit Angst durchsetzt ist und sich auf die Zeit bezieht. Ich muss unaufhörlich denken, dass die Zeit vergeht. Wenn ich jetzt mit Ihnen spreche, denke ich bei jedem Wort: Vorbei, vorbei, vorbei. Dieser Zustand ist unerträglich und erzeugt ein Gefühl von Gehetztheit ... Ebenso wenn ich die Uhr ticken höre – Immer wieder: vorbei, vorbei“ (von Gebsattel 1954). Das Grundempfinden dieser Patientin ist die Vergänglichkeit: Während ihre Eigenzeit ins Stocken kommt und zurückbleibt, registriert sie zwanghaft jeden Augenblick der äußeren, der Uhr- oder Weltzeit, die vergeht, ohne dass die Kranke noch aktiv in sie eingreifen könnte. Solche Störungen der Zeiterfahrung lassen sich auch experimentell belegen: Depressive erleben generell eine Zeitdehnung, d.h. sie schätzen vorgegebene Zeitintervalle länger ein als es der tatsächlich gemessenen Zeit entspricht (Mundt et al. 1998). Man könnte auch sagen, ihre Eigenzeit verlangsamt sich und bleibt zurück, während die äußere Zeit über sie hinweg läuft.
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Foto©Alois Altenweger
Mit der Stockung der inneren Zeit ist dem Depressiven auch die Zukunft versperrt, d.h. er kann das Gewordene nicht mehr überschreiten und hinter sich lassen. Statt neue Möglichkeiten in der Zukunft zu suchen, hält er vielmehr am Irrealis, der Möglichkeitsform der Vergangenheit fest: „Hätte ich doch dieses oder jenes nicht getan, hätte ich mich anders verhalten“, wie die häufige Klagen lauten. Doch ohne Zukunft liegt die Vergangenheit ein für allemal fest; sie lässt sich nicht mehr durch zukünftiges Leben verwandeln, ausgleichen und aufheben. Nun wird alle Schuld, alles Versäumnis mit einem Mal aktualisiert. Es verhält sich ähnlich wie beim Tod eines nahen Menschen, der in uns vielleicht unvermutet Schuldgefühle auslöst, für die zunächst kein greifbarer Anlass vorzuliegen scheint. Solange er lebte, rechneten wir nämlich unbewusst immer mit der Möglichkeit, das ihm gegenüber vielleicht Versäumte noch nachholen zu können. Dieser Spielraum aber ist durch seinen Tod unwiderruflich verloren gegangen. Die gemeinsame Zeit mit ihm ist gänzlich zu Vergangenheit geronnen, unkorrigierbar durch gemeinsame Zukunft. Der schwer depressive Mensch ist nun in genau dieser Lage, aber nicht nur einem, sondern allen anderen Menschen gegenüber. Er ist schon als Lebender zur Vergangenheit geworden; sein Leben ist in allen Einzelheiten endgültig fixiert. Nun drängen sich all die zahllosen Fehler und Versäumnisse ins Bewusstsein, die wir uns alle unvermeidlich zuschulden kommen lassen. ”Man hat Sachen gesagt, die kann man nicht aus der Welt schaffen ... man kommt nicht mehr raus aus dem, was man gemacht hat," formulierte es ein Patient. Oder wie Kuiper (1991, S.162) schreibt: "Der tiefste Abgrund, in den ich stürze, ist der Gedanke, dass selbst Gott mir nicht helfen kann, denn Er kann nichts ungeschehen machen.” Die Schuld ist irreparabel geworden. Mit fortschreitender Hemmung kommt schließlich die Lebensbewegung ganz zum Erliegen. Der Depressive ist aus der gemeinsamen Zeit herausgefallen. Er lebt buchstäblich in einer anderen, einer zähflüssigen Zeit. Die Weltzeit, die Zeit der Anderen läuft an ihm vorüber wie ein fortwährender Zuruf: 30
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"Vorbei!" Diese vollständige Desynchronisierung manifestiert sich im depressiven Wahn von der unwiderruflichen Schuld oder der tödlichen Krankheit, in extremen Fällen im nihilistischen Wahn, in dem die Patienten sich wie Untote in einer fremden, leeren Welt erleben. Eine meiner Patientinnen war der Überzeugung, ihre Angehörigen seien alle gestorben. Sie sei nun ganz allein auf der Welt und müsse ewig weiterleben. Ähnlich hat es Kuiper in seiner beklemmenden Selbstschilderung beschrieben: "Jemand, der meiner Frau glich, ging neben mir, und meine Freunde besuchten mich ... Doch was wie das normale Leben aussah, das war es nicht. Ich befand mich auf der anderen Seite. Und nun wurde es mir klar: Ich war gestorben, aber Gott hatte dieses Geschehen meinem Bewusstsein entzogen ... Eine härtere Strafe kann man sich kaum vorstellen. Ohne zu wissen, dass man gestorben ist, befindet man sich in einer Hölle, die bis in alle Einzelheiten der Welt gleicht, in der man gelebt hat, und so lässt Gott einen sehen und fühlen, dass man nichts aus seinem Leben gemacht hat" (Kuiper 1991, S.136). Die vollständige Entkoppelung von der gemeinsamen Zeit ist offenbar nur mit dem Ausdruck des Lebendig-Gestorbenseins beschreibbar.
3) Manie als Desynchronisierung Betrachten wir nun kurz das polare Gegenbild zur Depression, die Manie. An die Stelle der depressiven Schwere, Hemmung, Verlangsamung treten dabei Leichtigkeit, Enthemmung und Beschleunigung. Bleibt der Depressive in der Zeit zurück, so eilt der Manische voraus. Wo der Depressive die vergebenen Möglichkeiten der Vergangenheit beklagt, verliert sich der manische Mensch in den vermeintlich unbegrenzten Möglichkeiten, die vor ihm liegen. Er kann die Zukunft nicht mehr erwarten, sondern muss sie in Angriff nehmen und erobern (Fuchs 2002). Die Desynchronisierung betrifft schon den unmittelbaren sozialen Kontakt. Maniker reden zuviel, zu laut, zu rasch; in der Ideenflucht geraten sie buchstäblich vom Hundersten ins Tausendste, man kann ihnen kaum folgen. Sie maßen sie sich die Hauptrolle an und drängen andere in untergeordnete Nebenrollen. Euphorie und gesteigertes Selbstgefühl führen zu maßloser Selbstüberschätzung, zu exzessiven Geldausgaben bis hin zum regelrechten Konsumrausch. Andere Maniker wechseln plötzlich den Beruf, eröffnen ein Unternehmen, und wähnen sich schon am Ziel einer großartigen Karriere, die sie noch gar nicht begonnen haben. Das Flüchtige und Spielerische der manischen Daseinsweise lässt die Patienten nichts nachhaltig verfolgen und zu Ende führen. Es bleibt nur ein wirbelndes Sich-auf-der-Stelle-Drehen ohne wirkliche Effektivität. In der Manie beschleunigt sich also die Lebensbewegung und überholt die soziale oder Welt-Zeit, so dass der Maniker nur noch im flüchtigen Vorbeigehen mit der Welt und den Anderen in Kontakt kommt. Auch hier lässt sich die Störung des Zeiterlebens experimentell bestätigen: In Zeitschätzungsstudien erleben hypomane oder manische Patienten eine Zeitverkürzung (Bschor et al. 2004). Dabei missachtet der Maniker die natürlichen Rhythmen, die seiner Beschleunigung entgegenstehen: Er verdrängt die zyklische Zeit des eigenen Leibes und der äußeren Natur, die biologischen Tagesrhythmen zugunsten der gleichförmigen, ja der linear beschleunigten Zeit. Auch hier spielen wahrscheinlich physiologische Desynchronisierungen der circadianen Tagesperiodik eine maßgebliche Rolle (Wehr und Goodwin 1983). Infolgedessen vernachlässigen die Patienten die Bedürfnisse ihres Körpers, sie gönnen ihm keinen Schlaf und ignorieren die Anzeichen beginnender Erschöpfung. Maniker leben somit über ihre Verhältnisse und erschöpfen ihre Ressourcen, nicht nur die biologischen, sondern auch die sozialen. Der 31
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Umschlag von der Manie in die Depression ist daher bei vielen Patienten die Regel. Die einmal eingetretene Desynchronisierung führt dann nicht mehr zurück zur Synchronizität, sondern schlägt in ihr Gegenteil um, in die depressive Retardierung und Zeitentkoppelung.
B. Depression und Manie als Zeitdiagnosen Wir haben die affektiven Störungen unter dem Gesichtspunkt der biologischen und vor allem sozialen Desynchronisierung, des Herausfallens aus der gemeinsamen Zeit betrachtet. Dieser Aspekt legt es nahe, den soziologischen Hintergrund dieser Störungen mit einzubeziehen. Hat die Zunahme depressiver Erkrankungen in den modernen Industriegesellschaften mit der zunehmenden Beschleunigung und Revolutionierung aller Lebensbereiche zu tun? Könnte es sein, dass der Depressive mit seiner Krankheit auch ein Opfer eines kollektiven Geschwindigkeitsrausches ist und damit die Grenzen der Beschleunigungsfähigkeit des Menschen anzeigt? Um diese Entwicklung historisch nachvollziehen zu können, müssen wir gut 100 Jahre zurückgehen. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert nämlich kam es zu einem spürbaren Bruch in den bislang noch weitgehend synchronisierten Zeitordnungen, nämlich zu einem Bruch zwischen der Zeit der primären Lebensprozesse und der technologisch beschleunigten Verkehrszeit. Diese „zerbrochene Zeit setzt eine Abkoppelung der Gegenwart von der Vergangenheit in Gang, die von einer manischen Dynamisierung des Fortschritts und einer nostalgischen Rückwärtsgewandtheit begleitet wird“ (Heidbrink 1997, S. 13). Das psychische Leiden unter der Beschleunigung wurde bereits damals zu einem vielfach behandelten Thema der ärztlichen und kulturkritischen Diskurse. Besondere Beachtung fand die Zivilisationskrankheit der Nervosität, die „Neurasthenie“, von der der amerikanische Nervenarzt George Miller Beard 1869 zum ersten Mal sprach (Beard 1869). Auch Künstler und Intellektuelle nahmen diese Veränderung der gesellschaftlichen Zeitökonomie frühzeitig wahr. Alfred Kubin schuf 1901 die Lithographie „Der Mensch“, in der die rasende Beschleunigung des beginnenden Jahrhunderts eindrucksvoll vorweggenommen ist (Abb. 2). 1909 erschien das „Futuristische Manifest“ des italienischen Schriftstellers und späteren Faschisten Filippo Marinetti. Es ist die manische Feier einer entfesselten Geschwindigkeit, in der die Technik ästhetisiert, ein Rennautomobil mit der Siegesgöttin Nike verglichen, und die Vergangenheit kurzerhand zum Feind erklärt wird. So ruft Marinetti schließlich dazu auf, Venedig, die wohl melancholischsten aller Städte, durch Überflutung zu zerstören, um so ihrem Vergangenheitssog, dem verhassten „passatismo“ zu entkommen (Marinetti 1909/1986).
Abb. 2. Alfred Kubin: Der Mensch (1902) 32
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Zur gleichen Zeit wird aber auch die Melancholie, die Gebrochenheit des modernen Subjekts zum verbreiteten Thema der Kunst und Literatur, etwa in vielen Werken von Edvard Munch (Abb. 3). Zwischen 1913 und 1927 erscheint Marcel Prousts Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, der schwermütige Versuch der Wiedervergegenwärtigung einer Zeit, die doch nur noch in fernen Bildern der Erinnerung und in verborgenen leiblichen Erfahrungen fortbesteht.
Abb. 3. Edvard Munch: Melancholie (1892)
Wir treffen also zu Beginn des letzten Jahrhunderts auf eine gleichsam bipolare Befindlichkeit der Gesellschaft, die ihren wohl beklemmendsten Ausdruck in der anfänglichen Euphorie und der späteren nihilistischen Depression des 1. Weltkriegs fand. Dieses Schwanken zwischen enthemmter Euphorie und Siegestaumel einerseits, und abgründiger Verzweiflung und Todessehnsucht andererseits bestimmte das Jahrhundert. Abb. 4 zeigt ein besonders beklemmendes Bild des bekanntesten futuristischen Malers Tullio Crali, „Sturzflug auf die Stadt“ (1939), das durchaus als Verherrlichung des Flugs gemeint ist und vielleicht nicht zufällig an den 11. September 2001 erinnert. Denn auch in der Gegenwart finden wir sowohl Züge der manischen Entfesselung als auch der depressiven Stockung der Zeit.
Abb. 4. Tullio Crali: Sturzflug auf die Stadt (1939)
Bereits in den 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts wurde eine Zunahme depressiver Erkrankungen in europäischen Ländern mit einem Industrialisierungsschub nachgewiesen (Hagnell et al. 1982, Klerman et al. 1985, Strömgren et al. 1989). In den letzten Jahrzehnten lässt sich nun in den hochindustrialisierten Gesellschaften ein starker, teilweise ein dramatischer Anstieg der depressiven 33
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Erkrankungen beobachten. Nach Studien in den USA stieg die Häufigkeit zwischen 1945 und 1990 um das Zehnfache, auch wenn dabei veränderte Diagnose-Gewohnheiten sicher eine Rolle spielten (Weissman und Klerman 1978, Cross National Collaborative Group 1992). In Deutschland ergab eine Studie der Deutschen Angestellten-Krankenkasse (DAK) allein zwischen 1997 bis 2004 eine Zunahme psychischer Erkrankungen um 70 Prozent, darunter überwiegend depressive und Angststörungen.1 Besonders betroffen waren interessanterweise die 15- bis 34-Jährigen mit nahezu einer Verdoppelung der Fallzahlen. Der französische Soziologe Alain Ehrenberg spricht in seiner Analyse der Depression vom „erschöpften Selbst“, das von der Dynamik der modernen Gesellschaft überfordert sei: „…die Welt hat neue Regeln. Es geht nicht mehr um Gehorsam, Disziplin und Konformität mit der Moral, sondern um Flexibilität, Veränderung, schnelle Reaktion und dergleichen. Selbstbeherrschung, psychische und affektive Flexibilität, Handlungsfähigkeit: Jeder muss sich beständig an eine Welt anpassen, die … ihre Beständigkeit verliert, an eine instabile, provisorische Welt mit hin und her verlaufenden Strömungen und Bahnen. … (Diese Veränderungen) vermitteln den Eindruck, dass jeder, auch der Einfachste und Zerbrechlichste, die Aufgabe, alles zu wählen und alles zu entscheiden, auf sich nehmen muss“ (Ehrenberg 2004, S. 222). Dazu kommen die zunehmende Arbeitsverdichtung, die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses und diskontinuierliche Erwerbskarrieren. An die Stelle der Konstanz klassischer bürgerlicher Existenzen tritt der von Richard Sennett (1998) beschriebene „flexible Charakter“, der sich unentwegt den wechselnden Anforderungen des Marktes anzupassen hat. Die Depression bedeutet die Kapitulation vor diesen Erwartungen; sie wird zur Epidemie der Erschöpften, die sich ihr Zurückbleiben als mangelnde Flexibilität und Belastbarkeit, als individuelle Schuld zuschreiben. Ihnen steht auf der anderen Seite eine Schicht von Leistungsträgern gegenüber, die die manische Beschleunigung in allen Lebensbereichen vorantreiben. Paul Virilio hat schon vor 3 Jahrzehnten die Entfesselung der Geschwindigkeit in den westlichen Gesellschaften als „Dromokratie“, die „Herrschaft des Wettlaufs“ beschrieben (Virilio 1978, 1980). Diese Gesellschaften kennen keinen Stillstand, kein Verweilen, keine Handlungshemmung; unentwegte Aktivität, technischer Fortschritt und wirtschaftliches Wachstum sind die obersten Gebote. Die Zeitabläufe, die früher noch dem menschlichen Leib und den Lebensprozessen angemessen waren, haben sich längst verselbständigt. Die Geschwindigkeit des Lebendigen wird abgelöst von der Geschwindigkeit des Unbelebten, nämlich der Daten, Bilder und Finanzströme, die sich beliebig beschleunigen lassen. Die explosionsartige Beschleunigung des Verkehrs lässt zwar auch für den Menschen die Entfernungen schrumpfen, aber um den Preis, dass nun das Nahe nicht mehr wahrgenommen wird. Die Beschleunigung in der Zeit führt zu einem Verschwinden des Raumes, in dem man verweilen, sein kann. Es entsteht eine unruhige Aufenthaltslosigkeit, eine "zielstrebige Ziellosigkeit". Die erstrebten Ziele verlieren schon bei der Annäherung ihren Reiz, so als ahnte man die wiederum ausbleibende Erfüllung schon voraus. Hier treffen wir auf eine eigentümliche Dialektik: In Gesellschaften, die von einer Beschleunigung von Konsumtion, technischer Kommunikation und Mobilität geprägt sind, nehmen die Erfahrungen von Sinnerfüllung und Nähe offensichtlich eher ab. Eine Gesellschaft, die eine immer größere Vielzahl von Wünschen weckt und suggeriert, sie alle erfüllen zu können, führt zu immer mehr Frustration. Ihre suchtartige Grundstruktur entwertet die Erfahrungen und beraubt sie ihres Sinns. Daher wird ein Typus 1
DAK-Gesundheitsreport 2005, http://www.dak.de/content/filesopen/Gesundheitsreport_2005.pdf 34
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der Zeiterfahrung bedeutsam, den ich zu Beginn schon als Ausdruck einer Beschleunigung der Eigenzeit erwähnt habe, nämlich die Langeweile. Langeweile gibt es nicht nur in der gehemmten, untätig-wartenden Form, sondern auch als die unterschwellige Langeweile der leeren Betriebsamkeit, der Hyperaktivität, in der das Subjekt im Grunde seiner eigenen Tätigkeiten und Genüsse entfremdet ist. In dieser leeren Hyperaktivität liegt bereits ein Moment von Sinnverlust und Depressivität. Doch diese latente Depressivität muss mit allen Mitteln abgewehrt werden. Rauschhafte Vergnügungssucht ebenso wie „Workaholismus“, ja überhaupt alle Formen von Sucht können aus dieser existenziellen Langeweile resultieren. In der Dromokratie, im allgegenwärtigen Wettlauf ist Dabeisein alles; die Individuen geben alles, um nicht depressionsbedingt aus dem Rennen zu scheiden. Denn wer einmal aus dem beschleunigten Getriebe herausfällt, wird so bald nicht wieder eingegliedert; er gerät in die depressive Schattenseite der dromokratischen Gesellschaft. Daher ist die Depression eine ständige Gefahr, ja ein Feind, den es zu bekämpfen gilt. Ehrenberg zeichnet ein düsteres Zukunftsszenario: „Wir werden mehr und mehr mit Psychopharmaka leben, die die Stimmung verbessern, die Selbstbeherrschung erhöhen und vielleicht auch die Schrecken der Existenz abmildern“ (Ehrenberg 2004, S. 5). Die Fortschritte der Neurobiologie, der biologischen Psychiatrie und der pharmazeutischen Industrie befördern ein Menschenbild, das es zunehmend nahe legen wird, uns mittels Bio- und Anthropotechniken selbst zu steuern. Freilich werden niemals alle im Rausch von Beschleunigung und Konsum mithalten können. Es ist abzusehen, dass die permanente technologische und ökonomische Revolutionierung unserer Lebenswelt immer häufiger zu Desynchronisierungen führen wird, da sie die Anpassungsfähigkeit der Individuen überfordert. Immer mehr Menschen erkranken seelisch und körperlich an ihrer Arbeit, soziale Bindungen zerfallen als Folge der Hypermobilität, während gleichzeitig millionenfach Arbeitskräfte dauerhaft brachliegen, weil sie von der ständig beschleunigten Maschinerie nicht mehr genutzt werden können. So entwickelt sich in den westlichen Gesellschaften zunehmend eine bipolare Kluft zwischen dem depressiven und dem manischen Pol, die sich auf unterschiedliche soziale Gruppen und Schichten verteilen. Wir erleben dies als Psychiater aus nächster Nähe, denn immer öfter kommen Menschen in unsere Klinik, die den beschleunigten Prozessen nicht mehr gewachsen sind und aus der gemeinsamen Zeit heraus in die Depression fallen. Ihr Leiden zeigt uns, daß die biologischen und psychischen Anpassungsleistungen des Menschen nicht beliebig zu steigern sind.
Schluss: Die anthropologische Proportion Depression und Manie lassen sich sowohl in individueller, psychopathologischer Hinsicht als auch in gesellschaftlicher Perspektive als Zeitstörungen verstehen, nämlich als Desynchronisierungen oder Entgleisungen der Zeitökonomie. Gerade ihre Bipolarität, also ihr innerer Zusammenhang und Umschlag ineinander kann uns lehren, welche Bedeutung dem Ausgleich polarer Gegensätze für die menschliche Existenz ebenso wie für menschliche Gesellschaften zukommt. Man kann diesen Ausgleich mit einem Begriff Ludwig Binswangers auch als „anthropologische Proportion“ bezeichnen.2 Der Begriff bezeichnet das jeweils angemessene Verhältnis polarer Prinzipien, die in der menschlichen Welt immer neu in Balance zu bringen sind: etwa Bewegung und Ruhe, Beschleunigung und Retardie2
Vgl. Binswanger (1955), der dabei primär das Verhältnis von „Höhe“ (Streben nach Idealen und Zielen) und „Weite“ (Verankerung im Zwischenmenschlichen und Kreatürlichen) des menschlichen Daseins im Blick hatte. Hier wird der Begriff in einem weiteren Sinn verstanden. 35
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rung, Innovation und Tradition, Verausgabung und Erholung, Wunsch und Verzicht oder Autonomie und Bindung. Die angemessene Proportion zwischen solchen Polen kann in einem rhythmischen Ausgleich entstehen wie bei Wachen und Schlafen, Arbeit und Ruhe, usw. – Rhythmus besteht ja grundsätzlich in der Verknüpfung eines vorwärts treibenden und eines hemmenden, retardierenden Moments. Die Proportion kann aber auch darin liegen, in der Bewegung zum einen Pol hin den jeweils anderen präsent zu halten. Eine Wunscherfüllung kann durchaus Verzicht beinhalten, wenn sie im Bewusstsein der Beschränkung und des Ausschlusses anderer Möglichkeiten geschieht. Innovation enthält auch Tradition, wenn sie nicht bloß das Alte auswechselt, sondern das Neue aus dem Bestehenden heraus entwickelt. Das Wesen der bipolaren Störungen besteht nun im Verlust dieses Maßes, der anthropologischen Proportion. Betrachten wir die Manie, so entkoppelt sich in ihr der expansive Pol von seinem hemmenden Gegenüber. Das retardierende Moment der Existenz wird nicht mehr wahrgenommen, sondern verdrängt oder überrollt. Dadurch entsteht der Schein, als ließen sich Wünsche immer weiter steigern, Prozesse unaufhörlich beschleunigen, Informationen unbegrenzt vervielfachen oder Machtsphären immer weiter ausdehnen. Diese lineare Fortschreibung der manischen Bewegung übersieht jedoch den dialektischen Umschlag, der nach dem Verlust der Proportion notwendig erfolgen muss. Die ständige Steigerung von Lust und Rausch mündet schließlich in Monotonie, Leere und Erschöpfung – bis hin zur Depression, in der sich nun der hemmende Pol der Existenz seinerseits entkoppelt und verabsolutiert. Die manische Beschleunigung ist so gesehen nichts anderes als eine Flucht nach vorn – vor einem lauernden Schrecken, einer latenten Depressivität, vor Leid, Krankheit, Scheitern und Tod. Blicken wir abschließend noch einmal auf die Gesellschaft, so scheint es an der Zeit, gegen die manische Beschleunigung Strategien der Retardierung und Entschleunigung zu entwickeln. In der krampfhaft optimistischen Kultur der universellen Kommunikation und Konsumtion könnte es sogar darum gehen, eine Haltung der Melancholie zu kultivieren, nämlich als eine Kultur der Langsamkeit, der Erinnerung, ja sogar der Trauer, die ja der Depression entgegengesetzt ist. Melancholie bedeutet nicht Depressivität, sondern vielmehr ein zwar schmerzliches, aber nicht pathologisches Lebensgefühl, das freilich in der Regel nicht in den Vorstandsetagen zu Hause ist; ein Lebensgefühl, das die Erinnerung an die Vergangenheit, an die Opfer der Geschichte wach hält; das der Natur als einer zu bewahrenden Gegenwelt eingedenk bleibt; und das die Bedächtigkeit gegenüber der Beschleunigung, die Skepsis gegenüber der Euphorie des Fortschritts festhält, ohne deshalb in Kulturpessimismus und Fortschrittsfeindlichkeit zu verfallen. Unsere Gesellschaft kämpft einen unermüdlichen Kampf gegen die Depression, an dem unsere Disziplin, die Psychiatrie wesentlich mitbeteiligt ist. Bei all seinen berechtigten Aspekten sollten wir uns doch auch fragen, inwieweit wir uns damit nicht in den Dienst einer kollektiven Manie der Gesellschaft stellen. Ihr gegenüber ein Moment von Skepsis, ja von Melancholie zu bewahren, wäre nicht zuletzt ein Zeichen der Solidarität mit unseren Patienten, das uns als Psychiatern gut anstünde. Der Text wurde mit freundlicher Genehmigung der Gesellschaft für hermeneutische Anthropologie und Daseinsanalyse dem Bulletin 2012.2 der Gesellschaft entnommen. Autor: Prof. Dr. med. Dr. phil. Thomas Fuchs Karl Jaspers-Professor für Philosophische Grundlagen der Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Heidelberg
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Stadtleben: psychisch krank durch Ausgrenzung Die Lebensbedingungen in den Metropolen erhöhen offensichtlich das Risiko für psychische Erkrankungen. Betroffen sind davon überdurchschnittlich oft Migranten. Die Globalisierung bewirkt, dass überall auf der Welt Menschen vom Land in die Städte ziehen, um dort für ihre daheim gebliebenen Familien Geld zu verdienen. Als Migranten sind sie in ihrer neuen Heimat oft fremd und bisweilen ausgegrenzt. Doch die soziale Isolation birgt Stress und Gefahr für die Psyche. Beim letzten World Health Summit diskutierten Mediziner deshalb auch über die psychische Gesundheit der Städter. Spektrum.de sprach mit Andreas Heinz, der als Klinikdirektor für Psychiatrie und Psychotherapie an der Berliner Charité zu interkultureller Psychiatrie forscht. Herr Professor Heinz, warum treten psychische Probleme ausgerechnet in Städten vermehrt auf? Andreas Heinz: Es sind nicht die Städte an sich, die schlecht sind. Es geht darum, was in den Städten passiert. Da gibt es verschiedene Belastungsfaktoren: Unglaublich beengte Wohnverhältnisse, Menschenmassen, durch die man sich kämpfen muss – das ist schon nicht angenehm. Aber als wirklicher psychischer Belastungsfaktor, der auch krank machen kann, geht es um Fragen der sozialen Unterstützung oder Ausgrenzung. Das hat etwas damit zu tun, wie anonym ich in den Städten lebe, ob ich ein Netzwerk aufweise von Leuten, auf die ich mich verlassen kann, ob ich zu einer Bevölkerungsgruppe gehöre, die akzeptiert und respektiert ist, oder aber, ob ich zu einer gehöre, die ausgegrenzt ist und diskriminierend oder anderweitig schlecht behandelt wird. Das sind Faktoren, die wirklich eine Rolle spielen für die psychische Gesundheit. Welche Gruppen sind davon besonders betroffen? Es gibt natürlich die vereinsamenden alten Menschen oder die körperlich Behinderten, die möglicherweise nicht einbezogen werden. Es trifft unterschiedlichste Menschen, die subjektiv oder objektiv ausgeschlossen werden und nicht dazugehören – Migranten bilden darunter eine der größten Gruppen. Dazu existieren beispielsweise gute Zahlen aus England für das Auftreten von Psychoseraten, also Schizophrenien und anderen Erkrankungen. Dort erkranken besonders die Menschen, die auch rassistisch diskriminiert werden können – also Einwanderer aus Afrika und der Karibik, die bereits allein durch ihre Hautfarbe auffallen. Auffällig ist dabei, dass die Psychoseraten in den Stadtteilen besonders hoch ausfallen, in denen besonders wenige Angehörige dieser Gruppen leben. Das ist insofern interessant, weil man ja leider davon ausgehen muss, dass Stadtteile mit vielen Zuwanderern auch ärmer sind. Es kommt also nicht einfach darauf an, wie viel Geld im Stadtteil steckt, sondern wie viel Solidarität die Bewohner erfahren und wie ausgegrenzt oder diskriminiert sie werden.
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Stress in der Stadt
Worauf lässt sich das Gefühl der Ausgrenzung zurückführen? Es tritt auf, wenn ich mich nicht mehr auf bestimmte Formen der sozialen Interaktion verlassen kann, zum Beispiel auf gegenseitige Hilfe. Sehr wichtig ist zum anderen Vertrauen – das Wissen, wenn ich das einhalte, richten sich auch die anderen danach. Und umgekehrt kann ich mich darauf verlassen, dass die Dinge ebenso Unterstützung erfahren und sicher sind, die ich mache. Wenn man sich Stressskalen betrachtet, führen die Bereiche oder Ereignisse, die quasi sozialen Unterstützungsverlust bedeuten. Das sind offenbar für Menschen sehr schwer auszuhaltende Stressfaktoren. Was passiert dabei im Kopf, kann man das physiologisch erklären? Bei den Psychosen scheint das Dopamin eine große Rolle zu spielen, bei den affektiven Erkrankungen – ganz allgemein gesprochen – eher der Botenstoff Serotonin. Dieser scheint nicht wie Dopamin die Bedeutung von Sinneseindrücken hervorzuheben, sondern vermittelt eher ein Gefühl der Sicherheit. Analog wird das Fehlen von Serotonin mit solchen Phänomenen wie erhöhter Angst, verstärkter Wahrnehmung von Bedrohung und übrigens auch erhöhter Aggressivität in Verbindung gebracht. Dieses Botenstoffsystem kann offenbar durch soziale Isolation gestört werden. Wenn etwa Affen nach der Geburt voneinander getrennt werden und ihnen nicht die Unterstützung durch ihre Eltern und die Gruppe zuteil wird, dann geht der Serotoninumsatz im Gehirn massiv in den Keller. Allerdings mit unterschiedlichem Ausmaß, je nach der genetischen Konstitution der Tiere. Was macht das Serotonin in dem Moment im Körper? Bildgebende Verfahren zeigen einem zwar immer nur die Spitze des Eisbergs dessen, was da passiert. Aber man kann sagen, dass der Serotoninumsatz und -gehalt offenbar mit der Aktivierbarkeit von Hirnregionen wie des Mandelkerns – der Amygdala – zusammenhängt, die man insbesondere mit Gefühlen der Angst und Bedrohung in Verbindung bringt. Darauf kann man offenbar durch soziale Interaktion Einfluss nehmen. Wenn das Gefühl jedoch so verstärkt zentralnervös prozessiert wird, dann müssen die Betroffenen dies kompensieren: Sie müssen sich quasi mit anderen Hirnteilen, die eher der Sprache zugänglich sind oder mit der Sprache verbunden sind, in der Situation wieder rational ein Stück beruhigen. Und zum anderen müssen sie natürlich lebensgeschichtlich in der Lage sein, sich etwas Beruhigendes einzuflüstern. Wenn diese Menschen allerdings schon viele schlechte Erfahrungen hinter sich haben, in denen sie sich als bedroht oder ausgegrenzt erlebten oder körperlich verletzt, sexuell missbraucht oder vergewaltigt wurden, fällt dies einem natürlich viel schwerer. Dann kann man sich kaum 39
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einreden, dass schon alles gut ausgehen werde, alles vielleicht nicht so schlimm sei und man ja im Zweifelsfall auch Hilfe erhalten könnte, sollte man sich bedroht fühlen. Wie spiegelt sich das dann bei Migranten wider? Wir haben zum Beispiel bei Interviews mit Patienten türkischer Herkunft erlebt, dass sie erwarten, im Gesundheitssystem nicht besser behandelt zu werden als auf dem Wohnungsmarkt. Sie treten mit diesen negativen Erfahrungen erst einmal generalisierend an alle Institutionen heran. In diesem Moment ist es wichtig, dass sich die Institution von sich aus bemüht, mit allen Menschen offen und fair umzugehen und auf Leute zuzugehen. Die Ermordung von Migranten durch eine Untergrundorganisation, die über Jahre unbemerkt bleibt, ist ja nur die brutalste Ausprägung einer gesellschaftlichen Gewalt, die leider existiert. Das nehmen betroffene Menschen durchaus auch als Bedrohung wahr. Sie beschäftigen sich in Berlin vor allem mit türkischstämmigen Migranten. Wie steht es hier um deren Versorgung? Zunächst einmal finden sich in Deutschland keine guten nationalen Zahlen über Erkrankungsraten von Migranten gegenüber der deutschstämmigen Bevölkerung. Derartige Daten sollte man aber eigentlich haben, wir wissen wollen, wie hoch der entsprechende Versorgungsbedarf ist. Die türkischen Migranten bilden die größte Zuwanderergruppe in Berlin. Deshalb haben wir eine von der VW-Stiftung geförderte Studie durchgeführt, in der wir nach den Beschwerde- und Erkrankungsraten bei diesem Personenkreis gefragt haben. Dadurch entdeckten wir, dass diese Menschen überdurchschnittlich häufig psychische Beschwerden schildern, obwohl wir nur vier türkischsprachige Psychiater in Berlin aufweisen. Gibt es da Bestrebungen, das in Zukunft zu ändern? Bezüglich der Psychotherapeuten wird bereits diskutiert, ob bestimmte sprachliche Kenntnisse ein Zulassungskriterium sein könnten. Bisher wird das allerdings noch nicht umgesetzt. Ich glaube aber, dass es gar nicht immer nur um die Sprache geht. Vielmehr möchten viele jemanden treffen, der versteht, was man selber durchgemacht hat – in welchen Situationen man stecken kann, wie es im Ausländeramt zugeht oder wenn bestimmte Verhaltensweisen oder Ängste auftreten. Es geht um das Gefühl, dass mich mein Psychotherapeut versteht, da er meine Erfahrungen mit mir teilen kann. Mit welchen Problemen müssen Sie dabei rechnen? Wir müssen vor allem darauf achten, wie man sich missverstehen kann. Zum Beispiel können die selben Worte in unterschiedlichen Zusammenhängen etwas anderes bedeuten. Das mag bisweilen natürlich kulturell bedingt sein. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass eben auch Unterschiede zwischen Schichten oder wegen der Abstammung auftreten. Wir haben etwa eine Befragung unter Jugendlichen unterschiedlicher Herkunft gemacht, was "Drogen" eigentlich sind. In unserem System würde man traditionell den Leuten sagen, eine Droge macht dann abhängig, wenn es körperliche Entzugserscheinungen gibt, und wenn man sie absetzt, hat der abhängige Mensch das Gefühl, er könnte nicht ohne die Droge leben: Er kommt also "nicht davon los". Mit diesen Begriffen ziehen sie schon bei deutschen Jugendlichen Kritik auf sich. Aber bei türkischen Altersgenossen meinte ein großer Teil, dass dies Quatsch sei, denn ein starker Mensch könne ohne alles leben. Unter Deutschen sagten dies zehn Prozent, bei den Jugendlichen mit türkischem Migrationshintergrund stieg der Anteil dagegen auf fast die Hälfte der Befragten. Sie können also mit den am besten gemeinten Erklärungen völligen Schiffbruch erleiden, wenn sie sich nicht mit den Menschen auseinandersetzen. Sie müssen fragen, was dieses oder jenes für bestimmte Bevölkerungsgruppen bedeutet, wenn wir diesen oder jenen Punkt quasi übersetzen. Das kann man aber natürlich nicht für alle Kulturen einzeln herausfinden und als Handreichung geben. Ich glaube, wir brauchen einfach ein Interesse und müssen im direkten Kontakt nachfragen. Vielen Dank für das Gespräch. © Spektrum.de
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Bücher Dazu fällt mir eine Geschichte ein Direkt-indirekte Botschaften für Therapie, Beratung und über den Gartenzaun
Autor: Bernhard Trenkle Mit einem Vorwort von Manfred Lütz 167 Seiten, Kt, 2012 € 21,95 ISBN 978-3-89670-774-1
Denkanstöße, Ratschläge oder Suggestionen, die in eine Geschichte verpackt sind, entfalten oftmals eine „Depotwirkung“, die um ein Vielfaches stärker ist als jede direkte Intervention. Bernhard Trenkle steht mit seinen Erzählungen von gefundenen und persönlich erlebten Geschichten in dieser Tradition der indirekten Interventionen von Milton H. Erickson. Eingebettet in kurze Fallvignetten aus Therapie, Coaching und Supervision, werden die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten rasch deutlich. Neun Grundregeln für das Erzählen von persönlichen Geschichten ebnen den Zugang zu dieser Beratungsform. Hilfestellungen, wie einem im richtigen Moment die passende Geschichte einfällt, erleichtern die Umsetzung im Praxisalltag. Über den fachlichen Nutzen hinaus hat dieses Buch mit seinen mal witzigen, mal ergreifenden, oft überraschenden Geschichten einen hohen Unterhaltungswert und gibt Einblick in die Schatzkiste eines der erfahrensten und international bekanntesten Hypnotherapeuten.
„Bernhard Trenkle ist ein strahlender Fixstern am Himmel der Psychotherapie in Deutschland. Denn er versteht es wie kein anderer, Geschichten zu erzählen, heilende Geschichten, die Patienten den Weg aus der Sackgasse weisen und ganz sachte mögliche Lösungen in die Problemverstrickungen flechten. ‚Dazu fällt mir eine Geschichte ein‘ ist ein kluges Lehrbuch und ein unterhaltsamer Reader zugleich, vor allem aber ein wundervolles, lehrreiches Lesevergnügen.“ Manfred Lütz 41
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Über den Tellerrand hinaus…
Ein Blick auf den Inhalt des Bulletins der Gesellschaft für hermeneutische Anthropologie und Daseinsanalyse Bulletin 2012/2
Die Arbeit des Negativen im Werk André Greens Charles Mendes de Leon Was hast du gegen ein humanistisches Menschenbild? Helmut Holzhey Replik auf Helmuth Holzhey Alice Holzhey Was hast Du gegen die wachsende Virtualität unserer Welt? Eduard Kaeser Nicht den Sack, den Esel schlagen Replik auf Eduard Käser Franz Derendinger Suizidbeihilfe für Menschen mit psychischen Krankheiten? Bernhard Küchenhoff Die Menschengestalt in ihrem humanen Ausdruckswert Ein Denkanstoss Gian Klainguti
Ausgebufft oder ausgepowert? Ältere haben weniger Stress Wie verhalten sich ältere Arbeitnehmer bei Stress im Beruf? Wie gehen sie mit neuen Anforderungen um? Die Psychologin Cornelia Rauschenbach von der Universität Münster untersuchte eine Stichprobe von 708 fest angestellten Mitarbeitern unterschiedlichen Alters - und stellte dabei in ihren Resultaten verbreitete Annahmen über das Alter in Frage. Die Aufsehen erregenden Resultate ihrer Forschungsarbeit stellte sie jetzt auf dem 47. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs) in Bremen vor. Die Einführung eines neuen Computerprogramms im Betrieb veranlasste danach ältere Arbeitnehmer signifikant weniger häufig als erwartet, sich zurückzuziehen oder zu resignieren. Vielmehr setzten sie sich aktiv mit der neuen Aufgabe auseinander, suchten Information über das neue Programm und aktivierten ihre größere Erfahrung im Umgang mit unbekannten Herausforderungen. Dabei erlebten sie weniger 42
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Stress und arbeiteten effizienter als jüngere Kollegen. Die Resultate stellen psychologische Theorien in Frage, denen zufolge primäre, also auf die Veränderung von Stressfaktoren in der Umwelt gerichtete Kontrolle vom mittleren Erwachsenenalter an zunehmend durch sekundäre Kontrolle ersetzt werden, also Mechanismen, den Stress auszublenden oder zu beschönigen, Bestätigung im Vergleich zu anderen Kollegen zu suchen oder eine gute Seite an der Situation zu sehen. „Ältere haben mehr Ressourcen“, fasste die Psychologin zusammen. „Sie setzen ihre größere Erfahrung ein und reagieren ausgebufft. Das Bild vom resignierenden Alten am Arbeitsplatz muss dringend revidiert werden.“ Kontakt: Cornelia Rauschenbach rauschenbach@uni-muenster.de, Anna Grube & Guido Hertel Homepage des Projekts: http://wwwpsy.unimuenster.de/Psychologie.inst3/orgpsy/research/ProjektAgingWorkforce.html
„Sie bewerben sich also um unsere freie Stelle…“ Sexistisches Verhalten im Alltag: Eine Heidelberger Sozialpsychologin weist deutliche Effekte selbst bei scheinbar geringfügiger Bedrohung nach.
Die Situation: Eine Frau bewirbt sich um einen Arbeitsplatz. Der Mann ist der Boss, und er verhält sich auch so: mustert die Bewerberin von oben bis unten, unterbricht sie, äußert Widerspruch und rückt seinen Stuhl nah an ihren heran. In einem Experiment der Universität Heidelberg untersuchte die Sozialpsychologin Sabine Koch die Auswirkungen von sexistischem Verhalten auf die Leistungen der Frau. Die Resultate ihrer Studie präsentierte sie auf dem 47. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie vom 26. bis 30. September 2010 in Bremen. DGPs: Frau Koch, Frauen werden nervös und können schlechter rechnen, wenn ein Mann ihnen zur Begrüßung eine Hand auf den Oberarm legt und ihnen in einem nachgestellten Bewerbungsgespräch ein paar Zentimeter zu nahe rückt. In welchem Jahrhundert leben wir? Sabine Koch: Es ist die Wirklichkeit des Jahres 2010. Nach wie vor erleben Frauen so etwas wie Bedrohung durch Stereotypen, auch in scheinbar harmlosen Situationen. Wir haben die Bewerbung um einen Arbeitsplatz nachgestellt und das Flirt- und Dominanz-Verhalten des männlichen Interviewers dabei bewusst sehr subtil variiert. Es geht also nicht um zotige Anspielungen oder plumpe Anmache – es ging uns um eine Form von Sexismus knapp unterhalb der Wahrnehmungs- oder gar Alarmschwelle. Eine jovial gemeinte Berührung am Arm, eine Sitzposition, bei der Körperkontakt jederzeit möglich ist: Das genügt, um Frauen so stark zu verunsichern, dass sie anschließend in einem Test ihrer mathematischen Fähigkeiten deutlich schlechter abschneiden. DGPs: Aber merkwürdigerweise nur auf mathematischem Gebiet. Die sprachlichen Leistungen in dem Intelligenz-Strukturtest, mit dem Sie die Effekte in Ihrer Untersuchung erfassten, blieben dagegen gleich – ob das Gespräch mit der jeweiligen Bewerberin nun unter den als sexistisch definierten oder unter neutralen Bedingungen gelaufen war. Wie ist das zu erklären?
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Sabine Koch Koch: Wir sprechen hier von einem „Stereotype Threat“, also von den bedrohlichen Qualitäten eines Stereotyps. Mathematik ist eine stark stereotypisierte Domäne: Es gibt sehr weit verbreitete Erwartungen über den Zusammenhang von Geschlecht und mathematischen Fähigkeiten. Und wie wir in unserer Studie zeigen konnten: Das Stereotyp wirkt auch, wenn es durch das Verhalten des Gegenübers ausgelöst wird. DGPs: Die Frauen verhalten sich, wie der Mann es erwartet, auch ohne dass er es so beabsichtigt? Koch: Genau so ist es, und offen gestanden: Es hat uns selber überrascht, wie deutlich die Effekte waren, obwohl unser Experiment ja nur in einer gespielten Situation stattfand, mit Psychologiestudentinnen als Bewerberinnen, und obwohl 52 Testpersonen eine eher kleine Stichprobe sind. Wir haben durch den Verbaltest belegt, dass sexistisches Verhalten nicht generell die Leistung beeinflusst, sondern tatsächlich nur die Leistungen in der stereotypisierten Domäne. Und das gesellschaftliche Vorurteil besagt eben, dass Frauen in Mathematik eher schwach sind. DGPs: Und genau deshalb sind sie es wirklich? Koch: Stereotype Threat wird in der Literatur bezeichnet als „die wahrgenommene Bedrohung durch ein Stereotyp, die handlungs- und leistungsrelevante Auswirkungen auf die betroffene Person hat“. Genau diese Angst ist der Grund, warum die Frauen in unserer Untersuchung tatsächlich schlechtere Leistungen in Mathematik zeigten. Sie ist ein fester Bestandteil des weiblichen Selbstkonzepts – so fest, dass sich in amerikanischen Studien sogar Mathematikerinnen und Ingenieurinnen verunsichern ließen. Kontakt: PD Dr. Sabine Koch, Universität Heidelberg, Institut für Psychologie, Hauptstr. 47-51, 69117 Heidelberg. Mail: sabine.koch@urz.uni-heidelberg.de
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Zu guter Letzt…
Heim Wenn Du die Nacht allein bestehst etwas getrunken, doch nicht trunken durch Schnee und Stäubungen und Funken gottweisswoher den Heimweg gehst den Heim-wohin, man liegt und starrt leer, doch natürlich könnte man sich füllen mit Reminiszenz, Reden, Wortpostillen, durch die die Zeit sich spreizt als Gegenwart, doch hinter ihr und vor ihr steht der Ahn sowie die Enkel, wechselnd und geteilte: meinst du, dass etwas anderes in dir weilte mit Blick und Bild als der uralte Wahn? Gottfried Benn
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