Texte januar 2014

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Das Online-Magazin für psychologische Themen, Schicksalsanalyse und therapeutische Arbeit Herausgeber: Alois Altenweger, www.psychologieforum.ch, www.szondi.ch, Szondi-Institut Zürich


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Das Online-Magazin Für psychologische Themen, Schicksalsanalyse Und therapeutische Arbeit Januar 2014 Szondi-Institut Zürich

Die Verantwortung für den Inhalt der Texte, die vertretenen Ansichten und Schlussfolgerungen liegt bei den Autoren bzw. den zitierten Quellen Fotos: Alois Altenweger Szondi-Institut Zürich, Krähbühlstrasse 30, 8044 Zürich, www.szondi.ch, info@szondi.ch , Tel. 044 252 46 55


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Inhalt Thema im Schnittpunkt Schizophrenien behandeln – wissen wir was wir tun? Mit mathematischen Modellen Schizophrenie diagnostizieren

Psychologisches Phobien - wir sehen, was wir fürchten

Medizin und Gesundheit Therapie der Migräne: Erwartungshaltung des Patienten so wichtig wie der Wirkstoff Die richtige Portion Dopamin für einen tiefen Schlaf

Über den Tellerrand hinaus Junkfood kann Gedächtnis innerhalb einer Woche schädigen

Zu guter Letzt Knarren eines geknickten Astes Hermann Hesse


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_Thema im Schnittpunkt

Schizophrenien behandeln – wissen wir was wir tun? Zum Vorneherein muss Entwarnung gegeben werden: Das Buch «Schizophrenien: Wissen Verstehen - Handeln» ist kein Fachbuch und verlangt auch keine weiterbildungsorientierte Haltung, sondern will Distanz nehmen und eindringlich zur Beschäftigung mit den eigenen Motiven, Routinen und nicht hinterfragten Prämissen der therapeutisch-ärztlichen Arbeit mit Schizophrenen auffordern. Alois Altenweger

In einem weiten Bogen durch philosophische Erörterungen, aktuelle Diagnosemethoden und einem Gang durch jüngste wissenschaftliche Erkenntnisse - von Neuroanatomie bis zu Epigenetik und bildgebenden Verfahren - zeigt der Autor in sehr persönlicher Weise wie er mit der Schizophrenie umgeht und wie er auf schizophrene Menschen eingeht. Dabei ist ein wichtiger Bezugspunkt seiner Darlegungen die Arbeit mit der psychoanalytischen Psychosenpsychotherapie. So postuliert er, dass trotz aller (mutmasslich medizinischer) Forschungsfortschritte deren «zusätzlich harte Arbeit[…] nötig» ist. «Wissenschaftlich validierte und manualisierte ,Therapievehikel‘ lassen uns zu oft im Stich». Aber nicht nur Therapievehikel sondern modernere Methoden der Diagnostik wie die funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT), die er kurz erläutert, sind für ihn wegen deren hoher Störempfindlichkeit nur bedingt brauchbar bei der Arbeit mit Schizophrenen. Der Autor besteht mit Nachdruck darauf, dass es nahezu unmöglich sei, die unter sehr heiklen Umständen gewonnenen fMRT-Resultate sinnvoll und schlüssig zu verwenden. Schon existierende Vorbehalte des Lesers gegenüber bildgebenden Verfahren werden noch gestärkt und nähren vorzüglich bestehende Zweifel.

Schliesslich geht es dem Autor darum zu zeigen, wie zentral es für den Therapeuten ist, «in den Wahn seines Patienten wie in eine inszenierte Handlung» einzutreten. Mehrmals weist er hartnäckig darauf hin, dass ohne die einfühlende Akzeptanz des Kranken sowie die Einfindung in dessen Wirklichkeitskonstruktion bzw. Wahn oder in dessen miteinander verknüpften Wahngebilden kein Zugang zu ihm möglich ist. Die freundlich-zurückhaltende Abstinenz des Psychoanalytikers dürfte fehl am Platze sein, ebenso wie interventionistisches Deuten und Drängen. Ein gutes Stück weit sollte der Wahn als besonderer Entwurf eines Weltverständnisses und einer Wirklichkeitskonstruktion (im Sinne des Konstruktivismus) vom Therapeuten verstanden und respektiert werden. Immer auf dem Hintergrund der Erkenntnis, dass jeder Mensch seine Weltanschauung konstruiert hat, die immer mehr oder weniger von denjenigen der anderen abweicht. Die Gültigkeit einer Wirklichkeitskonstruktion ergibt sich zu allererst daraus, dass man Elemente dieses Konstrukts im Rahmen einer


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Gemeinschaft wieder findet (beispielsweise ein Rechtsempfinden als Recht kodifiziert), wenn diese Elemente allgemein verbindlich erklärt worden sind. Zwar kann von einer objektivierenden Struktur letztlich nicht die Rede sein, aber die Ordnung wird von den

Eine Wirklichkeitskonstruktion – das geschmückte und geschützte Selbst

meisten als passend empfunden, so dass Abweichungen und Verstösse definiert bzw. kodifiziert werden können. Dies sollte man sich immer vor Augen halten, wenn man «absonderliches» Verhalten als Störung und Krankheit ansieht. Wie ein ceterum censeo durchzieht das Postulat des Autors von der individuellen Wirklichkeitskonstruktion seinen Text und damit seinen Appell an den Leser: es gilt, «mit schizophrenen Menschen zu einem ‚gemeinsamen Verstehen‘ zu gelangen» und das heisst, bei diesem Menschen eine Pforte des Verstehens seiner Wirklichkeitskonstruktion zu finden. Hier müsste man den Schicksalsanalytiker Leopold Szondi zitieren, der in seiner Lehre von den genetisch bedingten


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Bedürfnisaffinitäten davon ausgeht, dass das Verständnis für den Schizophrenen umso nachhaltiger ist, je ausgeprägter eine – zwar passiv-rezessive – schizophrene Anmutung im Therapeuten selbst virulent ist. Die sich daraus entwickelnde Grundfrage ist nun, wie dieses «Potential für teilbares Verstehen» beschaffen ist und wie sich «die beiden ‚Weltfremden‘ mit- und untereinander verständigen» können. Es sei zentral, so der Autor, die «Integration von Sichtweisen der schizophrenen Menschen» zu versuchen und «Brücken zu bauen, diese Menschen zu erreichen und ihre Welt für uns zugänglicher und verständlicher zu machen und umgekehrt.» Hoch problematisch dürfte in dieser Perspektive vor allem das «umgekehrt» sein, denn hier muss die genetische Stimmgabel das eigene schizophrene Potential zum Klingen bringen. Ein Vorhaben der ehrgeizigen Art, welches den einen oder anderen Praktiker wohl die Stirn runzelt, denn hier stossen wir auf den gewaltigen Komplex der unbewussten Abwehr des Therapeuten gegen sein mögliches schizophrenes Erleben! Aus diesem Grund greift der Arzt, Psychiater und Therapeut zu «manualisierten Therapievehikeln», um sich unbewusst gegen eine schizophrene «Induktion» zu schützen. Das ist Abwehr in Reinkultur! Vom Bezugspunkt «Schizophrenie» aus gesehen, sind die Texte zur Relativitätstheorie und zur Quantenphysik unter dem Titel «Was bedeutet Verstehen?» im zweiten Hauptteil des Buches (Teil B) eher Fremdkörper denn als hilfreiche Brücken zum Problem des schizophrenen Verstehens. Denn dass diese Pfeiler moderner Physik schwer verständlich sind zeigt nur, dass es auch in der Naturwissenschaft schwer verständliche Dinge gibt. Diese Ausführungen sind zwar ansprechend und haben dem Rezensenten zum Auffrischen physikalischen Wissen gedient, doch wäre es logischer gewesen, ein Kapitel zum Thema Konstruktivismus und Schizophrenie einzufügen, um den Vorgang der Strukturierung einer Schizophrenie zu umreissen und zugleich zu zeigen, dass der sog. Normalmensch sich in seinem Weltverständnis nicht prinzipiell sondern nur quantitativ vom Schizophrenen unterscheidet. Neben einer vom Autor offensichtlich seit langem gepflegten Engagement für eine wissenschaftlichen Annäherung von Psychoanalyse und Psychiatrie – wobei letztere eher lernend wäre – tragen seine eigenen Fälle als Beispiele von dosiert einfühlender Arbeit mit Schizophrenen viel zum Verständnis seines Anliegens bei. Dass er noch für eine intensivere und praxisorientierte Ausbildung der Ärzte die Lanze bricht und eine kleckernde Art von Weiterbildung anprangert, zeigt sein Verantwortungsgefühl gegenüber dem Patienten. Doch lassen wir ihn noch einmal zu Worte kommen: «Es ist einzig die tief gehende Erfahrung mit den Patienten und kontinuierliches therapeutisches Engagement, welche weiterhelfen können, die Qualität nachhaltig zu verbessern. Hier wird Zeit beim Patienten und nicht Zeitverlust vor dem PC gebraucht!» Titel: Schizophrenien: Wissen-Verstehen-Handeln, Brücken bauen zwischen Wahnwelten und Realität Autor: Josi Rom Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht, 2013 ISBN 978-3-525-46265-2 Preis: Fr. 40.90


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Mit mathematischen Modellen Schizophrenie diagnostizieren Forschern der Universität und ETH Zürich ist es gelungen, anhand von mathematischen Modellen verschiedene Subtypen von Schizophrenie zu identifizieren. Das bereitet den Weg für zukünftige präzisere Diagnosen und gezieltere Therapien. Maja Schaffner

Subgruppen von Schizophrenie erkennen: Mittels funktioneller Magnetresonanztomographie wird ersichtlich, in welchem Ausmass drei Hirnregionen miteinander kommunizieren. (Bild: zVg)

Um psychische Leiden zu erkennen und zu diagnostizieren, stehen heute meist nur standardisierte Fragebögen zur Verfügung. Diese reichen allerdings nicht aus, um beispielsweise auch verschiedene Subtypen einer Krankheit zu bestimmen. Oft dauert es viele Monate, bis eine wirksame Therapie gefunden ist, auf die sie ansprechen. «Patienten mit psychischen Erkrankungen werden heute mehr oder weniger nach dem Prinzip ‹Versuch und Irrtum› behandelt», sagt Klaas Enno Stephan, Professor am Institut für Biomedizinische Technik von UZH und ETH Zürich. Forscher aus Stephans Gruppe, angeführt vom Informatiker Kay Brodersen und in Kooperation mit der Berliner Charité (Universitätsmedizin), stellen nun einen Ansatz vor, der Abhilfe schaffen und dazu beitragen soll, dass psychische Erkrankungen in Zukunft genauer diagnostiziert werden können (Paper in NeuroImage:Clinical). Konkret zeigen die Wissenschaftler, dass es möglich ist, mit Hilfe eines mathematischen Modells von Hirnaktivität Testpersonen mit und ohne Schizophrenie zu unterscheiden und Schizophrenie-Patienten in Subgruppen zu unterteilen.


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Kommunizierende Hirnteile Das laut Stephan «einfache mathematische Modell», das diese Differenzierung möglich macht, analysiert Bilder des aktiven Gehirns, die mittels funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRI) erzeugt werden. Daraus berechnet es die Koppelungsstärke zwischen drei ausgewählten Hirnregionen. Diese Berechnungen ermitteln die Intensität der Kommunikation zwischen diesen Regionen und sollen Rückschlüsse auf die Art und den Schweregrad der Erkrankung der Schizophrenie-Patienten zulassen. Arbeitsgedächtnis als Indikator Um ihr Modell zu testen, liessen die Wissenschaftler 41 Patienten mit Schizophrenie und eine Kontrollgruppe mit 42 gesunden Probanden Bilder anschauen und sich diese merken. Während dieser Arbeitsgedächtnis-Aufgabe zeichneten die Forscher die Hirnaktivität der Probanden auf. Denn: «Das Arbeitsgedächtnis ist ein einfacher Gradmesser für die kognitive Leistungsfähigkeit und ist bei Schizophrenie-Patienten oft stark beeinträchtigt», erklärt Stephan. Wie sich zeigte, unterschieden sich die Koppelungsstärken zwischen den drei untersuchten Hirnarealen deutlich, wenn Kontrollprobanden und Patienten verglichen wurden. Mithilfe des Modells der Forscher liessen sich aber auch die Schizophrenie-Patienten selbst in drei Gruppen mit unterschiedlichen Hirnaktivitäts-Mustern einteilen. Die Überraschung: Beim Abgleich mit den – bis dahin nicht in die Analyse einbezogenen – klinischen Symptomen stellte sich heraus, dass die drei gefundenen Gruppen tatsächlich verschiedene Schweregrade der Schizophrenie repräsentieren. Weitere Studien nötig Stephans Team konnte damit zeigen, dass die Methode in der Realität funktioniert und sich mathematische Modelle als Testmethode zur genaueren Diagnose von psychischen Erkrankungen eignen könnten. «Auch das Arbeitsgedächtnis hat sich als relevantes Merkmal und geeigneter Indikator für Subgruppen der Schizophrenie erwiesen», hält Stephan fest. Das aktuelle Modell ist allerdings nur ein erster Schritt in diese Richtung. Es ist noch lange nicht bereit für den Einsatz in der Praxis. Bis es soweit sein wird, sind noch weitere Studien nötig. «Insbesondere fehlen Tests mit Patienten, die zum Zeitpunkt der Untersuchung noch keine Medikamente einnehmen und bei denen die Forscher über die Zeit verfolgen können, wie sich die Krankheit entwickelt, welche Medikamente helfen und ob die Vorhersagen des Modells zum Krankheitsverlauf eintreffen», erklärt Stephan. «Unsere Gruppe gibt es, um solche Modelle zu bauen und zu testen. Viele dieser Modelle werden scheitern, aber einige werden funktionieren und wir hoffen, dass das die Psychiatrie befähigen wird, neue Wege zu gehen», sagt Stephan. Maja Schaffner ist freischaffende Journalistin.


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_Psychologisches

Phobien - wir sehen, was wir fürchten Psychologen vom Otto-Selz-Institut der Universität Mannheim haben herausgefunden, dass Arachnophobiker Spinnen anders sehen als gesunde Menschen. Es ist die erste Studie, die wissenschaftlich belegt: Wie die Welt für Angstpatienten aussieht, liegt im Auge des Betrachters. Katja Bär Universität Mannheim

Pro Sekunde strömen Millionen von Sinnesreizen auf den Menschen ein. Nur einen Bruchteil davon nehmen wir bewusst wahr. Welche, entscheidet unser Gehirn. Evolutionsbedingt filtert es vor allem jene Reize heraus, die für unser Überleben wichtig sind – wichtig sind Reize, die Gefahr signalisieren. Nur so schaffen wir es, in Gefahrensituationen blitzschnell zu reagieren. Dieses System gilt in besonderem Maße für Menschen mit Phobien, sei es mit einer Angst vor engen Räumen, vor dem Autofahren oder vor Tieren wie großen Hunden oder Spinnen. Sie reagieren heftiger auf phobierelevante Reize als Menschen ohne diese Ängste. Personen mit Spinnenphobie berichten zudem häufig, dass sie die Tiere größer, beeindruckender und bedrohlicher wahrnehmen. Alles nur Einbildung? Angst vor der Phobie Forscher des Otto-Selz-Instituts für Angewandte Psychologie der Universität Mannheim haben jetzt gezeigt, dass Menschen mit Spinnenangst ihre Umgebung tatsächlich anders sehen als gesunde Menschen. „Wir können mit unserer Studie belegen, dass phobierelevante Reize die visuelle Verarbeitung im Gehirn steuern. Es handelt sich bei den Angaben der Patienten also weder um Übertreibung noch um Einbildung“, erklärt Professor Dr. Georg W. Alpers, Inhaber des Lehrstuhls für Klinische und Biologische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Mannheim. „Alles deutet darauf hin, dass individuelle Unterschiede zwischen Menschen - in unserem Experiment waren es zwei Personengruppen - beeinflussen, wie sie ihre Umwelt wahrnehmen.“ Phobiker nehmen Spinnen früher und länger wahr In ihrer Studie haben die Mannheimer Psychologen Dr. Antje Gerdes und Professor Alpers jeweils zwanzig Menschen mit Spinnenphobie und nichtängstliche Kontrollprobanden getestet. Dazu haben sie mit der Methode der so genannten binokularen Rivalität gearbeitet,


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bei der über ein Stereoskop jeweils auf das linke und das rechte Auge zwei unterschiedliche Bilder projiziert werden. Im Experiment war es das Bild einer Spinne oder einer Blume gepaart mit dem neutralen Bild einer geometrischen Form. „Es ist nicht möglich, dauerhaft zwei verschiedene Bilder gleichzeitig wahrzunehmen. Sie stehen in einem Wettstreit, den das Gehirn zu Gunsten eines Bildes entscheidet – ohne, dass wir darauf bewusst Einfluss nehmen können“, erklärt Professor Alpers. Während ein Bild zeitweise dominiert, wird das andere unterdrückt und für die Wahrnehmung unzugänglich. Kurzum: Es wird nicht gesehen. Mit ausgeklügelten Methoden haben die Forscher weiter belegt, dass dem Bericht der Probanden, was sie sehen, getraut werden kann. Dazu präsentierten sie unterschiedliche Mischbilder und simulierten damit den Wettstreit der Bilder in den eigentlichen Testdurchläufen. Das Forschungsergebnis ist eindeutig: Menschen mit Angst nehmen das Bild der Spinne früher, länger und damit dominanter wahr als gesunde Probanden. In der Hälfte aller Durchgänge sahen die Phobiker zuerst das Spinnenbild. Das ist doppelt so oft wie bei gesunden Kontrollprobanden. Außerdem sahen sie es im Schnitt um die Hälfte länger. Bei der Variante mit dem Blumenbild gab es bei ängstlichen und nichtängstlichen Probanden hingegen keine signifikanten Unterschiede in der Wahrnehmung. Die Mannheimer Wissenschaftler führen das Ergebnis auf die emotionale Bedeutung der Spinnen für die Patienten zurück. „An der Instanz im Gehirn, wo entschieden wird, welches Bild Einzug in die bewusste Wahrnehmung erhält, spielen Emotionen wie Angst offenbar eine große Rolle“, erklärt Dr. Gerdes. „Das Spinnenbild gewinnt bei Menschen mit Phobie dadurch früher und häufiger den Wahrnehmungswettstreit gegen das neutrale Bild.“ Dies ist den Forschern zufolge die erste Studie, die belegt, dass unterschiedliche Patientengruppen relevante Merkmale der Welt unterschiedlich sehen. „Alle Probanden bekommen dieselben Bilder auf die Netzhaut projiziert. Je nachdem, welche Bedeutung sie für den Probanden haben, werden sie im Wahrnehmungsapparat jedoch unterschiedlich verarbeitet. Eine phänomenale Leistung des Gehirns“, sagt Professor Alpers. Dieser Befund sei auch für die therapeutische Praxis von großer Bedeutung, fügt Dr. Gerdes hinzu: „Unsere Ergebnisse können Therapeuten dabei helfen, ein größeres Verständnis für diese Krankheit aufzubringen. Die Patienten übertreiben nicht, wenn sie davon berichten, wie bedrohlich sie Spinnen wahrnehmen. Wir haben in unserer Studie gezeigt: Wenn ein Mensch sich vor etwas fürchtet, hinterlässt das bei ihm eine andere Wahrnehmung.“ (Kommentar: Doch die Frage bleibt: woher kommt die Angst, die dann angesichts der Spinne sich objektiviert? Hier setzt die psychologische Arbeit erst richtig ein.) Kontakt: Prof. Dr. Georg W. Alpers Lehrstuhl für Klinische und Biologische Psychologie und Psychotherapie Universität Mannheim L13,15-17 68131 Mannheim E-Mail: alpers@uni-mannheim.de


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_Medizin und Gesundheit

Therapie der Migräne: Erwartungshaltung des Patienten so wichtig wie der Wirkstoff Positive Informationen zu Arzneimitteln können die Wirksamkeit der Medikamente verstärken und sollten von Ärzten gezielt zum Nutzen ihrer Patienten eingesetzt werden. Dies fordern Experten der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) und der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft (DMKG), bekräftigt durch eine aktuelle Studie mit einem Migränemittel von Wissenschaftlern der Harvard-Universität. Frank A. Miltner Deutsche Gesellschaft für Neurologie „Die Untersuchung ist für alle Ärzte, die Medikamente verordnen, enorm wichtig, da sie zeigt, wie sehr die pharmakologische Wirkung einer Substanz durch den vom Arzt angekündigten Wirkeffekt beeinflusst werden kann“, betont die Neurologin Stefanie Förderreuther, Generalsekretärin der DMKG und Oberärztin an der Neurologischen Klinik der Ludwig-Maximilian-Universität München.


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Die Harvard-Wissenschaftler hatten Migränepatienten nach dem Zufallsprinzip entweder ein Placebo oder eine Standardarznei gegeben. Der Umschlag, in dem die Pillen enthalten waren, war entweder negativ als „Placebo“, positiv mit "Arzneimittel" oder unsicher mit "Arzneimittel oder Placebo" beschriftet worden. Die Wirksamkeit sowohl des Placebos als auch des wirkstoffhaltigen Medikaments (Verum) wurde durch die positive Erwartung gesteigert. Der Placebo-Effekt blieb sogar dann erhalten, wenn der Patient wusste, dass er ein Placebo nimmt. Negative Erwartungen hingegen verschlechterten die Therapie und verringerten sogar die Wirkung des Verums bis auf Placebo-Niveau. Die Information des Arztes zum Medikament – ob positiv oder negativ – erwies sich somit als ebenso relevant für die Therapie wie die Medikation. Für die kürzlich im Fachblatt Science Translational Medicine veröffentlichte Studie wurden bei 66 Patienten, die schon seit langer Zeit an Migräne litten, insgesamt 459 Kopfschmerzattacken unter sieben verschiedenen Bedingungen dokumentiert. Die erste Untersuchung diente dabei der Ermittlung eines Ausgangswertes für das Ausmaß der Schmerzen ohne jegliche Behandlung, jeweils 30 Minuten und 2,5 Stunden nach Beginn der Kopfschmerzen. Bei den sechs folgenden Attacken erhielten die Patienten randomisiert zur Hälfte eine häufig verschriebene Migräne-Arznei oder ein Placebo – in diesem Fall Pillen mit dem exakt gleichen Aussehen, jedoch ohne aktiven Wirkstoff. Sie wurden angewiesen, diese Pillen eine halbe Stunde nach Beginn der Kopfschmerzen einzunehmen. Variiert wurde außerdem die Information auf dem Umschlag, in dem die Pillen enthalten waren. Je positiver die Information, desto größer der Therapieerfolg Es bestätigte sich die Hypothese der Autoren um Professor Rami Burstein vom Beth Israel Deaconess Medical Center der Harvard Medical School, dass sich das klinische Ergebnis der Behandlung bei akuter Migräne sowohl mit Placebo als auch mit Verum verbessert, wenn die begleitende Information von „negativ“ über „unsicher“ zu „positiv“ verändert wird. Auf einer zehn Punkte umfassenden Skala besserten sich die Schmerzen der Patienten, die Placebo oder Verum in einem Umschlag erhielten, auf dem „Placebo“ stand, in den zwei Stunden nach Einnahme um durchschnittlich 26,1 Prozent. Pillen in Umschlägen, die mit „Arzneimittel oder Placebo“ beschriftet waren, besserten die Schmerzen im Mittel um 40,1 Prozent – und damit ebenso gut wie eindeutig mit „Arzneimittel“ gekennzeichnete Pillen (39,5 Prozent). Wie Burstein erklärt, ist eine der Implikationen seiner Studie, dass die Arznei wirksamer wird, wenn Ärzte bei ihren Patienten positive Erwartungen wecken. Placebo-Effekt trotz korrekter Information Wie zu erwarten, war die Abnahme der Schmerzen unter Verum mit 47,6 Prozent deutlich größer als unter Placebo (20,7 Prozent). „Besonders interessant ist aber, dass der PlaceboEffekt selbst dann erhalten bleibt, wenn ein Patient weiß, dass er Placebo nimmt“, hebt Förderreuther hervor. In der Studie waren nämlich die Schmerzen von Placebo-Empfängern,


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die die Information „Placebo“ erhalten hatten, eindeutig geringer gewesen, als in der Anfangsbedingung ohne Behandlung. Wie die Forscher errechneten, trug der Placebo-Effekt unter jeder der drei Arten von Informationen mehr als 50 Prozent zur Wirksamkeit der Behandlung bei – der Placebo-Effekt war somit robuster als die pharmakologische Wirkung. „Offenbar wird der Placebo-Effekt nicht nur von der eigenen Erwartungshaltung bestimmt, sondern auch von früheren positiven Lerneffekten, die sich allein aus dem Vorgang, eine Tablette einzunehmen, ableiten“, interpretiert dies Förderreuther. Umgekehrt zeige die Studie, dass die Wirkstärke von Verum auf Placebo-Niveau reduziert werden kann. „Wer glaubt, durch die Einnahme einer Tablette mit einem pharmakologisch definierten Wirkmechanismus standardisierte und immer gleiche Effekte zu erzielen, irrt“, sagt die Neurologin. Offenkundig passiere weit mehr an unspezifischen Effekten, die auf ganz anderen Wirkmechanismen basieren. Diese Mechanismen zu erforschen und die Ergebnisse schnellstmöglich in die Praxis zu bringen, sei eine Herausforderung, der sich die Neurologie stellen sollte, so Förderreuther.

Fachlicher Kontakt bei Rückfragen: PD Dr. med. Stefanie Förderreuther Neurologische Klinik der LMU München Ziemssenstrasse 1, 80336 München Tel.: +49 (0) 89 5160 2459, E-Mail: Steffi.Foerderreuther@med.uni-muenchen.de


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Die richtige Portion Dopamin für einen tiefen Schlaf Eine schlaflose Nacht mit verschiedenen Folgen: Der eine schläft umso tiefer nach, der andere steckt die fehlende Erholung einfach weg. Die Schlaf-Wach-Regulation beim Menschen ist individuell und zu einem grossen Teil genetisch bedingt. Forschende der Universität Zürich zeigen erstmals, dass auch ein Gen, das die Signalübertragung von Dopamin im Gehirn mitprägt, eine wichtige Rolle spielt – auch bei der Wirkung von Kaffee auf den Schlaf. Nathalie Huber Universität Zürich

Fast einen Drittel unseres Lebens verbringen wir im Schlaf. Mit ihm im Dunklen liegt nach wie vor eine allgemeine akzeptierte Antwort auf die Frage, warum wir denn schlafen. Die biologische Funktion und die komplexen Prozesse des Schlafs sind deshalb eine der brennendsten offenen Fragen der Neurowissenschaften und der medizinischen Forschung. Forschende des Instituts für Pharmakologie und Toxikologie und des Instituts für Medizinische Molekulargenetik der Universität Zürich (UZH) konnten nun erstmals nachweisen, dass auch das Dopamin an der physiologischen Schlaf-Wach-Regulation des Menschen mitwirkt. Dieser Botenstoff ist an fundamentalen Vorgängen im Gehirn wie der Bewegungskontrolle, der Steuerung der Emotionen, Belohnungsprozessen und der Schmerzverarbeitung beteiligt – über seine Bedeutung für den physiologischen Schlaf war bislang nur wenig bekannt. «Wir zeigen, dass genetisch bedingte Unterschiede für Transportmoleküle des Dopamins die individuelle Schlafregulation beim Menschen mitprägen», erläutert Studienleiter Hans-Peter Landolt die Resultate, die im «The Journal of Neuroscience» veröffentlicht sind. Individuelle Unterschiede beim Schlaf sind genetisch bedingt Wie andere wichtige physiologische Prozesse des Organismus wird der Schlaf homöostatisch reguliert. Dies bedeutet, dass ein erhöhtes Schlafbedürfnis nach Schlafentzug durch einen verlängerten und intensiveren Erholungsschlaf wettgemacht wird. Die Schlaftiefe kann durch die Ableitung der Hirnstromwellen, das sogenannte Elektroenzephalogramm (EEG), bestimmt werden; die Hirnstromaktivität im Tiefschlaf sowie die Folgen von Schlafentzug sind von Mensch zu Mensch sehr verschieden. «Diese Unterschiede sind zu einem grossen Teil genetisch bedingt, doch die verantwortlichen Gene sind fast noch völlig unbekannt», so HansPeter Landolt.


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Sein Forschungsteam konnte nun zeigen, dass eine Variante beim Gen des DopaminTransporters (DAT) bei diesen interindividuellen Unterschieden eine wichtige Rolle spielt. Das DAT-Protein bindet das Dopamin und beendet damit in bestimmten, für die SchlafWach-Regulation wichtigen Regionen des Gehirns die Signalübertragung zwischen den Nervenzellen durch diesen Botenstoff. Das Gen, das die Bildung des DAT-Proteins codiert, liegt beim Menschen in verschiedenen Varianten vor. Die untersuchte Gen-Ausprägung führt nun dazu, dass auf der Oberfläche der Nervenzellen weniger DAT-Proteine ausgebildet werden und somit die Signalübertragung über das Dopamin sehr effizient verläuft. Die Autorinnen und Autoren der Studie haben gefunden, dass Probanden mit dieser Gen-Variante nach einer Nacht ohne Schlaf ein höheres Schlafbedürfnis aufweisen und in der Erholungsnacht tiefer schlafen als Versuchspersonen, die mehr DATProteine ausbilden. Unterstützt wurde die Studie durch das Zürcher Zentrum für integrative Humanphysiologie (ZIHP) und den Klinischen Forschungsschwerpunkt Sleep & Health der UZH. Sensible Reaktion auf Kaffee Interessant ist auch der folgende Befund: Die Probandinnen und Probanden mit weniger DAT-Proteinen und einer effizienten Dopamin-Übertragung reagieren nicht nur stärker auf den Schlafentzug, sondern auch auf Stimulanzien wie Kaffee. Trinken sie vor der Erholungsnacht auch nur eine geringe Menge Koffein, etwa einen doppelten Espresso, schlafen sie weniger tief als ohne Stimulans. Diese Beeinträchtigung der Schlaftiefe durch Koffein wird bei den Probanden, die mehr DAT-Proteine ausbilden und damit die Übertragung durch das Dopamin abbremsen, nicht beobachtet. «Dopamin ist massgeblich an der homöostatischen Regulation des Schlafs und ebenfalls an der Störung der Schlaftiefe durch Koffein beteiligt», fasst Landolt zusammen. Diese Erkenntnisse können womöglich Grundlagen für neuartige Therapien liefern, um schwierig zu behandelnde Schlaf-Wachstörungen etwa bei Patienten mit Parkinson’scher Krankheit zu behandeln – die Krankheit ist durch den Verlust von Zellen im Gehirn, welche Dopamin produzieren, gekennzeichnet. Und: Auch das Verständnis für die individuell stark unterschiedlichen Störungen des Schlafs durch Stimulanzien und Koffein kann verbessert werden. Kontakt: Prof. Dr. Hans-Peter Landolt Institut für Pharmakologie und Toxikologie Universität Zürich E-Mail: landolt@pharma.uzh.ch


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_über den Tellerrand hinaus

Junkfood kann Gedächtnis innerhalb einer Woche schädigen Auch ein kurzzeitiger Verzehr von Junkfood kann sich negativ auf die Gehirnleistung auswirken, wie Forschungsergebnisse der University of New South Wales in Australien zeigen. Erstmalig haben Forscher nachgewiesen, dass Ratten, die mit sehr fett- und zuckerhaltigem Futter gefüttert wurden, nach nur einer Woche unter Gedächtnisstörungen litten.

Die Gedächtnisschädigung bezog sich auf die Wiedererkennung von Orten, wobei die Tiere Probleme hatten zu merken, wenn ein Gegenstand verrückt wurde. Diese Tiere litten auch unter Entzündungen im hippocampalen Bereich des Gehirns, welcher mit der räumlichen Erinnerungsfähigkeit in Verbindung gebracht wird. „Wir wissen, dass Übergewicht Entzündungen im Körper auslöst, aber bis vor Kurzem war uns nicht bewusst, dass es auch Änderungen im Gehirn hervorruft“, so Professor Margaret Morris von der medizinischen Fakultät der UNSW.

Junk life an die Wand gefahren?


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„Das Überraschende an den Forschungsergebnissen ist die Schnelligkeit, mit der sich die Wahrnehmungsfähigkeit verschlechterte“, sagt Professor Morris. „Unseren vorläufigen Daten zufolge ist die Schädigung auch nicht reversibel wenn die Ratten wieder auf eine gesunde Ernährung umgestellt werden, was sehr bedenklich ist. “Einige Teile des Gedächtnisses der Tiere blieben von Beeinträchtigungen verschont, und das unabhängig von der jeweiligen Ernährung. Alle Tiere konnten gleichermaßen gut Dinge wiedererkennen, egal ob sie zu der Gruppe mit dem „gesunden“ Futter, dem „Cafeteria“Futter (sehr fett- und zuckerhaltig, mit Kuchen, Chips und Keksen) oder zur „gesund plus Zucker“ Gruppe gehörten. Die festgestellten Gedächtnisveränderungen traten auf, noch bevor Gewichtsunterschiede zwischen den Tieren festgestellt werden konnten. Die weitere Forschungsarbeit soll klären, wie Entzündungen im Gehirn der Tiere mit ungesunder Ernährung verhindert werden können. „Wir vermuten, dass die Ergebnisse auch auf Menschen übertragbar sind“, sagt Professor Morris. „Die Ernährung wirkt sich in jedem Alter auf das Gehirn aus, aber je älter wir werden, desto entscheidender ist sie und könnte auch dem Abbau kognitiver Fähigkeiten entgegenwirken.“ Die Forschung baut auf früherer Arbeit auf, aus der Rückschlüsse auf Übergewicht gezogen werden können. „Wenn man bedenkt, dass kalorienreiches Essen die Funktion des Hippocampus verschlechtert, so könnte ein erhöhter Konsum noch zusätzlich zur Gewichtszunahme beitragen, indem das episodische Gedächtnis beeinträchtigt wird“, so Professor Morris. „Die Menschen sind sich möglicherweise ihrer körpereigenen Signale wie Heißhungerattacken oder Sättigungsgefühl weniger bewusst“.

Weitere Informationen: Institut Ranke-Heinemann / Australisch-Neuseeländischer Hochschulverbund Pressestelle Friedrichstr. 9 10117 Berlin Email: berlin@ranke-heinemann.de Tel.: 030-20 96 29 593 http://www.ranke-heinemann.de/


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_zu guter Letzt

Knarren eines geknickten Astes Splittrig geknickter Ast, hangend schon Jahr um Jahr, Trocken knarrt er im Winde sein Lied, Ohne Laub, ohne Rinde, Kahl, fahl, zu langen Lebens, zu langen Sterben müd. Hart klingt, rauh sein Gesang, Klingt trotzig, klingt bang Noch einen Sommer, noch einen Winter lang. Hermann Hesse, 1962


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