Texte mai 2013

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Das Online-Magazin für psychologische Themen, Schicksalsanalyse und therapeutische Arbeit Herausgeber: Alois Altenweger, www.psychologieforum.ch und Szondi-Institut Zürich


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«texte» Bildlegende: Auch wenn Törchen noch so kunstvoll verschlossen sind, heiss ist es immer dahinter.

Das Online-Magazin für psychologische Themen, Schicksalsanalyse und therapeutische Arbeit Mai 2013 Szondi-Institut Zürich

Die Verantwortung für den Inhalt der Texte, die vertretenen Ansichten und Schlussfolgerungen liegt bei den Autoren bzw. den zitierten Quellen. Fotos: © Alois Altenweger Szondi-Institut, Krähbühlstrasse 30, 8044 Zürich, www.szondi.ch, info@szondi.ch, Tel. 044 252 46 55


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Inhalt Thema im Schnittpunkt Narzissmus – selbstverliebte Vorstandschefs Je narzisstischer ein Vorstandschef, umso höher seine Bereitschaft, in seinem oder ihrem Unternehmen neue Technologien einzuführen – insbesondere wenn diese Innovationen von der Öffentlichkeit als „heilsbringend“, aber risikoreich wahrgenommen werden. Diesen Zusammenhang konnten Forscher der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) erstmals in einer gemeinsam mit dem IMD in Lausanne und der Pennsylvania State University durchgeführten Studie nachweisen. Blandina Mangelkramer

Psychologisches Schicksalsanalytisches Coaching Alois Altenweger

Über den Tellerrand hinaus Der positive Blick auf sich selbst Auch im hohen Lebensalter scheinen Menschen in der Lage zu sein, sich selbst in einem positiven Licht zu sehen und dementsprechend zu bewerten – dies ungeachtet zahlreicher Herausforderungen und Einbußen, die ein hohes Lebensalter mit sich bringt. Zu diesem Schluss kommt eine Studie, die Wissenschaftler des Instituts für Psychologie gemeinsam mit Wissenschaftlern der University of British Columbia, Kanada und der Flinders University, Australien kürzlich im Journal of Personality and Social Psychology veröffentlicht haben.

Zur psychotherapeutischen Arbeit Neues zur Therapie der Panikstörung

Bücher Psychotherapie für Frauen: Wenn Bodystyling schadet und Körperkult zur Krankheit wird

Zu guter Letzt Heisser Tag Hermann Lenz


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_thema im schnittpunkt Selbstverliebte Vorstandschefs investieren häufiger in bahnbrechende Technologien Blandina Mangelkramer

Je narzisstischer ein Vorstandschef, umso höher seine Bereitschaft, in seinem oder ihrem Unternehmen neue Technologien einzuführen – insbesondere wenn diese Innovationen von der Öffentlichkeit als „heilsbringend“, aber risikoreich wahrgenommen werden. Diesen Zusammenhang konnten Forscher der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) erstmals in einer gemeinsam mit dem IMD in Lausanne und der Pennsylvania State University durchgeführten Studie nachweisen. Personal Computer, Online-News, E-Books, und Low Cost Airlines: Dies sind nur einige Beispiele für bahnbrechende – so genannte „diskontinuierliche“ – Innovationen, die zu ihrer Zeit dem bestehenden Geschäftsverständnis grundsätzlich zu widersprechen schienen und damit ganze Märkte durcheinander wirbelten. Wovon aber hängt es ab, ob ein etabliertes Unternehmen sich auf eine diskontinuierliche Technologie einlässt oder nicht? In einer Studie untersuchten Wolf-Christian Gerstner und Andreas König (beide FAU Erlangen-Nürnberg) sowie Albrecht Enders (IMD, Lausanne) und Donald C. Hambrick (Pennsylvania State University) mögliche Faktoren am Beispiel der Reaktion traditioneller Pharmaunternehmen auf die Biotechnologie zwischen 1980 und 2008. Das Ergebnis: Mehr als bislang angenommen hängt die Entscheidung für oder gegen Investitionen in eine diskontinuierliche Technologie von der Persönlichkeit des Vorstandschefs und seinem Ego ab. Eine Erkenntnis, die so manche Unternehmensentscheidung auch in der Retrospektive in einem anderen Licht erscheinen lässt. „Wir konnten feststellen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ein Unternehmen in diskontinuierliche Technologien investiert, umso höher ist, je narzisstischer der jeweilige CEO ist“, sagt Andreas König. „Die Pharmaunternehmen, die von besonders selbstverliebten CEOs geleitet wurden, haben mehr als doppelt so häufig BiotechInitiativen im Rahmen von Akquisitionen, Allianzen oder internen Forschungsprojekten durchgeführt als die Unternehmen, die von weniger narzisstischen CEO geführt wurden.“ Fünf zentrale Charakteristika schreiben die Wissenschaftler Narzissten zu: (1) Ein übersteigertes Selbstbewusstsein, welches jedoch (2) immer wieder durch Aufmerksamkeit bestätigt werden muss, (3) ein starkes Streben nach Dominanz, (4) mangelnden Willen, die Gefühlen anderer in eigene Entscheidungen zu integrieren und (5) eine gewissen Rastlosigkeit und Ungeduld. Bereits in früheren Forschungen war Ko-Autor Donald Hambrick dem Thema Narzissmus unter CEOs auf den Grund gegangen. Dabei war eine der Herausforderungen, Messgrößen für Narzissmus bei CEOs zu entwickeln: Da eine Erhebung über Fragebögen hier nicht erfolgversprechend war, galt es, ein Evaluationsmodell zu entwickeln, das sich auf Indikatoren stützt – etwa die Prominenz des Fotos eines CEO im Geschäftsbericht oder die relative Häufigkeit von Nennungen seines Namens in den Pressemitteilungen des jeweiligen Unternehmens. Dabei ließ sich eine hohe Konsistenz innerhalb der Betrachtung einer einzigen Person feststellen, während das Ergebnis im Vergleich mit dem Vorgänger oder Nachfolger des jeweiligen CEO deutlich abwich. „Narzissmus ist eine außerordentlich interessante, weil ambivalente


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Persönlichkeitseigenschaft“, erläutert Wolf-Christian Gerstner. Gemeinsam mit Andreas König, Albrecht Enders und Donald Hambrick hat er die These entwickelt, erhöhter Narzissmus bei CEOs führe dazu, dass die von ihnen geleiteten Unternehmen neue Technologien eher adoptieren. „Narzissten glauben, solche Innovationen beherrschen zu können, während andere CEOs vor dem zu großen Risiko eher zurückschrecken“, so Gerstner. Zugleich gingen die Forscher davon aus, dass Technologien, denen eine bahnbrechende Wirkung zugeschrieben wird, viel größere Aufmerksamkeit von Seiten der Öffentlichkeit erfahren. Ein CEO kann also damit rechnen, dass er mehr Aufmerksamkeit erhält, wenn er in diskontinuierliche Technologien investiert, als wenn er denselben Pfaden folgt, die das Unternehmen schon immer ging. Auch dies fanden die Forscher bestätigt.


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Ein weiterer zentraler Beitrag der Studie baut genau auf diesen Effekt auf. „Im Laufe unserer Studie haben wir beobachtet, wie sehr etwa die öffentliche Aufmerksamkeit für Biotechnologie – wie sie sich in den Medien widerspiegelt – über die Zeit schwankte“, berichtet Albrecht Enders. „Bei ihrem Aufkommen wurde die Technologie zunächst nicht besonders beachtet. Dann gab es Phasen großer, auf- und abschwellender öffentlicher Debatten, sowohl über die Chancen der Biotechnologie als auch über ihre wirtschaftlichen, medizinischen und sozialen Risiken. Heutzutage ist die Biotechnologie weitgehend aus der Diskussion verschwunden.“ Die Autoren untersuchten darauf hin, ob narzisstische CEOs vor allem in Phasen großer öffentlicher Aufmerksamkeit die Initiative ergreifen – mit eindeutigem Ergebnis: „Narzisstische CEOs haben augenscheinlich ein großes Gespür für Scheinwerferlicht. Wenn die Chance dafür besonders hoch ist – zum Beispiel in Zeiten, in denen die Presse viel über eine Technologie schreibt und sie als heilsbringend, zugleich aber auch als risikoreich beschreibt –, dann investieren narzisstische CEOs mit einer noch höheren Wahrscheinlichkeit in solche Diskontinuitäten als ohnehin schon“, beschreibt Andreas König eines der Kernergebnisse der Studie. „Der Einfluss der Öffentlichkeit auf unternehmerische Innovation – und insbesondere radikale Innovation: Das ist sicher eine der wichtigsten Erkenntnisse, die unsere Studie in die Organisationsforschung trägt. Wenn wir die Öffentlichkeit und ihre enorme Auswirkung auf unternehmerisches Handeln besser verstehen lernen, werden wir auch den wirtschaftlichen Erfolg bestimmter Technologien besser verstehen und vorhersagen können.“ Besonders wichtig ist den Autoren zudem, dass ihre Studie ein nuancierteres Bild narzisstischer Führungskräfte zeichnet. „Narzissten sind nicht bessere oder schlechtere CEOs“, so Wolf-Christian Gerstner: „Aber sie sind möglicherweise besser als ihr Ruf. Sie können dazu beitragen, organisationale Trägheit und Starre zu überwinden. Und für den Fall dass eine neue Technologie dem konventionellen Ansatz tatsächlich überlegen ist, kann ein narzisstischer CEO möglicherweise das Überleben eines Unternehmens bedeuten.“ Die entscheidende Herausforderung für die unternehmerische Praxis werde nun, so die Autoren, darin liegen, die negativen Facetten von Narzissten – wie zum Beispiel ihre mangelnde Kritikfähigkeit und Empathie – so gut wie möglich zu kontrollieren, um die positiven Seiten langfristig nutzen zu können. Der Artikel „CEO Narcissism, Audience Engagement, and Organizational Adoption of Technological Discontinuities“ von Wolf-Christian Gerstner, Andreas König (beide FAU Erlangen-Nürnberg), Albrecht Enders (IMD, Lausanne) und Donald C. Hambrick (Pennsylvania State University) erscheint im Juni 2013 im Administrative Science Quarterly, der bedeutendsten Zeitschrift im Bereich der strategischen Organisationsforschung. Informationen für die Medien: Dr. Andreas König Tel.: 0911/5302-288 Andreas.Koenig@wiso.uni-erlangen.de Tags: Narzissmus, Wirtschaft,


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_psychologisches Schicksalsanalytisches Coaching ist Arbeit am und mit dem Ich Das schicksalsanalytische Coaching ist nicht eine verbrämte Verhaltenstherapie sondern eine Forschungsarbeit am eigenen Ich. Eine Kartographie der eigenen Bedürfnisse und der systemischen Bedingungen unter denen man lebt und auf deren Zwänge eine Antwort gesucht werden muss. Alois Altenweger

Schicksalsanalytisches Coaching bedeutet, dem Ich des Klienten, der Klientin wieder eine teilweise blockierte Ich-Steuerung zu lösen. Blockiert daher, weil die Selbstanforderungen und die Selbsterwartungen nicht mehr mit den Bedingungen der sozialen Umfeldes, den eigenen psychischen Kräften und den Anforderungen des Systems oder der Organisation , in der man sich entfaltet oder in dem man arbeitet und agiert, übereinstimmen. Da in aller Regel nicht das System umgebaut werden kann, müssen persönliche Veränderungen vorgenommen werden. Dies kann von einfachen Verhaltensanpassungen über eine neue Positionierung im System, als innerhalb dessen eine Änderung der Aufgabe bis zum Verlassen des Systems gehen. Wichtig ist unter schicksalsanalytischen Aspekten immer die Frage an sich selbst, die Frage, welche Bedürfniskonstellationen ich (unbewusst oder klar geplant) durchsetzen möchte und welche Mittel ich dafür einsetzen kann und will. Dies bedeutet auch, die Grenzen der eigenen Möglichkeiten zu eruieren und im Rahmen der gewünschten Bedürfnisbefriedigung die zielentsprechenden und persönlich erträglichen Entscheidungen zu fällen und die Konsequenzen zu tragen. Für Klient und Therapeut bedeutet dies -

konkurrenzierende Triebbedürfnisse aufzeigen und neurotische Verspannungen im Kontakt ansprechen (Selektion und Dominanz der Bedürfnisse) ; Kontakt-, Gemeinschafts- und Geborgenheitsbedürfnisse aufzeigen sowie sich über die entsprechenden einschränkenden und unterdrückenden systemischen Bedingungen klarzuwerden (Zwangswahl); Sind sexuelle Neigungen und verdeckte Wünsche im Spiel (Aggressivität)? Die eigene Position zwischen Wunschbild und Realität klären (Selbstbewusstsein); und die formale und informelle Kräftegeometrie des Bezugsnetzes (Wer hat wem was zu sagen?) offenlegen.

Schliesslich: Entspricht die fachliche Kompetenz den Anforderungen oder klafft hier eine Lücke zwischen Selbstverständnis und effektiver Leistung. In einer Netz- oder Strukturmatrix werden die problematischen Schnittstellen („Knoten“) dargestellt. Daraufhin gilt es, den aktuellen Bedürfnis-Input der Klientinnen und Klienten qualitativ und quantitativ zu beschreiben und zugleich die «Mangellage» festzustellen: Warum und inwiefern haben Klientinnen und Klienten den Eindruck, ihre Bedürfnisse würden nur unzureichend oder gar nicht befriedigt? Dabei gilt es, das Verständnis dafür zu wecken, dass in einem Strauss von Bedürfnissen diese rivalisierend um Befriedigung kämpfen. Die sich daraus ergebenden Ansprüche werden von Klient und Therapeut einer nüchternen Prüfung unterzogen, ihre Realisierbarkeit geprüft und die mutmassliche Konfliktanfälligkeit an den Schnittstellen der emotionalen und arbeitsbedingten Beziehungen zwischen System und Klienten eruiert. Dabei muss das Reaktions- und Handlungsmuster des Klienten, der Klientin herausgearbeitet werden; nicht


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selten handelt es sich um eingeschliffene Verhaltensmuster, die nicht einfach wie ein altes Kleidungsstück abgelegt werden können, sondern sorgfältig dekonstruiert werden müssen. Quellen des Verhaltens sind Erfahrungen, familiäre Modi der Lebensgestaltung, die unbewussten Ahnenansprüche und die dominierenden Ordnungsmuster der persönlichen Bedürfnisse. Letztere können mittels Szondi-Test aufgeschlüsselt und enthüllt werden. Beispielsweise zeigen sich auf Grund des Szondi-Tests die existenziellen Triebbedürfnisse des Ich-Bereichs (Selbstwertempfinden!) aber auch die Versorgung des Gefühlshaushalts und die aggressiven Gefahrenzonen. Zugleich liefert der Test auch die ganze Palette der vom Klienten gepflegten Abwehrmechanismen. Die Ergebnisse des Tests können vom Therapeuten, der Therapeutin wie eine Folie der aktuellen Situation unterlegt werden, um beispielsweise sowohl gestaute, nicht befriedigte Ich-Triebbedürfnisse (wie Anerkennung, Autonomie, Wertschätzung und Selbstbestätigung) als auch deren Befriedigungsmöglichkeiten und -voraussetzungen (Dominanzbegehren) aufzuzeigen.

Schicksalsanalytisch ist von grosser Bedeutung, welche Bedürfnisse der Klient aus den übrigen Triebbedürfnisbereichen (und mit welchen neurotischen Verfärbungen) wie das Bedürfnis nach Kontakt, Sexualität, Liebe und Geborgenheit befriedigen kann oder ob sich in diesen Bereichen destruktive - weil blockierte - Potentiale aufgestaut haben. Die Therapie wird zum individuellen «Werkhof» des Klienten: Die Arbeit von Klientin/Klient und TherapeutIn läuft darauf hinaus, eine Kartographie der Bedürfnisse zu erstellen. In dieser Kartographie wird erfasst, welche Bedürfnisse unbefriedigt bzw. unterdrückt bleiben, welche Ressourcen mobilisiert, wo vernünftigerweise auf Ansprüche verzichtet werden muss und wie Fähigkeiten Bedürfnis-adäquat eingesetzt werden können. Schicksalsanalytisches Coaching ist schonungslos und für alle Beteiligten anstrengend. In aller Regel nimmt es Elemente einer Kurzzeittherapie auf, d.h. dieses Coaching ist ein Prozess der direktiven Selbstfindung, deren Elemente sofort und ohne Umschweife «vor Ort» in die Tat umgesetzt werden. Es geht darum, in einem Lernprozess des permanenten Feedbacks das für den Klienten individuell Erreichbare zu gestalten. Der Lernprozess ist


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offen, die Verarbeitung der laufenden neuen Erfahrungen durch den Klienten ist abhängig von seinen Ressourcen und seiner Akzeptanz (auch dem Empfinden persönlicher Zumutbarkeit) und schliesslich der Stellungnahme seines Ichs, das alles Neue einbauen und «unter Kontrolle» halten muss. Was ist schicksalsanalytisches Coaching? Eine Ouvertüre zum selbst-bewussten Leben. Tags: Ich, Coaching, Bedürfnisse

_der Blick über den Tellerrand hinaus Der positive Blick auf sich selbst Auch im hohen Lebensalter scheinen Menschen in der Lage zu sein, sich selbst in einem positiven Licht zu sehen und dementsprechend zu bewerten – dies ungeachtet zahlreicher Herausforderungen und Einbußen, die ein hohes Lebensalter mit sich bringt. Zu diesem Schluss kommt eine Studie, die Wissenschaftler des Instituts für Psychologie gemeinsam mit Wissenschaftlern der University of British Columbia, Kanada und der Flinders University, Australien kürzlich im Journal of Personality and Social Psychology veröffentlicht haben. „Menschen haben ein grundlegendes Bedürfnis die eigene Person positiv zu betrachten. Dieses Konstrukt wird in der psychologischen Forschung als Selbstwert bezeichnet“, erklärt Jenny Wagner, Wissenschaftlerin am Fachbereich Psychologische Methodenlehre der HU und eine der Autorinnen der Studie. So haben Studien beispielsweise gezeigt, dass amerikanische Studenten lieber einen Anstieg ihres Selbstwertes erleben als ihr Lieblingsessen zu essen oder einen besten Freund zu treffen. Zudem zeigen neuere Studien, dass ein geringer Selbstwert weitreichende Konsequenzen zu haben scheint, etwa für den Anstieg von Depressionen oder weniger Zufriedenheit mit dem Leben allgemein. Was bislang weniger bekannt war, ist, wie sich Selbstwert im höheren Lebensalter entwickelt. Diese Lücke konnte die Studie nun schließen.

Das höhere Lebensalter ist gemeinhin durch zahlreiche Einbußen gekennzeichnet, etwa auf körperlicher Ebene durch Krankheiten, auf kognitiver Ebene mit abnehmendem Erinnerungsvermögen oder auch auf sozialer Ebene etwa durch den Verlust vom Ehepartner oder engen Freunden. „Die bisherige Forschung hat gezeigt, dass Menschen sich in der Regel an diese Herausforderungen sehr gut anpassen können, jedoch im sehr hohem Lebensalter und insbesondere in den letzten Jahren vor dem Tod das System Mensch immer stärker an seine Grenzen der Anpassungsfähigkeit kommt“, sagt Denis Gerstorf, Professor für Entwicklungsund Pädagogische Psychologie an der HU. So konnten Studien zur Lebenszufriedenheit verdeutlichen, dass nicht das Alter an sich zu einer Abnahme der Anpassungsfähigkeit führt, sondern die Nähe zum Tod mit einer solchen verbunden ist. Es wird angenommen, dass in den letzten Jahren vor dem Tod der Mensch mit so vielen Herausforderungen konfrontiert ist, dass ein Ausgleich nicht mehr möglich und eine Abnahme der Zufriedenheit demnach unausweichlich ist. Die Frage war: Gilt dies auch für die Bewertung und Zufriedenheit mit der eigenen Person?


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Um diese zu beantworten, haben die Forscher mit der Australischen Längsschnittstudie des Alterns gearbeitet, für die 1215 Personen zwischen 65 und 103 Jahren über eine Dauer von bis zu 18 Jahren unter anderem zu ihrem Selbstwert befragt wurden. Etwas ungewohnt an den Daten ist, dass alle Personen der Stichprobe zum Zeitpunkt der Datenauswertung verstorben sein mussten. „Das war wichtig, um Entwicklung nicht nur aus Altersperspektive zu betrachten, sondern um auch die Nähe zum Tod einbeziehen zu können“, erklärt Gerstorf. „Sowohl in Bezug auf das biologische Alter als auch die Nähe zum Tod fanden wir einen leichten Abfall des Selbstwertes, dieser ist jedoch so gering, dass man eher von einer Selbstwertstabilität reden kann.“ Insbesondere im Vergleich zur Lebenszufriedenheit oder den kognitiven Fähigkeiten zeigt der Selbstwert einen viel geringeren Abfall. Zudem zeigten die Daten ganz deutlich, dass sich Personen stark in ihrer Selbstwertveränderung unterscheiden: manche erleben Stabilität, andere einen Abfall und einige sogar einen Anstieg. Bedingt wurden solche Veränderungen in der Stichprobe insbesondere durch zwei Faktoren: kognitive Fähigkeiten und die Wahrnehmung von Kontrolle. „Höhere kognitive Leistungsfähigkeiten und die Wahrnehmung, dass man sein Leben und Verhalten bis zu einem gewissen Grad kontrollieren kann, gingen mit höherem Selbstwert einher“, betont Jenny Wagner. Überraschenderweise konnten die Wissenschaftler hingegen keinen Einfluss der Gesundheit auf den Selbstwert finden.

Weitere Forschung soll sich nun der Frage widmen, welche Prozesse diese Anpassung ermöglichen und welche Quellen, über kognitive Leistungsfähig keit und Kontrolle hinaus, die Adaptation an das Alter(n) positiv beeinflussen. Kontakt Dr. Jenny Wagner Institut für Psychologie Humboldt-Universität zu Berlin Tel.: 030 2093-9432 jenny.wagner@hu-berlin.de


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_zur psychotherapeutischen Arbeit Neues zur Therapie der Panikstörung Ob jemand eine Panikstörung entwickelt, hängt auch von seinen Genen ab. Eines der RisikoGene verringert sogar den Erfolg der Psychotherapie. Extreme Angstzustände, die einen plötzlich überfallen, dazu Atemnot und Herzrasen: Wer häufiger von solchen Attacken überwältigt wird, kann eine chronische Panikstörung entwickeln. Diese psychische Krankheit ist oft mit einer Angst vor großen, weiten Plätzen verbunden, der so genannten Agoraphobie. Gunnar Bartsch An Panikstörungen leiden ein bis zwei Prozent der Bevölkerung, Frauen häufiger als Männer. Viele Erkrankte verlassen irgendwann nicht mehr ihr Haus – aus Angst, beim Autofahren oder in anderen Situationen eine Attacke zu erleben. Behandeln lässt sich die Panikstörung mit einer Verhaltenstherapie: Dabei lernen die Patienten, besser mit ihrer Angst umzugehen. Auswirkungen eines Risiko-Gens „Die Panikstörung mit Platzangst ist eine Erkrankung mit einer starken genetischen Komponente“, erklärt Professor Andreas Reif von der Würzburger Universitätsklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik. Zu den bislang bekannten Risikofaktoren gehört ein Gen, das die Bauanleitung für das Enzym MonoaminoOxidase A (MAOA) enthält. Von diesem Gen gibt es eine Variante, die für eine erhöhte MAO-Aktivität sorgt – und genau das begünstigt die Krankheit.

In einer deutschlandweiten Multicenter-Studie mit 369 Panik-Patienten haben Wissenschaftler das Risiko-Gen jetzt genauer unter die Lupe genommen. Um das Ausmaß der Angst standardisiert zu messen, wurden die Patienten vor und nach der Therapie unter anderem mit einer „Panik-Box“ konfrontiert – einer dunklen, engen Kammer, die bei den Patienten Angstsymptome auslösen kann.


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In dieser Situation empfanden Teilnehmer mit der Risiko-Variante des Gens mehr Angst als Panik-Patienten ohne die Risiko-Variante. Sie hatten auch deutlich höhere Herzschlagraten. Bei den Tests kam es zu insgesamt 34 Panikattacken; 33 davon betrafen die Patienten mit der Risiko-Variante. Nachteilig für die Verhaltenstherapie Das Risiko-Gen sorgt aber nicht nur für heftigere Angst-Symptome. Es vermindert auch den Erfolg der Verhaltenstherapie: Die Patienten mit der Risiko-Variante gewöhnten sich im Lauf der standardisierten Therapie weniger an die Angst-Situation, während die anderen Patienten besser damit umzugehen lernten. Nach der Therapie beobachteten die Wissenschaftler weitere Unterschiede zwischen den Patienten mit und ohne die Risiko-Variante. Ein Unterschied betraf die Aktivierung in einer bestimmten Gehirnregion bei Angstsituationen. Daraus schließen sie, dass die Verhaltenstherapie bei den zwei Patientengruppen zu unterschiedlichen Gehirnaktivierungsmustern führt. Weltweite Premiere gelungen Das Fazit der Forscher: „Wir haben hier einen genetischen Risikofaktor für die Panikstörung mit Platzangst vorliegen, der sich auch auf die Wirksamkeit der Verhaltenstherapie auswirkt“, sagt Professor Jürgen Deckert, Direktor der Würzburger Psychiatrischen Universitätsklinik. „Die Ergebnisse zeigen erstmals, dass genetische Informationen hilfreich sein können, um individuell zugeschnittene Psychotherapien anzubieten.“ Im Fall von Panik-Patienten zum Beispiel könne es möglicherweise hilfreich sein, den Trägern der Risiko-Genvariante längere Therapien anzubieten. An der Multicenter-Studie waren aus Würzburg Wissenschaftler der Psychiatrischen Klinik und der Klinischen Psychologie beteiligt. Daneben arbeiteten Forscher der Universitäten Berlin, Marburg, Greifswald, Dresden, Münster und Bremen an der Untersuchung mit. Ihnen ist eine Premiere gelungen: „Es handelt sich um die weltweit erste kontrollierte Studie zum Effekt einer genetischen Variation auf die Wirksamkeit einer Psychotherapie“, sagt Professor Deckert. Als nächstes wollen die Forscher die Neurobiologie des Risiko-Gens noch weiter im Detail untersuchen. MAOA and mechanisms of panic disorder revisited: from bench to molecular psychotherapy. Reif A, Richter J, Straube B, Höfler M, Lueken U, Gloster AT, Weber H, Domschke K, Fehm L, Ströhle A, Jansen A, Gerlach A, Pyka M, Reinhardt I, Konrad C, Wittmann A, Pfleiderer B, Alpers GW, Pauli P, Lang T, Arolt V, Wittchen HU, Hamm A, Kircher T, Deckert J., Molecular Psychiatry, 2013 Jan 15. doi: 10.1038/mp.2012.172 Kontakt Prof. Dr. Andreas Reif, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Universität Würzburg, T (0931) 201-76402, reif_a@klinik.uni-wuerzburg.de


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_bücher Psychotherapie für Frauen: Wenn Bodystyling schadet und Körperkult zur Krankheit wird Tattooing, Piercing, Branding, Pocketing. Die Liste möglicher Eingriffe zur „Verschönerung“ des menschlichen Körpers ist lang. Den betroffenen Frauen dienen diese medizinisch häufig bedenklichen - Eingriffe der Angleichung des eigenen Körpers an ein meist soziokulturell geprägtes Ideal. Doch wann wird aus dem individuellen Streben nach Schönheit ein Körperkult mit Krankheitswert? Dr. Monika Vogelgesang, Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie sowie für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und Chefärztin des AHG Klinik Münchwies, widmet sich dieser Frage in ihrem aktuellen Buch „Psychotherapie für Frauen – Ein Lehrbuch für weibliche und männliche Psychotherapeuten“. Der Begriff „Bodystyling“ (oder „Body-Modification“) beschreibt das wie auch immer geartete Bemühen, seinen Körper nach den individuell für gültig gehaltenen Normen und Schönheitsidealen zu gestalten – z.B. mit Tätowierungen und Piercings, Bodybuilding, Schönheitsoperationen sowie chirurgischen Eingriffen zur Faltenglättung (per Botox-Injektion u.a.). Studien zufolge kann davon ausgegangen werden, dass etwa 8,5% der Deutschen tätowiert und 6,8% gepierct sind. Ab welchem Punkt wird der (Um-)Gestaltung des eigenen Körpers Krankheitswert zugesprochen? „Die gängigen psychiatrischen Diagnosemanuale ICD-10 und DSM-IV führen die selbstschädigende Form des Bodystylings[…] nicht als eigenständige Diagnoseentität auf. Am ehesten in die Richtung geht der Begriff der ‚Körperdysmorphen Störung‘. Aber nicht alle malignen Formen des Bodystylings sind hierunter zu subsummieren“, so Vogelgesang. „Von der klinischen Perspektive her hat das Bodystyling dann einen selbstschädigenden und damit pathologischen Grad erreicht, wenn aus einem bloßen Wunsch eine gedankliche Besessenheit geworden ist, den ‚perfekten‘ Körper zu formen, wenn deshalb gravierende gesundheitliche und finanzielle Nachteile in Kauf genommen werden, wenn darüber andere Bereiche, wie Beruf und Partnerschaft, vernachlässigt werden und wenn die Betroffene nicht fähig ist, bei mangelnder Zielerreichung ihre Strategie zu korrigieren, sondern […] das Bodystyling trotz Erfolglosigkeit weiter intensiviert“, erklärt die Psychiaterin. Bodystyling kann, so Vogelgesang, die Form einer inadäquaten Problemlösestrategie für die Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper annehmen. Durch weitere Eingriffe wird die Problemlage intensiviert, was wiederum vermehrte Eingriffe nach dem Motto ‚mehr desselben‘ nach sich zieht. Der Teufelskreis und die Einengung der Freiheitsgrade der Betroffenen sind damit vollkommen. Die Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper jedoch bleibt unverändert. „Da bei den Betroffenen in der Regel keine Einsicht in die Selbstschädigung ihres Verhaltens besteht, werden sie selten den Weg in die Therapie finden“, so Vogelgesang. Man solle sich


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jedoch nicht scheuen, das Problem anzusprechen. Wichtig ist dabei aber das gleichzeitige Aufzeigen von verschiedensten Hilfsmöglichkeiten wie Selbsthilfegruppen und ambulanter Psychotherapie. Und auch bei Anlehnung der Hilfe ist es wichtig den Kontakt nicht zu verlieren. Durch Empathie und widerholte Motivierungsversuche kann es gelingen, dass sich Betroffene letztendlich doch in eine Psychotherapie begeben. In ihrem aktuellen Lehrbuch zur frauenspezifischen Psychotherapie gibt die Psychiaterin u.a. Einblicke in Risikofaktoren für selbstschädigendes Bodystyling, verdeutlicht die Spezifika der psychotherapeutischen Behandlung und erläutert Aspekte der Rückfallprophylaxe. LKZ

Vogelgesang, Monika: Psychotherapie für Frauen – Ein Lehrbuch für weibliche und männliche Psychotherapeuten. Pabst, 348 Seiten, ISBN 978-3-89967-607-5

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Heisser Tag In der Hitze dieser Weinbergmauer Hängt das trockene Gras aus engen Ritzen, Und ein Schneckenhaus, lila bebändert, Liegt auf warmer Erde, wo der Boden Festgetreten ist, ein Pfad für Ziegen, Weil der Weinberg längst kein Weinberg mehr ist. Schau ihn an und schau dich um im Weiten: Draussen ist das Tal wie ehedem, Und du wartest, dass die Grille anfängt, Flügelwetzend, Zinngeräusche am Mittag. Doch die Grille ist hier längst vernichtet. Ewig bleibt das Morgenlicht. Hermann Lenz, Vielleicht lebst du weiter im Stein

zu guter Letzt


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