Paraguas 10

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paraguas

L I T E R A T U R .M U S I K. K U N S T .M O D E

MAGAZIN FĂœR JUNGE KUNST

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neubeginn

Doris Doppler waterslide


Editorial *

Willkommen, Neubeginn! „Der Kopf ist rund, damit sich die Richtung des Denkens ändern kann.“

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Diese Worte des deutschen Theaterintendanten und Regisseurs Erwin Piscator lassen sich auf Paraguas sehr gut übertragen. Wieso? Die neuerliche Umgestaltung des gesamten Magazins soll nicht nur dem Auge mehr Appetit auf unsere Kunsthäppchen machen, sondern auch einen Neubeginn in unserem Denken symbolisieren. Grundlegendes wird sich mit dieser Ausgabe ändern: Übersichtlicher werden wir, kürzer und prägnanter und dadurch moderner. Frischer, lebendiger. Wir werden zu einem Magazin für junge Kunst, das allem und jedem offen steht. Für die Zukunft wünschen wir uns mehr Diskurs, mehr Kontroversen, mehr Stoff für neue Gedanken. Stärker wollen wir unseren Magazinteil ausbauen. Die etablierten Kategorien „Paraguas unterwegs“ und „Paraguas stellt vor“ sollen Geschwister bekommen. Ein Geschwisterchen hört auf den Namen „Paraguas trifft“. Für diese Ausgabe traf Paraguas die Klangkünstler Mario Siegesmund und Wencke Wehmeyer und sprach mit ihnen über die Bedeutung und den Zweck der Musik.

Ein weiteres, besonders hübsches Schwesterchen ist die Kategorie “Paraguas zeigt”, in der wir nun mit jeder Ausgabe einen weiteren Fotokünstler vorstellen wollen. Mehr Inspiration, liebe Leser, erhoffen wir uns durch die Umgestaltung des Magazins für uns, vor allem aber für euch. Lasst euch inspirieren durch Gedanken, durch Bilder, durch fremde Textwelten. Und werdet kreativ! Im Namen des Paraguas-Teams, Mark Heywinkel Juli 2008 Hamburg/Bielefeld

Titelbild: Doris Doppler, geboren 1974, lebt in Innsbruck und arbeitet als Werbetexterin (www.ddoppler.com). Seit 2007 beschäftigt sie sich mit Fotografie (blog.ddoppler.com).


Inhalt *

Wencke

Mario Siegesmund

Hilde Domin

Beiträge *

Fotostrecke *

Was verstehen die Paraguas-Künstler unter einem “Neubeginn”? Ihre Assoziationen, Vorstellungen und Geschichten lest ihr hier ...

Hochglanz ist in. Nicht für Sarah Bernhard. Die Fotos der Politikstudentin bestechen vor allem – durch ihre Natürlichkeit ...

Paraguas trifft *

... und sonst?

Muss Musik immer politisch sein? Welchen Einfluss hat die Biografie auf die Kunst? Drei Künstler haben mit uns diskutiert ...

Keine Ideen mehr? Unser Inspirationsfundus hilft weiter. Keine Idee, wohin im Urlaub? Wie wäre es mit Hamburg? Mehr im Magazinteil ...

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Beitr채ge

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Carmen Herrmann Morgenstunde

Der alte Tag zurückgelassen, abgelebt über der Lehne. Wind wühlt darin. Worte, auf den Boden gestreut, wie bunte Glasperlen, saugen scheues Morgenlicht. Ich rolle sie herum. Vielleicht war ja was. Ohnmächtige Krümel Poesie auf dem Kissen, bittersüß. Meine Lust auf diesen Tag gähnt noch glasig. Ungeduldige Schuhe in der Ecke, warten, wollen den ersten Schritt wagen, wie neugierige Katzen.

Corinna Griesbach Abschied fasst uns an mit alten Frauenfingern aus fremder Kehle lacht die Freiheit über uns ich spüre kalte Hände, die uns trennen Abschied fasst uns an mit alten Frauenfingern der Wind sucht sich die neu geschaff’nen Wege der Abschied lacht good-bye und lässt uns los ich sprech’ mit Fremden über Wetterschübe wir sehn uns schon nicht mehr ich hör mich lachen, wie ich den Alleingang übe

Kurzvita: 1967 in Marbella geboren. Später Köln, Aachen, Monschau. Nach dem Abitur 1987 Studium an der Kölner Universität. Fächer: Germanistik, Philosophie und Pädagogik (M.A.). Mitglied im Literaturbüro der Euregio Maas-Rhein e.V.

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Dierk Walther Welch ein Tag

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Ich öffne meine Augen und der Schlaf ist mit dem ersten Wimpernschlag verflogen, hinweg gerissen, kein Gefühl der Müdigkeit ist spürbar. Ich bin hellwach. Doch spüre ich ein sonderbares Gefühl in mir. Merkwürdig und das am frühen Morgen. Doch diese Merkwürdigkeit verflüchtigt sich mit dem nächsten Wimpernschlag und das Gefühl eines unbändigen Zorns prangert nun mitten in meinem Kopf. Es dauert nicht lange, nur Sekunden und aus dem Vorboten Zorn wird der Nachfolger Hass. Der regelrechte Hass. Einfach nur Hass, Hass auf mich selbst, auf mein Leben, auf meine jämmerliche Existenz. Das Gefühl auf jeder Linie meines Lebens versagt zu haben lässt auch nicht lange auf sich warten. Gnadenlos falle ich in die geistige Ohnmacht. Es kotzt mich nur noch an. Ich verabscheue es. Scheiß Leben. Welch ein Gedanke. Mein Magen dreht sich und mir wird speiübel, jedoch versuche ich meinen Hals zuzupressen, um dem Verlangen, mich dem Abscheulichen zu entledigen, nicht nachzugeben, obwohl mein Körper förmlich danach schreit. Er verlangt es. Vielleicht verweigere ich es aus Selbsthass, ich kann es nur ahnen. Ich quäle mich damit. Den säuerlichen Geschmack in meinem Hals koste ich völlig aus. So säuerlich wie das Leben nun mal ist, welch ein Brennen in meinem Hals. Hecktisch packe ich meine Bettdecke, knülle sie

zusammen und schmeiße quer durchs Zimmer in die Ecke. Ich setze mich schwungvoll an den Rand des Bettes, die Ellenbogen auf die Knie gestützt und mein Gesicht versinkt schlagartig in meinen Händen. Die Finger krallen sich in meinen Haaren fest und die Handflächen drücken sich fest in die Augenhöhlen, jedoch hilft es nicht im geringsten gegen die Tränen, die Tränen der Verzweiflung, der Ohnmacht, den Hass und der Trauer über mich selbst, ein völliges Chaos herrscht in mir. Anders kann ich es nicht verstehen. Einen Gedanken, der das Warum mit sich bringt, kann ich gerade noch erfassen. Warum denke ich so, warum empfinde ich so und warum nicht anders? Warum so plötzlich? Nur ein Wimpernschlag entfernt war ich noch glücklich. Oh, ihr selbstzerstörerischen Gedanken, warum kennt ihr keine Schranken? Wie ich euch hasse. Doch sie überwältigen mich und reißen mich aufs Neue zu Boden. Doch die Gefühle verändern sich zu schnell. Nun verspüre ich nur noch einen Hass. Mein Herz rast, es schmerzt regelrecht, die Luft wird knapper, das Atmen immer kürzer, oberflächlicher, bis es schließlich zu einem Japsen, einem Schnappen nach Luft wird. Mein Gesicht, ich spüre es, wie es zunehmend härter wird, die letzten Züge von Hoffnung weichen aus den kleinsten Poren, versteinerter Hass. Noch nie zuvor wurde ich von meinem Geist auf so


plötzliche, so unglaublich schnelle und kraftvolle Härte zu Boden gerissen. Ich verliere jegliche Kontrolle, völlig. Ich versuche sie verzweifelt wieder zu erlangen, doch ich habe keine Chance, keine. Und so bleibt mir nichts anderes übrig als dem Film zuzuschauen, jedoch bin ich nicht nur gefangener Zuschauer, ich bin gezwungener Akteur, ausgeliefert, den Gefühlen. Die Hände sind durchweicht, von den salzigen Tränen und gleiten von meinem Gesicht über meinen Hinterkopf hinweg. Das Tränenrinnsal versiegt und die letzten Salzperlen gleiten über meine Nase, um dort von der Spitze zu Boden zu springen. Stille. Es ist völlig still um mich herum. Ich höre die letzten Perlen auf dem Boden einschlagen. Sie müssen Tonnenschwer sein, denn es dröhnt fürchterlich in meinem Kopf. Aber warum? Warum fühle ich mich so? Was für einen Film führt mir mein Gehirn vor Augen? Es sind Fetzen, aber Fetzen von was? Ich kann es nicht sagen, kann sie nicht zuordnen, viel zu schnell fliegen sie vor meinem Auge vorbei. Jedoch, jetzt, kann ich eines erkennen, es sind Fetzen meines Lebens, manche habe ich nie zuvor gesehen. So kommt es mir vor. Wildfremde Fetzen. Was ist nur los, ich verstehe es nicht. Ich kann nur zuschauen, nur zuschauen, ohne auch nur die geringste Chance eines Einflusses ausüben zu können. Mein Kopf, ich kann ihn nicht heben, er häng im-

mer noch, er ist viel zu schwer für meinen Nacken, so dass mein Kopf auch mein Rückgrat in Richtung Boden krümmt und allmählich schmerzt es und der Schmerz, welcher mich nicht wesentlich interessiert, nimmt stetig zu. Immer größer wird der Schmerz, immer größer. Ich spüre wie er mein Herz zerquetscht. Die Augen sind trocken und der letzte Tropfen tritt die Reise zum Boden an. Plötzlich werden meine Augen enger, die Zähne reiben aufeinander und jede Faser meines Körpers verkrampft sich, doch auch dies interessiert mich nicht, denn in meinen Augen und in meinem Kopf brennt wieder der buchstäblich Hass auf mich selbst und dieses Mal viel gnadenloser als je zuvor. Ich springe mit geballten Fäusten vom Bett auf, laufe auf die Wand zu und ramme meine rechte Hand mit aller Kraft in die Wand, völlig unbekümmert des Schmerzes und dem Blut, welches die Finger entlang rinnt, laufe ich zum Schreibtisch, mit einer Armbewegung ist er sauber, abgeräumt. Weiter geht es zu den Regalen, CDs, Bilder, Notizen, Andenken,… alles, alles was sich darauf befindet fliegt zu Boden. Ich schiebe und kicke alles in der Mitte des Zimmers auf einen Haufen zusammen. Und weiter geht es mit tödlichem Blick auf meinen Kleiderschrank zu, ich reiße die Holztüren auf, so dass die Scharniere fast aus dem Holz herausbrechen. Beängstigend schaue ich meinem Verhalten zu. Alle meine Kleider schmeiße ich aus dem Schrank. T-Shirts, Jeans, Shorts, Pullover, Socken, Krawat-

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ten … alles fliegt auf den bereits großen und permanent wachsenden Haufen. Doch das war noch nicht alles, es geht gnadenlos weiter. In einem Anfall von undefinierbaren Gefühlen hetze ich durch das Zimmer, alles was ich zufassen bekomme, schmeiße ich mit Kraft auf den Haufen in der Mitte meines Zimmers. Riss, der Film ist gerissen. Völlig erschöpft finde ich mich wieder mit Tränen in den Augen zusammengesunken auf dem Boden. Eine dicke Rolle blauer Mülltüten halte ich in der rechten Hand und als mir das bewusst wird, reiße ich eine ab, schlenkere sie durch die Luft, damit sie sich aufbläht und weiter geht es. Ich fülle die Mülltüte mit den Dingen von diesem Haufen voll, erst eine und dann immer weiter, immer weiter, bis nur noch übriggebliebener Staub auf dem Boden liegt, mit den Händen kratze ich den letzten Dreck zusammen und schaufle ihn in die Mülltüte. Ich falle leicht apathisch auf den Boden und mein Blick versinkt in der endlosen Leere. Wie lange ich nun da lag weiß ich bis heute nicht, was ich in der Zeit dachte, ich weiß nicht. Es kam mir vor, als würde ich einem fremden Menschen über die Schulter schauen, noch schlimmer, es war, als würde ich dieser fremde Mensch sein, durch seine Augen schauen und durch sein Leben gehen. Im Nachhinein, weiß ich, dass ich dieser Mensch war und bin, so fremd war ich mir selbst. Was an diesem Tag geschah ist mir bis heute völlig unklar, aber so sehr ich es auch wissen will, so froh

bin ich darüber, dass es geschah, denn von nun an ist mein Leben heller. Es ist nicht mehr das, was es einst war, denn meine Augen haben eine neue Filmspule bekommen. Zu manchen Stunden lehren wir uns selbst und dies ist die wahre Lehre. Ich habe noch nie so viel gelernt wie in diesen Stunden, in jeder einzelnen Sekunde. Kurzvita: Dierk Walther, lebt in Bad Schönborn. Geboren 3.11.84, studiert in Heidelberg Mathematik und Informatik.


Michael Winkler

Kamera und Film: Kiev 88 mit Fisheye Objektiv, Kodak Gold 200, 1991 abgelaufen und cross processed Mehr Infos auf: www.igy.at igy.deviantart.com


Ruth Kornberger Chamäleons

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Früher quälte man sich durch Zeitungsseiten voller Zehnzeiler, nur um später festzustellen, dass der “sympathische Beschützertyp, NR” ein geschwätziger, dicker Alkoholiker war. Online-Kontaktbörsen änderten das. Die Selbstbeschreibungen auf Lovebytes.com deckten vom Krümmungsgrad der Zehennägel über den wöchentlichen Fersehkalender bis zum Lieblingsyoghurt alle Aspekte einer Persönlichkeit ab und entsprachen fast immer der Wahrheit (niemand hatte Lust, sich so viele Details auszudenken). Susanne erhielt in der Woche ihrer Freischaltung 341 Anfragen. Sie antwortete dem, der beim Traumpartnercheck am Besten abschnitt: Martin, 99,5 % Profilübereinstimmung. Die fehlenden 0,5 % waren ihrer Handtaschensammlung zuzuschreiben, da musste Martin passen, aber ehrlich: Das war auch gut so. Martin schien perfekt, er kochte am Liebsten vegetarisch, mochte romantische Liebeskomödien, brannte darauf, Salsa zu lernen und schrieb Mails, die sich wie Briefe lasen. Susanne hängte sein Schwarz-Weiß-Porträt über den Monitor, er schickte ihr eine Plüschkatze, sie nahm Musik für ihn auf. Sonntagabend wählte sie zum ersten Mal seine Nummer. Martin, Martin, flüsterte sie in das Freizeichen hinein, er nahm ab, Hallo, sie wurde blass und schrie: MARTIN! Mein Gott, wie lange war das her? Er lachte. Sie versprach, gleich am nächsten Wochenende nach Berlin zu kommen, damit sie ihren Neubeginn feiern konnten. Als sie am Donnerstag die Ankunftszeit des Zuges du-

rchgeben wollte, druckste er plötzlich herum. Er müsse ihr vorher noch etwas sagen. Sie schloss die Augen. “Du hast Kinder.“ Schlimmer, er hatte Chamäleons. Chamäleons! Im Wohnzimmer! Augenrollende Reptilien, die herumlungerten und sich einbildeten, sie seien Teil einer Pflanze! Was musste man für ein Mensch sein, solche Tiere zu mögen? Susanne brauchte die ganze Nacht und eine Flasche Tokajer, um darüber hinwegzukommen. Am Morgen tauchte sie ihr Gesicht in kaltes Wasser, legte sich Teelöffel auf die Augen und beschloss, trotzdem zu fahren. Ihr Glück sollte nicht von ein paar Viechern zerstört werden. Sechs Stunden später stieg sie aus dem Zug. Martin schwenkte rote Rosen. Sie rannte ihm entgegen und fiel in seine Arme. Vor Aufregung und Erschöpfung war ihr schummrig, und deshalb merkte sie nicht, wie sein Anzug, dessen teurer Stoff in der Sonne schimmerte, die Farbe änderte, von Grau zu Dunkelblau wechselte, sich über Marine und Lavendel näher herantastete, bei Kornblume kurz zögerte, flackernd feinjustierte und schließlich exakt dem Indigoton ihres Kleides entsprach. Kurzvita: Ruth Kornberger ist 1980 in Bremen geboren, hat in Ilmenau Angewandte Medienwissenschaft studiert und arbeitet als technische Redakteurin in Heidelberg. Verschiedene Veröffentlichungen von Kurzgeschichten, 1. Platz beim Kurzgeschichtenwettbewerb von Literareon 2007. www.ruthkornberger.de


Margarete Karetta Der letzte Satz

„Endlich!“, juble ich und lege meine Füße auf den Tisch, denn ich habe es geschafft. Dreihundertsechsundzwanzig Seiten liegen vor mir. Nein, sie liegen natürlich nicht, sondern befinden sich auf der Festplatte, aber auf jeden Fall sind es dreihundertsechsundzwanzig Seiten, freue ich mich. Und das nach zwei Jahren Arbeit. Denn tatsächlich habe ich solange an diesem Text gearbeitet, der nun fertig ist, was aber auch nicht ganz stimmt, das mit dem fertig sein, denn es fehlt noch der letzte Satz, verdammt noch Mal. Denn auf den letzten kommt es an, obwohl sich die meisten mit dem ersten beschäftigen, da er der wichtigste ist, sagen sie, und das nachfolgend Geschriebene uninteressant, sind sie überzeugt, was aber Unsinn ist, weshalb ich nach dieser kurzen Unterbrechung meine Füße wieder vom Tisch nehme, setze mich gerade hin und überlege. Denn was soll der beste Text mit einem hervorragenden Anfang, wenn der letzte Satz misslingt! Dann waren doch all meine zuvor geschrieben Seiten umsonst. Sie werden zerstört, mehr noch, sie werden der zerstörenden Lächerlichkeit preisgegeben, weiß ich, weshalb der schwierigste Teil meines Textes noch vor mir liegt, schießt es mir durch den Kopf, während ich nervös an meinen Nägeln kaue und eintippe und kaue und das Eingetippte laut lese, immer wieder, was mich nicht zufriedener macht, diese leider missglückten Versuche, weshalb ich erneut eintippe und umstelle. Und rangiere mit meinen Wörtern, bis sich alles in meinem Kopf dreht. Und kann nicht mehr denken, ich bin so erregt,

weshalb ich schnell aufspringe, um mich unter die kalten Dusche zu stellen. Was mir gut tut. Und so setze ich mich erfrischt und mit neuen Ideen vor den Computer und schreibe ihn hin, ohne Unterbrechung, meinen perfekten Satz mit seinen vier Wörtern. Und bin erlöst, denn der Text, er ist vollendet. Was aber ein Irrtum ist, obwohl der Satz der beste ist von all meinen bisher geschriebenen Sätzen. Aber er passt nicht zu meinem Text, fluche ich! Denn er hebt ihn auf, mehr noch, er kehrt ihn um, ins Gegenteil, weshalb ich das Undenkbare tun muss, obwohl es niemand verstehen wird, da mich alle für verrückt halten werden, was ich anscheinend auch bin, verrückt und nicht bei Verstand, aber werde dennoch, um meinen perfekten letzten Satz zu retten, die zuvor geschriebenen Seiten vernichten. Und markiere sie tatsächlich. Drücke „delete“. Und beginne von vorne. Kurzvita: Geboren in Graz, Studium der Medizin, einige Jahre wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Uni Wien. Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften, Online-Magazinen und Anthologien.

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Volbach

Die Geburt 2008, テ僕farben auf Leinwand, 120 x 60 cm Kurzvita: Geboren am 12. April 1986 in Kテカln-Porz. Studiert derzeit im zweiten Semester Kunstgeschichte/Archテ、ologie und Germanistik, Literatur- und Kulturwissenschaften an der Uni Bonn. www.volbach-kunst.de.vu



Anonym

Risse im Keramik

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Der Teller war beim Aufprall zerbrochen. Nicht in sehr viele Teile, nein, er zersprang großflächig, vielleicht, weil er nicht direkt auf den Fließen aufgeschlagen war, sondern zuerst den Teppich berührt hat. Jenen aus dem Portugalurlaub, das ist schon lange her, da gab es noch den Salazar. Und sein Cabrio. „Wir können ihn kleben“, sagte er leise, vielleicht damit das Schluchzen, ihr Schluchzen, nicht alleine war im Kampf gegen die Stille. Keine sich ausschließlich auf die Akustik beziehende Stille, nur teilweise, der andere, der Großteil, das ist die Stille zwischen zwei, die reden könnten und es nicht tun. Oder doch nicht können. Wenn sie sagen, sie würden nicht wollen, wie wahr kann das sein? Ich will nicht mit dir reden. Wie wahr kann das sein? Ich will nicht mit dir reden, leben, reden und leben, aber ich habe ja gesagt und danach oftmals nein. Bitte, wie wahr kann es sein, wenn man sagt, wenn sie sagen: Ich will nicht mit dir reden. „Wir können ihn bestimmt kleben, die Teile sind doch so groß. Da, schau doch, schau, bitte.“ Es fällt ihm nicht mehr so leicht wie früher, sich zu bücken. Er hätte den Teller nicht hinwerfen müssen, auch wenn er selbst wertlos war. Sein Wert lag in der Eskalation, deren Mittelpunkt er war. Das ist ein kurzweiliger Ruhm. War es die Woche davor nicht die Tasse? Aber, immerhin, nach seinem Aufprall wurde es still, als wären, ihm gleich, noch andere Dinge geborsten, wohl mentaler Art, wer weiß das schon so genau. Vielleicht auch nicht geborsten, nur geknickt, oder tiefer gerissen. Man ist ja nicht aus Pappe.

Vielleicht auch nicht geborsten, nur geknickt, oder tiefer gerissen. Man ist ja nicht aus Pappe. „Ich klebe ihn, wirklich. Weinst du, wein doch nicht. Ich klebe ihn.“ Ja, das würde er tun. Aber hat er so schreien müssen? Er weiß doch, dass sie davor Angst hat. Oder? Dass bloß die Nachbarn nichts hören, hat sie manchmal gedacht. Der Fernseher war aus. Die Nachrichten sind bestimmt vorbei. Es ist ja nach acht. „Schau, die Teile sind doch so groß.“ Seine Stimme war jetzt sehr nahe, er saß neben ihr. Und ihr Schluchzen war jetzt sehr leise. „Ich klebe ihn. Wieso aber musstest du mich so kränken?“ Damit du schreist, wollte sie sagen und tat es nicht. Damit du schreist, du, ich brauch dich nicht, hau ab. Ich will nicht mit dir reden, ich will mit dir schreien. Unsere Zungen haben sich nichts mehr zu sagen, unsere Hände sind stumm, das Geschlecht schweigt. Ich kränke dich, damit du schreist und ich weine, weil wir so miteinander reden. Sag mir, dass du mich nicht brauchst, ich soll verschwinden, wir brauchen uns nicht und haben noch nicht einmal jemanden, dem wir das sagen können. Sind wir so einsam? Ich bin nicht einsam, sagt er immer, ich brauche niemanden und sie sagt dann `typisch` und ist mit ihm alleine. Ein Ritual, dass sich nie abnutzt, vielleicht, weil sich Trauer nicht abnutzt. Kurz hielt sie den Atem an. Es wurde laut, lauter, weil draußen ein Auto vorbeifuhr, die Scheinwerfer erhellten, einem Augenschlag gleich, das Wohn-


zimmer. Das Licht war aus, auch die Deckenlampe schwieg. Wir brauchen uns doch noch, oder, bitte, eigentlich tun wir das. Denn manchmal lachen wir. Oder? Wir lachen. „Bitte schrei nicht“, schluchzte sie leise. Ihr verwaschenes Hauskleid musste glatt gestrichen werden, nachdem sie sich gerade gesetzt hatte. Er hatte den Teller noch in seinen Händen. Ich will dich nicht anschreien, ich will dich nicht anweinen, wir sterben uns doch nur auseinander. Ein wenig regnete es und der Tee, den sie noch gekocht hatte, er war kalt geworden. Man kann nicht unterscheiden, ob sie ihre Augen offen haben, es ist sehr duster im Zimmer, in dem keine Uhr schlägt. Die Tür zur Küche ist zu. Er trägt den Pullover, den sie nicht mag. Bitte, bitte, will sie manchmal sagen und tut es nicht. Kurzvita: Lebt und arbeitet in Baden-Württemberg.

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Zoran Sergievski Der Umzug

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Die Sonne stand hoch, wie ein glühendes Symbol irgendeines verheißungsvollen Freiheitsgottes, hineingebrannt in das unschuldige Blau des Himmels. Marko stand am Straßenrand, direkt neben Maike, Fritz drehte sich eine Zigarette, als Tom die Treppe vor dem Elternhaus hinabstieg. Er trug einen großen Pappkarton, aus dem eine alte Lampe und ein Regenschirm herausschauten. Und grinste. Überhaupt, alle waren gut drauf, die Sonne schien, es war Sommer, Tom zog aus. Sie würden zur Einweihung der neuen Wohnung grillen. Am Bürgersteig parkte ein geliehener Transporter, ein Mercedes Sprinter. Es war noch wenig Platz da, vielleicht mal gerade für ein oder zwei Flaschen Wasser. Tom trat hinaus auf die Straße, schritt auf den Wagen zu, und während Fritz die Kippe abschleckte und anzündete, schaffte es Tom irgendwie die für die Lücke eigentlich viel zu große Kiste mit großem Aufwand in den Wagen zu drücken. Die Tür ging knapp zu, aber als es dann soweit war, konnte er sich sein Grinsen nicht verkneifen. Unterdessen hatten Maike und Marko zu knutschen begonnen, sie alle freuten sich, freuten sich, dass ein anstrengendes Stück Arbeit getan und somit Tom geholfen war. Fritz blies einen großen Rauchschwall in die Luft. Und grinste. „Na, wie ist das, endlich weg von den Eltern und so?“, fragte er. Tom kramte eine Kippe hervor. „War längst überfällig.“, stellte er in einem sehr pragmatischen Ton fest. Er rauchte. Dann grinste er seine Freunde breit an, wie ein Kind, welches mit großen,

leuchtenden Augen seine Weihnachtsgeschenke auspackt und „Ah!“ und „Oh.“ ruft. Der Transporter und Fritz‘ Golf waren bis oben hin vollgepackt. Seine Mutter hatte Tom gefragt, ob er noch etwas bräuchte, hatte er doch gut die Hälfte seiner Sachen – das heißt Sachen aus seiner Kindheit, wie etwa Legokram und so was – da gelassen. Nein, er hatte abgelehnt. Er hatte sehnlichst auf diesen Tag gewartet, darauf gewartet, die Ketten der Bevormundung und gutbürgerlicher Bemutterung zu sprengen. Er war mittlerweile zwanzig, und seine Mutter behandelte ihn immer noch wie zehn. Doch, doch, er war ja alles in allem erwachsen. Aber irgendwie schien seine Eltern doch von Zeit zu Zeit zu übersehen, dass er eben ein Kind mehr war. Ihr Kind, sicher, aber ausgewachsen. Mit dem Umzug wollte er ein Zeichen setzen. Und die meisten Erinnerungen an seine Kindheit sollten seine Eltern bewahren – wie gesagt, für sie war er immer noch ein Baby, ihr Baby, und dann wollte er sie auch nicht verletzen, wollte er ihnen ihre Erinnerungen erhalten. Trotz alledem wurde es Zeit, aus dem Nest auszubrechen. Seine großen Brüder waren schon vor Äonen ausgezogen. Und er hatte die ganze Ladung Familiennostalgie der letzten dreißig Jahre Tag für Tag in leichten, doch wirkungsvollen Dosen abbekommen. Dauerbreit, nur mit hässlichen Nebenwirkungen. Jetzt war es an der Zeit, den Dealer zu wechseln. Ein bisschen auf eigenen Füßen zu stehen. Es allen beweisen, dass er es drauf hatte. Allen voran seinen überfürsorglichen Eltern. Er zog in die Nähe seiner Zivis-


telle und seiner späteren Uni. Er hoffte zumindest, dass er dort genommen werden würde. Und selbst wenn nicht: der Umzug war schon mal ein Anfang. Mutti trat aus der Tür an die Luft heraus. Sie hatte tatsächlich einige Tupperware-Behälter in der Hand, die so aussahen, als würden sie jeden Moment platzen. Sie kam näher. Essen. Damit er auch nicht verhungere, insofern die Küche in seiner Wohnung noch nicht fertig war. Er seufzte. „Mama, ich werde schon nicht verhungern.“, sagte er, worauf seine Mutter zu ihm hinaufblickte, als spräche er eine andere Sprache. Sie war einem Heulkrampf nahe, das wusste Tom, setzte seine Mutter doch diesen besorgten Blick bei jeder Gelegenheit auf. Ob es darum ging, eine „gute“ Tat für ihn zu rechtfertigen oder ihn von irgendeinem Vorhaben abzuhalten, beispielsweise seinen Umzug. Insbesondere in der letzten Zeit hatte sie eben jenen Blick immer dann aufgesetzt, wenn es um seinen Auszug ging. Tom nahm die Tupperware, brachte sie ins Auto und stapfte zu seiner Mutter zurück. Sein Vater war inzwischen raus gekommen. Sie umarmten sich, und Mutti begann ein bisschen rumzuheulen. „Melde dich, wenn du etwas brauchst. Und viel Glück. Man sieht sich.“, sagte sein Vater, so als ob er seinen Sohn für immer verlor, und auch er, so wusste Tom, würde diese Nacht ganz heimlich und leise wach in seinem Bett liegen und wie ein kleiner Bub heulen, während Mutti schlief.

Alle waren angeschnallt. Er startete den Motor und legte den Gang ein. Während der Sprinter in Richtung Sonne davon rollte, Marko Maike abschleckte, Fritz dahinter den überfüllten Golf startete, streckte Tom seinen Eltern ein letztes Mal die Hand zum Abschiedsgruße aus. Er konnte immer noch nicht glauben, dass er soeben auf eigene Faust seine soziale Nabelschnur kappte. Im Rückspiegel sah er, wie seine Mutter im Arm seines Vaters zu schmollen begann. Sie gingen zurück in ihr langweiliges, spießiges, elterliches, nun indirekt kinderloses Leben in ihrem langweiligen, spießigen, elterlichen Haus. Tom erwachte nachts, auf seinem provisorischen Bett (einer bezogenen Matratze und Schlafsack) zwischen Wandfarbeimern, vollen Pappkartons und Pizzaschachteln liegend. In einem Witz, so erinnerte sich Tom, sagt ein Rabbiner zu einem Pfaffen und einem Imam: „Das Leben beginnt, wenn die Kinder aus dem Hause sind.“ Er schmunzelte. Hoffentlich leben die jetzt auch, dachte er. Kurzvita: Zoran Sergievski, 20 Jahre alt, lebt in Bad Soden am Taunus. Comic- und Buchfanatiker. Wird zwischen Abi und Studium Kuba bereisen.

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Magazin

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Inspirationsfundus * Brücke nach Terabithia Vertrieb: Paramount Home Entertainment

Reinhard Kleist Fucked Verlag: Reprodukt Wer geistreiches Kopfkino mag, der sollte „Fucked“ in seine Noch-Zu-Lesen-Rubrik aufnehmen. Ein deutscher Comic komplett in schwarz-weiß, die im wahrsten Sinne des Wortes skizzierte Tristesse einer im Wandel begriffenen Großstadt. Berlin bei Nacht und drei Jugendliche, die sich von Drogen, Musik und Sex in eine Katastrophe treiben lassen. Illustre Gestalten, denen ich zwar nicht im Dunkeln begegnen möchte, aber doch den Charakter heimlicher Helden in sich tragen. Text und Foto: Philip Ulc

Der Alltag schreibt uns die Rollen auf den Leib, nach denen wir täglich funktionieren. Gefangen in den eingefahrenen Spuren unseres Lebens tritt nicht selten Ernüchterung an Stelle jeglicher Motivation. Ein Ort des Rückzugs, der Inspiration, der uns immer wieder neue Energie schenkt. Ein Ort, der nicht in der Ferne zu suchen ist. Ein Ort, der vielmehr in jedem von uns zu suchen ist. Wie man den Sorgen entflieht und sich den Herausforderungen seiner Fantasie stellt, zeigt eindrucksvoll die Verfilmung des Kinderbuchs „Die Brücke von Terabithia“. Text und Bild, inspiriert durch den FIlm: Christina Krieglstein

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Paraguas trifft *

Die Unverbiegbare Sido castet jetzt für ProSieben Popstars? Bohlen macht ´ne neue Show? Alles schön und gut – aber uninteressant. Wir wollen vernünftige Menschen, die ihre Lebensgeschichte nicht für fünfzehn Minuten Ruhm im TV auspacken. Wir wollen Menschen wie Jungmusikerin Wencke sehen. Die weiß, was sie will und kennt ihre Grenzen. Interview: Mark Heywinkel


Wencke – ist das eigentlich dein echter Name oder ein Pseudonym? Nein, kein Künstlername und nein, auch nicht mein Nachname. Es ist wirklich mein Vorname und so langsam habe sogar ich mich daran gewöhnt. Warum also lange nach einem Künstlernamen suchen, wenn der eigene schon ungewöhnlich genug ist?! Wohin willst du mit deiner Musik? Was sind deine Ziele für die nächsten fünf bis zehn Jahre? Direkte Ziele habe ich mir nicht gesetzt. Ich würde gerne bessere Aufnahmen von meinen Liedern machen können. Mein Traum war es früher immer von Musik leben zu können, in welchem Bereich auch immer. Dieser Traum ist leider mit der Zeit und der Entwicklung dieser Branche immer kleiner geworden, ist aber immer noch da. Ich weiß nicht wo ich in zehn Jahren mit meiner Musik stehen werde, aber ich hoffe, dass ich immer Zeit haben werde, um weiter für mich allein zu spielen und meine Gefühlen im Singen Ausdruck zu geben. Aber wenn das Schicksal für mich vorsieht, auf einer großen Bühne zu stehen und Menschen mit meiner Musik zu begeistern, sag ich auch nicht nein. Das Musikgeschäft ist hart umkämpft. Welche Eigenschaften muss man deiner Meinung nach besitzen, um darin bestehen zu können? Ich denke das wichtigste, was man sich in diesem Geschäft bewahren muss, ist der eigene Wille sich und seine Musik nicht verbiegen zu lassen. Viel zu oft erlebt man im Fernsehen mit, wie in man-

chen Castingshows wirklich interessante Persönlichkeiten nach und nach zu einem Massenprodukt gemacht werden. Es ist also viel Durchsetzungsvermögen gefordert, um in einer solchen Branche bestehen zu können. Ein weiter wichtiger Schritt ist es an sich selbst zu glauben. Denn wenn man das nicht tut, warum sollten es dann die Anderen tun?

Was man sich in diesem Geschäft bewahren muss, ist der eigene Wille sich und seine Musik nicht verbiegen zu lassen Ich persönlich finde es wahnsinnig aufregend, wenn Musiker Songs covern. Es ist spannend, wenn durch eine andere Herangehensweise ein komplett neues Lied entsteht. Wie siehst du das? Finde ich selbst auch sehr interessant. Ich denke es ist nichts Verwerfliches daran, einen großartigen Song zu covern und ihn durch die eigene Spielart zu etwas Persönlichem zu machen. Ich covere selbst auch, weil es manchmal einfach vorkommt, dass mir ein Song begegnet, der genau das ausdrückt, was ich schon seit Wochen versuche in Worte zu fassen. Viele Menschen identifizieren sich mit den Texten ihrer Lieblingslieder, weil sie das ausdrücken, was sie grade fühlen oder sie an bestimmt Situationen in ihrem Leben erinnern. Weitere Infos auf: www.myspace.com/wenckemusik

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Paraguas trifft *

Den Pop-Politiker Bono singt für die Vernachlässigten in der Welt, Wir Sind Helden gehen auf Klimatour: Viele Musiker nutzen ihre Bekanntheit, um in der Politik mitzumischen. Songwriter Mario Siegesmund muss keine politischen Songs schreiben. Warum nicht? Interview: Manuel Förderer


Mario, letztes Jahr ist deine CD „Himmel und Erde“ erschienen. Wie lange hast du an diesem Werk gearbeitet? Vom ersten Ton über die letzte Reglereinstellung bis hin zum Artwork hat es ungefähr zwei Jahre gedauert. Wobei die reine Netto-Arbeitszeit eigentlich recht kurz war. Ich bin immer dann ins Studio gegangen, wenn ich die nötige Zeit für einen Song hatte. Dazwischen gab es immer wieder Pausen, weil einfach viel passierte. Unsere Tochter ist zum Beispiel „mittendrin“ geboren worden und das habe ich auch gleich in dem Song „Sophie“ verarbeitet. So ist das Album ein Mix zwischen Stücken, die ich schon jahrelang spiele und ganz neuen Sachen. Das hat dann zwar manchmal etwas länger gedauert, aber Spaß gemacht und dem Album auch gut getan. Auf deiner MySpace-Seite erwähnst du einige deiner musikalischen Vorbilder. Darunter finden sich Namen wie Rio Reiser und Manfred Maurenbrecher – du selbst bist auf deiner CD „Himmel und Erde“ textlich aber eher allgemein, als speziell politisch. Reizt dich das Politische weniger, oder ist es ein schlicht zu vages Feld? Die beiden waren und sind ja glücklicherweise auch nicht immer politisch. Wobei sich die Frage stellt, was ist „das Politische“? Für mich fängt das im Kleinen an, im Umgang miteinander, dem Streben nach Zielen und wie man mit bestimmten Situationen fertig wird. Von da aus zieht es immer weitere Kreise und man landet dann bei Großen und Ganzen. So gesehen ist alles um uns herum Politik.

Diese Politik im Kleinen findet man schon in Songs wie „Nicht echt“, „Die Sonne sticht nach Regen“ oder „Alles im Leben“. Es würde mich persönlich nicht weiter bringen, Klagelieder zur Weltpolitik zu schreiben. Die Kerbe ist mir schon zu groß. Aber ich gebe auch zu, dass sich ein großer Teil der Songs auf dem Album eher um die „Politik“ zwischen zwei Personen dreht.

So gesehen ist alles um uns herum Politik Oft liest man, dass das kreatives Schaffen, egal ob in der Literatur, der Bildenden Kunst oder der Musik, eine verarbeitende Basis hat. Wie ist das bei dir? Ich habe eigentlich nie das Gefühl der Befreiung wenn ich einen Song geschrieben habe, nicht dieses „Das musste jetzt mal raus“ oder so. Sicher gibt es Sachen, die man sagen will und einiges an eigenen Erfahrungen ist oft der Funke für einen Song. Ich habe aber auch den Anspruch, dass man sich beim Hören meiner Texte irgendwo wiederfinden kann. Da wäre es dann kontraproduktiv nur über meine eigene Befindlichkeit zu singen. Bei literarischen Texten, vor allem der satirischen Art, will man schon mal eher etwas schreiben, das trifft oder beißt. Trotzdem sollte man da aber die nötige Distanz für den Blick aus verschiedenen Richtungen auf die Sache behalten und damit das bestmögliche herauszuholen. Mit dem Tunnelblick schreibt man keinen guten Text. Mehr Infos auf: www.mario-siegesmund.de

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Paraguas zeigt *

Die Natürliche Push-Up-BHs, Silikonimplantate, Fotoretuschen: Unsere Welt lebt von Inszenierungen, vom Übertünchen des Natürlichen. Das kann nicht so weitergehen. Sarah Bernhard versucht, uns die Augen zu öffnen. Interview: Mark Heywinkel


Sarah, wie bist du zur Fotografie gekommen? Ich habe gegen Ende 2004 angefangen zu fotografieren - mit einer kleinen Digital-Kompaktkamera meiner Mutter. Dann habe ich mich mehr und mehr auch für analoge Fotografie interessiert. Ich habe begonnen, meinen Alltag, mein Umfeld zu dokumentieren - mit der Zeit habe ich dann versucht, das gezielter und professioneller zu tun. Der Trend geht zum Hochglanzbild. Schon Hobbyfotografen versuchen, besonders hübsche Models besonders sexy in Szene zu setzen. Davon hältst du nichts, oder? Nein, davon halte ich persönlich tatsächlich nicht viel. Aber das ist eine Geschmacksfrage. Technisch perfektionierte, hochglänzende Bilder ohne Geschichte interessieren mich einfach nicht besonders. Vor allem Werbefotografie hat viel mit Inszenierung zu tun. Deine Bilder wirken alle sehr natürlich. Sind sie das tatsächlich? Oder hast du als eine Art Regisseurin eingegriffen? Die meisten meiner Bilder - insbesondere die urbanen Themen - sind nicht inszeniert. Es gibt allerdings Ausnahmen. Beispielsweise “without face” ist eine (Selbst-) Inszenierung, Reflektion, ganz klar. Es kommt auf die Message an, die transportiert werden soll - je nachdem greife ich mehr oder weniger in das Setting ein.

In einigen deiner Arbeiten spielen Texturen eine wichtige Rolle. Was ist so reizvoll daran? Bei manchen Bildern war es mir wichtig, bestimmte Atmosphären, Stimmungen zu transportieren. Texturen sind ein gutes Mittel, den Bildern Tiefe zu verleihen. Vor 1-2 Jahren habe ich damit noch wesentlich stärker in Photoshop experimentiert.

Hochglänzende Bilder ohne Geschichte interessieren mich einfach nicht besonders Du studierst Politikwissenschaften. Das klingt erst mal ziemlich anstrengend. Ist Fotografie für dich ein Ausgleich? Ich habe gerade meine Abschlussarbeit über die Kulturhauptstadt 2010 geschrieben. Die Arbeit hatte also schon in gewisser Weise mit meinem Interesse an Fotografie zu tun - ich bin im Ruhrgebiet herumgefahren und habe Fotos von den Spielorten der Kulturhauptstadt gemacht. Für die Zeit vor der Abschlussarbeit war Fotografie immer ein Ausgleich, ja. Auch wenn ich mein Studium sehr geschätzt habe, habe ich einem verpassten Fotografie- /Designstudium immer ein wenig nachgetrauert. Mer Infos auf: http://flickr. com/photos/ultraviolett

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without face, 2008


sorry to disturb you, but i’m lost, 2008


meeting mr anonymous, 2008


urban development, 2007


lost and found, 2008


it ends with a version of keeping reminding, 2008


Paraguas stellt vor *

Die Biografin

Es war Glück und damit sicherlich auch Zufall. Vor allem aber war es ein Gewinn. Wahrscheinlich ein lebenslanger. Vier Stunden verbrachte ich bei Hilde Domin, in ihrer Wohnung in Heidelberg, nahe dem Schloss, mit ihr und ihren Büchern, ihrem Schicksal. Vier Stunden im Gespräch mit der Frau, die, wie man ihren autobiographischen Schriften entnehmen kann, eigentlich direkt nach ihrer Geburt angefangen hat, Gedichte zu schreiben. Ihre Biografie wurde Quell ihrer Lyrik. Text: Manuel Förderer Foto: Walter Breitinger


„Schreiben ist wie Atmen“, hat sie geschrieben, „man stirbt, wenn man es lässt.“ Hilde Domin wurde am 27.07.1909 in Köln als Hilde Löwenstein geboren. Das Judentum, das in ihrem Elternhaus keine Rolle gespielt hatte, wurde letztlich mitverantwortlich dafür, dass sie ihren späteren Namen „Domin“ erhielt. Bedingt durch die NS-Diktatur in Deutschland ging Hilde Domin ins Exil, zuerst nach Italien, wo sie promoviert, dann nach England, wo sie ihre Eltern zurück lassen muss, schließlich besteigt sie mit ihrem Mann Erwin Walter Palm ein Schiff, das sie dahin bringen soll, wo sie die nächsten 22 Jahre verbringen werden, ein Ort, bei dem sich die Dichterin später durch die Adaption des Namens bedanken wird – die Dominikanische Republik. So gesehen trifft auf Hilde Domin auch die Aussage des Schriftstellers Georges-Arthur Goldschmitdt zu: „Ich bin ein Jude dank Hitler.“

Wer es könnte / die Welt / hochwerfen / dass der Wind / hindurchfährt Es war nicht nur ein Gang ins geographische Exil, es war auch einer ins sprachliche, ihr Weg ein „Leben als Sprachodyssee“. Umso beeindruckender, dass Domins Lyrik alle Ebenen der Exilliteratur abdeckt und darunter den schwierigsten, gleichzeitig wichtigsten nicht ausblendet – die Rückkehr selbst. Die Liebe zur deutschen Sprache war es, die sie zurückkehren ließ, dahin, „wo das Wort wohnt“. Es sind dies die in ihren Gedichten immer wiederkehrenden Motive und Begriffe, die Liebe, die Sehnsucht, Heimat und der Wunsch, bleiben zu dürfen, zu können. All dies webt Hilde Domin mit einer scheinbar fragilen Sprache, einer rhythmischen Sensibilität und einer feinen, aber doch spürbaren Entschlossenheit, die ihr nicht umsonst den Titel „Dichterin des Dennoch“ eingebracht hat, zu ihren Werken.

Eine große Hoffnung durchzieht beinahe alle ihre Gedichte, eine Hoffnung auf bleiben können, auf Heimat und der damit verbundenen Sicherheit. Die Türe hinter sich schließen zu können, angekommen zu sein, Heimat, und die Koffer nur noch für das Reisen packen, mit der garantierten Option der Rückkehr, Hoffnung auf diese Heimat, die ja doch eine andere ist als die rein sprachliche, die dem Exilanten bleibt. Domins Gedichte sind aber auch eine groß angelegte Rekonstruktion ihrer „Sprachodyssee“, ihre Verse sind voll der Topografie vergangener Orte, die ihr einst Zuhause waren. Aber das Schönste an ihren Zeilen ist die Tatsache, dass sie fast komplett apolitisch sind. Jeder kann sie lesen, weil sie Gefühlslagen, wiedergeben, wiederspiegeln, die jeder Erdenmensch in ihrer Allgemeinheit kennen kann, egal, wo er lebt. Daraus ziehen Domins Gedichte ihre permanente Aktualität. Die Sprache, das Schreiben, es war Zuflucht, Schicksal, aber auch Herausforderung im geschriebenen Wort seinen Platz zu finden. Heimat im geographischen, wie künstlerischen Sinn, unter Berücksichtigung ihrer Fragilität:

Meine Hand / greift nach einem Halt und findet / nur eine Rose als Stütze In den vier Stunden, da ich Hilde Domin gegenüber gesessen habe, konnte ich von all dem einen Eindruck gewinnen, von der leisen, aber eindeutigen Bejahung, die von dieser Person, dieser großen Dichterin ausging. Was hatte und hat sie uns noch alles zu sagen, uns mitzuteilen. Hilde Domin starb am 22. Februar 2006. Sie wurde 96 Jahre alt.

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Paraguas schreibt einen Liebesbrief an *

Hamburg Text: Freddy Hansmann Foto: Kim Heywinkel

Liebstes Hamburg, es wird Zeit in Worte zu fassen, was ich empfinde. Da ist dieses überwältigende Gefühl in mir. Ganz sanft und doch so mächtig, dass ich Angst bekomme, die Luft anhalte und einmal tief durchatmen muss, bevor ich in der Lage bin weiterzumachen. Ich kann nicht sagen seit wann ich mich zu Dir hingezogen fühle. Erst war es nur ein kleines Bisschen, dann immer mehr, bis ich es schließlich vor Sehnsucht nicht mehr ausgehalten habe.


Versteh mich nicht falsch, ich mag meine Heimat. Aber das mit Dir, das ist so viel größer, das ist so viel mehr. Alles hinter mir abzubrechen, 700 Kilometer zwischen mich und meine Freunde, meine Familie zu bringen, war erstaunlich einfach in der Erwartung an die Freiheit, die mich hier empfangen würde. Dein Wahlspruch ist Programm: „Die Freiheit, die die Vorfahren zu bereiten wussten, möge die Nachwelt würdig erhalten.“ Hamburg, Du bist eine Millionenstadt, aber klein genug, dass man den Überblick behält. Ich kann frei sein, alles ist mit Dir möglich und dennoch fühle ich mich beschützt. Es klingt kitschig, aber spätestens seit ich im November 2003 an den Landungsbrücken stand, die Sonne mit Milliarden Farben im Hafen versank, ja, spätestens da war ich hoffnungslos verloren. Um es mit den Worten Deiner Lieblingsband Kettcar zu sagen: „Dieses Bild verdient Applaus.“ Recht hat sie. Überhaupt musst Du irgendetwas haben, dass Deine Musiker Dir ein Lied nach dem anderen widmen: „Nordish by nature“, „Oh, St. Pauli…“, „Unten am Hafen“, „Landungsbrücken raus“, „Hamburg, meine Perle“, „Auf der Reeperbahn nachts um halb eins“, „In Hamburg sagt man tschüs“ und „City Blues“. Es gibt eine Hymne aus dem 18. Jahrhundert, die dich besingt! Der Begriff Hamburger Schule ist ein national anerkanntes Synonym für gute deutsche Rockmusik. Hip Hop ist hier noch echter Sprechgesang und kein kriminelles Gefluche. Music loves you, baby! Okay, man sollte sich samstags von der Reeperbahn fernhalten, Deine Radwege sind schlecht ausgeleuchtet und in miserablem Zustand. Deine Bürger haben noch nicht verstanden, dass man zuerst die Menschen aus der U-Bahn aussteigen lassen sollte, bevor man selbst einsteigt. Auch das notorische Nasehochziehen und der ekelige Teil danach sind nicht gerade attraktiv. Doch das ist alles nicht wichtig, denn Du gleichst

diese kleinen Makel durch Deine Liebenswürdigkeit aus. Hamburger s-stolpern übern s-spitzen S-stein und sagen „danichfür“, wenn sie „gern geschehen“ meinen. Mal bist Du schön, mal schmuddelig. Du bist grün an jeder Ecke und stolz darauf, mehr Brücken als Venedig und Amsterdam zu haben. Du riechst nach Kaffee und Bier, sonntagmorgens in Altona auch mal nach Fischbrötchen. Deine Fußgängerampeln haben zwei rote Männchen. In den U-Bahnhöfen wird Klassik gespielt. Jemand hat die rote Flora rosa angemalt um die Hausbesetzer zu verärgern. War ihnen egal. Einen Hamburger umzuwerfen bedarf mehr als klassische Musik und rosa Farbe. Eins ist sicher, standfest sind sie, Deine Bewohner. Müssen sie ja auch, bei dem Wind. Obwohl man ehrlich sein und gestehen muss, dass es überhaupt nicht ununterbrochen regnet. Und das erzähle ich auch jedem, der mit diesem Vorurteil kommt. Genauso kann ich nur wissend lächeln, wenn mir jemand von woanders erzählen will, die Hamburger wären reserviert. Ich weiß es besser. Deine Hamburger brauchen nur ein bisschen Zeit, um aufzutauen. Alster und Elbe geben den Rhythmus vor und Wasser fließt nun mal nicht in Schallgeschwindigkeit. Erst fühlen, dann denken, dann schnacken. Ein Kopfnicken, ein Brummen aus dem tiefsten Innern, so wird man auf hanseatische Art und Weise aufs Herzlichste willkommen geheißen. Du hast das Herz eben am rechten Fleck. Und die Füße in Gummistiefeln. Du hast es nicht nötig, Dich mit anderen Städten zu messen. Meinen Seitensprung nach Berlin hast du mir kommentarlos verziehen. Das ist wahre Größe. Und ich versichere dir: Ich gehe nicht wieder freiwillig hier weg.

Hamburg, ich glaube, ich liebe dich.

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“Les Mads”: Julia Knolle und Jessica Weiss


Paraguas trifft *

Die Damen Mode ist wichtiger denn je. Sie spiegelt unsere Persönlichkeit nach außen. Eine Kette ist nicht mehr nur ein Accsessoir – sie kann ein Zeichen sein, ein Statement. Paraguas hat sich mit zwei Frauen getroffen, die Ahnung haben von Mode. “Les Mads”, wie sie sich und ihr Blog tauften, jetten für ein paar gute Schnappschüsse und Texte rund um die Welt, stellen ihre Lieblingsoutfits vor, bewerten das Businessgeschehen. Wer könnte besser geeignet sein, die Bedeutung von Mode zu erklären? Text: Mark Heywinkel Jessie, Julia, wie seid ihr dazu gekommen, eines der wichtigsten deutschsprachigen Modeblogs zu verfassen? Lesmads.de entstand aus unserer Leidenschaft für die Mode und das Schreiben. Da lag ein modisches Blog sehr nahe. Was als Hobby begann, ist nun unser Vollzeitjob (neben der Uni) geworden! Mode ist heute sehr wichtig. Viele, vor allem junge Menschen definieren sich darüber. Ist das ein Problem? Mode untermalt letztlich den Charakter. Dieser sollte aber nicht ausschließlich über das äußere Erscheinungsbild definiert werden! Auch wenn wir uns tagtäglich mit Mode befassen, ist es nicht der wichtigste oder aussagekräftigste Bestandteil unserer Lebens. Immer wieder sterben Models an Unterernährung. Wie steht ihr zum Schlankheitswahn? Wo sind die Grenzen beim Streben nach dem perfekten Körper?

Keine Befürwortung unsererseits. Wir lieben Essen und würden es niemals für den perfekten Körper aufgeben. Dagegen sprechen wir uns auf Les Mads auch ganz klar aus. Das Modelgeschäft ist vielen nur aus Germanys Next Topmodel ein Begriff. Erweckt die Sendung aus eurer Sicht einen irrealen Eindruck vom tatsächlichen Business? Wir haben GNT gesehen und auch darüber berichtet, allerdings mit einer sarkastischen Note. Germany’s next Topmodel entspricht nicht der Realität. Die Gewinnerinnen der Staffeln würden beispielsweise nie eine internationale Karriere wie eine Toni Garrn anstreben können. Somit fällt das Ganze nur in die Kategorie Entertainment. Mer Infos auf: www.lesmads.de

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Konzept/Design: Mark Heywinkel Lektorat/Artikel: Ulf Biallas, Manuel Förderer, Marco Frohberger, Joel Krebs, Christina Krieglstein, Andreas Matt, Diana Schormann Mitarbeit: Freddy Hansmann, Philip Ulc Für die Inhalte verlinkter Websites sind wir nicht verantwortlich. Die Rechte an den Einsendungen verbleiben bei ihren jeweiligen Künstlern.

www.paraguas.de


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