SCHWERPUNKT
Wie man lernt, einen Schicksalsschlag zu akzeptieren Die Diagnose Querschnittlähmung stellt den bisherigen Lebensentwurf infrage und führt häufig in eine Krise. Die betroffenen Menschen müssen nicht nur die Rehabilita tionsarbeit bewältigen, sondern auch eine Neuorientierung für ihr Leben finden.
Maurizio Coldagellis Arbeitstag war eigentlich schon zu Ende, als sein Arbeitgeber ihn bat, auf einer anderen Baustelle noch etwas zu überprüfen. Dabei stürzte der damals 40-Jährige zehn Meter tief in einen Liftschacht. Er zog sich einen Rückenbruch zu und wurde sehbehindert. Er werde in der Klinik viel Zeit und Geduld brauchen, sagten ihm die Ärzte. Und mehr noch: Sie sind sich nicht sicher, ob er je wieder das Bett verlassen kann. Der einst aktive Mann aus Chiavenna (IT) liebt die Natur; er jagte, fischte und ging leidenschaftlich gern in die Berge. Ständig im Bett liegend wird ihm zunehmend bewusst, dass er all das, was bisher sein Leben bereichert hat, nicht mehr machen kann. Im Sommer 2013 liegt er bereits viele Monate im Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ) in Nottwil. Er hat schon viel Kraft gebraucht, viel Geduld gezeigt, die ständigen starken Schmerzen ausgehalten. Doch jetzt beherrscht dieses Gefühl seinen Kopf: Ich schaffe das nicht mehr. So will ich nicht
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leben. Als er endlich aus dem Bett kann, fährt er mit dem Rollstuhl zum nahen Bahnübergang und ist entschlossen, sein Leiden zu beenden. Was ihn schliesslich zurückhält, kann er nicht mehr benennen: «Ich vermute, es war der Gedanke an meine Familie und an die Menschen, die mir nahe sind und die mich lieben.» Mit der Zeit hat Coldagelli gelernt, sein neues Leben zu akzeptieren. Er zeigt wieder sein typisches Lächeln – obwohl er fast täglich mit Schwierigkeiten konfrontiert ist. «Aber ich gebe nicht auf», sagt er. In emotional belastenden Momenten denkt er an all das, was er bereits erreicht hat. Krise für den Neustart nutzen Die meisten der betroffenen Menschen schaffen eine Neuorientierung erst dann, wenn sie den erlittenen Schicksalsschlag in ihre Gefühlswelt integriert haben, sagt Kamran Koligi, Leitender Arzt Paraplegiologie am SPZ. Aus diesem Grund wurden in Nottwil Programme entwickelt, um die
Maurizio und Agata Coldagelli: «Ich kann meiner Frau nur danken. Sie ist immer an meiner Seite und lässt mich nie im Stich.»