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Unendlich mehr Möglichkeiten

Einst schrieb man Briefe von Hand und mussten Telefongespräche ins Ausland bei ­ einer Zentrale angemeldet werden. Dann, vor rund 65 Jahren, wurde der digitale ­Computer geboren. Es begann ein neues Zeitalter. In dessen Verlauf half moderne Kommunikations-Technologie, vielerlei Grenzen und Schranken aufzuheben – ­vor ­ allem auch zum Wohl von Menschen mit Behinderung.

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Reportage

Bild aufgenommen im Planetarium, Verkehrshaus der Schweiz, Luzern

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Reportage

Text: Roland Spengler | Bilder: Remo Nägeli, Walter Eggenberger

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n einem Vorführraum des Institute of Microengineering (IMT) in Neuenburg hat sich eine Handvoll Menschen versammelt und schaut gebannt auf die Leinwand. Die Augen der Fachleute beginnen leicht zu glänzen, während die neugierigen Laien staunen. Sie werfen gerade einen Blick in eine kleine Ecke der Hightech-Welt von heute. Der Film zeigt einen Rollstuhlfahrer, der sich auf einer imaginären Strasse vorwärtsbewegt: Mal geradeaus, mal nach links oder rechts abbiegend, mal slalomfahrend oder einen Kreisel umrundend. Das ist an sich nichts Spektakuläres. In diesem Falle aber schon, denn das Gefährt wird weder mit den Händen noch mit einem Joystick gelenkt – sondern allein mit Bewegungen der Augen. Das Geheimnis dafür liegt in dem 2011 entstandenen System namens Computer Wheelchair Interface (CWI). Es repräsentiert ein jüngeres Gemeinschaftswerk der Stiftung für Elektronische Hilfsmittel FST (Fondation Suisse pour les Téléthèses), des IMT und weiterer Beteiligter. Spielfeld für Utopisten Michel Guinand, Direktor der Stiftung FST, hat das CWI-Video schon mehrmals gesehen. Trotzdem kommt er immer wieder aufs Neue ins Schwärmen: «Einfach fantastisch, was moderne Technologie kann. Grenzen sind kaum ersichtlich und das Potenzial ist noch riesig.» Bald schon, glaubt er, werde es für ganz bestimmte Anwendungen Geräte und Systeme geben, die sozusagen alles könnten; an Leistung und Komfort wenig zu wünschen übrig liessen und kaum grösser als eine Kreditkarte sein würden. In seiner Prognose ein Stück weit bestätigt, fühlt er sich bei der Firma ER Systems in Le Landeron. Dort haben Elektroniker und Programmierer in aufwändiger Arbeit einen Prototypen der vierten Generation des UmfeldKontrollsystems «James» entwickelt. Nach ausgiebigen Tests soll das Gerät gegen Ende dieses Jahres in Produktion gehen. Es wird

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wie ein normales Smart Phone aussehen, das auf leichte Berührungen mit dem Finger reagiert. Das Innenleben hingegen ist speziell auf Bedürfnisse von Menschen im Rollstuhl ausgerichtet. Sie werden auf eine ganze Reihe neuer und zusätzlicher Funktionen zählen können. Anstoss aus dem Hinterhof Für Betroffene sind die umwälzenden Veränderungen in der Informations-Technologie sowie unzählige Fortschritte an der Peripherie in den letzten Jahrzehnten tatsächlich ein Segen. Heutige Hilfsmittel ermöglichen ihnen, mit dem Rest der Welt selbstständig zu kommunizieren und sich in dieser freier zu bewegen. Insbesondere gilt dies für Menschen, die mit äusserst starker Einschränkung der Funktionsfähigkeit von Armen und Händen kämpfen. In Sachen Unabhängigkeit, Mobilität, Chancen im Beruf und Lebensqualität insgesamt hat sich für sie enorm viel verbessert. Die Stiftung FST hat dazu regelmässig bahnbrechende Ideen geliefert und deren Realisierung angestossen. Begonnen hatte die bemerkenswerte Geschichte der gemeinnützigen Institution in den späten 70er-Jahren in einer Garage im Neuenburger Jura. Jean-Claude Gabus, Sohn eines 1

Uhrmachers aus Le Locle, mochte schon als junger Ingenieur nicht zusehen, wie behinderte Menschen von der Kommunikation abgeschnitten wurden. Beflügelt durch entsprechende Erlebnisse in seiner persönlichen Umgebung, tüftelte er unermüdlich an Geräten, die den Betroffenen das Schreiben, Kommunizieren und das Dasein überhaupt erleichtern sollten. Gabus war später mehr als 20 Jahre lang Denker und Lenker der FST. Sein Erfindergeist und seine Ausdauer ebneten den Weg zu teils revolutionären Innovationen, für die er mehrfach ausgezeichnet wurde. Kompetenz vor der Haustüre Schlüssel zum Erfolg war und bleibt die enge Zusammenarbeit mit diversen Forschungsstätten und spezialisierten Unternehmen. Einer der wichtigsten Partner ist das zur Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Lausanne gehörende IMT. In dessen Büros und Werkstätten herrscht kreative Stille; Wissenschafter aus dem In- und Ausland produzieren hier künstliche Intelligenz. Man spürt förmlich, wie akribisch sie den Dingen auf den Grund gehen und mit allen Eventualitäten spielen. Auf Feinheiten und Kleinigkeiten, auf das Geschick, Logik und Vorstellungsvermögen zu


«In der Technologie ­liegt riesiges Potenzial»

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1 Dranbleiben: Michel Guinand (links), Direktor der Stiftung FST, glaubt an den Fortschritt und sieht noch viel Potenzial. 2 Präzision: In dem zur ETH Lausanne gehörenden Institute of Microengineering (IMT) in Neuenburg, stehen modernste Apparate im Einsatz. 3 Kontrolle: Durch hochempfindliche Mikroskope lassen sich auch minimste Fehler erkennen. 4 Geschick: Ganz ohne Handarbeit kommen Wissenschafter und Ingenieure nicht aus.

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Unscheinbar: Ein Reflektor auf der Brille ermöglicht das Schreiben auf PC mittels feiner Kopfbewegungen.

Kenntnisse und Erfahrungen aus der Forschung sowie multidisziplinären Projekten mit der Industrie ein. Anderseits lernen sie bei Aufgaben, wie sie die Stiftung FST an uns heranträgt, immer Neues hinzu, das sich später häufig auch anderswo verwenden lässt.»

kombinieren, auf Präzision und letztlich ergonomisches Design kommt es in dieser Branche an. Deren Verwurzelung in der Schweiz, vor allem im Kanton Neuenburg, hat den hervorragenden Ruf des IMT mitbegründet. Michel Guinand: «Hier forschen und lehren einige der besten Köpfe, die es auf diesem Gebiet gibt.

Pionier-Unternehmen Die Stiftung für Elektronische Hilfsmittel FST (Fondation suisse pour les Téléthèses) wurde 1982 von der Schweizer Paraplegiker-Stiftung und der Stiftung Cerebral gegründet. Sie hat ihren Hauptsitz in Neuenburg und verfügt über Zweigstellen in Nottwil, Basel, Zürich und Brissago. Das Unternehmen beschäftigt 22 Personen und gehört zu den Pionieren auf dem Gebiet der Forschung, Entwicklung und Vermittlung von elektronischen Hilfs­mitteln für Menschen mit Behinderung. Die Tätigkeit konzentriert sich auf drei Bereiche: Unterstützte Kommunikation, alternative Eingabesysteme für Computer und Umfeldkontrolle. Weitere Informationen: FST Stiftung für Elektronische Hilfsmittel Charmettes 10b 2006 Neuenburg Telefon 032 732 97 97 www.fst.ch

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Hohe Kompetenz in der praktischen Umsetzung liefern zahlreiche kleinere Betriebe in der Region. Wir haben so direkten Zugang zu erstklassigen Quellen und können alle voneinander profitieren.» Das sieht Pierre-André Farine, Professor und Abteilungschef im IMT, genau gleich: «Unsere Leute bringen spezifische

Lasten breit verteilen Der aktuelle Katalog enthält mehr als 130 unterschiedlichste Hilfsmittel. Das Angebot wird fraglos weiter wachsen; auch dank der Stiftung FST. Diese will ihre Dienstleistungen laufend optimieren und weiterhin Motor von Entwicklung und Herstellung sein. Vorne dabei bleiben bedeutet umgekehrt nicht, alles selber zu machen. Das ist ohnehin illusorisch, weil die

Unabhängigkeit erhöhen Einfach und zweckmässig sollen Hilfsmittel für

trum (SPZ) Nottwil, wo sie mit unterschiedlich-

Behinderte gemäss Leitsatz der Invalidenversi-

sten Anliegen und Ansprüchen von Menschen

cherung (IV) sein. Vor 30 und mehr Jahren noch

im Rollstuhl konfrontiert wird. «Jeder Fall ist

gab es selten Zweifel, was damit gemeint sei.

an­ders gelagert. Das hat nicht nur mit der Be-

Das Angebot an Kommunikations-Hilfsmitteln,

hinderung, sondern auch mit vielen anderen

insbesondere fürs Schreiben, war eher beschei-

Faktoren zu tun; mit Alter und Geschlecht, mit

den. Tetraplegiker etwa, die darauf angewie-

beruflicher Tätigkeit, mit Perspektiven und dem

sen waren, erhielten meist simple Tipphilfen.

Umfeld der jeweiligen Person.» Zuerst kommen

Die einen bestanden nur aus einem Holzstab

daher sorgfältige Bedarfsanalyse und gründ­

mit Gummikopf; andere aus Plexiglas mit ei-

liche Abklärungen. Hierfür setzt sich die 42-jäh­

nem kurzen Gummischlauch am vorderen Ende.

rige Beraterin mit Ergotherapeuten der Spezial­

Beide können ihren Zweck weiterhin erfüllen.

klinik sowie dem Patienten und dessen Ange­­-

Weit stärker verbreitet ist mittlerweile jedoch

hörigen zusammen. Mitunter dauert es sogar

die Anwendung raffinierter, multifunktioneller

mehrere Wochen oder Monate, bis man genau

Kommunikationssysteme.

weiss, über welche Fähigkeiten zu elementaren Handlungen ein Mensch noch verfügt, und wel-

Abklärungen wegweisend

che spezifischen Anforderungen mit Blick auf

Modern und ausgeklügelt, oder traditionell und

die Zukunft zu berücksichtigen sind. Der Faktor

einfach? Beatrice Flückiger kennt die Probleme,

Zeit ist in diesem Prozess aber nicht entschei-

die bei der Wahl des richtigen Hilfsmittels auf-

dend. Im Mittelpunkt steht, durch ressourcen-

tauchen, hinlänglich. Sie leitet die Aussenstelle

bezogenes Vorgehen eine ausgewogene Lösung

der Stiftung FST im Schweizer Paraplegiker-Zen-

zu finden – und eine eventuelle Über­ver­­sorgung


Reportage Daniel Joggi ist Präsident der Schweizer Paraplegiker-Stiftung (SPS). Seit 1977 querschnittgelähmt, hat er ­d ie Ent­wick­­lung von elektronischen Hilfsmitteln für Menschen mit Behinderung auf­merksam mitver­folgt.

finanziellen Reserven der Stiftung limitiert sind. Umso mehr ist Michel Guinand darauf bedacht, für die meist aufwendigen Projekte viele Interessierte zu gewinnen: «Wir müssen Eigenmittel konzentriert und zielgerichtet einsetzen. Zudem verfolgen wir aufmerksam, was anderswo passiert, und kaufen Geräte im Ausland ein, sofern sie geeignet sind.» Selber exportiert man wenig, und wenn, sind es hauptsächlich Lizenzen. Das grösste Hindernis überhaupt, erklärt der Marketing-Fachmann, «ist ein vergleichsweise kleiner Markt weltweit. Zwar gibt es immer mehr Menschen mit Behinderung. Aber zu wenig, als dass es grosse Stückzahlen lohnte, die zu einer massgeblichen Produktverbilligung führen würden.»

Sinnvolle Investitionen Die SPS engagiert sich seit 30 Jahren für die Stiftung für Elektronische Hilfsmittel (FST). Weshalb? Im Rahmen unseres Auftrages, der ganzheitlichen Rehabilitation von Menschen mit Querschnittlähmung, erachten wir es als notwendig, Institutionen wie die FST zu unterstützen. Durch die ­Anwendung elek­ tronischer Hilfsmittel sind in den vergangenen Jahrzehnten bedeutsame Fortschritte erzielt worden. Das gilt ins­besondere für die Selbstständigkeit und damit auch für bessere Chancen bei der Wiedereingliederung in die Arbeitswelt. Lohnt sich der Aufwand in Forschung und Entwicklung im Verhältnis zum Nutzen? Die Geschichte der FST belegt, dass sich Investitionen letztlich für alle Beteiligten bezahlt machen. Schweizer gehörten zu den Pionieren in diesem Sektor und s­ etzen starke Akzente in der Weiterentwicklung. Schon darum sollte man das vorhandene Wissen hier behalten, ergänzen und für spezifische Projekte einsetzen. Sonst würden wir vom Ausland abhängig. Das hiesse wohl auch, dass das Angebot geschmälert würde oder nur noch einheitlich gefertigte Massenartikel erhältlich wären. Wäre das nicht im Sinne der IV-Revision, die Einsparungen bei Hilfsmitteln vorsieht? Die Invaliden-Versicherung, die für die Hilfsmittel grösstenteils aufkommt, hat Interesse an tieferen Preisen und mehr Wettbewerb. Dagegen ist im Prinzip nichts einzuwenden. Sparen darf hier aber nicht auf Kosten der Qualität oder massiv eingeschränkter Auswahl erfolgen. Wenn doch, litten darunter zuerst die Direktbetroffenen. Später müsste man wegen ungenügender oder ausbleibender Mittel einen Entwicklungsstopp befürchten.

Testen. Beatrice Flückiger (rechts) berät Patienten im SPZ Nottwil. zu verhindern. Beatrice Flückiger: «Es liegt im Interesse aller Beteiligten, vor allem jedoch des Patienten, dass noch vorhandene Funktionen aktiv gehalten und sogar gefördert werden.

Stimmt denn die Richtung der derzeitigen Entwicklung? Der Trend hin zu sehr leistungsfähigen Multifunktionsgeräten ist unverkennbar und nicht aufzuhalten. Das ist durchaus positiv, weil Breitband-Funktionen gerade die Autonomie und Lebensqualität von Menschen mit Behinderung deutlich erhöhen. Man darf nicht vergessen, dass zahlreiche unter ihnen auf den Einsatz moderner Technologie im Beruf oder anderswo wirklich angewiesen sind.

Schliesslich geht es um die Erhöhung der Selbstständigkeit, und nicht um die Schaffung zusätzlicher Abhängigkeiten.»

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