DIPLOMARBEIT
Bewegung und Räume der Immanenz. Ursache und Entstehung von humanitären Strukturen
ausgeführt zum Zwecke der Erlangung des akademischen Grades eines Diplom-Ingenieurs unter der Leitung von
Ao.Univ.Prof. Mag.phil. DI Dr.phil. Peter Mörtenböck E264 Institut für Kunst und Gestaltung
eingereicht an der Technischen Universität Wien Fakultät für Architektur und Raumplanung von Patrick Jaritz 0226313 Fuhrmannsgasse 7/4 1080 Wien
Wien, am 29.5.2013
Kurzfassung Gründe, Auswirkungen und Arten von Bewegung sind vielfältig und von komplexer Natur. Wirtschaftliche Rahmenbedingungen, ökologische Irregularitäten, politische Konflikte etc. können als (Teil-)Ursache dafür dienen, dass Menschen weite Strecken zurücklegen. Mobilität und Migration haben heute eine nie dagewesene Intensität erreicht und sind weiterhin im Zunehmen begriffen. All die unterschiedlichen Formen von Bewegung haben eines gemeinsam: sie konstituieren Bewegungsnetze aus Wegen und Orten. Der Flüchtigkeit von Bewegung entsprechend bilden sich Orte der Ephemeralität, die wiederum Formen von Architektur hervorbringen, die sich durch immanente Vergänglichkeit auszeichnen. Die Lebensrealitäten von Millionen von Menschen weltweit sind direkt mit dieser neuen Typologie verflochten. Mit der Betrachtung solcher Orte und ihrer Ursachen lassen sich sowohl Rückschlüsse auf geopolitische Entwicklungen ziehen als auch Tendenzen in der Auseinandersetzung mit der zeitlichen Dimension von Architektur erkennen. Die vorliegende Untersuchung demonstriert aus architekturtheoretischer Perspektive die kumulative Bedeutung von temporären und semipermanenten Strukturen und ihrer Interdependenzen mit neuen nomadischen Lebensweisen.
Abstract The repercussions and types of as well as the reasons for mobility are manifold and complex in nature. Economic requirements, ecological irregularities and political conflict are just some of the root causes for people's mobility. Today, migration and mobility have reached an unprecedented intensity and persist to be in the ascendant. What all the different types of mobility have in common is that they constitute networks of movement consisting of places and paths. Since mobility is volatile and momentary, it generates distinguished spaces of ephemerality, which in turn spawn a kind of architecture that is characterized by this immanent impermanence. The living conditions of millions of people around the world are closely intertwined with this new typology. Examining these spaces and their root causes enables us to draw inferences about geopolitical developments as well as to discern contemporary tendencies within how the temporal dimension of architecture is engaged. The text at hand aims to demonstrate the cumulative relevance of such temporary and semi-permanent structures and their interdependence with new nomadic ways of life from the perspective of architectural theory.
Abrégé Les raisons, effets et les formes de mouvement sont multiples et complexes. Parfois les conditions économiques, les irrégularités écologiques et les conflits politiques peuvent expliquer pourquoi les gens parcourent de longues distances. Aujourd'hui la mobilité et la migration ont obtenues une intensité sans précédent et continuent d'être en augmentation. Les formes diverses de mobilité ont en commun qu'elles constituent un réseau des chemins et des lieux. Parce que la mobilité est volatile, il se forment des espaces éphémères, qui derechef engendrent des formes de l'architecture qui sont caractérisées par son évanescence inhérente. Les conditions de vie pour des millions de personnes dans le monde sont directement entrecroisés avec cette nouvelle typologie. La contemplation de ces espaces et leurs causes nous permet de tirer des conclusions concernant des développements géopolitiques et des tendances dans la discussion de la dimension temporelle de l'architecture. La présente étude démontre l'importance de ces structures semi-permanentes et temporaires et leurs interdépendances avec les nouveaux modes de vie nomades du point de vue de la théorie de l'architecture.
Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung.........................................................................................................................1 2 Bewegung........................................................................................................................7 2.1 Nomadismus I..........................................................................................................8 2.2 Mobilität..................................................................................................................12 2.2.1 Motorisierte Mobilität.......................................................................................16 2.2.2 Militärische Mobilität.......................................................................................18 2.3 Nomadismus II.......................................................................................................19 2.4 Migration................................................................................................................26 3 Temporalität...................................................................................................................37 3.1 Vitruv......................................................................................................................37 3.2 Mobile vs. temporäre Architektur ...........................................................................38 3.3 Ursprung und Entwicklung.....................................................................................40 3.2 Semipermanente Strukturen..................................................................................45 3.3 Camps: erstarrte Bewegung...................................................................................46 3.3.1 Das biopolitische Camp..................................................................................49 3.3.2 Das Freizeitcamp (Autonomy)........................................................................52 3.3.3 Das Flüchtlingscamp (Necessity)....................................................................54 3.3.4 Das Militärcamp (Control)...............................................................................58 3.3.5 Die Zeltstadt (Autonomy/Control)....................................................................61 4 Kontingenz.....................................................................................................................63 4.1 Anforderungen und Bedürfnisse.............................................................................63 4.1.1 Grundbedürfnisse...........................................................................................63 4.1.2 Funktionen......................................................................................................64 4.1.3 Habitabilität.....................................................................................................65 4.2 Humanitäre Hilfe....................................................................................................66 4.2.1 Flüchtlinge......................................................................................................67 4.2.2 IDPs................................................................................................................69 4.3 Humanitäre Anlagen...............................................................................................70 4.4 Shelter....................................................................................................................75 4.5 Rapid Response.....................................................................................................77 4.5.1 Architecture for Rapid Response....................................................................77 4.5.2 Zelte...............................................................................................................78 4.5.3 Transitional Shelter.........................................................................................79 4.5.4 Emergency Relief Shelter...............................................................................81 5 Conclusio.......................................................................................................................82 6 Literatur ........................................................................................................................89 6.1 Online-Quellen.......................................................................................................94
1 Einleitung Das von Menschenhand Erbaute war und ist Ausdruck und Ergebnis jeweiliger Lebensumstände und Umweltbedingungen. So wie sich auch heute soziale und räumliche Strukturen gegenseitig beeinflussen, waren Gebäude und Siedlungen früherer Kulturen Kennzeichen und Parameter ihrer Entwicklung. Die Verfasstheit von Wildbeutergesellschaften materialisierte sich in ihrer Verwendung von hocheffizienten, mobilen Bauweisen, deren Bauelemente über weite Strecken transportiert werden konnten und widrige Einflüsse überstanden. Mit dem Übergang zur Sesshaftigkeit wurde temporärer Architektur praktisch keine Beachtung mehr geschenkt; nur punktuell, etwa im militärischen Lagerbau seit der Antike, gibt es eine Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten temporärer Bauweisen. Eine tiefergehende Beschäftigung erfährt das Transiente in der Architektur erst mit der sprunghaften Erweiterung der Mobilität durch die Erfindung der Dampfmaschine und in weiterer Folge der Massenmotorisierung und ihrer weitreichenden Implikationen. Diese Entwicklungen hatten auch erhebliche Auswirkungen auf großmaßstäbliche Bewegungen weltweit. Bewegungsströme sind kein neues Phänomen, die Intensität ist allerdings auf beispiellose Weise gestiegen. Im 20. Jahrhundert haben sich immense weltweite Veränderungen in der Population ereignet. Ob von Europa nach Nordamerika, von der Karibik ins Vereinigte Königreich, von Ostasien nach Australien: Migration ist einer der größten Faktoren, die die globale politische und ökonomische Situation beeinflussen. Aber nicht nur eine quantitative Steigerung ist feststellbar, auch Qualität und Motive von Bewegungen haben sich geändert. Große Teile von Bewegungsströmen finden beispielsweise nicht freiwillig statt. Arbeitsmigration und Flucht vor politischer Verfolgung oder Auswirkungen des Klimawandels sind zu entscheidenden Faktoren bei der Betrachtung globaler Migration geworden. So wie die zunehmende Liberalisierung von Waren- und Güterverkehr ist auch der Anstieg der Mobilität von Arbeitskraft ein Symptom der herrschenden Wirtschaftsordnung. Wanderungen werden als ein wesentliches Element für Bevölkerungsveränderungen gesehen, vor allem weil sie kurzfristiger wirksam werden als 1
natürliche Bevölkerungsbewegungen. Auch freiwillige Ortsänderungen haben ein neues Ausmaß erreicht1, wobei sich Ziele und Gradienten hier ebenso in ständiger Änderung befinden. All diese Bewegungen spielen eine entscheidende Rolle im komplexen (und undeutlichen) Prozess des Wandels der internationalen politischen Ordnung, den wir momentan erleben. Den Bewegungen von Waren und Kapital folgen Bewegungen von Menschen, stellen Castles und Miller in „The Age of Migration“ fest.2 Der globale kulturelle Austausch, gefördert durch bessere Transport- und Kommunikationsmittel, trägt ebenfalls zu Verschiebungen bei. Internationale Bewegungen sind eine zentrale Dynamik der Globalisierung. Die bei weitem größten Verschiebungen finden innerhalb der eigenen Länder statt. Der Human Development Report 2009 geht von geschätzten 740 Millionen internen MigrantInnen aus, das sind etwa vier Mal so viele wie internationale.3 Diese Dynamik hat erheblichen Einfluss auf räumliche Organisationen von Ankunftsorten und die Entstehung neuer Wohntypologien. Teilweise unkontrolliertes Wachsen vor allem großer Städte und sogenannter Megacities ist ebenso ein Phänomen wie die vermehrte Errichtung von humanitären Anlagen, Räumen der „erstarrten Bewegung“, wie sie von Holert und Terkessidis bezeichnet werden.4 In manchen Ländern bewirkt die rapide steigende Bevölkerungszahl der Millionenstädte eine kaum überschaubare oder gar steuerbare Bebauung. „Their very growth, driven by uncontrolled rural migration, renders them all but ungovernable.“5 Bei dieser informellen Stadtentwicklung, wie sie beispielsweise bei der Bevölkerungsausdehnung in Lagos, Dhaka, Karatschi, Jakarta etc. stattfindet6, liegt die Ursache des (vermeintlich) temporären Charakters der Behausungen vornehmlich an der Wahl der zur Verfügung stehenden 1 Vgl. Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne (Berlin 1986) 125 2 Vgl. Stephen Castles, Mark J. Miller, The Age of Migration (Basingstoke 2009) 4 3 Vgl. United Nations Development Programme, Human Development Report 2009 (New York 2009) 21 4 Tom Holert, Mark Terkessidis, Erstarrte Mobilität, in: Axel Doßmann, Jan Wenzel, Kai Wenzel, Architektur auf Zeit: Baracken, Pavillons, Container (Berlin 2006) 64 5 Paul Hirst, Space and Power: Politics, War and Architecture (Cambridge 2005) 25 6 Vgl. United Nations Department of Economic and Social Affairs Population Division, World Urbanization Prospects. The 2005 Revision (ESA/P/WP/200) (New York 2006) 4
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Baumaterialien7 – es wird verwendet, was vor Ort als brauchbar erachtet wird. Die oft katastrophalen Bedingungen sind dabei immer noch attraktiver als die der Herkunftsregion. Bei humanitären Einsätzen wiederum entspringt die Temporalität dem tatsächlichen Anspruch der Kurzfristigkeit, welcher allerdings allzu oft nicht mit den realen Bedingungen korrespondiert. Humanitäre Camps haben üblicherweise die Aufgabe, in möglichst kurzer Zeit und für einen überschaubaren Zeitraum mit einer bestimmten Anzahl an Menschen umzugehen. Sie sind in der Lage, enorme Ströme aufzunehmen und bilden damit ein globales Instrument zur Handhabung signifikanter Massen, sowohl in humanitärer als auch in politischer Hinsicht. Camps sind somit auch Kennzeichen und Folge großmaßstäblicher Bewegung. Doch obwohl der Genotyp des Camps grundsätzlich überall der gleiche ist, unterscheiden sich die Phänotypen auf interessante Weise. Unterschiedlichen Anforderungen wird mit unterschiedlichen Konzepten begegnet. Bei all den verschiedenen Anwendungen, vor allem bei institutionalisierten, können etliche Aspekte auch als Vorlage für die zivile Nutzung dienen. Eine Vielzahl verschiedener Organisationen, ob NGOs, private oder militärische Institutionen, verfügt über ein enormes Know-How, was den Einsatz von semipermanenten Strukturen betrifft. Für die Konzipierung, Herstellung und Organisation weisen sie Konzepte auf, die für eine breite Skala an Einsatzfälle ausgelegt sind. Unsere gegenwärtige Epoche ist geprägt von einer Vielzahl dieser Einsatzfälle, die Friktionen und damit Bewegungen verursachen. Szenarios für künftige Auseinandersetzungen reichen von ökologischen Ursachen8 über religiöse Konflikte bis hin zu augenscheinlichen sozialen Disparitäten. Hinzu kommt, dass erhebliche Spannungen durch die Verknappung von Schlüsselressourcen (sogenannte High-value resources) induziert werden9, die nicht erneuerbar,
7 Vgl. United Nations Human Settlements Programme (UN-Habitat), The Challenge of Slums. Global Report on Human Settlements (London 2003) xxv 8 Vgl. Silja Halle (Hg.), United Nations Environment Programme, From Conflict to Peacebuilding. The Role of Natural Resources and the Environment (DEP/1079/GE) (Nairobi 2009) 8 9 Vgl. Päivi Lujala, Siri Aas Rustad, High-value natural resources: A blessing or a curse for peace?, in: Päivi Lujala, Siri Aas Rustad (Hg.), High-Value Natural Resources and Peacebuilding (London 2012) 10
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teilweise schwer zu fördern sind, auf bestimmte geographische Gebiete beschränkt sind und enorme Einnahmen erzielen, wie Öl, Kupfer, Gold und Rohstoffe für die High-Tech-Industrie. Der konservative Politikwissenschaftler Francis Fukuyama spricht zwar vom Liberalismus als Ende der Geschichte, übersieht dabei aber, dass am Rand die Krisen immer heftiger und dramatischer werden. Dennoch zeichnet auch er ein düsteres Bild, was künftige Entwicklungen betrifft: „Our deepest thinkers have concluded that there is no such thing as history – that is, a meaningful order to the broad sweep of human events. Our own experience has taught us, seemingly, that the future is more likely than not to contain new and unimagined evils, from fanatical dictatorships and bloody genocides to the banalization of life through modern consumerism, and that unprecedented disasters await us from nuclear winter to global warming.“10 Auch der renommierte Historiker Eric Hobsbawm sieht in gegenwärtigen ökonomischen Entwicklungen Gefahren für die Zukunft: „The belief, following neoclassical economics, that unrestricted international trade would allow the poorer countries to come closer to the rich, runs counter to historical experience as well as common sense. A world economy developing by the generation of such growing inequalities was, almost inevitably, accumulating future troubles.“11 Wolfgang Hetzer behauptet, dass wir uns bereits im Krieg befinden, der allerdings noch nicht mit militärischen Mitteln geführt wird: „Der gesellschaftliche Frieden ist deshalb nicht nur in Europa in Gefahr geraten. Das 20. Jahrhundert zeigte in erschreckender Fülle und Eindeutigkeit, dass wirtschaftliche Probleme, ethnische Spannungen und staatlicher Machtzerfall immer die Vorboten blutiger Gemetzel sind. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts gibt es aber so viele neue Brandherde wie nie zuvor. Dort prallen die Vorbedingungen für Kriege und Bürgerkriege zeitgleich aufeinander.“12 Eine der größten Herausforderungen wird auch der Umgang mit der systemimmanenten Rücksichtslosigkeit gegenüber der Natur sein, deren teilweise noch unabschätzbare Auswirkungen erheblichen Einfluss auf Massenbewegungen 10 Francis Fukuyama, End of History and the Last Man (New York 1992) 3f. 11 Eric Hobsbawm, The Age of Extremes (London 1994) 571 12 Wolfgang Hetzer, Finanzkrieg. Angriff auf den sozialen Frieden in Europa (Frankfurt 2013) 1
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haben wird. Das Bundesministerium für Landesverteidigung kommt hier zu folgender Einschätzung: „Naturkatastrophen, technische oder ökologische Desaster sowie globale Gesundheitsrisken und Seuchen haben neben ihren primären zerstörerischen Auswirkungen auch eine politische Bedeutung, da sie in Extremfällen zur politischen und wirtschaftlichen Destabilisierung einer gesamten Region führen können. Die Beobachtungen der letzten Jahre zeigen, dass Plötzlichkeit und Heftigkeit von Naturereignissen zunehmen.“13 So ist beispielsweise auch abzusehen, dass die zunehmende Desertifikation der Erde, verursacht durch massive Waldrodungen, in naher Zukunft etwa einer Million Menschen in der Agrarwirtschaft ihre Lebensgrundlage entzieht, was einen Massenexodus zu einem denkbaren Szenario macht.14 „Billions of people in more than 100 countries are periodically exposed to at least one natural disaster (Moe et al., 2007) and there are around 30 identified natural disasters worldwide (Deshmukh et al., 2008). There is evidence that the frequency and extent of natural disasters are increasing on a global scale (Warren, 2010). For instance, in the decade 19001909, natural disasters occurred 73 times, but in the period 2000-2005 the number of occurrences rose to 2,788 (Kusumasari et al., 2010). This increase is as a result of more frequent disasters; the growth of global populations located in increasingly vulnerable areas; and continued environmental degradation (Deshmukh et al., 2008).“15 Eine steigende Anzahl von Naturkatastrophen kann dabei auf einen anthropogenen Ursprung zurückgeführt werden. Wie Gunnar Möller in seiner Arbeit über CO2-Emissionshandel schreibt, ist es unumstritten, dass „das Abschmelzen der Polkappen, Anstieg des Meeresspiegels oder die Zunahme extremer Wetterereignisse“ Auswirkungen des vom Menschen verursachten Teils des Treibhauseffektes sind.16 Der Umgang mit all diesen möglichen Entwicklungen bzw. die Vorbereitung darauf stellt eine nicht zu unterschätzende Aufgabe dar. Die Vorbereitung auf Katastrophen- und Ausnahmeszenarien wurde von einigen Organisationen 13 Vgl. Bundesministerium für Landesverteidigung und Sport, Weißbuch 2010 (2011) 15 14 Vgl. Intergovernmental Panel on Climate Change, Managing the Risks of Extreme Events and Disasters to Advance Climate Change Adaptation (Cambridge 2012) 92 15 Chaminda Pathirage et al., Managing Disaster knowledge: Identification of Knowledge Factors and challenges (Salford 2011) 2 16 Vgl. Gunnar Möller, CO2-Emissionshandel in der Handelsperiode 2008-2012 (Hamburg 2008) 5
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weitgehend professionalisiert, beispielsweise durch das Festlegen von grundlegenden Standards.17 Im humanitären Einsatz ist eine immer effizientere Vernetzung und Koordinierung der Einsatzorganisationen18 zu beobachten, mit einer ständigen Verbesserung der Maßnahmen19 und Steigerung der Effektivität.20 Mit der zunehmenden Verwendung schnell einsatzfähiger Architekturen für Krisensituationen hat sich eine Industrie entwickelt, die eine neue Typologie hervorgebracht hat: architecture for rapid response. Das besondere Merkmal dieser Typologie ist, dass sie weitgehend unbeachtet vom Architekturdiskurs mit dem (Über-)Leben von Millionen von Menschen weltweit verbunden ist. Im Verband ist sie damit längst zum politischen Instrument geworden. Die Kenntnis der Mechanismen ist wesentlich bei der Beurteilung künftiger Einsatzbereiche. Ziel dieser Untersuchung ist, sich dem Phänomen semipermanenter Strukturen über seine Entstehungsgeschichte anzunähern und seinen Gründen auf die Spur zu kommen. Mit der Beleuchtung früher Lebensweisen und einer allgemeinen Betrachtung der Ursachen und Wirkungen von großmaßstäblicher Bewegung wird ein Entwicklungsverlauf dargestellt, der einer Erklärung aktueller Tendenzen dienen soll. Zu mobiler und temporärer Architektur gibt es mit Kronenburg, Doßmann, Wenzel und Wenzel eine Reihe sehr hilfreicher Literatur. Im Bereich von größeren temporären Strukturen, vornehmlich biopolitischen Camps, finden sich mit Herz und Hailey zwei Vertreter mit profunder Sachkenntnis. Der Nexus ist in weiten Teilen aber noch nicht vorhanden. Generell ist die architekturtheoretische Auseinandersetzung mit den räumlichen Implikationen von Bewegungsströmen ausbaufähig. Die vorliegende Arbeit soll dabei helfen, Kausalitäten zu erkennen und deduktiv zu Folgerungen zu gelangen. Die substanzielle Beschäftigung mit der Genealogie dient als Grundlage für ein Verständnis der gegenwärtigen und zukünftigen Rolle sowohl des punktuellen als auch flächigen Einsatzes von humanitären Strukturen. 17 Vgl. The Sphere Project, Humanitarian Charter and Minimum Standards in Disaster Response (Oxford 2004) 28ff. 18 Vgl. Lynn Lawry (Hg.), Guide to Nongovernmental Organizations for the Military (2009) 87 19 Vgl. Spencer Moore et al., International NGOs and the Role of Network Centrality in Humanitarian Aid Operations: A Case Study of Coordination During the 2000 Mozambique Floods, in: Disasters, Volume 27, Issue 4 (Calgary 2003) 305ff. 20 Vgl. Paul Currion, Kerren Hedlund, Strength in Numbers: A Review Of NGO Coordination in the Field (ICVA Report) (Genf 2010) 6
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2 Bewegung Die aktive Ortsänderung ist eine evolutionäre Fähigkeit bestimmter Lebewesen zur Erweiterung der Freiheitsgrade im dreidimensionalen Raum. Unterschiedlich ausgeprägte motorische Fertigkeiten der verschiedenen Organismen verhelfen (durch Verwendung von Gliedmaßen oder anderer anatomischer Teile) biologischen Individuen, ihre Lage im Raum anzupassen. Dem Menschen ist es durch die Nutzung anderer Lebewesen oder technischer Hilfsmittel möglich, die Bewegungserfahrung erheblich zu erweitern und somit grundlegenden Einfluss auf die weitere Entwicklung der Spezies zu nehmen. Für Brian Massumi ist Bewegung eine der zwei Tätigkeiten, die den menschlichen Körper definieren: „When I think of my body and ask what it does to earn that name, two things stand out. It moves. It feels. In fact, it does both at the same time. It moves as it feels, and it feels itself moving. Can we think a body without this: an intrinsic connection between movement and sensation whereby each immediately summons the other?“21 Mit „The first freedom is the freedom of movement“22 bringt Virilio in „Negative Horizon“ konzis die grundlegende Bedeutung von Bewegung für menschliches Handeln zum Ausdruck. Der Arzt Antonio Alonso Cortés schrieb 1866 „moveo, ergo sum“23 (ich bewege mich, also bin ich). Diese Paraphrase auf René Descartes berühmtes „cogito ergo sum“ spielte für die Kinästhetik eine grundlegende Rolle, da sie die große Bedeutsamkeit der eigenen Bewegung für Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung vermittelt und damit die erkenntnistheoretische Grundthese des Empirismus widerspiegelt, die wiederum auf eine alte scholastische Formel zurückgeht. Bewegung im Raum ist demnach wesentlich zur Erkenntnisgewinnung. „Leibniz's allusion to tendency brings up one more issue and also points to a way of making the link between movement and sensation developed in the work of Spinoza. Spinoza defined the body in terms of „relations of movement and rest.“ He wasn't referring to actual, extensive
21 Brian Massumi, Parables for the Virtual. Movement, Affect, Sensation (Durham 2002) 1 22 Vgl. Paul Virilio, Negative Horizon (London 2005) 40 23 Antonio Alonso Cortés, ¿Pueden la sensibilidad y la movilidad servir por si solos de caractéres distintivos entre el reino animal y el vejetal (sic)? (Madrid 1866) 13
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movements or stases. He was referring to a body's capacity to enter into relations of movement and rest. This capacity he spoke of as a power (or potential) to affect or be affected. The issue, after sensation, perception, and memory, is affect.“24 Peter Sloterdijk spricht von Fortschritt als „Bewegung zur gesteigerten Bewegungsfähigkeit“ und bezeichnet Kinetik als die Ethik der Moderne: „Es gibt keine ethischen Imperative modernen Typus mehr, die nicht zugleich kinetische Impulse wären.“25 Laut Sloterdijk hat Marx zuerst die sittliche Mystifikation des Kinetischen durchschaut und meint: „Der kategorische Imperativ ist demnach weniger ein ethischer als ein kinetischer Satz, er sagt weniger, was du tun 'sollst', als was du 'umstürzen' musst [...]“ Das vorliegende Kapitel stellt nicht den Anspruch einer tieferen philosophischen Betrachtung oder einer erschöpfenden Aufzählung von Formen menschlicher Bewegung. Es ist vielmehr der Versuch, anhand eines definierten Rahmens Grundfragen zur Bedeutung von Bewegung aufzuwerfen und ein Schlaglicht auf einen Diskurs zu werfen, der in jüngster Zeit eine Reihe von interessanten Theorien hervorgebracht hat.
2.1 Nomadismus I Bei Nomadismus handelt es sich um die bei weitem älteste Form menschlicher Subsistenz. Bis zur Neolithischen Revolution (ca. 12.000 vuZ), dem Aufkommen produzierender Wirtschaftsweisen wie Ackerbau und Viehzucht, war die Urform der Existenz geprägt von temporären Behausungen, für Wildbeuter-Kulturen waren zumindest saisonale Wanderungen charakteristisch. Die Sesshaftigkeit hat sich gegenüber dem Jagen und Sammeln durchgesetzt, da der Ackerbau wesentlich mehr Menschen ernähren konnte und zudem mit dem Getreide berauschende Genussmittel hergestellt werden konnten, was ein wesentliches
24 Brian Massumi, Parables for the Virtual. Movement, Affect, Sensation (Durham 2002) 15 25 Peter Sloterdijk, Eurotaoismus. Zur Kritik der politischen Kinetik (Frankfurt 1989) 32ff.
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Motiv gewesen sein dürfte.26 Die Zahl nomadischer Völker ist seither drastisch zurückgegangen, heute gibt es weltweit noch geschätzte 30 bis 40 Millionen NomadInnen, einige freiwillig, andere notwendigerweise.27 Der Homo Sapiens entwickelte sich vor ca. 100.000 Jahren, und vor ca. 30.000 Jahren hatte sich unsere Spezies auf alle bewohnbaren Teile der Erde ausgebreitet. Vor etwa 13.000 Jahren zeigten sich die ersten Anzeichen von Sedentarität, die ältesten Funde permanenter Bauten sind ca. 11.000 Jahre alt, ihre Geschichte ist damit um ein Vielfaches kürzer als die der temporären Behausungen. In der sogenannten Neolithisierung (etwa 8.000 bis 5.000 vuZ) fand gleichzeitig die zunehmende Verbreitung von Landwirtschaft und Viehzüchterkulturen statt, viele Gen-Varianten entstanden erst in diesem Zeitraum. Damit einher ging auch die leichtere Ausbreitung von Seuchen, da mehr Menschen auf engem Raum zusammenlebten und domestizierte Tiere zudem Erreger verbreiteten. Die nachgewiesene Verringerung der Körpergröße ist ein Ausdruck für eine allgemeine Verschlechterung des Gesundheitszustands. Untersuchungen von Zähnen und Knochen weisen außerdem eine Verringerung der Nahrungsqualität nach. Gerald R. Crabtree behauptet darüber hinaus, dass sich seit dieser Zeit die menschliche Intelligenz in einem Rückbildungsprozess befindet, da sich die neue Lebensweise auf die genetische Selektion auswirkte: "I projected this [the reduction in human intelligence, Anm.] occurred as our ancestors began to live in more supportive high density societies (cities) and had access to a steady supply of food. Both of these might have resulted from the invention of agriculture, which occurred about 5,000 to 12,000 years ago."28 Eine weitere Schattenseite dieser Entwicklung ist für Peter Turchin das Horten von Nahrungsmitteln anstatt sie in der Gemeinschaft zu teilen, wie das bei Jäger-undSammler-Gesellschaften der Fall war.29
26 Vgl. Josef H. Reichholf, Warum die Menschen sesshaft wurden. Das größte Rätsel unserer Geschichte (Frankfurt 2008) 27 Vgl. Wayne Ellwood (Hg.), New Internationalist Magazine, Ausgabe 266 (Oxford 1995) 28 Gerald R. Crabtree, Our fragile intellect. Part II, in: Trends in Genetics, Volume 29, Issue 1 (Cambridge 2013) 3–5 29 Vgl. Peter Turchin, Why Become A Farmer?, in: Social Evolution Forum (2013) http://socialevolutionforum.com/2013/05/20/why-become-a-farmer/ (Stand: 5.4.2013, 14.00)
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Konstruktionen sind bei allen Tieren, den Menschen eingeschlossen, eine Erweiterung des eingeschränkten Körpers. Richard Dawkings nennt diese Konstruktionen „the extended phenotype“, die externen Manifestationen der natürlichen Selektion auf einem genetischen Level, die über den Organismus hinausreichen. Für Dawkins ist die Herstellung von Nestern, Verschlägen, Erdhöhlen und Netzen angetrieben von den grundlegenden genetischen Zielen: Überleben und Reproduktion.30 Und dieser evolutionäre Antrieb hat bei allen Tieren zu erstaunlichsten Ergebnissen geführt. Das Zelt stellt die älteste Form vom Menschen gebauter Unterkunft dar. Im nordfranzösischen Pincevent im Seine-Tal lebten die Menschen in 4,5 mal 3 Meter großen tragbaren Zelten, die aus Holzstangen bestanden, an denen Tierhäute befestigt waren.31 Dieser Ort war saisonal zwischen Mittsommer und Mittwinter bewohnt, wie die Jäger ihrer Beute folgten – es wird davon ausgegangen, dass dieses Schema auf die menschliche Existenz weltweit zutraf. Vor ca. 10.000 Jahren gab es einen graduellen Wandel in der Gemeinschaftsorganisation hin zu einem vollkommen landwirtschaftlichen Muster und der damit verbundenen Gründung von permanenten Behausungen.32 Obwohl die allerersten Behausungen natürliche (permanente) Gegebenheiten wie Höhlen oder Bäume waren, so waren die ersten vom Menschen hergestellten Unterkünfte unzweifelhaft temporär. Die Technologien und Fertigkeiten für die Herstellung und Aufrechterhaltung permanenter Siedlungen hat sich der Mensch im langen Zeitraum vor der Sesshaftigkeit angeeignet. Um eine Idee davon zu bekommen, wie ausgefeilt die Fertigkeiten sein mussten, um auf die Umstände eines nomadischen Lebensstils reagieren zu können, werden heutige nomadische Völker zur Untersuchung herangezogen. Barry Biermann schreibt in “Shelter in Africa” über die Behausungen der Zulu: “Assessed by contemporary standards of excellence in architecture, considered as absolutes and not relative to any preconceptins, the Zulu hut stands in the forefrond of architectural efficiency, constructional economy and exploitation of the nature of the material. The Zulu hut
30 Vgl. Richard Dawkins, The Extended Phenotype. The Long Reach of the Gene (Oxford 1982) 198 31 Vgl. Diether S. Hoppe, Freigespannte textile Membrankonstruktionen (Wien 2007) 251 32 Vgl. Robert H. Kronenburg, Portable Architecture (Oxford 2003) 1
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has achieved more in it’s own right than the latest advances in contemporary architecture. Any human endeavour, no matter how humble, that has attained perfection in it’s own field, is a rare enough phenomenon to merit due acclaim.”33 Die Archäologie der Jäger und Sammler verdeutlicht die Signifikanz von Unterkunft. Durch die Errichtung eigener Unterkünfte wurde dem Menschen ermöglicht, seine Reichweite zu erhöhen, neue Gebiete zu besetzen, sich höhere Lagen zu erschließen (was vor allem in Eisperioden lebensnotwendig war).34 Die Bedeutung der Behausung ging aber immer schon über die bloße Unterkunft hinaus: „Mobile hunters and gatherers used dwellings to map onto landscape, incorporating new regions into the broad spaces that were part of their home ranges. Across that landscape mobile hunters and gatherers made camp. Thos encampments varied in duration and placement as people lingered over abundant stocks of flood, fled enemies, or buried their dead. For at least 25000 years, humans have made substantial shelters as elements of a larger cultural strategy.“35 Nicht zu verwechseln mit Nomadismus ist die sogenannte Transhumanz. Hierbei handelt es sich um saisonale Bewegungen bäuerlicher Fernweidewirtschaften. Das Wandervieh wird im jahreszeitlichen Wechsel an unterschiedliche Weideplätze gebracht und nicht oder nur zeitweise eingestallt. Die Destinationen sind teilweise mehrere hundert Kilometer voneinander entfernt, der Heimatort bleibt allerdings immer der gleiche – im Gegensatz zu nomadisierender Viehhaltung, bei dem die Wohnorte an die jeweiligen Weidegründe verlegt werden und es keinen Heimatort gibt.36 Transhumanz reicht jedoch ebenfalls bis in die Urund Frühgeschichte zurück.
33 Barrie Biermann, Indlu: The Domed Dwelling of the Zulu, in: Paul Oliver, Shelter in Africa (New York 1971) 96 34 Vgl. Jerry D. Moore, Prehistory of Home (Berkeley 2012) 47 35 Ibd. 36 Vgl. Roger Cribb, Nomads in Archaeology (Cambridge 1991) 19
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2.2 Mobilität Mobilität bezeichnet den Orts- oder Positionswechsel in physischen, geographischen, sozialen oder virtuellen Räumen. In der Mobilitätsforschung wird vorwiegend die territoriale oder räumliche Mobilität betrachtet, womit die Beweglichkeit im geographischen Raum gemeint ist. Es wird zwischen residenzieller Mobilität, bei der man seinen Wohnsitz dauerhaft verlegt, und zirkulärer Mobilität, bei der man zum Wohnsitz zurückkehrt, unterschieden. Für die Jäger und Sammler der frühen Menschheit bedeutete Mobilität Existenzsicherung. „[...] Mobilität ist in erster Linie eine psychobiologische Ausstattung: nämlich die Fähigkeit zur Beweglichkeit, und damit Voraussetzung eines Vorgangs, der Fortbewegung. Sie bietet einen Evolutionsvorteil gegenüber der Verwurzelung an einem Ort: indem sie den Radius von Nutzungsmöglichkeiten erweitert.“37 Wie im Kapitel Nomadismus I dargelegt, ist Mobilität seit der Entstehung unserer Spezies ein charakteristisches Phänomen. Bedingungen, Motive und Mittel waren aber stets einem Wandel unterzogen. Paul Virilio sieht in „Fahren, fahren, fahren“ die Frau als erstes „Lasttier“, das dem Mann (dadurch) die Freiheit verschaffte, auf die Jagd zu gehen, „die erste Bewegungsfreiheit, eine Fähigkeit zu Bewegung, die zu einer Fähigkeit zum Krieg, jenseits der primitiven Jagden wird [...] Alle Wünsche nach Eroberung und Eindringen finden sich in dieser zahmen Reisemaschine wieder.“ Und: „Wie die Herde geht sie auf die Felder, um unter Kontrolle und Überwachung des Mannes zu arbeiten. Auf den Wanderungen trägt sie das Gepäck; lange vor dem Gebrauch des Hausesels ist sie das einzige ‚Transportmittel‘.“38 Auf diese Weise machte die Frau den Mann mobil, was zu einer Förderung der Geschwindigkeit führte. Bald wurden die Vorteile der Nutzung des Reittieres erkannt: „Die [...] durch die geringe Beweglichkeit der Gruppen begrenzten Konflikte können [...] an Ausdehnung gewinnen, weil die Frau dem Krieger die Wurfgeschosse trägt, weil sie seine Habe verwaltet. Mit dem Aufkommen von Reittieren wird der Krieg noch länger dauern und sich über weitere Flächen erstrecken, einfach weil Ausdauer und Geschwindigkeit der 37 Gabriele Geiger, Der Mensch als animal migrans. Zur Psychologie der Mobilität, in: Landeszentrale für politische Bildung, Der Bürger im Staat, Heft 3 (Stuttgart 2002) 112 38 Paul Virilio: Fahren, fahren, fahren (Berlin 1978) 74
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Reittiere denen des metabolischen menschlichen Fahrzeugs überlegen sind.“39 Als Fortbewegungsmittel hat das Pferd die bedeutendste Rolle in der Geschichte der Mobilität gespielt. Virilio sieht beispielsweise den Grund für die durch die Spanier betriebene Ausrottung eines Volkes und einer Kultur am amerikanischen Kontinent nicht in den Metallwaffen oder im Mentalitätsunterschied sondern in der mobilen Überlegenheit der Invasoren. Der Geschwindigkeitsvorsprung machte „die Auslöschung einer Zivilisation durch einen lächerlichen Haufen Berittener“40 möglich. Die Nutzung des Pferdes hatte nachhaltigen Einfluss auf viele zivilisatorische und kulturelle Entwicklungen wie zum Beispiel die Abkehr von Kilt, Robe, Tunika, Sarong oder Toga und stattdessen die Verwendung der Hose,41 um ein weniger offensichtliches Beispiel zu nennen. Nach dem Pferd waren es Eisenbahn und Automobil, die eine Revolution in der Mobilität bewirkt und Gleise und Straßen zum Kennzeichen von Urbanität gemacht haben. Durch die Erfindung des Automobils im 19. Jahrhundert wurden nach und nach die von Zugtieren gezogenen Fuhrwerke abgelöst. Die langen, geraden Straßen ersetzen die engen, verwinkelten. Motorisierte Fortbewegung mit all seinen Implikationen ist zu einem integralen Bestandteil unserer Gesellschaft und Mobilität zu einem Grundprinzip der Moderne geworden. Der Grad der Mobilität wirkt sich auf die Geschwindigkeit aus, und „schneller sein“ ist seit der Industrialisierung zum Imperativ geworden. „Ökonomie der Zeit, darin löst sich schließlich alle Ökonomie auf“42, konstatiert Marx. Mobilität wurde zum Symbol für den Zeit-Gewinn. Seither ist Mobilität ein soziales Konzept in Transformation. Der moderne Begriff der Mobilität ist stark verstrickt mit der Idee, dass die räumliche Bewegung43 ein wichtiger dynamischer Faktor der Modernisierung44 ist. Ausgehend von Mobilität als Bewegungsfähigkeit im Raum wurde Mobilität im allgemeineren Sinn zu einem 39 Ibd. 40 Ibd. 41 Vgl. Peter Turchin, Cultural Evolution of Pants, in: Social Evolution Forum (7.7.2012) URL: http://socialevolutionforum.com/2012/07/07/cultural-evolution-of-pants/ (Stand: 7.4.2013, 13.00) 42 Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (London 1858) 89 43 Wolfgang Zorn, Verdichtung und Beschleunigung des Verkehrs als Beitrag zur Entwicklung der "modernen Welt", in: Reinhart Koselleck (Hg.), Studien zum Beginn der modernen Welt (Stuttgart 1977) 115 44 Vgl. Wolfgang Zapf, Entwicklung und Sozialstruktur moderner Gesellschaften, in: Hermann Korte, Bernhard Schäfers (Hg.), Einführung in Hauptbegriffe der Soziologie (Wiesbaden 2008) 258ff.
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grundlegenden sozialen Konzept der Moderne. Michael Walzer identifiziert in „The Communitarian Critique of Liberalism“ vier Typen von Mobilität, die für die fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften typisch seien.45
Die
geographische Mobilität (1) ist die Folge berufsbedingter Ortswechsel. „The sense of place must be greatly weakened by this extensive geographic mobility, although I find it hard to say whether it is superseded by mere insensitivity or by a new sense of many places.“46 Mit der sozialen Mobilität (2) beschreibt er das Phänomen, dass sich die Zahl der Menschen, welche die Lebensweisen ihrer Eltern übernehmen, immer geringer wird. Das Erbe der Gemeinschaft, wie die Weitergabe von Überzeugungen, sei deshalb nicht mehr gewährleistet. Die Beziehungsmobilität (marital mobility) (3) macht er vor allem an den Trennungsund Wiederverheiratungsraten fest. Schließlich noch die politische Mobilität (4), die sich in politisch „frei fluktuierenden“ Menschen zeigt, welche immer weniger Loyalitäten gegenüber Parteien, kommunalen Institutionen und Führerpersönlichkeiten aufweisen. Die Folge wären eine „unbeständige Wählerschaft“ und eine „institutionelle Instabilität“.47 Walzer unterzieht die Ambivalenzen der vier Mobilitäten aber auch einer kritischen Betrachtung. Zum einen stehen sie für den Vollzug von Freiheit und dem Streben nach (privatem oder persönlichem) Glück, deren Beschneidung eine erhebliche Anwendung von Staatsgewalt erfordern würde. Zum anderen sieht er aber auch die Kehrseite, die aus „Kummer und Unzufriedenheit“ mit der wachsenden Unbehaustheit und Wurzellosigkeit besteht. Er identifiziert darin die Reaktion auf die permanenten „Freisetzungsschübe“, „die für die Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft so typisch und offensichtlich unaufhaltsam sind.“48 Eine klassische Beschreibung finden diese 1848 im Manifest der Kommunistischen Partei: „Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige 45 Vgl. Michael Walzer, The Communitarian Critique of Liberalism, in: Political Theory, Volume 18, No. 1 (Thousand Oaks 1990) 11f. 46 Ibd. 47 Vgl. Heiner Keupp, Ohne Angst verschieden sein können. Förderung von Lebenssouveränität in einer postmodernen Gesellschaft (1998) URL: http://www.ipp-muenchen.de/texte/ohne_angst_verschieden_sein_koennen.pdf (Stand: 19.3.2013, 11.00) 48 Ibd.
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Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisieepoche vor allen anderen aus. Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen. Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muß sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen.“49 Für Negri und Hardt kondensiert sich die politische Dimension von Mobilität in ihrem Konzept der Zirkulation: „Die Macht zu zirkulieren ist eine zentrale Bestimmung der Virtualität der Menge, und Zirkulieren ist die erste moralische Handlung einer gegen das Empire gerichteten Ontologie. Dieser ontologische Aspekt biopolitischer Zirkulation und Vermischung erhält noch mehr Gewicht, wenn man ihm andere Bedeutungen, die postmoderner Zirkulation zugeschrieben werden, gegenüber stellt, etwa Marktzirkulationen oder die Kommunikationsgeschwindigkeit. Diese Aspekte nämlich gehören eher zur Gewalt imperialer Macht (Virilio 1976). Zirkulation und Kommunikation, die vom Kapital bestimmt werden, werden in dessen Logik eingebunden, und nur radikaler Widerstand kann den produktiven Aspekt der neuen Mobilität und Hybridität von Subjekten wieder gewinnen und deren Befreiung verwirklichen.“ Es stellt sich die Frage, ob die Bedeutung räumlicher Bewegung für die soziale Konstruktion der (modernen) Mobilität immer schwächer und virtuelle Mobilität zum neuen paradigmatischen Konzept wird.50 Kesselring und Vogl führen an, dass die Moderne einen Wandel hin zu einer sogenannten reflexiven (oder zweiten) Moderne vollzieht, und damit strukturelle Änderungen der Mobilität einhergehen. Sie entwickelt sich von einer direktionalen (mit effektiver Geradlinigkeit und Zielgerichtetheit), ausgezeichnet durch Ursprung, Richtung und Ziel, zu einer non-
49 Vgl. Karl Marx, Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei (London 1847/48) 32 50 Vgl. Sven Kesselring, Gerlinde Vogl, Mobility Pioneers. Networks, scapes and flows between first and second modernity (München 2004) 10
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direktionalen Mobilität mit Netzwerkcharakteristik, wo die Bewegung nicht mehr nur von einem Punkt direkt zum nächsten stattfindet, sondern über Knotenpunkte und mehrere mögliche Wege.51
2.2.1 Motorisierte Mobilität Die Nutzung von Fortbewegungsmitteln erfüllt neben dem Transport von Personen und Gütern auch den wesentlichen Zweck, Menschen den Zugang zu Teilhabeprozessen zu ermöglichen. Unzureichende Mobilität erschwert oder verhindert den Zugang zu Dienstleistungen wie Bildung, Gesundheitsversorgung oder Erziehung und wirkt sich negativ auf die Produktivität aus.52 Außerdem können Teile der Bevölkerung dadurch vom politischen und gesellschaftlichen Leben isoliert werden. Ungleichmäßige Mobilität kann so Ungleichgewichte erzeugen. Zu beobachten ist beispielsweise, dass sich in sogenannten Schwellenländern, wo in die Infrastruktur für motorisierten Verkehr investiert wird, die Schere zwischen Arm und Reich vergrößert, während jedoch Umweltprobleme und Auslandsschulden zunehmen. Mobilität dient dem Funktionieren von grundlegenden gesellschaftlichen Prozessen, weshalb Länder und Kommunen ein großes Interesse daran haben (sollten), für den größtmöglichen Grad an Mobilität ihrer EinwohnerInnen Sorge zu tragen. In progressiven Städten passiert das vor allem durch massiven Ausbau des öffentlichen Verkehrs. „Wir leben nicht mehr in den fußläufigen Städten des Mittelalters, sondern Städte sind politische Räume aus Verwaltung, Planung, Verfügung, Aneignung und Enteignung, des Rechts. Sie sind Repräsentanten einer Kultur, ihrer Macht, ihres zentralistischen Sogs, sind Agenten ihrer ethnologischen und semiologischen Textur, der metropolitanen Zivilisation. Und doch formen sie zwangsläufig den "anorganischen", sozialen Leib der Menschen, die sich in ihre Funktionszusammenhänge einfügen, eine Balance zwischen Fremdheit, Begegnung und Berührungsangst finden müssen.“53
51 Ibd. 52 Vgl. Jens Brenner: Mobilität weltweit. Auf der Suche nach ökologisch wie sozial verträglichen Lösungen, in: Der Bürger im Staat Heft 3 (Stuttgart 2002) 147f. 53 Gabriele Geiger, Der Mensch als animal migrans. Zur Psychologie der Mobilität, in: Landeszentrale für politische Bildung, Der Bürger im Staat, Heft 3 (Stuttgart 2002) 113
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Aber auch in Regionen mit vergleichsweise guter öffentlicher Verkehrsinfrastruktur ist der Wunsch nach individuellen Fortbewegungsmitteln ungebrochen (2012 gab es beispielsweise in Österreich das zweithöchste jemals erhobene Gesamtjahresergebnis von Kraftfahrzeug-Neuzulassungen).54 Das Automobil ist der augenscheinlichste Ausdruck des Bedürfnisses nach freier Bewegungsmöglichkeit. In der westlichen Welt ist der nomadische Drang nach individueller Fortbewegung trotz teilweise hervorragend ausgebauter öffentlicher Verkehrsinfrastruktur ungebrochen. Motorisierte individuelle Mobilität ist so sehr mit dem Begriff Freiheit verbunden, dass die Menschen hier kaum bereit sind, Einschnitte in Kauf zu nehmen. Auch die Nutzung öffentlicher Transportmittel ist nachweislich von dieser Entwicklung betroffen: „Overall, each new car may reduce local bus trips by about 200-250 per annum.“55 Gabriele Geiger macht drei Faktoren aus, die für diese Bewegungslust ausschlaggebend sind. Das sind „1. das mit dem Beginn der Industrialisierung auch in Mitteleuropa exponentielle Bevölkerungswachstum, das sich erst seit zwei Jahrzehnten auf dem gegenwärtigen Stand einpendelt hat, 2. die Demokratisierung, die es erstmalig einer breiten, finanziell gesicherten Mittelschicht gestattet, ihrem Bedürfnis nach Mobilität bislang ohne nennenswerte äußere Beschränkung nachzugehen; und 3. die Entwicklung technischer Hilfsmittel: nicht die Mobilität der Menschen hat sich verändert – im Durchschnitt sind sich die Anzahl der Wege und die dafür verbrauchte Zeit im Wesentlichen gleichgeblieben – wohl aber haben sich einzelne Parameter gewandelt: mit Hilfe neuer Verkehrsmittel legen wir für die Befriedigung gleich gebliebener Bedürfnisse längere Strecken zurück, aber wir brauchen für die weiteren Wege in etwa die gleiche Zeit, d.h. unter Nutzung fortgeschrittener Technologien bewegen wir uns schneller durch den Raum.“56 Zu einer ähnlichen Betrachtung wie in Punkt 3 kommt Peter White: „Although the amount of time spent by individuals in travel obviously varies, the average time spent in travel per person per day is 54 Vgl. Statistik Kfz-Neuzulassungen in Österreich 2012 URL: https://www.statistik.at/web_de/statistiken/verkehr/strasse/kraftfahrzeuge__neuzulassungen/index.html (Stand: 14.4.2013, 10.00) 55 Peter White, Public Transport. It's planning, management and operation (London 2002) 31 56 Gabriele Geiger, Der Mensch als animal migrans. Zur Psychologie der Mobilität, in: Landeszentrale für politische Bildung, Der Bürger im Staat, Heft 3 (Stuttgart 2002) 114
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surprisingly constant. Increased travel may thus be seen as arising from faster modes being used within the same time budget to cover greater distances. For example, the NTS shows that average time spent in travel per person per year has hardly changed between 1972/73 (353 hours) and 1997/99 (357 hours) […] The overall average is thus very close to one hour per day. However, over the same period distance travelled rose by 52 per cent (for all modes), implying a corresponding rise in average speed.“57 Man kann davon ausgehen, dass dieser Wunsch nach der ultimativen, allzeit verfügbaren und ubiquitären Mobilität nicht nur auf die Länder beschränkt ist, die sich diesen Lebensstil momentan wirtschaftlich leisten können. Es gibt bereits Tendenzen in den asiatischen Ländern, die einen nicht abschätzbaren Anstieg von motorisiertem Verkehr zeigen. „Während wir uns in Deutschland Gedanken machen, wie wir die Verkehrsentwicklung (auch gemessen an den zurückgelegten Distanzen) vom Wirtschaftswachstum abkoppeln können (vgl. z.B. Baum u. Heibach 1997), konstatieren wir nach Schätzungen der Weltbank sogar eine 1,52mal schneller als das BIP wachsende Nachfrage nach Güter- und Personentransport in den meisten Entwicklungs- und Schwellenländern, der überwiegende Teil davon auf der Straße.“58
2.2.2 Militärische Verwendung des Begriffs Im Militärwesen wird Mobilität als Fähigkeit betrachtet, sich auf ein militärisches Ziel zuzubewegen, und wird in Stufen von hoher bis niedriger Mobilität eingeteilt. Zudem gibt es eine Unterscheidung in taktische, operationale und strategische Mobilität: unter taktischer Mobilität versteht man die Beweglichkeit unter Feuer, unter operationaler die Fähigkeit, Soldaten und Gerät an einen bestimmten Ort zu bringen, und von strategischer Mobilität spricht man, wenn es um die Verlegung einer Armee in ein Einsatzgebiet geht. Mobilität wird als eine wesentliche Komponente in der modernen Kampfführung gesehen, Mobilitätsgrade können großen Einfluss auf den Ausgang eines Gefechts haben. „Beweglichkeit“ ist aus 57 Peter White, Public Transport. It's planning, management and operation (London 2002) 29 58 Jens Brenner, Mobilität weltweit, in: Landeszentrale für politische Bildung, Der Bürger im Staat, Heft 3 (Stuttgart 2002) 150
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diesem Grund auch einer der elf Grundsätze militärischer Führung. Der chinesische Militärstratege Sun Tzu (544–496 vuZ) sieht in der schnellen Bewegung (Geschwindigkeit) „das Wichtigste im Krieg“, das Bremsen bzw. die Verzögerung sei deshalb ein wirksames Mittel zur Verteidigung. Paul Virilio untersucht in „L'Horizon négatif“ den Einfluss von Mobilität im Krieg: „[…] that is, of checking his [the adversary's, Anm.] forwards movement, whether this be an attack [...] or whether it be an invasion hardly matters, it is movement that governs the event (of war) and it is movement that produces the weaponry, as Napoleon made clear in his decree: 'The capacity for war is the capacity for movement.'“ 59 – "L'aptitude à la guerre c'est l'aptitude au mouvement.“
2.3 Nomadismus II Aus kulturtheoretischer Sicht ist der Nomade eine kohärente Attributierung des Subjekts des späten 20. Jahrhunderts. Er überwindet die Grenzen des Nationalismus, der als moderne Ideologie vor allem in Europa Verbreitung fand. Anstatt bloß zu migrieren ist es dem nomadischen Subjekt eigen, auf verschiedenste Arten zu wandern, die heute immer häufiger werden (wie beispielsweise Jetsetter, Bisexualität, Transgender-Personen oder nomadische Subjektivitäten in verschiedenen kulturellen Kontexten). Der nicht auf physische Bewegung bezogene Begriff des Nomaden wird auch immer öfter mit der Vernetzung unserer Gesellschaft unter der Bezeichnung High-Tech-Nomad oder Technomad60 in Verbindung gebracht. David Craven und Nicola Morelli nehmen eine Unterscheidung zwischen den technological nomads und low-income nomads vor: „While technology has liberated certain social groups by creating opportunities further to move through different geographical places whilst linking them with logical connections, by contrast low-income nomads inhabit contiguous spaces, relying on an informal economy which re-use leftovers from technological and industrialised culture. [...] The space created by low-income is also a logical 59 Vgl. Paul Virilio, Negative Horizon. An Essay in Dromoscopy (London 2005) 117 60 Vgl. Steven K. Roberts, From Behemoth to Microship: A Detailed Look at Two Platforms for Technomadic Adventure (Camano Island 1996)
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space, its character dependent on the quality and quantity of remainders from home environments. But, unlike the spaces created by technological nomads, these spaces are local and disconnected. While nomadism is usually an unstable and weak condition, connectedness, on the other hand, generates a sense of stability.“61 Für die Untersuchung von Nomadismus und Sesshaftigkeit wendet Vilém Flusser ein interessantes Klassifikationsschema an: er teilt die Geschichte der Menschheit in ältere Steinzeit, ein langes neolithisches Zeitalter (von ca. 8.000 vuZ bis zum Jahr 1990) und eine posthistorische nomadische Periode ein: „Diese beiden phänomenologischen Anschauungen von Seßhaftigkeit und Nomadentum, Sitzen und Fahren, Besitz und Erfahrung, Gewohnheit und Gefahr, sollen nun in die Dreiteilung der Menschheitsspanne in ältere Steinzeit, jüngere Steinzeit und unmittelbare Zukunft eingebaut werden“.62 Seine radikale These begründet er mit einer phänomenologischen Definition von Sesshaften und NomadInnen, auch wenn ihm die Schwierigkeit dieser Klassifizierung bewusst ist. Der Begriff des Sesshaften wird jedoch durch die Behauptung relativiert, dass wahre Sesshaftigkeit erst mittels informationsbeschaffender Medien erreicht werden kann, da in der aktuellen Form der Sesshaftigkeit zur Informationsbeschaffung noch immer ein Pendeln zwischen der res publica und res privata notwendig ist. Die Menge an Informationen erreicht jedoch ein Ausmaß, das ein Sitzenbleiben nicht möglich macht. Im Laufe der Geschichte wären dem Menschen drei Katastrophen (im Sinne von altgriechisch katá „herab-, nieder-“ und stréphein „wenden“, also eigentlich „Wendung zum Niedergang“) widerfahren: die Menschwerdung, die sich durch die Benutzung von Werkzeugen auszeichnet, die Entstehung von Zivilisation, deren Merkmal das Leben in Dorfgemeinschaften und später Gesellschaften ist. Und schließlich der Zukunft, in der die Welt unbewohnbar wird. Während der erste Abschnitt Nomadismus geprägt war, gab es im zweiten einen ständigen Konflikt zwischen Sesshaften und Nomaden. Als Hinweise darauf dafür nennt er den Limes Romanus oder die Chinesische Mauer. 61 David Craven, Nicola Morelli, Logical Spaces for Urban Nomads, in: Robert Kronenburg (Hg.), Transportable Environments 2 (London/New York 2003) 19 62 Vgl. Vilém Flusser: Von der Freiheit des Migranten: Einsprüche gegen den Nationalismus (1994) 62
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Die unerbittliche Dialektik von Besitz und Erfahrung endet nun mit dem tatsächlichen Triumph des Nomadismus,63 die letzte Periode wird also wieder eine nomadische sein. Für Flusser ergeben sich zwei Schlüsse: Informationen werden Besitz ablösen (Software wird statt Hardware den Markt bestimmen) und Kommunikation wird anstelle klassischer Ökonomie den „Unterbau der Zivilisation“ darstellen. Dies führt zur Folgerung, dass es keinen Grund mehr gibt, sesshaft zu sein, wenn es nichts mehr zu besitzen gibt – der Mensch wird statt zu besitzen nur mehr erfahren. Flusser verweist in seinem Text „Nomaden“ immer wieder auf Elemente aus seinem Buch „Ins Universum der technischen Bilder“. Er gibt darin jeder Entwicklungsstufe der Kulturgeschichte eine verschiedene und im Verlauf der Geschichte abnehmende Anzahl von Dimensionen. Von der Zeit des konkreten Erlebens vor etwa 200.000 Jahren, in der Raum und Zeit als eine untrennbare Einheit wahrgenommen wurde, abstrahiert der Mensch die Zeit vom Raum und ist infolgedessen fähig, dreidimensionale Objekte, Waffen und Werkzeuge zu formen. Nach etwa 40.000 vuZ schiebt sich die Fläche, die zweite Dimension also zwischen den wahrnehmenden Menschen und die Welt. Das Abbild wird das dominante Medium der menschlichen Kultur und hat das Entstehen der Imagination zur Folge. Das Abbild wird mit der Entstehung des Textes vor etwa 4.000 Jahren abgelöst. Der Text ist eindimensional und bedingt die Entstehung linearen Denkens und einer linearen Geschichte. Die 90er Jahre des letzten Jahrhunderts identifiziert Flusser als die Schwelle zur nächsten Stufe der kulturgeschichtlichen Entwicklung der Menschheit, der nullten Dimension. Diese gesamte Entwicklung versteht er klar gerichtet, auch wenn verschiedene Entwicklungsstufen parallel existieren. Sie dient als Hintergrund und Triebfeder der dialektischen Beziehung von Nomadismus und Sesshaftigkeit. Der Naturmensch vor ca. 2.000.000 Jahren lebte nach Flusser in einer vierdimensionalen Welt, umgeben von einer untrennbaren Einheit von Raum und
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Zeit. Es ist die Epoche des konkreten Erlebens, gleich dem Tier, und mit diesem in einer Lebenswelt. Jeder darauf folgende Entwicklungsschritt ist eine weitere Abstraktion und stufenweise Entfremdung von dieser ursprünglichen Lebenswelt. Der Mensch kann somit Raum unabhängig von Zeit denken. Räumliches Denken wiederum führt zur Fähigkeit der Herstellung von dreidimensionalen Objekten. Der Mensch war nun fähig, Waffen und Werkzeuge zu entwickeln. Damit ist auch der Grundstein einer karthesianischen Logik gelegt, die ihrerseits ein Axiom des gekerbten Raumes darstellt (vgl. Deleuze und Guattari). Die ersten zwei Stufen sind jedoch nomadisch geprägt, die Vermessung ist auf mobile Objekte beschränkt und weitet sich nicht auf den umgebenden Raum aus. Diese Epoche ist gleichsam der Archetyp der Nomadologie nach Deleuze und Guattari. Der Mensch ist als Nomade frei umherschweifend und erschafft sich im jeweils neuen Kontext laufend neue Werkzeuge und Waffen. Mit dem Auftauchen von zweidimensionalen Elementen, den Abbildungen, sieht Flusser die nächste Stufe erreicht. Abbildungen der Realität sind hier Sinnbild für das Aufkommen von Imagination. Der Mensch stellt eine vermittelnde Fläche zwischen sich und die Welt der drei Dimensionen. In dieser Stufe des Anschauens und Imaginierens beginnt ein Festhalten von Momenten aus dem Fluss der Zeit, außerhalb des Gedächtnisses, beispielsweise in Höhlenmalereien. Diese Stufe dauert bis ca. 40.000 vuZ. In der Abbildung wird etwas dynamisches, die sich ständig verändernde Realität, in ein statisches Abbild übertragen. Das Medium, und nicht der abgebildete Inhalt, bestimmt nun die Haltbarkeit. Die Folge davon ist eine Kumulation von zweidimensionaler visueller Information, die sich mit der Entwicklung des Mediums bis zum heutigen Zeitpunkt immer schneller steigerte. Ein Beispiel hierfür ist die Entwicklung der Kartographie von ersten Vermessungen in frühen Hochkulturen, bis hin zu neuesten Geoinformationstechnologien wie Open Street Maps, Google Earth und ähnlichem. Kartierung ist heute automatisiert und mit immer höherer Präzision ausgeführt. Der gesamte Raum, der Menschen zugänglich ist, wird fortlaufend und immer schneller in eine abstrakte und fortlaufend verfeinerte Matrix gefasst. Darüber hinaus werden auch immer mehr 22
Räume außerhalb der natürlichen, menschlichen Reichweite (großmaßstäblich: Weltall; menschliche Dimension: Meeresboden; kleinmaßstäblich: Mikrokosmos) in das System integriert. Der zweite Aspekt der Abbildung ist die Imagination. Anstatt eine raumzeitliche Situation nur festzuhalten, kann diese durch zweidimensionale Informationsträger in größerer Komplexität geplant und manipuliert werden. Zwischen Mensch und Abbild schiebt sich nun der Text als nächste Stufe der Abstraktion. Dieses eindimensionale Medium ist nach Flusser die Bedingung für das Entstehen der linearen Geschichte und des linearen Denkens. Es ist die Stufe der Geschichte, des Begreifens und Erzählens. Flusser perlt die Menschheitsgeschichte entlang seines fünfstufigen Modells der Kulturgeschichte bzw. an den im Text „Nomaden“ beschriebenen drei Epochen der Menschheit auf, um die kulturellen Paradigmenwechsel in der Menschheitsgeschichte zu erläutern. Flusser ordnet diese Kulturgeschichte wie auch die Dialektik von Nomadismus und Sesshaftigkeit in historische Epochen ein. Weiters beschreibt er sie in einem linearen Text, dem Medium, welches der von ihm beschriebenen 4. Stufe der Kulturgeschichte entspricht. Dies geschieht klassisch mit Hypothese, Argumentation und Konklusion. Er ist sich der Inkompatibilität von Betrachtungsweise und Inhalt bewusst. "Für die Nomaden ist das Besitzen von Begriffen ein Wahnsinn, und für die Sesshaften ist das Undefinierte Herumschweifen in der Erfahrung ein sinnloses Geschwafel."64 Vordergründig scheint er also vom Standpunkt der Sesshaften zu sprechen, seine vorgeschlagene Dialektik ist jedoch kein Widerstreit von zwei unvereinbaren Welten, sondern eine Entwicklung, die zwischen den Polen oszilliert. Und diese Entwicklung ist im Begriff, eine neuartige Beziehung zu Geschichte aufzubauen. Seiner These zufolge schwebt der Mensch der Zukunft über der Geschichte, er besitzt Geschichte, macht aber keine Geschichte mehr. Dagegen besaßen die ursprünglichen NomadInnen keine Geschichte, aber machten sie, ohne sie im Gedächtnis festzuhalten.
64 Flusser, Nomaden 15
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Auf der Schwelle zur nächsten Stufe sieht Flusser die Gegenwart mit Beginn in den 90er Jahren. Konsequenterweise handelt es sich bei dieser nächsten Stufe um die nullte Dimension, die Punkte. Die technologische Grundlage hierfür ist die Informationstechnologie. Der Text als Medium ist unzulänglich und wird überflüssig. Er verliert sich gewissermassen als Code in der Tiefe von Programmen, welche von Computern für uns in „technische Bilder“ übersetzt bzw. gerechnet werden. Der Code verschwindet also hinter dem technischen Bild. Der Übersetzer ist nicht mehr unser Gehirn, sondern der Rechner. Die Komplexität des Codes kann sich entsprechend der Rechenleistung steigern, solange die technischen Bilder dem Menschen Orientierung bieten. Dadurch ergibt sich auch eine immer größere Unabhängigkeit von der Realität außerhalb der digitalen Wirklichkeit. Flusser sieht in diesem Prozess der immer höheren Rechenleistung eine immer präzisere Beschreibung der Welt und damit immer größere und komplexere Informationsgebilde über die Welt und den Menschen. Sie wird, wie er es nennt, in immer kleinere Rationen zu „Sand zermahlen“. Der Mensch, der sich mit seiner beschränkten Kapazität zu verstehen und wahrzunehmen nicht vergleichbar entwickelt, hält sich nun an diesen Technischen Bildern fest. Einige Wissenschaftler vertreten die These, dass die Komplexität der Rechenleistung in absehbarer Zeit eine Stufe erreicht haben wird, in der eine vollkommene Simulation der Realität möglich sein würde – was zur Folgerung führt, dass unsere Realität genauso eine Simulation sein könnte.65 Im Prozess dieser Vernetzung werden bestehende Grenzen aufgelöst und immer neue Beziehungen geschaffen. Im sogenannten internet of things wird alles mit allem vernetzt, Kabel und elektromagnetische Wolken durchdringen die einst private Sphären des Menschen. „Leute, die Häuser bewohnen, ohne je durch die Tür zu gehen, waren bisher ‚Idioten’ im ursprünglichen griechischen Sinne dieses Wortes: Privatleute, die von der Welt nichts wussten. Das hat sich dank der Informationsrevolution geändert: Informationen werden jetzt an Privathäuser verteilt, und gegenwärtig ist jener der Idiot, der durch die Tür ins Öffentliche
65 Vgl. Justin Mullins, Silas Beane, The idea we live in a simulation isn't science fiction, in: NewScientist Nr. 2895 (London 2012) 33
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schreitet. Es sieht so aus, als ob gegenwärtig das Pendeln zwecklos würde und als ob es jetzt tatsächlich möglich geworden wäre, sitzen zu bleiben. Das ist jedoch ein Irrtum.“66 Deleuze und Guattari entwicken in ihrer Nomadologie das Konzept des glatten und des gekerbten Raums (im Englischen smooth space und striated space): „Der glatte Raum und der gekerbte Raum – der Raum des Sesshaften und der Raum des Nomaden – der Raum, in dem sich die Kriegsmaschine entwickelt und der Raum, der vom Staatsapparat geschaffen wird, sind ganz verschieden.“67 Der glatte Raum wird hier verglichen mit dem Meer, der Wüste, dem Eis oder der Steppe, einem fließenden, amorphen, nicht fassbaren Raum, der durch Intensitäten und Ereignissen besetzt wird. Der gekerbte Raum hingegen wird mit einer in Ackerfelder aufgeteilten Landschaft verglichen, in der alles messbar und definiert ist – erst der gekerbte Raum wird zum homogenen Raum. Bei dieser Betrachtung wird der glatte Raum dem Nomaden zugeordnet und der gekerbte Raum dem Sesshaften. Zur Darstellung wird die unterschiedliche Orientierung auf dem Meer herangezogen: die nomadische Weise ist, sich das Schiff in die Gegebenheiten von Strömung und Wind einfügen zu lassen, während die sesshafte Orientierung nach dem Kompass und in einem künstlichen Koordinatensystem erfolgt. Die Kerbung des Raumes passiert also durch das Darüberlegen einer Matrix, durch die Applizierung von künstlich geschaffenen (Orientierungs-)Systemen, völlig unabhängig von natürlichen Gegebenheiten und Bedingungen. Alles von Menschenhand geschaffene findet eine Zuordnung zu bestimmten Machtverhältnissen und -strukturen. Ein weiterer Vergleich, um den Unterschied zu illustrieren, zieht Deleuze zwischen gewebtem Stoff, der aus einer Anordnung von Kette und Schuss besteht, und Filz, der aus verhedderten Fasern besteht. Es sei kein Zufall, dass die mongolischen Nomaden Filz zur Herstellung ihrer Zelte, Kleidung und sogar Waffen verwendet haben.
66 Flusser, Nomadische Überlegungen, in: Von der Freiheit des Migranten: Einsprüche gegen den Nationalismus (1994) 59-60 67 Gilles Deleuze, Félix Guattari, Tausend Plateaus (Berlin 1992) 658
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Für Negri und Hardt ist es die Zirkulation, die die Grundlage für den Nomadismus bildet: „Das konkrete Universelle erlaubt es der Menge, von Ort zu Ort zu ziehen und diesen Ort zu ihrem eigenen zu machen. Dies ist der gemeinsame Ort von Nomadismus und Vermischung. Durch Zirkulation entsteht eine gemeinsame menschliche Spezies, ein bunter Orpheus mit unbegrenzter Macht; durch Zirkulation entsteht die menschliche Gemeinschaft. Fern aller aufklärerischen oder kantianischen Träumereien (etwa Goldmann 1945) verlangt die Menge nicht nach einem kosmopolitischen Staat, sondern nach einer gemeinsamen Spezies. In einer Art säkularem Pfingstfest vermischen sich die Körper, und die Nomaden sprechen eine gemeinsame Sprache.“68
2.4 Migration Migration ist ein konstanter Bestandteil menschlicher Geschichte und eine Grunderfahrung menschlicher Existenz – der Homo sapiens hat sich die Welt als Homo migrans erschlossen.69 Peter Bellwood beschreibt Migration als ein wesentliches Entstehungsmerkmal der Menschheit: „Migration has always been one of the most significant factors in human prehistory. Without it, we as humans would not exist. It has been a constant feature of prehistory, but it has varied in location and intensity through time, as it has in recent centuries. Migration of hominins (humans like us, our ancestors, and close cousins) goes back almost 2 million years to the time when Homo erectus (the species of human to migrate initially out of Africa into Eurasia) spread out of Africa. Other movements followed, including those of Homo sapiens (so called ‘modern humans’ as we are now), and since 10,000 years ago we have seen enormous spreads of agricultural and seaborne populations.“70 Migration bezeichnet den Prozess der dauerhaften Wohnsitzänderung von Menschen. Hier wird in einmalige dauerhafte Änderung des Wohnsitzes und 68 Negri, Hardt, Empire 370f. 69 Vgl. Klaus J. Bade, Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart (München 2000) 11 70 Peter Bellwood, First Migrants (2013)
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ständiges Ändern von Wohnsitzen unterschieden. Steht bei der dauerhaften Änderung das Ergebnis eines Wohnortwechsels im Blickpunkt, so ist im zweiten Fall der Prozess des Wechselns von Bedeutung. In der sozialwissenschaftlichen Forschung galt der einmaligen Änderung die längste Zeit die Aufmerksamkeit, zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat sich dies grundlegend geändert – der dauerhafte Prozess wiederkehrender Wohnsitzänderung gelangt mehr und mehr in den Mittelpunkt und wird so dem qualitativen Wandel der Migrationswirklichkeit gerecht.71 Die Vereinten Nationen definieren eine/n internationale/n MigrantIn als eine Person, die mindestens ein Jahr außerhalb des üblichen Wohnlandes bleibt. Bei der Definition von internationaler Migration spielt also auf jeden Fall das Überschreiten von politischen Grenzen eine Rolle, bei Binnenmigration die Bewegung von einem administrativen Raum in einen anderen (Provinz, Bezirk, Gemeinde etc. im gleichen Land). Es gibt geteilte Meinungen darüber, ob internationale und nationale Migration Teil des selben Prozesses sind und deshalb gemeinsam analysiert werden müssen.72 Der Großteil der Menschen, die aus ökonomischen Gründen oder zur Suche von Schutz migrieren, bleiben innerhalb der Grenzen des eigenen Landes; das United Nations Development Programme schätzt die Zahl der internen MigrantInnen auf 740 Millionen (UNDP 2009).73 Die Zahl internationaler MigrantInnen betrug 2005 ca. 191 Millionen und 2010 ca. 214 Millionen (UNDESA), das entspricht 3% der Weltbevölkerung. Davon ist ein Drittel von einem sogenannten Entwicklungsland in ein „entwickeltes“ Land migriert. Etwa zwei Drittel der Migrationsbewegungen finden zwischen Ländern mit dem gleichen Entwicklungsstand statt (auf allen Ebenen). Da Migration mit Kosten verbunden ist, sind es meistens nicht die ärmeren Teile der Bevölkerung, die sich eine solche Bewegung leisten können. Zusammen beträgt die Zahl der MigrantInnen weltweit also etwa 1 Milliarde, was einem von sieben Menschen der Weltbevölkerung entspricht.74 71 Vgl. Ludger Pries, Soziologie der Migration, in: Georg Kneer, Markus Schroer, Handbuch Spezielle Soziologien (2010) 72 Vgl. Barbara Lüthi, Migration and Migration History, in: Docupedia-Zeitgeschichte (28.9.2010) URL: http://docupedia.de/zg/Migration_and_Migration_History (Stand: 11.3.2013, 15.00) 73 Vgl. United Nations Development Programme, Human Development Report 2009 (New York 2009) 21 74 International Organization for Migration, World Migration Report 2011 (Genf 2011) 49
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Grundsätzlich kann zwischen vielen verschiedenen Ausprägungen internationaler Migration unterschieden werden. Die Differenzierungen erfolgen zwischen Nahund Fernwanderung, saisonaler und dauerhafter Migration, individueller und Gruppenwanderung, Siedlungs-, Arbeits- und Fluchtmigration, geplanter und ungeplanter bzw. freiwilliger und unfreiwilliger Wanderung, legaler und illegaler Migration, ökonomisch, politisch oder religiös motivierter Migration und zwischen von push- und von pull-Faktoren beeinflusster Wanderung.75 Die Übergänge zwischen diesen Typen sind in aller Regel fließend. Der Soziologe Ludger Pries sieht bestimmte Unterscheidungen auch durchaus fragwürdig. Ihre Anwendung bildet oft die Grundlage im internationalen Recht, wie beispielsweise bei nationalen Asylrechtsgesetzen oder den Allgemeinen Menschenrechten), aber auch in der Politik oder in der Öffentlichkeit. Unterschiedlichen Handlungsstrategien (zeitlich befristet Aufnahme von Hunderttausenden von Kosovo-Kriegsflüchtlingen in vielen Ländern Europas, strikte Kontrolle und/oder Kontingentierung von Arbeitsmigranten in fast allen Ländern) werden dann oft aufgrund dieser Unterscheidungen gewählt, obwohl eine klare Trennung meistens nicht möglich. Schwierig verhält es sich beispielsweise mit der Unterscheidung zwischen „freiwilliger“ und „unfreiwilliger“ Migration. Gemäß der gebräuchlichen Definition erfolgt die freiwillige aus ökonomischen Gründen und aus freien Stücken mit dem Ziel, in einem anderen Land eine (bessere) Erwerbstätigkeit zu finden, während bei unfreiwilliger Migration Verfolgung, Vertreibung, Konflikte oder Naturkatastrophen zur Auswanderung führen. Pries hinterfragt die Sinnhaftigkeit, Arbeitsmigration grundsätzlich als freiwillig zu bezeichnen, da hier meist erhebliche strukturelle Zwänge unterliegen. Für viele Menschen gibt es keinen anderen Ausweg, als Heimat und Familie zurückzulassen.76 Michael Hardt und Antonio Negri bringen die heutige Migrationssituation in „Empire“ auf den Punkt: „Heute sind die Mobilität von Arbeitskraft und die Migrationsbewegungen ausgesprochen diffus und schwer zu fassen. Selbst die signifikantesten Bevölkerungsbewegungen der Moderne (einschließlich der Migration von Schwarzen und Weißen über den Atlantik) sind minimale 75 Vgl. Ludger Pries, Soziologie der Migration, in: Georg Kneer, Markus Schroer, Handbuch Spezielle Soziologien (Wiesbaden 2010) 475ff. 76 Ibd.
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Ereignisse, vergleicht man sie mit den ungeheuren Bevölkerungstransfers unserer Zeit. Ein Gespenst geht um in der Welt, und sein Name ist Migration.“77 Alle Versuche, gegen die Migrationsströme anzukämpfen, bleiben selbst durch den Zusammenschluss „aller Mächte dieser Welt“ erfolglos. Es gibt eine Vielzahl verschiedener und verschieden starker Bewegungen. So gibt es neben den Armutsflüchtlingen aus der sogenannten Dritten Welt die politischen Flüchtlinge, die Bewegungen von intellektueller Arbeitskraft und massive Ströme des Proletariats aus Landwirtschaft, verarbeitender Industrie und dem Dienstleistungsbereich. Man kann davon ausgehen, dass die verborgenen Bewegungen die offiziell erfassten bei weitem übertreffen. Eine vollständige Regulierung ist aufgrund des enormen Drucks unmöglich. „Wirtschaftsexperten versuchen, dieses Phänomen zu erklären, indem sie Berechnungen und Modelle präsentieren, doch auch die liefern, selbst wenn sie vollständig wären, keine Erklärung für dieses unstillbare Verlangen nach Bewegungsfreiheit.“78 Für Negri und Hardt ist es die Desertion aus elenden materiellen aber auch kulturellen Verhältnissen, die dieses Verlangen erklären, und sehen in der Desertion und im Exodus machtvolle Formen des Klassenkampfs in der imperialen Postmoderne. „Diese Mobilität bildet jedoch nur eine spontane Ebene des Kampfes und führt, wie oben bereits gezeigt, heute zumeist in eine neue entwurzelte Existenz in Armut und Elend.“79 So gut wie alle Länder der Welt sind heutzutage Ziel, Ursprung oder Durchzugsland für internationale MigrantInnen. Der Anstieg der globalen Mobilität, die zunehmende Komplexität der Migrationsmuster und die Auswirkungen solcher Bewegungen auf die globale Entwicklung haben bewirkt, dass internationale Migration zu einer vorrangigen Angelegenheit für die internationale Gemeinschaft geworden ist. Beim elften jährlichen Coordination Meeting on International Migration vom United Nations Department for Economic and Social Affairs (UNDESA) am 21. und 22. Februar 2013 im UN Hauptquartier in New York wurde festgestellt, dass Migration 77 Negri, Hardt, Empire 224 78 Ibd. 79 Ibd.
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die weltweit älteste Strategie zur Armutsbekämpfung und ein unverzichtbarer Motor für die menschliche Entwicklung ist, ein Antrieb für wirtschaftliches Wachstum und eine Quelle wirtschaftlicher Dynamik und Innovation. Laut UNDESA ist koordinierte Migration bei der Überwindung von Entwicklungsherausforderungen von entscheidender Bedeutung, indem sie Ungleichheit und demografische Ungleichgewichte mindert. Im Jahr 2005 lebten etwa 191 Millionen Menschen, was ca. drei Prozent der Weltbevölkerung entspricht, in einem anderen als ihrem Geburtsland und damit mehr als jemals zuvor. 2010 waren es ca. 214 Millionen, was eine Steigerung von zehn Prozent bedeutet. Davon waren 16,3 Millionen offiziell Flüchtlinge, also etwa acht Prozent der Gesamtzahl internationaler Migranten.80 In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist die Weltbevölkerung um das 2,4fache gewachsen, während die Zahl der Flüchtlinge und Vertriebenen, die unter dem Schutz des United Nations High Commissioner for Refugees stehen, in der gleichen Zeit um mehr als das zehnfache gestiegen ist. Migrantische Arbeit entspricht etwa 90 Prozent der Arbeitskraft im privaten Sektor in GCC-Ländern als Folge von nicht vergleichbaren Löhnen gegenüber dem öffentlichen Sektor und schlecht koordinierter Bildungs- und Industriepolitik, die zu einem Missverhältnis von Fertigkeiten geführt haben. In Saudi-Arabien zum Beispiel zog das Arbeitslosen-Programm, das im Zuge des Arabischen Frühlings eingesetzt wurde, mehr als eine Million Arbeitslose an, viele von ihnen Frauen, die zuvor nicht Teil der Erwerbsbevölkerung waren.81 Ein im Zunehmen begriffenes Migrationsmotiv sind ökologische Irregularitäten. Im letzten Jahrzehnt waren zweihundert Millionen Menschen von Naturkatastrophen betroffen (das entspricht etwa zwei Drittel der Bevölkerung der USA). 98 Prozent befinden sich in sogenannten Entwicklungsländern, wo erhebliche Mengen an Geld zur Bewältigung von klimatischen oder geologischen Krisen aufgewendet wird. Das Intergovernmental Panel on Climate Change sagt stärker werdende 80 Vgl. United Nations Department of Economic and Social Affairs, Population Division, Trends in International Migrant Stock: The 2008 Revision (New York 2009) 2 81 Vgl. United Nations Department of Economic and Social Affairs, World Economic Situation and Prospects 2013 (New York 2013) 133
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Auswirkungen von klimatischen Ereignissen voraus, welche die Möglichkeiten drastisch einschränken werden, in gewissen Teilen der Welt zu überleben.82 Es ist evident, dass die wachsende Anzahl von Überflutungen, Dürren, Stürmen oder Hitzewellen im Zuge des Klimawandels zu neuen Migrationswellen, der sogenannten Öko- oder Klimamigration, führt.8384 „The role of climate change in spurring an increase in uncontrolled migration is also emphasized not least from Africa as the sub-Saharan region experiences increasingly prolonged droughts and famines. There is likely to be an increasing prevalence and frequency of human and animal pathogens as a consequence of climate change, international flows of people and socio-cultural change and this is likely to lead to an increasing number of global pandemics.“85 Die Behauptung, dass die Gefahr von Erregern mit den Fluchtmigrationen von „environmental refugees“86 zunimmt, steht in Widerspruch zur Erkenntnis des Evolutionsbiologen Peter Turchin, dass es gerade die sesshafte Verdichtung von Menschen ist, die für deren Ausbreitung förderlich ist.87 Insgesamt kann allerdings ein allgemeiner Anstieg von bestimmten Erregern auch auf den erhöhten Kohlendioxidanteil88 in der Luft zurückgeführt werden, da die dadurch beeinflusste Temperatur und Feuchtigkeit der Luft ideale Bedingungen für ihr Gedeihen darstellen.89 Wie die Steigerung der Kohlendioxidwerte und die dadurch bedingte Erderwärmung sind eine Vielzahl weiterer ökologischer Phänomene auf anthropogenen Ursprung zurückzuführen90. Die Gründe sind dabei oft in ökonomischen Prozessen zu finden, was für bestimmte Regionen auf der Welt eine doppelte Benachteiligung bedeutet.91
82 Vgl. Jane McAdam (Hg.), Climate Change and Displacement. Multidisciplinary Perspectives (Oxford 2010) 105ff. 83 Vgl. Bettina Müller et al., Klimamigration. Definitionen, Ausmaß und politische Instrumente in der Diskussion (Nürnberg 2012) 12 84 Vgl. Marie J. Aquilino (Hg.), Beyond Shelter. Architecture for Crisis (London 2011) 85 Andrew D. James, Thomas Teichler, Defence: New Issues and Impacts (Manchester 2010) 5 86 Vgl. Richard Black, Refugees and Environmental Change: Global Issues (London 1995) 2 87 Vgl. Peter Turchin, Why Become A Farmer? (2013) 88 Vgl. Richard Monastersky, Global carbon dioxide levels near worrisome milestone, in: Nature 497 (2013) 13f. 89 Vgl. United States Environmental Protection Agency, Human Health Impacts and Adaptation 90 Cynthia Rosenzweig et al., Attributing physical and biological impacts to anthropogenic climate change, in: Nature 453 (2008) 353-357 91 Vgl. Karen L. O'Brien, Robin M. Leichenko, Double exposure: assessing the impacts of climate change within the context of economic globalization, in: Global Environmental Change, Volume 10, Issue 3 (2000) 221–232
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Nicht nur die ökologischen Folgen, auch die Migration selbst kann ökonomische Ursachen aufweisen. Sandro Mezzadra erläutert die Relevanz von Migration im kapitalistischen System, indem er von der dem Kapitalismus innewohnenden strukturellen Spannung zwischen der Gesamtheit subjektiver Praxisformen, in denen die Mobilität der Arbeitskraft auftritt, und dem Versuch des Kapitals, darüber Kontrolle auszuüben, ausgeht. „Quel che risulta da questa tensione è un dispositivo complesso, a un tempo di valorizzazione e di imbrigliamento della mobilità del lavoro“ – „Aus dieser Spannung ergibt sich ein kompliziertes Dispositiv von gleichzeitiger Verwertung und Zügelung der Mobilität der Arbeitskraft.“92 Mezzadra folgert, dass Migrationsbewegungen ein substanzieller Bestandteil des Kapitalismus sind und entwickelt eine These der Autonomie der Migration, die darauf abzielt, die Irreduzibilität der zeitgenössischen Migrationsbewegungen gegenüber den „Gesetzen“ von Angebot und Nachfrage zu unterstreichen. Die Autonomie der Migration kommt auch teilweise schon im Mainstream der Migrationsforschung vor. Im Standardwerk der Migrationsforschung „The Age of Migration“ schreiben Castle und Miller: „Für Migrationsbewegungen kann eine relative Autonomie kennzeichnend sein, das heißt, sie entwickeln sich relativ gleichgültig staatlicher Politik gegenüber. […] Die offizielle Politik verfehlt häufig ihre Ziele, ja kann sogar den erhofften Zielen zuwiderlaufende Ergebnisse zeitigen. Es sind die Menschen, die jenseits staatlicher Politik die internationalen Migrationsbewegungen formen: Die Entscheidungen von Einzelnen, von Familien und Gemeinschaften – die häufig nur über unzureichende Informationen verfügen und deren Entscheidungsspielräume oft extrem eng sind – spielen eine wesentliche Rolle, wenn es darum geht, den Migrationsprozess zu bestimmen.“93 In Zusammenhang mit der letzten Wirtschaftskrise ist eine Reihe großer Migrationsbewegungen spürbar, aus denen ein wichtiger Aspekt zeitgenössischer Migration ablesbar ist, der den Unterschied zu anderen historischen Bewegungen aufzeigt: es ist ihre extreme Flexibilität und ihre große Fähigkeit, auf veränderte ökonomische, soziale und politische Bedingungen zu reagieren und sich ihnen anzupassen.94 So passiert es auch, dass sich MigrantInnen von einer Destination 92 Sandro Mezzadra, Capitalismo, migrazioni e lotte sociali in Multitudes #19 (Paris 2004) 93 Stephen Castles, Mark J. Miller, The Age of Migration (Basingstoke 2009) 94 Sandro Mezzadra, Autonomie der Migration – Kritik und Ausblick, Referat an der Universität Wien, Übersetzung Martin Birkner (Wien 2010) URL: http://www.grundrisse.net/grundrisse34/Autonomie_der_Migration.htm (Stand: 25.3.2013,12.00)
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wieder zurück zum Ursprung begeben, so wie beispielsweise 2009 ein massiver Exodus indischer migrantischer ArbeiterInnen aus den Golfstaaten stattgefunden hat oder zu Beginn der Krise BinnenmigrantInnen in China gewissermaßen gezwungen waren, in die ländlichen Gegenden zurückzukehren. Der äußere Zwang zur Rückkehr wird oft sogar direkt sichtbar: „Wenn wir zurückblicken in die Geschichte verschiedener Erfahrungen mit Krisen und Krisenmanagement, so können wir eine Art Regelmäßigkeit in der Geschichte des Kapitalismus erkennen: Zum Beispiel in den frühen 1930er Jahren, bei der Einführung des New Deal, als 500.000 mexikanische MigrantInnen deportiert wurden – und mit ihnen auch jene Kinder, die in den USA geboren worden waren – und somit US-amerikanische StaatsbürgerInnen. In der Entwicklung der gegenwärtigen Wirtschaftskrise kann etwas Ähnliches beobachtet werden. Betrachten wir kurz die Situation in Spanien, wo die Wirtschaftskrise sich bereits früher abzeichnete als in anderen europäischen Ländern. Dies war vor allem im Bausektor der Fall. Im Frühjahr 2008, also vor der „Explosion“ der Finanzkrise, startete die spanische sozialistische Regierung Programme der so genannten „freiwilligen Rückkehr“, welche tatsächlich jedoch Programme der Deportation waren.“95 Bewegungsschübe werden so also mitunter auch durch direktes Einwirken von Außen ausgelöst. Vor allem wo ein konzentriertes Auftreten von MigrantInnen erfolgt oder wo dies über einen längeren Zeitraum geschieht, ist häufig mit rassistischen Reaktionen zu rechnen, denen sich MigrantInnen aussetzen müssen. Rasch zunehmende ethnische Diversität kommt oftmals in Konflikt mit nationalen Identitäten. Generell ist ein starker Anstieg rassistischer Ressentiments gegenüber migrantischen Gruppen zu beobachten.96 Insgesamt gibt es ein steigendes Interesse an den jüngsten Trends in der Besiedelung durch MigrantInnen, die sich nun anderen Destinationen zuzuwenden scheint als den großstädtischen Gateways, die für Jahrzehnte neue EinwohnerInnen angezogen haben. Waren die „klassischen“ Ankunftsorte bisher die Vororte von Großstädten97, die dadurch eine migrantische Prägung erhielten 95 Ibd. 96 Siehe Zunahme zwischen 1999 und 2008 im Antipathie-Index 2008 in: Regina Polak (Hg.), Zukunft. Werte. Europa. Die Europäische Wertestudie 1990-2010: Österreich im Vergleich (Wien 2011) 97 Weiterführend: Felicitas Wettstein, Zwischen imaginierter, gelebter und baulicher Wirklichkeit –
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(Paris, Stockholm, Hamburg, Helsinki, Johannesburg udgl.), so sind es nun oft kleinere Städte, die in der urbanen Hierarchie zwar weiter unten stehen, aber nicht unbedingt als ländlich gelten. Mit der Selektion und Kontrolle des Zutritts zum nationalen Territorium und der Unterscheidung zwischen BürgerInnen und Fremden berühren Migrationsbewegungen zentrale Elemente der Souveränität, sowohl geschichtlich als auch in den gegenwärtigen Migrationsregimes. Mezzadra betont in Bezug darauf die Wichtigkeit des Konzepts der Souveränität für die kritische Diskussion über Migration und verweist auf die Auseinandersetzung Agambens mit dem Begriff. Dessen Arbeit, beginnend mit „Homo sacer“, ist von großer Bedeutung für die Entwicklung von Theorieproduktion und politischer Praxen, „die eine wichtige Rolle in der Kritik und Bekämpfung jener strukturellen Gewalt gespielt haben, die mit der Grenzpolitik und speziell mit den Institutionen der Internierungslager für MigrantInnen zu tun haben.“98 Agamben's Verständnis des Souveränitätsbegriffs als Entscheidung über den „Ausnahmezustand“ wird allerdings als strukturell gewalttätig und auf Ausnahmesituationen verstanden, was zu einer Verdunkelung der „Artikulation dieser Gewalt innerhalb viel komplexerer und feinerer Verbindungen (assemblages, um es mit Saskia Sassen auszudrücken) von Macht, Recht und Territorium“99 führen kann.100 Die Überwachung der Grenzen ihres Territoriums ist für die Europäische Union mit großen Aufwendungen verbunden. Um die unkontrollierte Überquerung der 42.000 km „empfindlichen“ Küstenlinie (von 80.000 km Küstenlinie insgesamt101) und 9.000 km Festlandgrenzen zu verhindern, hat die EU im Oktober 2004 die „European Agency for the Management of Operational Cooperation at the External Borders of the Member States of the European Union“ mit Sitz in Warschau eingerichtet. Die Agentur, bekannt unter dem Namen Frontex, wurde zu einer Potenziale öffentlicher Räume in der Peripherie von Paris im Hinblick auf eine gewaltfreie Gemeinschaft (Wien 2010) 7ff. 98 Mezzadra, Birkner (Übers.), Autonomie der Migration 99 Ibd. 100 Weiterführend: Saskia Sassen, The Mobility of Labor and Capital. A Study in International Investment and Labor Flow (Cambridge 1988) 101 European Union Committee des House of Lords, FRONTEX: the EU external borders agency, 9th Report of Session 2007–08 (London 2008) 17f.
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Schlüsselfigur in der europäischen Migrationspolitik. Die Entwicklung ihres jährlichen Budgets, gemeinsam mit militärischen Ressourcen und ihrer Autonomie, spiegelt ihre steigende Bedeutung wider (2006 19 Mio. €, 2011 118 Mio. € – und das, obwohl laut Frontex-kritischer Frontexit Campaign das Verhältnis der Migrationsbewegungen in den letzten 50 Jahren stabil ist und der Großteil der Bewegungen zwischen südlichen Ländern stattfindet102). Frontex ist es als Rechtsperson auch erlaubt, Abkommen mit Drittländern zu schließen und von sich aus Grenzkontrolloperation durchzuführen. Die Maßnahmen zur Grenzüberwachung haben allerdings auch fatale Auswirkungen. So sind laut Statistiken des UNHCR im Jahr 2011 mindestens 1.500 Menschen ertrunken beim Versuch, das Mittelmeer zu überqueren, und seit 1993 annähernd 1.000 im Evros Fluss zwischen der Türkei und Griechenland. Im September 2005 haben spanische Sicherheitskräfte an der marokkanischen Grenzen das Feuer eröffnet, als MigrantInnen über die Grenzbarrieren springen wollten, und dabei nach offiziellen Angaben 13 Menschen erschossen.103 Die Folge dieser aggressiven Grenzüberwachung ist, dass Zufluchtsuchende immer gefährlichere Routen wählen und größere Risiken eingehen. Insgesamt sind seit 1993 bei dem Versuch nach Europa zu gelangen über 16.000 Menschen umgekommen (siehe „List of Deaths“ des NGO-Netzwerks UNITED for Intercultural Action).104105 Angesichts solcher Zahlen entbehrt ein 2013 von Frontex ausgeschriebener Fotowettbewerb nicht eines gewissen Zynismus: „The aim of the contest is to reflect the distinctive nature of European borders across the continent and to gather inspiration from the beauty of European landscapes. With that in mind, the theme for this year is: Ties that Bind: Bridging borders in modern Europe.“106 Eine Studie der NGO Migreurop kommt zudem zu einer Vielzahl von Menschenrechtsverletzungen im Zuge von Frontex-Grenzoperationen107, die deren Einsatzethik in zweifelhaftem Licht 102Frontexit Campaign, Europe is at war against an imaginary enemy URL: http://frontexit.org/en/docs/12-brochure-frontexit-anglais/file (Stand: 26.3.2013, 16.00) 103Migreurop, European borders. Controls, detention and deportations, 2009/2010 Report (Paris 2010) 7 104 UNITED for Intercultural Action, List of 16264 documented refugee deaths through Fortress Europe (Amsterdam 2012) 105 Weiterführend: interaktive Karte, Fortress Europe: A deadly Exodus (4.3.2011) URL: http://owni.eu/2011/03/04/app-fortress-europe-a-deadly-exodus/ (4.3.2013, 13.00) 106 Frontex Photo Competition URL: http://www.frontex.europa.eu/news/photo-competition-4kz50l (Stand: 10.3.2013, 14.00) 107 Vgl. Ska Keller et al., Frontex Agency: Which guarantees for human rights? – Study on the European External Borders Agency in view of the revision of its mandate (Brüssel 2011) 10ff
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erscheinen lassen. Ganz abgesehen von den Einsatzpraktiken geht die Frontexit Campaign von einer grundsätzlichen Verletzung des Rechts sich frei zu bewegen aus, wie es im Artikel 13 der Allgemeinen Menschenrechte formuliert ist: „(1) Everyone has the right to freedom of movement and residence within the borders of each state.“ Und „(2) Everyone has the right to leave any country, including his own, and to return to his country.“108 Darüberhinaus wurde in der Wiener Deklaration 1993 noch einmal die Position bestätigt, dass jeder Mensch das Recht auf Asyl hat.109 Für Mezzadra ist das Europa der Migrationsströme im Gegensatz zum instituierten Europa ein globaler politischer Raum, „den die Bewegungen
ständig
dezentralisieren und provinzialisieren.“ Das Außerhalb und Innerhalb des in Abkommen wie von Schengen oder Dublin definierten Europas lässt sich aufgrund der Migrationsbewegungen schwer identifizieren. „Es geht tatsächlich um eine doppelte Bewegung. Es gibt Migrationsströme, die die Grenzen Europas porös machen, sie machen sichtbar, wie viel Asien es in Europa gibt, wie viel Afrika … Dann gibt es die Regulationsbewegungen, die darauf zielen, die Ströme zu beherrschen, sie durch Strukturen und Verwaltungen einzudämmen. Dazu werden die Techniken und Technologien der Grenze außerhalb der offiziellen EUAußengrenzen eingesetzt. [...] Die Migrationsbewegungen schaffen eine Art neuer Geographie, indem sie die Routen etablieren; die Maßnahmen der Exklusion sind Reaktionen darauf.“110 Mezzadra bewegt sich im gleichen Argumentationsraum wie Negri und Hardt, die in Empire zu folgender Aussage gelangen: „Alle Mächte der alten Welt haben sich vereint und kämpfen gnadenlos dagegen an, aber die Bewegung ist nicht aufzuhalten. [...] Die legalen und offiziell erfassten Bewegungen werden von der verborgenen Migrationen weit übertroffen: Die Grenzen nationaler Souveränität sind durchlässig wie ein Sieb, und jeder Versuch, die Migrationsbewegungen vollständig zu regulieren, scheitert am gewaltsamen Druck.“111 108 United Nations Universal Declaration of Human Rights, Article 13 (Paris 1948) 109 Vienna Declaration and Programme of Action (Wien 1993) 110 Sandro Mezzadra, Die Einforderung der Zukunft. Migration, Kontrollregime und soziale Praxis, Gespräch zwischen Sandro Mezzadra und Brett Neilson, URL: http://www.transitmigration.org/db_transit/ausgabe.php?inhaltID=5 (11.3.2013, 09.00) 111 Negri, Hardt, Empire 225
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3 Temporalität 3.1 Vitruv Marcus Vitruvius Pollio (ca. 80 – ca. 15 vuZ) beschreibt in seinen „Zehn Büchern über Architektur“, die als eines der ältesten westlichen architekturtheoretischen Werke gelten, die Konzepte von Temporalität, Mobilität und Portabilität als Grundlagen für die theoretische und praktische Auseinandersetzung mit Architektur. Elemente der Bewegung findet man in seinen Schriften über Ingenieurskonstruktionen wie Hebemaschinen, Kräne, Flaschenzüge und Maschinen zur Wassergewinnung oder über militärische Konstruktionen wie Katapulte, Balliste oder Belagerungsgerät112; aber auch der Bau von Sonnen- und Wasseruhren ist für Vitruv Teil der Architektur. Sein zehntes Buch beschäftigt sich mit den zeitgenössischen Praktiken eines Architekten, die auch das Entwickeln strategischer Maschinen umfassten. „The descriptions of architecture in terms of vehicles and [war, Anm.] machines seems markedly different to today’s capitalist idea of Western architecture’s cultural aims being static and pacific, as captured in the view that architecture is necessarily settled“,113 schreibt Gregory Cowan in seiner Abhandlung über Vitruv's Betonung der Mobilität als architektonisches Konzept. Er stellt fest, dass viele vitruvianische Maschinen zum Wassertransport oder zur Hilfe bei Bautätigkeiten verwendet werden, manche aber explizit zur Zerstörung von Gebäuden konzipiert sind, wie beispielsweise die „Tortoise“. „That is, for de-construction. Here, the role and the work of the architect shifts from that of fort-builder to that of strategist, initiating demolition as well as new construction.“114 Cowan sieht, Catherine Ingraham folgend115, Vitruv's letztes Buch als die krönende Schlussfolgerung, welche die grundlegend strategische Natur des architektonischen Denkens erklärt. Vitruv macht Maschinen deshalb zu einem elementaren Bestandteil seiner Abhandlung, da der/die ArchitektIn nach seiner 112 Vgl. Marcus Vitruvius Pollio, De architectura libri decem (Übersetzung von Morris H. Morgan, Vitruvius: The Ten Books on Architecture) 113 Gregory Cowan, Nomadology in Architecture. Ephemerality, Movement and Collaboration, (Adelaide 2002) 46 114 Cowan, Nomadology in Architecture 46 115 Vgl. Catherine Ingraham, Architecture, Lament and Power, in: Journal of Philosophy and the Visual Arts: Architecture, Space, Painting (London 1992) 10-14
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Auffassung die Verantwortung für alle Stufen der Beschaffung übernehmen soll, und die Zerstörung von Gebäuden sowie die militärischen und ingenieursmäßigen Gesichtspunkte scheinen zu Vitruv's Zeiten integrale Aspekte der Gesellschaft und der Arbeit von Architekten gewesen zu sein. „Here, machines are expressions of human ingenuity as well as devices for assisting construction, are an integral part of architecture, which involves consideration of many kinds of accommodation used for various purposes.“116 Cowan findet es durchaus bemerkenswert, dass er in seinem zehnten Buch explizit die Elemente der Bewegung in Bezug zur Architektur setzt, während die Bücher I bis IX durch Stasis gekennzeichnet sind. In ihrer Analyse des Zehnten Buches erörtert Catherine Ingraham, dass einer „Stasis-Architektur“ ein Lamento nach „Bewegungs-Architektur“ innewohnt, das einen beständigen Wunsch nach Bewegung zum Ausdruck bringt. Interessanterweise haben Vitruv's Konzepte in den folgenden zweitausend Jahren signifikant an Bedeutung verloren. Von ArchitektInnen vernachlässigt wurden diese Bereiche Teil von militärischen oder Ingenieursdisziplinen.117
3.2 Mobile vs. temporäre Architektur Mobile Wohnformen, ephemere Bauten und performative Gebäude sind erst in der jüngeren Architekturgeschichte wieder zunehmend in die allgemeine Aufmerksamkeit gerückt. Temporäre Architekturen sind heute in unterschiedlichster Gestalt anzutreffen. Sie werden mit Freiheit, Unabhängigkeit und Flexibilität assoziiert und stehen außerdem für den Versuch, die vermeintlich festen Strukturen, die unsere gebaute Umwelt ausmachen, an eine Welt zu adaptieren, in der alles von Bewegung und Flüchtigkeit und Anpassungsfähigkeit geprägt ist: „Movement commands the event.“118
116 Cowan, Nomadology in Architecture 47 117 Ibd. 4 118 Virilio, Negative Horizon
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Der Wunsch, der einer Nutzung von mobiler und temporärer Architektur zugrunde liegt, ist die Begrenzung der Zeit, also der Einfluss auf die Präsenz eines Gebäudes, und die Erweiterung des Raums, also die Vergrößerung des räumlichen Aktionsradiusses und damit des (sozialen) Effekts eines Gebäudes. Die Begriffe Temporalität und Mobilität werden dabei oft synonym oder zumindest im selben Zusammenhang verwendet, obwohl es sich um zwei verschiedene Konzepte handelt. Während Temporalität eine zeitliche Begrenzung der Nutzungsdauer meint, ist bei Mobilität von einer örtlichen Verlegung die Rede (wobei es auch Mischformen gibt). Der Architekt Kay Strasser unterscheidet hier zwischen Mobilität der Nutzung, Mobilität der Konstruktion, Temporalität des Standortes und Temporalität der Baumaterialien.119 Laut Robert Kronenburg bezieht sich die Temporalität von mobilen Gebäuden auf den Ort, nicht auf ihren Gebrauch: “Portable buildings, though temporary in location, are not temporary in use. Their portability is precisely what makes them non-disposable. The fact that they can be reused means that they can be an efficient use of materials and resources and should therefore be designed with care – high quality products turned to a specific need if not a specific location.“120 Dennoch ist eine Vermischung der Begriffe insofern oft zulässig, da im Wesentlichen eine Gegenposition zum Permanenten gemeint ist und zudem eine klare Unterscheidung in vielen Fällen nicht möglich ist. Ein erwähnenswertes Beispiel mobiler Architektur, das die Schwierigkeit des Begriffs verdeutlicht, sind die sogenannten Mobile Homes oder auch House Trailers. Entstanden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den USA entwickelten sich diese Unterkünfte zu einem weit verbreiteten Phänomen (7% der US-AmerikanerInnen lebten im Jahr 1990 in Mobile Homes).121 Dabei handelt es sich um in der Fabrik vorgefertigte Gebäude, die fest mit einem fahrbaren und straßentauglichen Untersatz verbunden sind, allerdings permanent an einem Ort, dem Wohnort der 119 Vgl. Kay Strasser, Was ist temporäre Architektur URL: http://ideenkegale.wordpress.com/2013/05/15/was-ist-temporare-architektur/ (Stand: 17.4.2013, 08.00) 120 Robert Kronenburg, Houses in Motion. The Genesis, History and Development of the Portable Building (2002) 11 121 Vgl. John F. Hart, Michelle J. Rhodes, John T. Morgan, The Unknown World of the Mobile Home (Baltimore 2002) 1f.
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NutzerInnen, verbleiben.122 Mobile Homes zeichnen sich gegenüber Wohnwägen, ihren genotypischen Vorfahren, über einen höheren Wohnstandard123 aus. Obwohl sie nicht für ständige Bewegung konzipiert sind, verfügen sie dennoch über die Möglichkeit.124 Vielleicht lässt sich dieses Innewohnen von Möglichkeiten als Charakteristikum von temporären Strukturen bezeichnen. Die Zeitlichkeit ist jedenfalls ein wesentlicher Faktor: „Mit der Entwertung des Lokalen durch das Transitorische (der Kommunikations-, Informations- und Warenströme) kommt also eine – paradoxe – Zeitlichkeit ins Spiel, nämlich die der dauerhaften Vorläufigkeit. Und temporäre architektonische Konstruktionen scheinen das richtige räumliche Konstrukt für diese generalisierte Zirkulation zu sein.“125
3.3 Ursprung und Entwicklung Temporäre Bauformen gehen, wie im Abschnitt Nomadismus I dargelegt, auf die Ursprünge menschlicher Bautätigkeit zurück. Bis zur Sesshaftigkeit, also „erst“ seit etwa 10.000 bis 12.000 Jahren und damit erheblich länger als die bis heute andauernde sesshafte Phase, befand sich der Mensch ständig auf Wanderschaft. Um nicht von natürlichen Unterzugsgegebenheiten abhängig, um also örtlich und zeitlich flexibel zu sein, wurden Systeme entwickelt, die einen wiederholten Aufund Abbau und ihren Transport möglich machten. Solche Strukturen finden in der Architekturgeschichte kaum Erwähnung, obwohl es eine große Vielfalt unterschiedlicher Formen und raffinierter Details gibt, die großen Einfluss auf moderne Architektur haben. „Diese Ignoranz hat wahrscheinlich vor allem mit dem Mißtrauen und dem Neid zu tun, die der Seßhafte gegenüber dem “fahrenden Volk” und seiner Ungebundenheit entwickelte. So läßt sich die Geschichte der Unterdrückung der Nicht-Seßhaften vom tödlichen Streit zwischen dem 122 Vgl. Allan D. Wallis, Wheel Estate. The Rise and Decline of Mobile Homes (Oxford 1991) 58ff. 123 Vgl. John F. Hart, Michelle J. Rhodes, John T. Morgan, The Unknown World of the Mobile Home (Baltimore 2002) 25 124 Vgl. Charly Jerneischek, Transit Europa Express (Wien 2010) 22ff. 125 Alexander Klose, Die technische Produktion von Raum, Vortrag bei den Bauhaus Lectures Dessau (Dessau 2007) 16
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Ackerbauern Kain und dem Schafhirten Abel bis zu den traurigen Höhepunkten unter dem Nationalsozialismus verfolgen (der gleichzeitig die allgemeine Mobilmachung proklamierte).“126 Traditionelle Bauformen bedienen sich jedoch hochentwickelter Techniken und komplexer Wohnmuster, welche über die Jahrtausende nicht an Relevanz verloren haben – im Gegenteil, sie inspirieren das Nachdenken über menschliches Bauen und Wohnen. Mobile Gebäude der heutigen Zeit haben eine weit zurückreichende und aufschlussreiche Entwicklungsgeschichte, deren Prinzipien teilweise für dauerhafte Bauwerke übernommen wurde. Als die drei prototypischen nomadischen Behausungen werden das Zelt, die Jurte und das Tipi gesehen. Die zugrundeliegenden Prinzipien ihrer Bautechnik lassen sich in raffinierten architektonischen Lösungen der heutigen Zeit wiederfinden: „In Beduinenzelten kamen Druckstäbe und auf Zug beanspruchte Membranen zum Einsatz, (denen dieselben Prinzipien wie modernen statischen Konstruktionen zugrunde liegen), das nordamerikanische Tipi kann man mit einem einzelnen Element eines Raumfachwerks vergleichen, welches Trennwände ohne Eigenstabilität (Tierhaut) und Doppelwandsysteme sowie natürliche Luftströmungsmuster zur Veränderung des Raumklimas integriert. Bei der asiatischen Jurte kommen modulare Herstellungsverfahren und eine Wandstruktur nach geodätischen Grundlagen zum Einsatz.127 Solche Systeme wurden allerdings nicht von allen wandernden Völkern verwendet, teilweise wurden die Konstruktion oder zumindest Teile davon auch zurückgelassen. Die angestrebte Aufstelldauer kann für die Auswahl der konstruktiven und räumlichen Lösungen ausschlaggebend sein, wie Variationen in den traditionellen Bauformen von Nomadenvölkern zeigen. Beduinen verwenden beispielsweise kleinere Zelte mit nur einer Innenstütze für kurze Jagdexpeditionen, da sich diese leichter transportieren und schneller auf- und abbauen lassen als die gängige Zeltform mit drei Innenstützen. Diese ist für eine längere Nutzung, auch 126 Vilém Flusser, in: Arch+ Ausgabe 139/140 (Aachen 1989) 156 127 Vgl. Robert Kronenburg, Mobile Architektur (Basel 2008) 8
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über mehrere Jahreszeiten, vorgesehen und bietet mehr Platz und zusätzliche Raumtrennungsmöglichkeiten. Sie zeichnen sich damit nicht nur durch ihre Transportierbarkeit sondern auch durch Flexibilität aus, um sich an unterschiedliche Nutzungen, Nutzungsdauern und Jahreszeiten anpassen zu können.128 Heute kann man zwischen drei Formen transportabler Architektur unterscheiden.129 Bei der ersten wird eine permanente (Trag-)Konstruktion mit einer portablen bzw. fahrbaren Konstruktion verbunden, also beispielsweise auf einen fahrbaren Untersatz aufgesetzt. Die zweite Möglichkeit ist die Vorfertigung von Bauelementen, die am Einsatzort zusammengesetzt werden. Die dritte ist ein System aus modularen Elementen, die sich leicht transportieren und ebenfalls vor Ort montieren lassen. Hier ist der Transport zwar aufwändiger, ermöglicht jedoch eine flexible Anpassung an unterschiedliche Bedingungen. Grundsätzlich sind mobile Strukturen für eine einfache Errichtung an einem Ort abseits der Produktionsstätte ausgelegt. Verwendung findet der Begriff „mobil“ in Zusammenhang mit Architektur seit 1837, als der Londoner Zimmermann John Manning das „Manning Portable Colonial Cottage for Emigrants“ entwickelte. Dieser modulare eingeschoßige Holzskelettbau war zum Transport ins Ausland konzipiert, wofür er kleinformatig verpackt werden konnte. Die Teile wurden in England vorgefertigt und nach Australien gebracht, wo es sowohl an Material als auch an erfahrener Arbeitskraft mangelte. Die einzelnen Elemente konnten problemlos auch über weitere Strecken getragen werden und mit einfachen Werkzeugen zusammengesetzt werden.130 In Nordamerika wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts tausende solcher Fertighäuser errichtet. Mittlerweile ist die Bandbreite transienter Architektur weit gespannt – provisorische Bauten zur Unterbringung von Menschen sind ebenso gebräuchlich wie temporäre Anlagen für Veranstaltungen oder Bauten zur politischen Repräsentation oder solche, die „im unternehmerischen Interesse den öffentlichen Raum besetzen.“131 128 Vgl. Strasser, Was ist temporäre Architektur 129 Vgl. Robert Kronenburg, Portable Architecture (Oxford 2003) 1 130 Vgl. Ron Broadhurst (Hg.), Home Delivery. Fabricating the Modern Dwelling (New York 2008) 131 Vgl. Axel Doßmann, Jan Wenzel, Kai Wenzel, Architektur auf Zeit: Baracken, Pavillons, Container (Berlin 2006)
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Zeltlager, Arbeiterbaracken, Trailerparks sind zeitgenössische Beispiele für Wohnraum, die parallel des typischen Modells permanenter Behausung existieren und darüber hinausreichen. „Ohne temporäre Architekturen hätte sich das 20. Jahrhundert nicht so dynamisch entfalten können. Denn worum geht es in der Moderne? Zygmunt Baumann deutet es an. Es geht um ‚schneller sein’: schneller als andere Armeen, andere Staaten, andere Firmen [...]“132 Auch Wohncontainer lassen sich hier als Beispiel für schnell einsetzbare Räume anführen. Containeranlagen mit austauschbaren Wandpaneelen finden heutzutage Anwendung in unterschiedlichsten Bereichen. Beachtenswert ist, dass es sich dabei nicht nur um „nachrangige“ Nutzungen handelt, also um Sanitäranlagen, Kantinen, Pressezentren, Verkaufsstände oder Baustelleneinrichtungen, sondern beispielsweise auch um Büros, provisorische Krankenhäuser, militärische Unterkünfte, Schulen und Labors. Aufgrund ihrer Eigenschaft als vorübergehende Nicht-Architektur (der Begriff Architektur wird üblicherweise noch immer mit Beständigkeit assoziiert) scheinen Container selbst im Stadtraum nicht mehr aufzufallen, wo sie mittlerweile ebenfalls immer öfter anzutreffen sind. In ihrem Auftreten ist ihr Verschwinden gleichsam schon enthalten. Die weite Verbreitung lässt sich darauf zurückführen, dass dieses von der International Organization for Standardization (ISO) 1964 eingesetzte Transportmodul mit seinen genormten Abmessungen in der Logistik zur Regel geworden ist und deshalb umfassend zur Verfügung steht. Seine flexible Nutzung, vor allem aber seine unkomplizierte Transportfähigkeit durch die Verwendung eines standardisierten Verbindungssystems, dem Twistlock, und von standardisierten Maßen (Twenty-foot equivalent unit „TEU“) hat den ISO-Container zu einem Prototyp für mobilen Raum gemacht. Die Standardisierung, die mit gängigen Transportsystemen kompatibel ist, erhöht das Potential der Mobilität. Container werden deshalb, und auch aufgrund der Vorzüge in Bezug auf Sicherheit und Zeitökonomie, ebenso für militärische und humanitäre Operationen eingesetzt. Der Philosoph und Medientheoretiker Alexander Klose spricht vom „Zeitalter des Containers“: „Nicht zufällig sind Flüchtlinge, illegale Arbeiter, Kriegsgefangene und 132 Ibd. 24
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mediengesellschaftliche „Versuchskaninchenmenschen“ die prominentesten Insassen der ubiquitären Un-Architektur der Container. Die Containerisierung, d.h. der Prozess, in dem die Welt mit einem standardisierten System des Umgangs mit Dingen (und Menschen) überzogen wurde, dessen Kernstück der Container bildet, ist ein Dispositiv (Michel Foucault), ein komplexes Gefüge aus politischen, juridischen, ökonomischen, ideologischen und technologischen Komponenten. Dessen Möglichkeitsbedingungen und Entwicklungslinien gilt es zu verdeutlichen und unter dem Aspekt der umwälzenden biopolitischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts zu betrachten.“133 Doßmann, Wenzel und Wenzel beschreiben in „Architektur auf Zeit“ temporäre und provisorische Bauten als architektonische Werkzeug zur politischen Verwaltung der sich dynamisch wandelnden Stadt seit dem späten 19. Jahrhundert: „Für Messen, Großveranstaltungen und 'Events' werden sie errichtet, um den städtischen Raum kurzzeitig mit Attraktionen aufzuladen. Als Not- und Behelfsarchitekturen sollen Baracken oder heute Container das Funktionieren der Stadt auch in Ausnahmesituationen gewährleisten: in Phasen schnellen Stadtwachstums, in wirtschaftlichen Krisenzeiten, bei Expansionen, Kriegen und beim Wiederaufbau oder in den turbulenten Zeiten der 'Wende' – häufig waren temporäre Architekturen der Joker im gouvernementalen Machtspiel um ökonomische und territoriale Gewinne, Sicherheit und Loyalität der Bevölkerung.“134 Auch Gregory Cowan analysiert in „Nomadology in Architecture“ Architektur als politisches Instrument: „Tendencies for oppression through architecture must be challenged, and to be effective, resistance must remain alive and regenerative through collaboration. The challenge itself against the sedentary, static and hierarchical side of architecture is what makes it critical.“135 Srdjan Jovanovic Weiss sieht Temporalität in der Architektur als Ausdruck eines politischen Übergangs. Plötzlich auftretende Übergänge bringen neue Räume hervor, wobei die meisten von ihnen bekannt sind und sich weltweit wiederholen, 133 Alexander Klose, Container haben die Welt revolutioniert URL: http://containerwelt.info/intro.html (Stand: 18.5.2013) 134 Doßmann, Wenzel, Wenzel, Architektur auf Zeit 135 Vgl. Cowan, Nomadology in Architecture 20
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wie Elendsviertel, Shanty Towns, Lager, Katastrophensiedlungen, Checkpoints, Zeltstädte, transitorische Grenzen und räumliche Anordnungen. Solche Räume werden üblicherweise als eine unvollkommene Version von „richtiger“ Architektur bzw. Städtebau gesehen, als Ausnahme der stabilen und folgsamen Anordnung von Raum.136 Weiter ist er der Meinung, dass die Akzeptanz temporärer Lösungen die Akzeptanz niedrigerer Standards bedeutet. Gleichzeitig gibt es dabei die starke Überzeugung, dass auf diesem Wege eine nächste Phase erreicht werden kann, der mehr Stabilität verspricht. Diese Szenario ist von der Akzeptanz der Priorität von begrenzter Zeit vor verfügbarem Raum abhängig: „The temporal solution depends on accepting a deadline of its own expiration, the end of it own incapability to be stable.“137
3.2 Semipermanente Strukturen Der Begriff semipermanente Strukturen wird in dieser Arbeit wie in der Literatur für Strukturen verwendet, deren Nutzungsdauer zwar begrenzt ist, die aber trotzdem über einen längeren Zeitraum eingesetzt werden. Mit „eingesetzt“ wird schon angedeutet, dass es sich hier vornehmlich um Anlagen handelt, die nicht von selbst bzw. zufällig entstehen. Mit semipermanenten Strukturen werden Orte hergestellt, geschaffen, installiert. Der Zeitraum spielt in der Betrachtung eine untergeordnete Rolle – im Wesentlichen sind diese Orte generell durch Vergänglichkeit charakterisiert. In der Definition wird der Begriff klar von „permanent“ abgegrenzt und tendenziell in die Nähe von „temporär“ gerückt. Von der militärischen Beschreibung von bestimmten Festungsanlagen stammend wird „semipermanent“ vor allem in Bezug auf Lagerstrukturen verwendet, immer öfter aber auch für Gebäude. Manuel Herz zieht den Begriff beispielsweise heran, um die oft auftretende Diskrepanz zwischen geplanter und realer Dauer von humanitären Camps zu beschreiben: „And even if only intended to exist temporarily – but often becoming semi-permanent – questions about how people live in these camps, what spaces they work in or where they go for leisure are 136 Vgl. Srdjan Jovanovic Weiss, Evasion of Temporality, in: Ilka Ruby, Andreas Ruby, Urban Transformation (Berlin 2008) 208ff 137 Ibd.
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important.“138 In der Terminologie der humanitären Hilfe wird der Ausdruck semipermanent shelter für Situationen verwendet, in denen Betroffene einer Naturkatastrophe Teile eines Hauses in eine vorübergehende Unterkunft verwandeln können, wobei allerdings vorkommen kann, dass Elemente davon für den Wiederaufbau gebraucht und deshalb eventuell vom semi-permanent shelter wieder abgezogen werden müssen.139 Der Begriff bezieht sich hier also auf das permanente Gebäude, bei dem man nicht davon ausgehen kann, dass es eine permanente Unterkunft bleibt. Üblicherweise wird semipermanent dort angewendet, wo weder temporär noch permanent eine angemessene Beschreibung (für die zeitliche Konzipierung) bieten können. Camp-Typologien sind im wesentlichen semipermanent, was vor allem am Umstand liegt, dass sich hier die Dauer der Nutzung in den meisten Fällen tatsächlich nicht oder schwer einschätzen lässt.
3.3 Camps: erstarrte Bewegung Camps sind heute ein weit verbreitetes (Siedlungs-)Phänomen, das viele unterschiedliche Formen annehmen kann. Camps sind Indikatoren und Figuren für Bedürfnisse, Sehnsüchte, Schicksale, Machtverhältnisse, Spannungen und Ströme. Charlie Hailey sieht in Camps die Fähigkeit zur Registrierung lokaler und globaler Kräfte in ihren Anfangsstadien und damit Hinweise für Trends, Krisen und Identitäten.140 In „Camps – A Guide to 21st Century Space“ gelingt es ihm, unter Anwendung einer interessanten Taxonomie eine umfassende Aufstellung solcher Strukturen zu erstellen. Eingeteilt in eine der drei Kategorien „Autonomy“, „Control“ und „Necessity“ katalogisiert er mit mehr als hundert verschiedene Camps ein architektonisches Phänomen, das alleine durch sein immer häufigeres Auftreten zunehmend an Bedeutung gewinnt. Mit dem Fokus auf den architektonischen Aspekt gerichtet, zeigt Hailey die breite phänomenologische Bandbreite dieser Typologie. 138 Vgl. Manuel Herz, From Camp to City (Zürich 2012) 9 139 Vgl. Shelter Centre, Transitional shelter guidelines (Genf 2009) 30 140 Vgl. Charlie Hailey, Camps. A Guide to 21st Century Space (Cambridge 2009)
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Camps der Autonomie sind für Hailey Orte des Selbst-Ausdrucks. Hier geht es um Rückzug, Konfrontation, Lehren, Feiern und andere Formen von kultureller Praxis. Dabei kann es sich um ein Bedürfnis nach Gemeinschaft handeln, um die Erkenntnis von der Sinnhaftigkeit gemeinschaftlicher Organisation oder einfach um Ausflucht aus dem Alltag. In autonomen Camps werden die Regeln selbst festgelegt. In manchen Fällen bewirkt Autonomie eine elementare Verbindung von Camp und Politik, ob durch Protest, Rhetorik oder Diplomatie.141 Camps der Autonomie zeigen durch ihre Offenheit und Unabhängigkeit das Spektrum an Möglichkeiten und auch demokratische Potentiale auf. Camps der Kontrolle wiederum sind gekennzeichnet durch eine Form von Gewalt, welche allerdings graduelle Unterschiede aufweist. Konventionelle Beispiele dafür sind Militärcamps, deren organisatorische Struktur nach strategischen Gesichtspunkten ausgelegt ist. Die Gewalt hier ist nach Innen (in das soziale Gefüge) gerichtet und gleichsam einvernehmlich, SoldatInnen fügen sich in den meisten Fällen aus freiem Willen in dieses Gefüge ein. Es gibt allerdings auch neuere Formen, beispielsweise zur Kontrolle von Arbeit oder Migration, wie die Grenzanlagen des Schengenraums. „Discernible and invisible, authorized and unsanctioned, these camps control obliquely but are at the same time central to geographic definition and debate.“142 Hier ist die Gewalt der paramilitärischen Firmen nach Außen gerichtet, also gegen Menschen, die sich nicht freiwillig unter deren Kontrolle begeben. Die Elastizität paramilitärischer Anlagen hat in vielen Fällen die Bedeutung von konventionellen militärischen Anlagen, deren historische Aufgabe es war, bestimmte Territorien zu kontrollieren, verdrängt. Camps sind Indikatoren für globale Kräfte und nationale und transnationale Identitäten. Mit „Europe of camps“ entlehnt Hailey einen Begriff der internationalen NGO Migreurop zur Bezeichnung des Phänomens, dass heute eine Vielzahl von Lagern aufgrund einer angeblichen politischen Notwendigkeit operieren. „With camp both as catalyst and political tool, the politics of control define the meaning of the state.“143
141 Ibd. 20 142 Hailey, Camps 240 143 Ibd. 242
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Camps der Notwendigkeit entstehen für Hailey weder aus einer freien Wahl noch durch Gewalt oder Zwang. Notwendige Camps entstehen meist im Graubereich zwischen Autonomie und Kontrolle. Als Reaktion auf Krisen sind solche notwendigen Camps Orte der Unterkunft, Unterstützung und des Schutzes. Als politische Funktion jedoch finden Unterstützung und Schutz nicht immer gleichtzeitig statt. Hailey sieht dieses Schisma, das im primären Mandat zum Schutz des UNHCR exemplifiziert ist, im Mittelpunkt der Frage über längerfristige Unterstützung, in die internationale Agenturen, private Initiativen und GastgeberRegierungen involviert sind.144 Camps der Notwendigkeit, die nicht aus Naturkatastrophen oder politischen Krisen entstehen, sind beispielsweise Obdachlosen-Camps oder Roma-Lager, wo komplexe Kräfte von Ort, Dauer und Kontext auf Aspekte der Autonomie treffen. Tom Holert und Mark Terkessides verwenden den Begriff der „erstarrten Bewegung“ für Orte des „auf Dauer gestellten temporären Aufenthalts“145, wie es vor allem bei Camps der Kontrolle der Fall ist.146 Beim Camp handelt es sich also um die ambivalenteste aller Typologien: sie vereint auf der einen Seite den Ausdruck von Freiheit, Unabhängigkeit, zeitlicher und räumlicher Flexibilität, Ungebundenheit, Abenteuer und Selbstbestimmung, auf der anderen Seite können Camps für das exakte Gegenteil von Freiheit stehen, als Ort der (Ein-)Wirkung von äußeren Kräften, des permanenten Ausnahmezustands, und sind damit auch untrennbar mit dem dunkelsten Kapitel der Menschheitsgeschichte verbunden, den Konzentrationslagern im Nationalsozialismus. „Was in den Lagern geschehen ist, übersteigt den rechtlichen Begriff des Verbrechens dermaßen, dass man es oft einfach unterlassen hat, die spezifische juridisch-politische Struktur zu betrachten, in der diese Ereignisse stattgefunden haben. Das Lager ist schlicht der Ort, an dem sich der höchste Grad der conditio inhumana verwirklicht hat, den es auf Erden je gegeben hat“.147 Den nationalsozialistischen Konzentrationslagern und ebenso 144 Ibd. 323 145 Tom Holert, Mark Terkessidis, Erstarrte Mobilität, in: Axel Doßmann, Jan Wenzel, Kai Wenzel, Architektur auf Zeit: Baracken, Pavillons, Container (Berlin 2006) 64 146 Vgl. Sarah Deardorff, How long is too long? Questioning the legality of long-term encampment through a human rights lens (Oxford 2009) 7 147 Giorgio Agamben, Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben (Frankfurt 2002) 175
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ihren Vorläufern (den campos de concentraciones, mit denen die Spanier den Bevölkerungsaufstand auf Kuba 1896 niedergeschlagen haben, sowie den englischen concentration camps, in denen zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Buren zusammengepfercht wurden) ist gemeinsam, dass ihre Existenz nicht aus dem gewöhnlichen Recht oder aus dem Strafvollzugsrecht hervorgeht, sondern aus dem Ausnahmezustand und dem Kriegsrecht.148 Camps sind flüchtige Umgebungen – ihre Einzigartigkeit besteht in ihrem ständigen Entstehen und Verändern. Dennoch ist es of schwierig, zwischen dem Temporären und dem Permanenten zu unterscheiden. „Disaster relief camps are often built on contractual impermanence, and languages of control are sometimes applied to sites that originated out of resistance or necessity. In spite of these problems, some camps also suggest alternative ways of working sensitively within sites of paradox and ambiguity.“149
3.3.1 Das biopolitische Camp Während für die einen das Camp Zuflucht bedeutet, also ein Ort, der Schutz bei unfreiwilliger Flucht bietet (und vielleicht die Zeit bis zur Rückkehr in die Heimat überbrückt), sind andere gezwungen, sich in einem Camp aufzuhalten. „Attending to this full range of camp's functions reminds us that camps are witnesses, grounds for seeking to come to terms with our most conflicted histories and our highest aspirations. The complexity of camp's spaces, like the unsettling range of necessity, control, and autonomy, cannot be resolved but must be considered.“150 Haileys Kategorien Notwendigkeit und Kontrolle teilen dabei bestimmte Charakteristika, die unter dem Begriff Ausnahme zusammengefasst werden können. Agambens bekannte These ist, dass das Camp den permanent gewordenen Ausnahmezustand darstellt: „Das Lager ist der Raum, der sich öffnet, wenn der Ausnahmezustand zur Regel zu werden beginnt. Im Lager erhält der Ausnahmezustand, der vom Wesen her eine zeitliche Aufhebung der 148 Ibd. 149 Hailey, Camps 150 Ibd. 241
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Rechtsordnung auf der Basis einer faktischen Gefahrensituation war, eine dauerhafte räumliche Einrichtung, die als solche jedoch ständig außerhalb der normalen Ordnung bleibt.“151 („The camp is the space that is opened when the state of exception begins to become the rule. In the camp the state of exception, which was essentially a temporary suspension of the rule of law is now given a permanent spatial arrangement“152) Die räumliche Manifestation des Ausnahmezustands gibt damit einen Hinweis auf die politische Struktur der Westlichen Welt. „Today it is not the city but rather the camp that is the fundamental biopolitical paradigm of the West.“153 Auf das Refugee Camp bezogen gibt der Architekt Manuel Herz gibt in „From Camp to City“ zu bedenken, dass Agamben einer Generalisierung gefährlich nahe kommt und Flüchtlingscamps nicht von Internierungslagern unterscheidet.154 Denn obwohl biopolitische Operationen unserer Gesellschaft in Flüchtlingslagern zur Anwendung kommen, muss die Kategorisierung differenzierter erfolgen. Die internationale Assoziation Migreurop weist darauf hin, dass bei der biopolitischen Analyse die strukturellen Rahmenbedingungen erwogen werden müssen: „Die heutige Definition von „Lager“ schliesst einerseits die Formenvielfalt existierender Lager ein, betrifft andererseits aber auch die unterschiedlichen Regelungen und Vorschriften bezüglich Migration. Allein das Festhalten von Personen wird daher der aktuellen Definition von Lager nicht gerecht. So gibt es beispielsweise „offene“ Lager, die auf den ersten Blick einen sehr menschlichen Eindruck erwecken. Betrachtet man die Situation genauer, fällt auf, dass die Bewohner dieser (so genannten) offenen Lager dort gegen ihren Willen leben müssen. In Deutschland und Belgien ist das dort der Fall, wo Flüchtlinge nur finanzielle Unterstützung erhalten, wenn sie sich in eben solchen Strukturen registrieren- und niederlassen. Sie können also nicht frei über ihren Wohnort entscheiden.“155 Sandro Mezzadra sieht die Einrichtung von Lagern als Teil der europäischen Kolonialgeschichte und die Verwendung des Ausdrucks als eine Betonung der „Fortdauer des Kolonialismus und kolonialer Machtbeziehungen in den politischen 151 Giorgio Agamben, Homo sacer (Frankfurt 2002) 177f. 152 Giorgio Agamben, Homo sacer (Stanford 1998) 168f. 153 Ibd. 154 Vgl. Manuel Herz, From Camp to City (Zürich 2012) 9 155 Migreurop, Von welchen „Lagern“ spricht Migreurop? (7.12.2005) URL: http://www.migreurop.org/article1266.html (Stand: 13.3.2013, 13.00)
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und gesellschaftlichen Verhältnissen der Metropolen.“156 Heutige Abschiebezentren als Lager zu identifizieren ist für ihn deshalb gerechtfertigt, da es sich hier um administrative Räume handelt, in denen Menschen ohne ein Verbrechen begangen zu haben „ihres Rechts auf Freizügigkeit beraubt werden.“157 Diese Räume haben eine allgemeine Verbreitung erfahren. Hannah Arendt markiert in Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft158 das erste Auftauchen solcher Orte in Europa nach dem Ersten Weltkrieg in der Einrichtung der Internierungslager, wo Menschen festgehalten waren, die aufgrund der Veränderung der politischen Landkarte keine eindeutige Staatsbürgerschaft hatten: Apatrides, Staatenlose. Als wesentliches Attribut wird von Mezzadra der instrumentelle Aspekt identifiziert: „Ein Abschiebezentrum ist eine Art Unterdruckkammer, die den Druck, der auf den Arbeitsmarkt wirkt, zerstreut. Diese Orte sind das andere Gesicht der neuen Flexibilität des Kapitalismus, sie sind Orte staatlicher Unterdrückung und eine allgemeine Metapher der despotischen Kontrolle über die Mobilität der Arbeitskraft.“ Despotie ist für ihn ein strukturelles Merkmal des „historischen Kapitalismus“. Die Bewegungen der MigrantInnen zeigen ein subjektives Gesicht einer neuen Form von Flexibilität, die der Kapitalismus hervorgebracht hat. Gleichzeitig aber passiert eine Ausbeutung dieser Bewegungen. „Yann Moulier Boutang hat in 'De l’esclavage au salariat' (1998) darauf hingewiesen, dass Formen der unfreien und versklavten Arbeit historisch eine wesentliche Rolle für die Kapitalakkumulation gespielt haben – und sie immer noch spielen. Weit davon entfernt, Überbleibsel oder vorübergehende Erscheinungen zu sein, die die Moderne hinweggefegt hat oder hinwegfegen wird, sind diese Arbeitsregimes für die kapitalistische Entwicklung konstitutiv.“159 Für das kapitalistische System ist es unerlässlich, die Flucht der Arbeitskraft zu überwachen – Mezzadra sieht seinen Antrieb in der Kontrolle über die Mobilität, weshalb das Internierungszentrum eines
156 Mezzadra, Die Einforderung der Zukunft 157 Ibd. 158 Vgl. Hannah Arendt, The Origin of Totalitarianism (New York 1951) 159 Mezzadra, Die Einforderung der Zukunft
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von vielen Maßnahmen ist, um diesem Ziel zu dienen. Agamben's Hinweis auf das Lager als Akt der Beraubung muss deshalb im Verhältnis zu diesen globalisierten Mechanismen gesehen werden. Der Lagerbegriff erhält in diesem Zusammenhang natürlich eine besondere Konnotation. Für einen behutsamen Umgang mit dem Begriff plädieren Holert und Terkessidis: „Wir verwenden den Begriff des Lagers für ein sehr breites Spektrum an provisorischen, siedlungsförmigen, kollektiven Einrichtungen zur Unterbringung von Leuten im Zustand der Mobilität. Allerdings sind wir vorsichtig, den Anwendungsbereich des Begriffs 'Lager' über Gebühr auszudehnen. So käme es für uns nicht in Frage, eine touristische Siedlung, nur weil sie bestimmte morphologische und/oder politisch-soziale Ähnlichkeiten zu Lagerarchitekturen aufweist, als Lager zu behandeln. Auch ist der Lager-Begriff natürlich durch die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager so geprägt, dass eine laxe Verwendung sich ebenso verbietet wie ein Gebrauch, der womöglich durch entsprechende Konnotationen eine Aufmerksamkeit für gegenwärtige Phänomene erzeugen soll, die der Spezifität dieser Phänomene nicht gerecht wird.“160 Auf den Begriff in der Forschung zu verzichten, wäre allerdings nicht zielführend: „Zum einen, weil er von den verschiedenen Akteuren des globalen Mobilitätssystems verwendet wird, zum anderen, weil die Erinnerung und der Vergleich mit historischen Lagerformen für die Beschreibung und Einordnung heutiger provisorischer Siedlungen unverzichtbar ist.“ Im folgenden sollen mehrere Camp-Typen exemplarisch hervorgehoben werden. Unter Berücksichtigung von Hailey's Kategorisierung (Autonomy, Control, Necessity) wird gezeigt, welches Nutzungsspektrum solche Strukturen aufweisen.
3.3.2 Das Freizeitcamp (Autonomy) Thomas Hiram Holding, ein britischer Schneider, schrieb 1908 „The Camper's Handbook“161 und gilt damit auch als Begründer der Camping-Kultur. Sieben Jahre 160 Tom Holert, Mark Terkessidis, Erstarrte Mobilität, in: Axel Doßmann, Jan Wenzel, Kai Wenzel, Architektur auf Zeit: Baracken, Pavillons, Container (Berlin 2006) 60 161 Thomas Hiram Holding, The Camper's Handbook (London 1908)
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zuvor hatte er schon die „Association of Cycle Campers“ gegründet, die sich zum „Camping and Caravanning Club“ mit mittlerweile 480.000 Mitgliedern entwickelt hat.162 Seitdem hat sich Camping zu einer kulturellen Praxis entwickelt, die sich vor allem in der westlichen Welt großer Beliebtheit erfreut.163 In den „Goldenen Zwanzigern“ konnte durch die Einführung des gesetzlichen Urlaubsanspruchs in Deutschland ein Anstieg verzeichnet werden. Nach der Unterbrechung durch den Zweiten Weltkrieg führte der wirtschaftlicher Aufschwung dazu, dass sich die breite Masse Urlaub leisten konnte. In den USA entstanden erste organisierte Camps zwar auch schon Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts, eine nennenswerte Ausbreitung fand das Camping allerdings erst mit dem Auftreten motorisierter Fortbewegungsmittel nach dem Zweiten Weltkrieg. Mit den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts begann eine neue Ära des Campens durch die Entstehung einer darauf spezialisierten Industrie. Das Wesen von Camping kann beschrieben werden durch seine Eigenschaft als Freizeitaktivität (und damit auf freiem Willen beruhend). Sein rituelles Substrat ist das Verlassen der gewohnten Umgebung, um sich in die freie Natur zu begeben.164 Der Übernachtung kommt dabei große Bedeutung zu, man könnte sie sogar als konstitutives Element bezeichnen. Die Spielarten sind mannigfaltig, einsames Campen mit Schlafsack oder Zelt ist ebenso beliebt wie in organisierten Caravan Parks mit verschiedensten Annehmlichkeiten oder deren Luxus-Variante „Glamping“165 („glamorous camping“). Freizeitcamps findet man heute in unterschiedlichsten Varianten. Charlie Hailey fasst diese
unter die Kategorie
„Autonomy“ zusammen.166 In den 1960er Jahren ereignete sich auch in der Urlaubskultur in Großbritannien ein grundlegender Wandel, als sich ein Bewusstsein für die Vorteile des Camping 162 The Camping and Caravanning Club URL: http://www.campingandcaravanningclub.co.uk/aboutus/history/ (Stand: 17.4.2013, 12.00) 163 Vgl. Arnold Thünker, Mit Sack und Pack und Gummiboot. Die Geschichte des Campings (Leipzig 1999) 164 Eine Ausnahme bildet das zunehmend beliebte Urban Camping 165 Barbara Kolb, "Glamping" ist Camping für ganz Anspruchsvolle, in: Die Welt (19.8. 2011) URL: http://www.welt.de/reise/nah/article13550628/Glamping-ist-Camping-fuer-ganzAnspruchsvolle.html (Stand: 23.4.2013, 09.00) 166 Charlie Hailey, Camps 20
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gegenüber den beliebten Urlaubspensionen entwickelte. Das Campen war günstiger, die Ausrüstung wurde besser und man musste sich nicht an die Regeln der Frühstückspensionen halten. Ein Trend, der sich bis heute fortgesetzt hat.167 Auch das Festival-Campen verbreitete sich etwa zu dieser Zeit, es erlaubte den CamperInnen, sich in der Nähe des Festivalgeschehens aufzuhalten. Heutzutage ist es bei Festivals üblich, Camping-Infrastruktur wie beispielsweise Sanitäranlagen zur Verfügung zu stellen. Im Jahr 2012 gab es 7,5 Millionen Gäste auf deutschen Campingplätzen, was einen Anstieg um 4% zum Vorjahr bedeutet.168 Das Campen in seinen unterschiedlichsten rituellen Ausformungen ist nach wie vor ein grundlegendes Bedürfnis.
3.3.3 Das Flüchtlingscamp (Necessity) Der Begriff des Refugee Camps hat in den letzten Jahren in den Sozialwissenschaften aber auch in anderen Disziplinen (u.a. Architekturtheorie, Urbanismus) an Bedeutung gewonnen. Nicht zuletzt in unzähligen Zeitungs- und Fernsehberichten, in Dokumentationen, politischen Analysen und Kriegsberichten stößt man mittlerweile regelmäßig auf dieses Phänomen. Derzeit befinden sich an die 30 Millionen Menschen in etwa 1.000 Flüchtlingslagern in über vierzig Ländern.169 Eine Gemeinsamkeit teilen sich viele dieser Camps: sie wurden als vorübergehende Einrichtung konzipiert, geplant und errichtet, bestehen aber auch nach etlichen Monaten oder Jahren noch, manche sogar über Jahrzehnte. Palästinensische Camps existieren teilweise seit 50 Jahren,170 das UNHCR-Camp Buduburam in Ghana ist seit mittlerweile 23 Jahren die Heimat von mehr als 12.000 Geflüchteten.171 Die Dauer der Camps wird oft als politisches Instrument eingesetzt und folgt strategischen Überlegungen, während die Flüchtlinge im 167 Christopher Buscombe, Harry Wallop, More people camping than staying in B&Bs, in: Telegraph (31.7.2010) URL: http://www.telegraph.co.uk/travel/travelnews/7918737/More-people-camping-thanstaying-in-BandBs.html (Stand: 23.4.2013, 10.00) 168 Siehe Statistiken des deutschen Statistischen Bundesamts (18.1.2013) https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2013/01/PD13_012_4541 2.html (Stand: 25.4.2013, 10.00) 169 Vgl. Manuel Herz, Refugee camps in Chad: planning strategies and the architect’s involvement in the humanitarian dilemma, UNHCR Research Paper No. 147 (Genf 2007) 4 170 Vgl. Fernando Murillo, “Refugee City”: Between Global Human Rights and Community Self Regulations 171 Vgl. UNHCR Ghana, Central Region URL: http://www.unhcr-ghana.org/pages/central-region (Stand: 22.4.2013, 09.00)
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Ungewissen bleiben. Der UNHCR definiert eine protracted refugee situation, wenn „a refugee population of 25,000 persons or more has been living in exile for five years or longer in a developing country“.172 Aus politischen, ökonomischen und Sicherheits-Gründen ist danach zu trachten, die Verweildauer so kurz wie möglich zu halten,173 beziehungsweise bei Unmöglichkeit einer baldigen Repatriierung eine neue konzeptuelle Lösung zu finden. Die Befreiung von einem semipermanenten Status zu einem tatsächlich temporären oder tatsächlich permanenten wäre anzustreben. Was genau ein Flüchtlingscamp ist und was nicht, wird mit verschiedenen Konzepten zu beantworten versucht. Das „klassische“ Verständnis ist das eines humanitären Raums; Flüchtlingscamps sind Orte, um Leben zu retten und zu schützen.174 Doch sind auch andere Lesarten gebräuchlich. Basierend auf Agamben's Theorie des Ausnahmezustands wird das Lager als Ort der Kontrolle verstanden. Auch wenn die Fürsorge im Vordergrund steht, so passiert diese aufgrund der Anwendung bestimmter Mechanismen. Sich um andere zu kümmern geht oft Hand in Hand mit der Herrschaft über andere (oder Fürsorge geht oft Hand in Hand mit der Ausübung von Macht).175 „Refugees are given water, food, and health care, but they are also kept in one place, without the freedom to move or settle elsewhere.“176 Herz beobachtet, dass Flüchtlinge oft in einem Abhängigkeitsverhältnis gehalten werden, das ihnen ein selbstbestimmtes Leben weitgehend unmöglich macht – wenn in weiten Teilen auch ohne bedenkliche Absicht. Abgeschieden von der Welt werden sie auf Liter Wasser und Kalorien pro Tag reduziert und als ihr biologischer oder physischer Zustand wahrgenommen. Dies führt zur dritten Kategorisierung des Camps als Ort der Verzweiflung, die zu einem gewissen Grad durch diese verordnete Ohnmacht bestimmt wird. Wie Manuel Herz ausführt, wird Auffassung weitgehend von den Medien bestimmt, die durch die Wahl der Darstellung vor allem ein Bild der Ohnmacht transportieren, in dem humanitäre Konnotation oder die der Kontrolle gar nicht eingebunden ist. 172 UNHCR, Executive Committee of the High Commissioner's Programme, Protracted Refugee Situations EC/54/SC/CRP.14 (2004) 2 173 Vgl. Sarah Deardorff, How long is too long? Questioning the legality of long-term encampment through a human rights lens (Oxford 2009) 7 174 Vgl. Manuel Herz, From Camp to City (Zürich 2012) 9 175 Ibd. 176 Ibd.
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Was diesen drei (westlich geprägten) Bedeutungsvarianten gemein ist, ist die Ausblendung wesentlicher Aspekte, da sie eine rein externe Sichtweise darstellen. Herz stellt deshalb die Frage nach einem neuen Verständnis, etwa einer weiteren Lesart, die aus diesem Kreis der Wahrnehmung von technokratischem Pragmatismus, totalitärer Autorität und endlosem Leiden ausbricht.177 Auch der Begriff selbst wird oft unterschiedlich ausgelegt, es gibt jedoch eine Reihe von Charakteristiken, die seinem Gebrauch zugrunde liegen. Im „Forced Migration Online Research Guide: Camps versus Settlements“ macht Anna Schmidt fünf Parameter aus, die einer für eine Begriffsbestimmung zu Hilfe gezogen werden können: (1) Freedom of movement, (2) Mode of assistance/economics, (3) Mode of governance, (4) Designation as temporary locations/shelter (irrespective of their actual longevity), (5) Population size and/or density.178 Barry Stein sieht den wesentlichen Aspekt in der biopolitischen Betrachtung durch Murphy: „The most useful description and analysis of refugee camps is a brief essay by H.B.M. Murphy (1955). Murphy notes that although the physical conditions of camps may vary widely, from hell to hotels, the effects tend to be uniform. The most important characteristics of the camps are: segregation from the host population, the need to share facilities, a lack of privacy, plus overcrowding and a limited, restricted area within which the whole compass of daily life is to be conducted. This gives the refugees a sense of dependency, and the clear signal that they have a special and limited status, and are being controlled.“179 Ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal für Thomas Hoerz ist die ökonomische und räumliche Verflechtung der Flüchtlinge mit der umgebenden Bevölkerung. Er stellt dafür folgende Kategorien auf: „completely separate existence of refugees and locals (“closed camps”)“, „in camps but free to trade“, „in camps but free to 177 Ibd. 10 178 Vgl. Anna Schmidt, Camps versus Settlements, Forced Migration Online Thematic Guide (Oxford 2003) 4 179 Barry N. Stein, The Experience of Being a Refugee. Insights from the Refugee Literature, in: Carolyn Williams, Joseph Westermeyer (Hg.), Refugees and Mental Health (New York 1986)
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move and trade“, „separate status but equal opportunities with locals“ (beispielsweise landwirtschaftliche Siedlungen) und “integration of refugees and refugee settlements“.180 Diese strukturellen Merkmale werden von der jeweils für die Errichtung und Betreibung verantwortlichen Institution festgelegt. Für die Planung und Einrichtung von Lagern wurden von mehreren Organisationen Handbücher entwickelt, die durch ihre umfangreiche und einfache Beschreibung in Krisensituationen einfach verständliche Handlungsanweisungen geben. Ein oft vielfach eingesetztes Handbuch ist das „UNHCR Handbook for Emergencies“, das sich in seinem 12. Kapitel der Planung von Lagern und Unterkünften widmet. Im Großteil der Fälle werden die UNHCR-Camps von den ArchitektInnen und IngenieurInnen des Hochkommissariats geplant. Diese gehen (was im architektonischen Entwurf sonst nicht üblich ist) in Anbetracht der Umstände von verallgemeinerten Gegebenheiten aus, wie beispielsweise gleiche Bedürfnisse aller NutzerInnen. Die physische Organisation basiert auf einer modularen Anordnung, die vom Grundmodul 'Familie' ausgeht. Dabei soll laut Handbuch mit der Berücksichtigung der Bedürfnisse des einzelnen Haushalts begonnen werden, wie beispielsweise Abstand zum Wasser und zu Latrinen, Beziehung zu anderen Mitgliedern der Gemeinschaft (anderen Verwandten, dem Clan, ethnischen Gruppen) und traditionelle Behausungen und Wohnformen. Die Entwicklung des Gesamtlayouts ausgehend von den Bedürfnissen der Familie als Nukleus soll zu besseren Ergebnissen führen als mit dem großen Entwurf zu beginnen und in kleinere Einheiten zu zerlegen. Aus dem Grundmodul mit 4 bis 6 Personen werden Communities mit 16 Familien gebildet und aus diesen wiederum Lagerblöcke mit 16 Communities, also 1.250 Personen. Ein Lagersektor besteht aus vier Lagerblöcken, was 5.000 Personen entspricht. Das Gesamtlager, das 20.000 Flüchtlinge aufnehmen soll, ist in vier Lagersektoren geteilt. Die Organisation dieser Elemente erfolgt nach einer hierarchischen Ordnung und wird dementsprechend nummeriert.181 Das Lagerraster ist dabei streng geometrisch. Diese Ordnung hat pragmatische Gründe: zum einen erleichtert sie eine 180 Thomas Hoerz, Refugees and host environments: a review of current and related literature, (Oxford 1995) 16 181 Vgl. United Nations High Commissioner for Refugees, Handbook for Emergencies (Genf 2007)
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Überschaubarkeit und Orientierung sowie die effiziente Nutzung der Fläche, zum anderen dient ein geometrisches Arrangement der Handhabung der Menschenmassen und der Kontrolle. Ist Orientierung in intrinsisch gewachsenen Camp-Strukturen durchaus auch möglich (wie Shanty Towns oft eindrucksvoll zeigen), so ist Kontrolle in diesem Fall praktisch nicht durchführbar. Die performative Wirkung geometrischer Anordnung wurde schon bei den Römern eingesetzt: „Die Geometrie römischen Raums disziplinierte die Körperbewegung und erteilte in diesem Sinne den Befehl: 'Sieh und gehorche'.“182 Richard Sennett stellt die Vorliebe für geometrische Prinzipien im alten Rom in „Fleisch und Stein“ ausführlich dar: “Andere Römer verwandten eine ähnliche geometrische Bildsprache bei der Stadtplanung; sie folgten den Regeln der bilateralen Symmetrie und bevorzugten die lineare visuelle Wahrnehmung. So entstand aus dem Lineal des Geometers Ordnung; die Linien von Körpern, Tempeln und Städten schienen die Prinzipien einer wohlgeordneten Gesellschaft zu offenbaren.“183
3.3.4 Das Militärcamp (Control) Eine erste eingehende architekturgeschichtliche Betrachtung erfahren temporäre Bauten mit den antiken Militärlagern. Von dieser Zeit gibt es auch zeitgenössische Aufzeichnungen, wie beispielsweise in „Epitoma rei militaris“ vom römischen Geschichtsschreiber Publius Flavius Vegetius Renatus von etwa 390 vuZ. Von ihm findet sich auch erstmals eine Anleitung zum Bau eines Castrums, das ein wesentliches Element des römischen Heereswesens war. Die Funktion des Castrums war, als Ausgangspunkt für militärische Operationen zu fungieren sowie einen kurzfristigen Standort vor Schlachten zu bieten. Eine große Bedeutung kommt dem römischen Militärlager aufgrund seines wesentlichen Anteils an der Romanisierung zu – zahlreiche Städte in Europa sind aus militärischen Anlagen entstanden, wie beispielsweise Wien, Prag, Barcelona oder Manchester.184 Ein wesentliches Erfolgsmerkmal für seine Verbreitung war der standardisierte Aufbau. 182 Richard Sennett, Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation (Berlin 1997) 144 183 Ibd. 117 184 Hailey, Camps 5
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Vegetius schreibt: „Quibus caute studioseque prouisis, pro necessitate loci uel quadrata uel rotunda uel trigona uel oblonga castra constitues, nec utilitati praeiudicat forma, tamen pulchriora creduntur quibus ultra latitudinis spatium tertia pars longitudinis additur. Ita autem ab agrimensoribus podismum mensurae colligi oportet, ut ad quantitatem concludatur exercitus.“185 – „Nach diesen Vorkehrungen wird das Lager quadratisch, rund, dreieckig oder länglich geformt, je nach der Art des Untergrunds, denn die Form ist nicht unbedingt entscheidend für seine Qualität. Es werden jedoch jene Lager als am besten betrachtet, bei denen die Länge ein Drittel mehr als die Breite ausmacht. Die Abmessungen müssen genau von den Ingenieuren berechnet werden, so dass die Größe des Lagers nach der Zahl der Truppen proportioniert werden kann.“ Der Ursprung des Castrums war das römische Feldlager. Um den Aufbau des Feldlagers aufgrund der großen Anzahl an Beteiligten zu vereinfachen, waren die Abläufe zur Errichtung stark vereinfacht. Es musste immer wieder, teilweise in der Dunkelheit, neu errichtet werden, weshalb die Handgriffe einer einfachen Logik folgen mussten. So war gewährleistet, dass sich die Soldaten jederzeit zurechtfanden. Dieses Aufbaukonzept war wesentlich für den Erfolg der römischen Feldzüge mitverantwortlich. Da es immer nach dem gleichen Schema errichtet und deshalb auf den Untergrund keine Rücksicht genommen wurde, kann man davon ausgehen, dass die Wahl des Geländes dementsprechend erfolgte. Aus dem Marschlager entwickelten sich die festen Garnisonen, die zwar auch normiert waren, jedoch im Rahmen der Grundkonzeption Variationen aufwiesen. Im Laufe der Zeit geriet aber auch die Standardisierung immer mehr in den Hintergrund und war nicht mehr das oberste Prinzip der Grundrissentwicklung. Das Wesen des Lagers bleibt dabei stets dasselbe, wie Hillier und Hanson beobachten: “The army camp model carries information about such matters as social structures and relationships, patterns of organised activity, and even ideological beliefs. If the hide-and-seek model means nothing but itself, the army camp model means a highly structured organisation which will be re-duplicated in other army camps.“ 186 185 Publius Flavius Vegetius Renatus, Alf Önnerfors (Hg.), Epitoma rei militaris (Stuttgart/Leipzig 1995) 128 URL: http://www.thelatinlibrary.com/vegetius3.html (Stand 13.3.2013, 09.00) 186 Vgl. Bill Hillier, Julienne Hanson, The Social Logic of Space (Cambridge 1989) 39
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In „Die Kunst des Krieges“ schreibt der chinesische Militärstratege Sun Tzu (544 – 496 vuZ), dass Krieg keine vorübergehende Anomalie/Aberration ist sondern ein periodisch wiederkehrender bewusster Akt und daher zugänglich für eine rationale Analyse.187 Architektur und Kriegsführung (ursprünglich eher verstanden als Strategie denn als Zerstörung) wurden etwa in der Mitte des 17. Jahrhunderts voneinander getrennt, da Architektur eine „friedliche Disziplin“ wurde.188
Forward Operating Base und Main Operating Base Ein weiteres Beispiel einer weit verbreiteten semipermanenten Struktur ist die sogenannte Forward Operating Base (FOB). Eine FOB ist eine gesicherte vorgeschobene Militärposition, üblicherweise in Form einer Basis, die zur Unterstützung von taktischen Operationen verwendet wird. Eine solche Basis wird üblicherweise von einer sogenannten Main Operating Base (MOB) versorgt, die vom US-Militär als permanent besetzte, gut gesicherte Basis zur Unterstützung abgestellter Kräfte definiert wird, um eine Unterscheidung zu kleineren und nicht permanent bemannten taktischen Einrichtungen zu schaffen. Ein Beispiel einer MOB ist Camp Bastion, eine Militärbasis der britischen Streitkräfte in der Helmand Provinz in Afghanistan. Hier sind 28.000 Menschen aus unterschiedlichen Armeen untergebracht. Allein im Zweiten Golfkrieg hat das US-Militär mehr als 300 semipermanenter Einrichtungen im Irak betrieben.189 Durch die abgeschiedene Lage der FOBs ergeben sich große Herausforderungen für die Logistik. Die Stützpunkte weisen eine beträchtliche Abhängigkeit von Nachschublieferungen über sehr weite Strecken auf. Die Konvoi-Routen führen dabei oft durch unsichere Gebiete. Die Transportkosten sind erheblich – der Preis von Treibstoff und Wasser kann das zehn- bis hundertfache der ursprünglichen Kosten betragen. Aus diesem Grund sind Streitkräfte daran interessiert, die Energieeffizienz dieser Anlagen zu erhöhen und vor allem den Bedarf an Treibstoff und Wasser zu reduzieren.190 187 Vgl. Sun Tzu, Thomas Cleary, The Art of War (Boston 1988) 39 188 Vgl. Paul Hirst, The Defence of Places. Fortification as Architecture, AA files: annals of the Architectural Association School of Architecture, 34 (London 1997). 189 Vgl. List of United States Military installations in Iraq during Operation Iraqi Freedom (OIF) http://readtiger.com/wkp/en/List_of_United_States_Military_installations_in_Iraq_during_Operati on_Iraqi_Freedom_(OIF) (Stand: 19.5.2013, 11.00) 190 Vgl. Office of Naval Research, Marine Corps Save Dollars and Lives with Alternative Energy at Forward Operating Bases URL: http://www.onr.navy.mil/Media-Center/Press-Releases/2011/Forward-Operating-Base-
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Systeme zur Wasseraufbereitung, Dämmung der Unterkünfte, Gewinnung von erneuerbarer Energie sowie energieeffizienter Beleuchtung, Heizung und Kühlung sollen vermehrt zum Einsatz kommen. Der Großteil solcher militärischer Anlagen, wie sie von Streitkräften weltweit unter verschiedenen Bezeichnungen eingesetzt werden, besteht aus zu diesem Zweck entwickelten Zeltsystemen, die sich durch Belastbarkeit und einfachen Auf- und Abbau auszeichnen.
3.3.5 Die Zeltstadt (Autonomy/Control) Zeltstädte sind temporäre Anlagen zur Unterbringung, die aus Zelten oder ähnlichen temporären Strukturen bestehen. Regierungen, Streitkräfte oder NGOs richten Zeltstädte ein, um Flüchtlinge, Evakuierte oder SoldatInnen zu beherbergen. Informelle Zeltstädte werden ohne Genehmigung von Obdachlosen oder DemonstrantInnen errichtet. Das Phänomen der Obdachlosen-Zeltstädte tritt vor allem seit Beginn der Finanzkrise 2008 vermehrt auf, in den USA 191 sind seitdem etliche neue tent cities entstanden.192 Aber auch zu religiösen Zwecken finden Zeltstädte Anwendung, als Beispiel sei hier Mina, ein Nachbarort von Mekka, genannt, wo sich jährlich an die vier Millionen Hajj-PilgerInnen in klimatisierten Zelten zu je 20 bis 40 Menschen einfinden. Mit Zeltstädten im militärischen Bereich sind im wesentlichen temporäre Wohnquartiere auf eingerichteten (transitorischen) Militärbasen gemeint. Abhängig von der Dauer und der Art des Einsatzes werden solche Einrichtungen unterschiedlich ausgestattet. Aufgrund der Brennbarkeit der Zelte wird auf den Brandschutz üblicherweise besondere Rücksicht genommen, weshalb auch beispielsweise Zeltcluster von acht bis zehn Zelten gebildet werden. Aus Hygienegründen sind Sanitäranlagen wie WCs, Duschen und Waschplätze üblicherweise mindestens 15 Meter von den Wohnbereichen entfernt. So ergeben sich Bedingungen für die Anordnung, die sich bei vielen solcher Einrichtungen gleichen.
Marine.aspx (Stand: 19.5.2013, 11.00) 191 Vgl. National Coalition for the Homeless, Tent Cities in America. A Pacific Coast Report (Washington 2010) 192 Vgl. BBC News, Tent city highlights US homes crisis (14.3.2008) URL: http://news.bbc.co.uk/2/hi/americas/7297093.stm (Stand: 20.5.2013, 14.00)
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Ein weiteres prominentes Einsatzgebiet haben Zeltstädte mit den jüngsten Protestbewegungen gefunden. Ausgehend von den Protesten in Nordafrika hat diese Form des Ausdrucks allgemeiner Unzufriedenheit weltweit Verbreitung gefunden. Die aus der Berichterstattung bekanntesten Protestlager befanden sich im New Yorker Zucotti Park von Occupy Wall Street, am Madrider Puerta del Sol der spanischen Protestbewegungen der Indignados (aka Movimiento 15-M) und am Athener Syntagma Platz. Die Occupy-Camps am Berliner Alexanderplatz und in Frankfurt vor dem Gebäude der Europäischen Zentralbank193 sind weitere Beispiele, die allerdings relativ schnell wieder geräumt wurden. 194 Das Besondere bei Protestlagern ist ihr dialektischer Formungsprozess. Ihr Arrangement entsteht aus dem Spiel der Kräfte von AktivistInnen und Behörden – die städtische Verwaltung reagiert auf Handlungen zum Aufbau der Camps mit Verboten, die wiederum durch erfinderische Maßnahmen von den BesetzerInnen umgangen werden, wie Peter Mörtenböck und Helge Mooshammer analysieren: „Aus diesem Dialog von Maßnahmen und Gegenmaßnahmen heraus entwickelte sich eine spezielle Architektur des Widerstands, mit der die Grenzlinien er Konfrontation laufend ausgemacht und ihre Rahmensetzungen räumlich nachmodelliert wurden.“195 Mit der zunehmenden Anzahl von Anhaltelagern und zones d'attente entsteht auch ein Netzwerk an Protestcamps, um deren extralegale Existenz zu hinterfragen.196 Weitere erwähnenswerte Beispiele von Zeltstädten sind Flüchtlingszeltlager in europäischen Hauptstädten wie Berlin197198 (Refugee Tent Action199) und Wien200.
193 Vgl. Felix Dachsel, Jannis Hagmann, Mit Zelt für eine bessere Welt (22.10.2011) URL: http://www.taz.de/t172/Occupy-am-Samstag/!80430/ (Stand: 20.5.2013, 14.00) 194 Vgl. Polizei räumt Occupy-Camp in Frankfurt (6.8.2012) URL: http://www.zeit.de/politik/deutschland/2012-08/occupy-frankfurt-raeumung (Stand: 20.5.2013, 14.00) 195 Peter Mörtenböck, Helge Mooshammer, Occupy. Räume des Protests (Bielefeld 2012) 56 196 Vgl. Hailey, Camps 8 197 Vgl. Marcus Steiger, Wie Flüchtlinge mitten in Berlin in einem Zeltcamp hausen, und keinen interessiert's, in: Vice (2013) URL: http://www.vice.com/alps/read/lagerkoller-0000475-v9n4?Contentpage=-1 198 Vgl. Charlotte Langenkamp, Mutiger Tanz in deutscher Kälte, in: die tageszeitung (Berlin 2013) URL: http://www.taz.de/!113416/ 199 Vgl. Refugee Tent Action, URL: http://www.refugeetentaction.net 200 Vgl. Refugee Camp Vienna, URL: http://refugeecampvienna.noblogs.org
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4 Kontingenz Dieses Kapitel widmet sich dem Möglichkeitshorizont, der bei der Konzipierung von mobilen und/oder temporären Strukturen in Betracht gezogen werden muss. den Formen von mobiler und/oder temporärer Architektur, die mit Bewegung verbunden sind, die aus Krisensituationen entsteht. Es soll dabei der Frage nachgegangen werden, welche Überlegungen der Konzipierung solcher Architekturen zugrunde liegen. Die Rolle der in der humanitären Hilfe tätigen Organisationen auf die Entwicklung architektonischer Lösungen ist hier von entscheidender Bedeutung. In Krisenfällen eingesetzte Streitkräfte, Regierungsoder Nichtregierungsorganisationen verfügen über weitreichende Entscheidungskompetenz. Die Qualität der Entscheidungsfindung hat Auswirkungen auf eine erhebliche Anzahl von Menschen. Und sehr oft geht es dabei nicht um einen überschaubaren Zeitraum, sondern um einen völlig offenen Zeithorizont.
4.1 Anforderungen und Bedürfnisse Um sich dem Wesen von Strukturen zu nähern, die außerhalb des konventionellen Rahmens als Behausung dienen, ist es sinnvoll, sich mit ein paar grundlegenden Fragen zu menschlichen Bedürfnissen in Bezug auf Raum auseinanderzusetzen, um Unterkünfte auf ihre Zweckmäßigkeit hin untersuchen zu können. 4.1.1 Grundbedürfnisse Leichter als der Frage nach der Bewohnbarkeit kann man sich den grundlegenden Anforderungen an den Raum in Bezug auf menschliche Grundbedürfnisse nähern. Häuplik-Meusburger identifiziert bei der Untersuchung von habitablen Räumen für den Einsatz im Weltraum die fünf Grundaktivitäten Schlafen, Hygiene, Essen, Arbeiten und Freizeit (Erholung), die sie in Bezug zu den architektonischen Kategorien Benutzbarkeit, Bewohnbarkeit und Flexibilität setzt.201 Im Grunde sind dabei die drei Faktoren Gesundheit, Sicherheit und
Wohlbefinden von
201 Vgl. Sandra Häuplik-Meusburger, Architecture for Astronauts (Wien 2011) 8
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entscheidender Bedeutung. „The principal function of any habitat is to provide living and working environment for humans – as best as circumstances allow. Basic human requirements don't change in different environments. A human must sleep, go to the toilet, eat and be active in some way.“202 Maslow führt in seiner berühmten Hierarchy of Needs folgende physiologischen Bedürfnisse an: Atmung, Nahrung, Wasser, Sex, Schlaf, Homöostase, Exkretion.203 Diese werden gefolgt von den Bedürfnissen nach Sicherheit von Körper, Arbeit, Ressourcen, Moral, Familie, Gesundheit, Besitz (eine vollständige Ausführung dieser Theorie weiterführend in Abraham Maslow, Motivation and Personality. New York 1954).
4.1.2 Funktionen Ein wesentliches Merkmal von semipermanenten Strukturen ist ihre Fähigkeit, in ihrer Reduziertheit prinzipielle Anforderungen an ein Gebäude zu erfüllen und grundlegende menschliche Bedürfnisse zu decken. Eine genauere Betrachtung der elementaren/fundamentalen Funktion(en) eines Gebäudes wurde bereits vielfach durchgeführt. In der Psychologie ist der Begriff „Funktion“ definiert als „Fähigkeit/Befähigung“ oder „Leistung/Stärke“. Das Wörterbuch erweitert diese Definition noch durch die Ergänzung „mode of action“ oder „special kind of activity“204. De Bruijn, einer der Gründer der Functional Analysis, unterscheidet nach Zeeman beispielsweise vier verschiedene Funktionen205: die Schutzfunktion, territoriale Funktion, soziale Funktion und kulturelle Funktion. Auch Hillier und Leaman identifizieren vier
Hauptfunktionen, kategorisieren sie jedoch
folgendermaßen: die räumliche Organisation von Nutzungen, die Klimaregulierung, die symbolische Funktion und die ökonomische Funktion.206 Weitere Autoren teilen die Funktionalität in primäre und sekundäre Funktionalität ein, die (im wesentlichen mit oben genannten Kategorien korrespondierenden) sich auf den Nutzwert bzw. die Effektivität (primär) und die semantische (evtl. auch ästhetische) Funktion (sekundär) eines Gebäudes beziehen. 202 Häuplik-Meusburger, Architecture for Astronauts (Wien 2011) 6 203 Vgl. Abraham H. Maslow, A theory of human motivation, in: Psychological Review 50(4) (Washington 1943), 370–396 204 John Simpson, Edmund Weiner (Hg.), Oxford English Dictionary (Oxford 1989) 205 Vgl. Theo van der Voordt, Herman van Wegen, Architecture In Use (Oxford 2005) 2 206 Vgl. Bill Hillier, Adrian Leaman, in: Theo van der Voordt, Herman van Wegen, Architecture In Use (Oxford 2005) 2
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Die funktionale Qualität kann definiert werden mit der Zweckmäßigkeit, also mit der Fähigkeit, einen der Funktion entsprechenden Zweck zu erfüllen.207 Zweckmäßigkeit/Nutzbarkeit ist ein architektonisches Prinzip, das schon Vitruv (80-15 vuZ) in seinen Zehn Büchern als eine der drei Qualitäten firmitas, utilitas und venustas der Architektur zugeschrieben hat.208
4.1.3 Habitabilität Die Bewohnbarkeit eines Objekts hat in der Forschung schon viel Aufmerksamkeit gefunden, besonders bei der Ergründung der wesentlichen Merkmale eines bewohnbaren Raumes in extremen Umgebungen, wie bei Polar-Expeditionen, in der Wüste oder im Weltraum. Vor allem hier, wo die Umwelt nicht Teil des Gebäudes ist und die Struktur vollkommen unabhängig vom umgebenden Raum funktionieren muss, ist die Frage nach der Habitabilität von besonderer Bedeutung. Albert Harrison kommt in „Spacefaring: The Human Dimension“ zum Schluss, dass es nicht die eine Habitabilität gibt sondern durch die Umstände bestimmt wird. Bei der Beschäftigung mit wichtigen oder aufregenden Tätigkeiten kann ein bestimmter Raum beispielsweise bewohnbarer erscheinen.209 Es gilt also nicht nur nach der Umgebung zu fragen, sondern auch nach den BewohnerInnen, den Umständen und der allgemeinen Situation. In „Architecture for Astronauts“ versteht Sandra Häuplik-Meusburger Habitabilität als die Eignung eines gebauten Habitats für seine BewohnerInnen in einer bestimmten Umgebung und für einen bestimmten Zeitraum.210 Sie verweist dabei auf eine Definition in Jack Stuster's „Bold Endeavors“, in dem dieser mithilfe mehrerer Autoren dem Begriff der Habitabilität näherkommen will, und bestimmt ihn als die Summe von physischen, physiologischen, psychischen und sozialen Interaktionen zwischen Operatoren und Umwelt.211 Eine weitere Definition führt sie von James Wise an 212: die räumliche Bewohnbarkeit bezieht sich auf die Weise, wie Volumen und Geometrie 207 Vgl. Theo van der Voordt, Herman van Wegen, Architecture In Use (Oxford 2005) 3 208 Marcus Vitruvius Pollio, De architectura libri decem 209 Vgl. Albert A. Harrison, Spacefaring: The Human Dimension (Berkeley 2001) 82 210 Vgl. Sandra Häuplik-Meusburger, Architecture for Astronauts (Wien 2011) 3 211 Vgl. Jack W. Stuster, Bold Endeavors: Lessons from Polar and Space Exploration (Annapolis 1996) 40 212 Vgl. James Wise et al., The Quantitative Modelling of Human Spatial Habitability. NASA Contractor Report 177501 (Moffett Field 1988)
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eines Raumes menschliches Wohlbefinden, Verhalten und Leistung beeinflussen. Die Qualität der Bewohnbarkeit scheint allerdings nicht objektiv feststellbar zu sein, hier kommen der Situation entsprechende Anforderungen und Erwartungen zum Tragen.
4.2 Humanitäre Hilfe Unter humanitärer Hilfe versteht man üblicherweise die materielle und/oder logistische Assistenz bei einer humanitären Krisen wie Naturkatastrophen oder anthropogenen Desastern. Die vordergründigen Aufgaben der humanitären Hilfe sind Leben zu retten, Überleben zu sichern, Leid zu mindern und die menschliche Würde zu bewahren. Von entscheidender Bedeutung sind dabei die Hilfskräfte („people are central to the achievement of our mission“).213 Bei der Planung und Durchführung ist auf eine Vielzahl von Faktoren zu achten, wie beispielsweise Kommunikation, Unterstützung, Gesundheit, Entwicklung, aber natürlich auch die Sicherheit der HelferInnen, die immer mehr zum Thema wird. 214 Die Zahl der humanitären Hilfskräfte hat (bei steigendem Trend) im Jahr 2008 ca. 210.800 betragen, wovon etwa 50% von NGOs kommen, 25% vom Roten Kreuz und dem Roten Halbmond und 25% von den Vereinten Nationen.215 Die Summe der finanziellen Mittel betrug 2008 etwa 7 Milliarden US-Dollar. Das Sphere Project, ein Zusammenschluss mehrerer im Krisenmanagement tätigen NGOs, führt in der „Humanitarian Charter“216 folgende drei Grundprinzipien des humanitären Einsatzes an: das Recht auf würdevolles Leben, die Unterscheidung von Kombattanten und Nicht-Kombattanten und das Non-refoulement-Prinzip, das laut Artikel 33 der Genfer Flüchtlingskonvention das Verbot darstellt, einen Flüchtling "auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten auszuweisen oder zurückzuweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, 213 People in Aid, Code for Good Practice in the management and support of aid personnel (London 2003) 214 Vgl. Abby Stodard et al., Providing aid in insecure environments. Trends in violence against aid workers and the operational response (London 2009) 2 215 Vgl. Paul Harvey et al., The State of the Humanitarian System. Assessing performance and progress (ALNAP) (London 2010) 18 216 Vgl. The Sphere Project, Humanitarian Charter (Oxford 2004)
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Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde."217 Als ersten organisierten humanitären Einsatz kann man wahrscheinlich Henry Dunants Hilfeleistung in der Schlacht von Solferino im Juni 1859 nennen. Vier Jahre später gründete Dunant das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, die einzige Organisation, die im Völkerrecht erfasst ist und auch als dessen Kontrollorgan wirkt. Das Internationale Rote Kreuz spielt neben den Vereinten Nationen und mehr als 250 anderen humanitären Organisationen und multinationale Föderationen eine wesentliche Rolle bei humanitären Hilfseinsätzen weltweit. Über die Bedeutung der Vereinten Nationen und der NGOs in einer globalisierten Welt schreibt Paul Hirst: „[...] politics becomes redefined as a cosmopolitan planetary system based on supra-national entities like the UN, and orchestrated by new global political forces such as NGOs. In the first case, politics is an irrelevance: it just gets in the way of more efficient, trans-territorial forms of social organization and resources allocation. In the second case, it becomes a cosmopolis, a world political community, but one which must rely, if it is in fact possible at all, on political processes quite different from those of the nationstate.“218 Die Gruppe der sechs größten internationalen Organisationen bzw. Föderationen (CARE, Catholic Relief Services CRS, Médecins Sans Frontières MSF, Oxfam, Save the Children und World Vision International) hat 2008 zusammen geschätzte 4 Milliarden US-Dollar ausgegeben, wovon 1,7 Mrd. direkt der humanitären Hilfe zugewiesen waren.219
4.2.1 Flüchtlinge Als Flüchtling wird laut Genfer Flüchtlingskonvention eine Person definiert, die sich außerhalb ihres Herkunftslandes befindet und nicht dorthin zurückkehren oder von seinem Schutz nicht Gebrauch machen kann oder will, weil 1. eine begründete Furcht besteht, aufgrund von Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Meinung verfolgt zu werden oder 2. 217 UNO, Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951, Artikel 33 (Genf 1951) 218 Paul Hirst, Space and Power. Politics, War and Architecture (Cambridge 2005) 27 219 Vgl. Paul Harvey et al., The State of the Humanitarian System. Assessing performance and progress (ALNAP) (London 2010) 18
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eine Bedrohung für Leben oder Sicherheit aufgrund eines bewaffneten Konflikts oder anderen Formen von Gewalt besteht.220 Die Genfer Flüchtlingskonvention, die von 145 Staaten ratifiziert wurde, ist die Rechtsgrundlage für das Amt des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (United Nations High Commissioner for Refugees, UNHCR). Bestimmte Personen fallen nicht in die Kompetenz des Hohen Kommissars und sind vom Schutz ausgeschlossen. Dies sind Personen, bei denen schwerwiegende Gründe zur Annahme bestehen, dass sie ein Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen (z.B. Folter oder Hinrichtung von Gefangenen), Verbrechen gegen die Menschlichkeit (z.B. Völkermord), schwere nicht politische Verbrechen (z.B. Mord oder Vergewaltigung) außerhalb des Zufluchtslandes verübt haben, oder im Widerspruch zum Sinn von Zuflucht handeln, oder dass sie sich etwaiger Handlungen im Gegensatz zu den Grundsätzen der Vereinten Nationen schuldig gemacht haben. „By end 2010, there were 43.7 million forcibly displaced people worldwide, the highest number in 15 years. Of these, 15.4 million were refugees: 10.55 million under UNHCR’s mandate and 4.82 million Palestinian refugees registered with UNRWA. The overall figure also includes 837,500 asylum-seekers and 27.5 million internally displaced persons (IDPs).“221 Vier Fünftel der etwa 15 (2010) Millionen Flüchtlinge weltweit finden Zuflucht in sogenannten Entwicklungsländern. Tatsächlich flieht ein Großteil Hilfesuchender in ein benachbartes Land mit der Hoffnung auf eine baldige Heimkehr. 2011 hat Pakistan mit 1,7 Millionen die größte Anzahl an Flüchtlingen aufgenommen, gefolgt vom Iran und von Syrien. Auf das subsaharische Afrika entfällt rund ein Viertel aller Flüchtlinge, auf die Europäische Union etwa 15% und nur 5000 der jährlich vom UNHCR umgesiedelten. Die Zahl der Asylanträge ist in Europa von 680.000 im Jahr 1992 auf 301.000 im Jahr 2011 gesunken.222
220 Vgl. UNO Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genf 1951) 2 221 Vgl. United Nations High Commissioner for Refugees, Global Trends 2011 (Genf 2012) 222 Vgl. United Nations High Commissioner for Refugees, Asylum Trends 2012. Levels and Trends in Industrialized Countries (Genf 2013)
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4.2.2 IDPs Komplizierter verhält es sich mit Binnenflüchtlingen. Sogenannte Internally Displaced Persons (IDPs) wurden gewaltsam aus ihrer Heimat vertrieben, haben allerdings keine Staatsgrenze überschritten und sind somit keine Flüchtlinge im juristischen Sinn. Der Begriff ist rechtlich nicht klar definiert, der Status intern Vertriebener findet keine völkerrechtliche Regelung. Es gibt keine internationale Konvention zu ihrem Schutz und auch keine Organisation mit einem klaren Mandat zu ihrem Schutz, wie dies beim UNHCR für Flüchtlinge der Fall ist. Der UN-Report Guiding Principles on Internal Displacement greift auf folgende Definition von IDPs zurück: „Internally displaced persons (also known as DPRE in many civil and military organizations which assist) are persons or groups of persons who have been forced or obliged to flee or to leave their homes or places of habitual residence, in particular as a result of or in order to avoid the effects of armed conflict, situations of generalized violence, violations of human rights or natural or human-made disasters, and who have not crossed an internationally recognized State border.“223 Laut Internal Displacement Monitoring Centre (IDMC) in Genf lag die Zahl von Binnenflüchtlingen im Jahr 2007 bei 26 Millionen, der UNHCR spricht 2010 von 27,5 Millionen224, neuere Zahlen liegen bei 28,8 Millionen (Ende 2012)225, was fast das Doppelte der Zahl der Flüchtlinge ausmacht. Bis auf geringfügige Rückgänge in Südasien (-5,5%) sind diese Zahlen weiterhin im Steigen begriffen, was auch zu einer entsprechenden medialen Auseinandersetzung führt: „An estimated 32.4 million people around the world were forced from their homes by disasters last year – 98% of them weatherrelated – according to data just released by the Norwegian Refugee Council“, schreibt das Time Magazin im Mai 2013 mit dem Hinweis, dass sich die Zahl zum Vorjahr fast verdoppelt hat.226
223 United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs, Guiding Principles on Internal Displacement (New York 1998) 224 Vgl. United Nations High Commissioner for Refugees, Global Trends 2011 (Genf 2012) 225 Vgl. International Displacement Monitor Center, Global Overview 2012. People discplaced by conflict and violence (Genf 2013) 8 226 Andrew Katz, A Humanitarian Catastrophe in Time Magazin Online URL: http://world.time.com/2013/05/12/natural-disaster-data/ (Stand: 5.5.2013, 13.00)
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In der öffentlichen Debatte ist die Unterscheidung zwischen Flüchtlingen und anderen Menschen, die sich in Bewegung befinden, oft verschwommen. Es ist allerdings wichtig zu erwähnen, dass Flüchtlinge einen eindeutigen rechtlichen Status haben. Flüchtlinge sind aufgrund lebensbedrohlicher Situationen gezwungen, ihr Land zu verlassen und unterstehen daher einem besonderen internationalen Schutz, während beispielsweise unter der Bezeichnung MigrantIn auch Menschen zusammengefasst werden, die aus eigenem Willen ihre Heimat verlassen, auch wenn dies sehr oft aus Gründen geschieht, die an einer Wahlmöglichkeit zweifeln lässt.
4.3 Humanitäre Anlagen Mit einer Anzahl von mehr als 40 Millionen BewohnerInnen227, die als Flüchtlinge oder IDPs (Internally Displaced Persons) gelten, ist die Typologie des humanitären Camps die am weitesten verbreitete unter den semipermanenten Strukturen. Aus diesem Grund werden solcherart Camps im folgenden einer genaueren Betrachtung unterzogen. Ihren Ursprung führt Liisa Malkki auf die DP-Lager (Displaced Persons Camps) nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zurück228, wo aus ihren Herkunftsländern vertriebene ZivilistInnen von den Allierten bis zur Repatriierung untergebracht wurden. Diese Lager wurden meist in ehemaligen militärischen Anlagen eingerichtet – die Entstehung solcher Camps ist demnach direkt mit der Typologie des Militärcamps verbunden. Camps für humanitäre Zwecke weisen vom Prinzip her auch große Ähnlichkeiten in der Konzipierung (modulares Arrangement), Herstellung (ähnliche Bauweise) und Organisation (ähnliche Struktur und Ordnung) auf. Für das Verständnis von gegenwärtigen Flüchtlingsregimes ist es von Bedeutung, dass die Ursprünge in einem europäischen Kontext liegen. „The Allied military who were initially in charge saw
227 United Nations High Commissioner for Refugees, Statistical Yearbook 2011. Trends in Displacement, Protection and Solutions (Genf 2012) 21 228 Vgl. Liisa H. Malkki, Refugees and Exile: From "Refugee Studies" to the National Order of Things in: Annual Review of Anthropology Ausgabe 24 (Palo Alto 1995) 495-523
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the care and control of mass displacement as ‘a problem of organization’. The orderly segregation of nationalities was an important part of this. This categorical logic is still operative in most refugee camps today.“229 Es ist zu beachten, dass in der Standard-Literatur die Begriffe Camps und Siedlungen tendenziell synonym verwendet werden: „The catalogue of the Refugee Studies Programme in Oxford, for instance, distinguishes between ‘organized settlements’, which include closed camps; ‘camps’, which include settlement literature; and ‘assisted self-settlements’. Far from revealing inaccuracy on the part of the author, librarian, or practitioner, such definitions indicate how effectively blurred are the distinctions between these groups.“230 Eine Reihe von internationalen NGOs hat Handlungsanleitungen für Kriseneinsätze entwickelt, um sich im humanitären Notfall orientieren und handeln zu können. Diese beinhalten auch eine eingehende Auseinandersetzung mit der Konzipierung und Umsetzung von verschiedenen Flüchtlingssiedlungen. Die wohl am meisten verwendeten sind das „UN Handbook for Emergencies“ vom Hochkommissariat der Vereinten Nationen und „Humanitarian Charter and Mininum Standards in Disaster Response“ vom Sphere Project. Als Komplettierung sind das „Camp Management Toolkit“ vom Norwegian Refugee Council sowie „Transitional Settlement – Displaced Population“ von Oxfam als Anleitungen im Feld verfügbar. In diesen Handbüchern wird grundsätzlich davon ausgegangen, dass die natürliche Konsequenz aus der Gewährung von Asyl ist, einen Platz zum Leben zu Verfügung zu stellen. Die Anleitungen sollen dabei helfen, diesem Anspruch gerecht zu werden. Da Anordnung, Infrastruktur und Unterkünfte eines NotfallLagers einen großen Einfluss auf die Sicherheit und das Wohlergehen von schutzsuchenden Menschen haben, wird eine Koordinierung mit anderen wichtigen Bereichen der Humanitären Hilfe, wie beispielsweise Gesundheit, Bildung, Ernährung, Wasserver- und Entsorgung, Umweltschutz, Vertrieb, Logistik 229 Liisa H. Malkki, News from nowhere. Mass displacement and globalized 'problems of organization' in: Ethnography Ausgabe 3, Nr. 3 (London 2002) 352 230 Anna Schmidt, Camps versus Settlements, Forced Migration Online Thematic Guide (Oxford 2003) 2
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etc., angeraten. Die meisten Flüchtlingsoperationen dauern weitaus länger als ursprünglich angenommen, weshalb auf die Planung einer kostengünstigen und nachhaltigen Infrastruktur verwiesen wird. Die Wahl des Standorts, die Planung (der Siedlung) sowie die gesamte Durchführung der Flüchtlingsoperation wird von der erwarteten Lebensdauer der Siedlung beeinflusst. Die Flüchtlinge sollten laut Handbook, auch darin sind alle NGOs ähnlicher Auffassung, so früh wie möglich miteinbezogen werden, idealerweise sollte die Lage, Größe und die Anordnung der Anlage von den Bedürfnissen den Flüchtlinge bestimmt sein. In der Praxis sollte sich ein Kompromiss aus ihren Bedürfnissen und den externen Faktoren (politische und praktische) ergeben. Einer sorgsamen Auswahl des Standorts, guter Planung sowie angemessene Unterkünfte kommt größte Bedeutung zu, da dadurch Leben gerettet werden, die Notwendigkeit nachträglicher und oft schwieriger Korrekturen minimiert wird, die Zurverfügungstellung von Versorgungsmitteln und Infrastruktur einfacher und kostengünstiger wird, Land und Ressourcen besser genutzt werden und nicht zuletzt, um Kosten zu reduzieren. Das UNHCR unterscheidet prinzipiell zwischen drei Kategorien von Flüchtlingssiedlungen: Streusiedlungen, Massenunterkünfte und Camps. Wesentliches Merkmal bei letzterem Typ von Siedlung ist, dass es sich um speziell zur Aufnahme von Flüchtlingen errichtete Orte handelt, an denen üblicherweise ausschließlich für deren BewohnerInnen eine Reihe grundlegender Versorgungseinrichtungen zur Verfügung steht. Die Vorteile dieser konzentrierten Art von Siedlung sind zum einen, dass die Versorgung einer großen Anzahl von Menschen auf zentralisiertem und effizientem Weg erfolgen kann, dass sich aufgrund der Größe bei der Bereitstellung von Dienstleistungen und Gütern wirtschaftliche Vorteile gegenüber Streusiedlungen ergeben können, dass die Flüchtlinge leichter erkannt werden können, um mit ihnen zu kommunizieren, und dass eine freiwillige Rückführung leichter organisiert werden kann. Als Nachteil kann angeführt werden, dass die Gesundheitsrisiken mit der Bevölkerungsdichte steigt, dass es zu Umweltschäden in der unmittelbaren Umgebung kommen kann, dass die Gewährleistung von Schutz bei größeren Bevölkerungskonzentrationen schwieriger ist (besonders in der Nähe von internationalen Grenzen) und dass große Lager bewaffneten Gruppen als Versteck oder Stützpunkt dienen können, 72
die von der Flüchtlingsanerkennung ausgeschlossen werden sollten, deren Unterscheidung von der normalen Flüchtlingspopulation aber schwierig sein kann, wodurch sie von der humanitären Unterstützung profitieren. Obwohl hochdichte Lager mit großen Populationen die denkbar schlechteste Option sind, kann es aufgrund der Entscheidung des Gastgeberlandes oder einfach aus Mangel an Alternativen hin und wieder die einzige Wahl sein. Vor allem in Gebieten mit wenig oder gar keiner brauchbaren Infrastruktur oder wenn die Masse der Flüchtlinge so groß ist, dass es zu einer erheblichen Belastung für die örtlichen Ressourcen kommen würde, falls eine der beiden anderen Arten von Siedlung zur Anwendung kommen würde, sind höhere Dichten unumgänglich.231 In den vom UNHCR und anderen in der Krisenhilfe tätigen Organisationen erarbeiteten Handbüchern werden grundlegende Kriterien erläutert, die zu einer erfolgreichen Einrichtung eines Camps führen sollen. So wird beispielsweise die Wahl des Standorts als ein zentrales Kriterium angeführt. Diese wiederum ist von unterschiedlichsten Faktoren abhängig. Wenn ein Standort offensichtlich ungeeignet ist, sollte alles unternommen werden, um die Flüchtlinge an einen besseren Ort zu bringen – sowohl die Probleme, die ein schlechter Standort mit sich bringen kann als auch die Schwierigkeiten einer späteren Bewegung der Menschen können sich mit der Zeit vergrößern. Der soziale und kulturelle Hintergrund der Flüchtlinge muss eine vorrangige Erwägung sein und ist eine wichtige Determinante für die am besten geeignete Art von Standort und Unterkunft. In vielen Fällen ist die Wahl jedoch eingeschränkt und verfügbares (selbst minimale Standards erfüllendes) Land knapp. Die AutorInnen der Handbücher raten für unbewohnte Lagen oder Bereiche, in denen Flüchtlingssiedlungen vorgeschlagen werden, festzustellen, warum diese Stelle nicht bereits genutzt wird, und zu überprüfen, ob es einen Grund gibt (kein Wasser oder weil es zu Überschwemmungen in der Monsunzeit kommt), der nicht auch die Nutzung durch Flüchtlinge ausschließt.232 231 Vgl. United Nations High Commissioner for Refugees, Handbook for Emergencies (Genf 2007) 137 232 Ibd.
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Die Verfügbarkeit einer ausreichenden Menge an Wasser über das ganze Jahr hat sich in der Praxis als wichtigstes (und üblicherweise auch als problematischstes) Kriterium herausgestellt.233 Eine grundlegende Voraussetzung bei der Wahl des Standorts ist deshalb die Beurteilung der Wasserverfügbarkeit durch SpezialistInnen, da nicht einfach davon ausgegangen werden kann, dass sich durch Graben oder Bohren Wasser fördern lässt. Es kann beispielsweise vorkommen, dass eine mechanische Einwirkung auf den Boden nicht möglich ist oder dadurch nicht die ausreichende Wassermenge (oder -qualität) geliefert werden kann. Auch die Entwässerung ist ein entscheidendes Kriterium, weshalb der gesamte Standort oberhalb von hochwassergefährdeten Gebieten angeordnet sein sollte, vorzugsweise auf leichten (2 bis 4%) Steigungen. Hänge mit mehr als 10% Steigung erfordern in der Regel komplexe und kostspielige Vorbereitungen und bei flachen Lagen ergeben sich große Probleme für die Abführung von Regen- und Abwasser. Bereiche, die während der Regenzeit sumpfig oder wassergesättigt werden können, sollten generell gemieden werden. Die schnelle Aufnahme von Oberflächenwasser ist für den Bau und die Wirksamkeit von Latrinen von Bedeutung. Deshalb sollte der Untergrund eine gute Infiltration aufweisen, also eine Wasseraufnahme durch den Boden bei gleichzeitiger Beibehaltung von festem Abfall in der Latrine. Wo die Trinkwasserversorgung aus Grundwasserquellen bezogen wird, muss besonderes Augenmerk auf der Verhinderung einer Kontamination durch Latrinen gelegt werden. Die Latrinengruben dürfen nicht in das Grundwasser reichen und der Grundwasserspiegel sollte mindestens 3 m unter der Oberfläche liegen.234 Die genannten Handbücher weisen eine umfassende Betrachtung aller wesentlichen Aspekte auf. Neben den beispielhaft angeführten bautechnischen Überlegungen wird auch auf die Bedeutung des Wohlergehens der BewohnerInnen hingewiesen. Die Implementierung unterschiedlicher Maßnahmen 233 Ibd. 234 Ibd.
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in die Konzipierung soll sicherstellen, dass nicht nur die Grundbedürfnisse berücksichtigt werden. In diesem Zusammenhang gilt es die Rolle von ArchitektInnen zu definieren. Eine Verknüpfung der sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse im Umgang mit Menschen in Ausnahmesituationen mit der technischen Durchführung der Planung ihrer Unterkunft und räumlichen Umgebung kann hier zu einem grundsätzlichen Tätigkeitsfeld von ArchitektInnen werden.
4.4 Shelter In der Literatur zu humanitärer Hilfe finden sich unterschiedliche Konzepte von Unterkünften. Shelter sind mehr als nur ein Dach über dem Kopf. Sie sind ein Mittel, um Gesundheit, Sicherheit, Privatheit und Würde der BewohnerInnen sicherzustellen. In ihrer Publikation „Transitional Settlement: Displaced Populations“ der internationalen Organisation Oxfam definieren die AutorInnen Tom Corsellis und Antonella Vitale Shelter als „habitable covered living space, providing a secure, healthy, living environment with privacy and dignity to the groups, families and individuals residing within it.“235 Shelter müssen zumindest Schutz vor dem Wetter, Raum zu leben und Habseligkeiten aufzubewahren und emotionale Sicherheit bieten. Zu einem Shelter gehören außerdem sogenannte non-food items (NFI) wie Kleidung, Decken, Matratzen, Öfen, Brennstoff und Zugang zu Wasser und Sanitäranlagen. Unterkünfte gehören zu den zentralen Determinanten der Lebensbedingungen und machen in vielen Fällen den größten Teil der einmaligen Ausgaben aus. Der grundsätzliche Bedarf von Unterkunft ist zwar in den meisten Krisensituationen der gleiche. Die Erwägungen bezüglich der Art der Unterkunft, des Materials, des Entwurfs, der Herstellung und der Dauer des Einsatzes ist allerdings von Situation zu Situation unterschiedlich.
235 Tom Corsellis, Antonella Vitale (Hg.), Transitional settlement – displaced populations, (Cambridge 2005) 411
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Es gibt mehrere verschiedene Typen von Unterkunft, die üblicherweise zum Einsatz kommen. Aber egal, ob vorgefertigte, standardisierte Systeme, Zelte oder speziell entwickelte Notfalleinheiten zum Tragen kommen, keine davon bildet die perfekte Variante für alle auftretenden Anforderungen.236 Hohe Kosten, Transportschwierigkeiten, Inflexibilität, Dauer bis zur Lieferung sind Nachteile von vorgefertigten Einheiten gegenüber Zelten. Zelte wiederum weisen eine geringe bis keine Dämmung auf und sind wesentlich ungemütlicher. Zelte können aber nützlich sein, wenn es sich bei den BewohnerInnen um Flüchtlinge nomadischen Ursprungs handelt oder wenn keine Materialien zum Unterkunftsbau zur Verfügung stehen. Beim Einsatz von Zelten ist jedenfalls auf die Bereitstellung von Reparaturmaterial zu achten. Ebenso wie für die Lagerplanung gibt es mehrere einschlägige Handbücher zur Planung und Konstruktion von Unterkünften in Krisensituationen, die alle wesentlichen Bereiche der Konzipierung und Ausführung berücksichtigen. Um einen integralen Zugang zu gewährleisten, muss die Planung der Unterkünfte mit den anderen Planungsbereichen, wie Wasser, Sanitäranlagen und Hygiene (Akronym WASH), Gesundheit, Lebensunterhalt, Schutz und grundlegende Lagerinfrastruktur, in Verbindung stehen.237 Die Anforderungen an die Unterkünfte können sich mit der Zeit ändern, weshalb die BewohnerInnen Hilfe bei der Instandhaltung, Erweiterung und Wiederverwendung benötigen. Das Design und die Materialien sollten durch Flexibilität und Dauerhaftigkeit eine Anpassung zulassen. Die kulturellen und sozialen Anforderungen sind ebenfalls ein wichtiger Bestandteil und sollten bei der Planung Berücksichtigung finden.238 Es ist ratsam, dass die Gebäude, vor allem bei längerfristigem Einsatz, Ähnlichkeiten zu ihrem gewohnten Wohnumfeld aufweisen. Das „Air Force Handbook for Refugee Camp Planning“ sieht hier beispielsweise eine besondere Wichtigkeit in der Herstellung von 236 Vgl. Department of the Air Force, Refugee Camp Planning and Construction Handbook, Air Force Handbook 10-222, Volume 22 (2000) 42 237 Vgl. Norwegian Refugee Council, Camp Management Toolkit (Oslo 2008) 454 238 Vgl. Department of the Air Force, Refugee Camp Planning and Construction Handbook, Air Force Handbook 10-222, Volume 22 (Washington 2000) 42
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Einfamilienunterkünften, da diese sich zum einen mit den Gewohnheiten der meisten Flüchtlinge decken (bei Flüchtlingen aus Mehrfamilienhaushalten sollte dies entsprechend berücksichtigt werden) und zum anderen aus gesundheitlichen, sozialen und ökologischen Gründen. Es wurde die Erfahrung gemacht, dass die Gefahr von übertragbaren Krankheiten in Gemeinschaftsunterkünften wesentlich steigt und dass es zu sozialen Spannungen kommen kann.239
4.5 Rapid Response Bei rapid response handelt es sich um das akute Eingreifen in Krisensituationen. In der humanitären Hilfe werden damit üblicherweise vorbereitete Maßnahmen bezeichnet, um im Ernstfall schnell intervenieren zu können. Ein rapid response team ist beispielsweise eine Gruppe von ÄrztInnen, SoldatInnen, TechnikerInnen oder RettungshelferInnen die für die Verrichtung von bestimmten Tätigkeiten im akuten Einsatzfall geschult sind.
4.5.1 Architecture for Rapid Response Den Begriff architecture for rapid response verwendet der Autor für die Bezeichnung von schnell einsetzbaren habitablen Strukturen. In der industriellen Herstellung solcher Strukturen sind ähnliche Begriffe wie rapid deployment shelters gebräuchlich, allerdings ohne Referenz zu einer architektonischen Qualität. Mit der Einführung des Architekturbegriffs soll der Versuch unternommen werden, diese Art von Wohnraum in einen architekturtheoretischen Diskurs einzubinden. Für den Katastrophen- bzw. Krisenfall kommen verschiedenste Systeme zur Anwendung. In der technologischen Entwicklung erfolgt eine Anpassung an unterschiedliche Anforderungen.
239 Ibd.
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4.5.2 Zelte Die erste schriftliche Erwähnung finden Zelte in Genesis 4:20 etwa 4000 vuZ240 („Genuitque Ada Iabel qui fuit pater habitantium in tentoriis atque pastorum“ – „Ada gebar Jabal; er wurde der Stammvater derer, die in Zelten und beim Vieh wohnen.“), der noch mehrere weitere im Buch Genesis folgen (wie etwa 3156 vuZ in Genesis 9:21: „Und Noah fing an ein Ackersmann zu werden und pflanzte einen Weinberg. Und er trank von dem Weine und berauschte sich, und er entblößte sich inmitten seines Zeltes.“). Das lateinische tentorium kommt vom Verb tendere, was dehnen, spannen, strecken bedeutet. Eine frühe Beschreibung antiker Zelte findet sich in Homer's Ilias: „Unseen, thro' all the hostile Camp they went, / And now approach'd Pelides' lofty Tent. / Of Fir the Roof was rais'd, and cover'd o'er / With Reeds collected from the marshy Shore; / And, fenc'd with Palisades, a Hall of State, / (The Work of Soldiers) where the Hero sate. / Large was the Door, whose well-compacted Strength / A solid Pine-tree barr'd of wond'rous Length; / Scarce three strong Greeks could lift its mighty Weight, / But great Achilles singly clos'd the Gate.“241 Zelte blicken auf die längste Geschichte von Menschenhand erbauter Unterkünfte zurück und stehen sinnbildlich für die menschliche Mobilität. Für Vilem Flusser ist das Zelt das räumliche Korrelat seines Nomadismus-Konzepts. Während die Mauer eine Felswand ist (und das Haus eine Felshöhle), ist die Zeltwand eine „Windwand“: „Im Haus wird besessen, es ist Besitz, und diesen Besitz definieren Mauern. Ins Zelt wird gefahren, es sammelt Erfahrung, und diese Erfahrung verzweigt und verästelt sich durch die Zeltwand.“242 Er sieht im Schirm die Essenz des Zeltes, wobei er dessen eingeschränkte Nützlichkeit aufgrund seiner Empfindlichkeit gegenüber dem Wind bemängelt. „Versuchen wir also noch einmal, das Wesentliche am Zelt zu Worte kommen zu lassen: Es ist ein schirmartiger Unterschlupf, den man im Wind aufschlägt, gegen den Wind benützt, um ihn dann im Wind wieder zu falten.“ Das Defizit an Auseinandersetzung mit
240 Godfrey Rhodes, Tents and Tent-Life (London 1858) 3 241 Homer, Alexander Pope (Übersetzung), Ilias (Buch XXIV) (Philadelphia 1830) 959 242 Vilém Flusser, Zelte, in: Arch+ Ausgabe 111 (Aachen 1992) 69
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dem Schirm durch ArchitektInnen macht er als Grund aus, warum er sich seit dem alten Ägypten nicht weiterentwickelt hat, was jedoch wesentlich für den technischen Fortschritt auch des Zeltes wäre. In der humanitären Hilfe werden Zelte definiert durch eine Grundstruktur mit Überdeckung. Das Office for the Coordination of Humanitarian Affairs der Vereinten Nationen (OCHA) unterscheidet zwischen drei Typen von Zelt für den humanitären Einsatz: single-fly tent (Zelte mit einer Stofflage), double-fly tent (Zelte mit einer Stofflage und einem Überzelt) und „winterized“ tent (Zelte mit einer Stofflage, einer Baumwollverkleidung, einem Überzelt und einem Loch für einen Rauchfang).243 Der UNHCR empfiehlt, eine Fläche von 45 m² pro Person einzuplanen, in der auch logistische Flächen eingerechnet sind, und eine überdeckte Fläche von 3,5 m² pro Person beziehungsweise 4,5 m² in kalten Klimazonen. Ein Standard-Zelt hat 16 m² und ist damit für vier Menschen ausgelegt. Der Abstand zwischen den Zelten beträgt das zweieinhalbfache ihrer Höhe.244 Das Gewicht für ein Zelt beträgt zwischen 70 und 100 kg, weshalb der Transport im Vergleich zu anderen Hilfsmitteln hohe Kosten verursacht. So kann beispielsweise der Lufttransport so viel kosten wie das Zelt selber, dafür ist es der bei weitem schnellste Transportweg. Üblicherweise werden die Zelte mit LKWs zum Einsatzort gebracht. Die Lieferung über den Seeweg ist die kostengünstigste (im Verhältnis zur Distanz), kann aber zu Verzögerungen führen. Die Suche nach besseren Lösungen in diesem Bereich ist deshalb von vorrangiger Bedeutung.
4.5.3 Transitional Shelter Unter Transitional Shelter versteht man jegliche Art von Unterkunft, die einer oder mehreren durch einen Konflikt oder eine Naturkatastrophe vertriebenen Personen Schutz bietet, bis sie wieder eine permanente Behausung finden.245 Dieses relativ neue Konzept wurde eingeführt, da Flüchtlinge oftmals jahrelang in heruntergekommenen Notunterkünften gehaust haben, was zur Notwendigkeit geführt hat, diese konzeptuelle Lücke im Umgang mit der Flüchtlingssituation in 243 Vgl. Joseph Ashmore, Tents. A guide to the use and logistics of family tents in humanitarian relief (UNOCHA Publikation) 6 244 Ibd. 10 245 Vgl. Shelter Centre, Transitional Shelter Guidelines (Genf 2012) 2
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Krisenfällen zu füllen. Es gibt jedoch kontroverse Meinungen über die Wirtschaftlichkeit dieser Art Unterkunft, da mit ihrer Bereitstellung mehrmalige Kosten anfallen (im Gegensatz zu einmaligen Kosten von beispielsweise Notfallzelten) – erst für Planen, dann für Zelte, dann für die Transitional Shelter und schließlich für die permanente Unterkunft. Die Kritik lautet hauptsächlich, dass wiederholte Kosten der Errichtung von „richtigen“ Unterkünften die benötigten Mittel entziehen. Die Grundidee des Konzepts ist allerdings, dass die schnell errichteten Notunterkünfte im Laufe der Zeit ständig ausgebaut werden und somit im Endeffekt nicht mehr investiert werden muss. Im Wesentlichen kennzeichnet das Transitional-Shelter-Konzept, dass es als Prozess und nicht als Endprodukt verstanden wird. Die Beschaffenheit der Unterkunft vollzieht einen inkrementellen Wandel und macht keine Sprünge zwischen den einzelnen Phasen. Die wesentlichen Vorteile sind, dass die Betroffenen sofort mit einer vorübergehenden Behausung versorgt werden können und von Anfang an in die weitere Entwicklung eingebunden sind. Die Shelter sind erweiterbar, für andere Zwecke wiederverwendbar und von einem temporären an einen permanenten Ort versetzbar. Die verwendeten Materialien können entweder verkauft oder für die weitere Nutzung im permanenten Gebäude verfügbar gemacht werden. Der Transitional-Shelter-Zugang ist meist Teil einer umfassenden Wiederaufbaustrategie und wird in das Siedlungskonzept integriert.246 Unterschiedlichste Organisationen haben mittlerweile Lösungen entwickelt, die sich umgehend errichten und über mehrere, ineinander übergehende Phasen ausbauen lassen. Dadurch sollen die Kosten für eine Wiedererrichtung reduziert werden. Das Transitional-Shelter-Konzept bindet strategisch Faktoren wie Siedlungsplanung, sanitäre Einrichtungen, Grundbesitz, Menschenrechte, lokale Wirtschaft, Sicherheit und kulturelle Aspekte mit ein. Im Idealfall werden Transitional Shelter aus örtlichen Materialien und mit örtlichen Methoden hergestelt und an klimatische und kulturelle Bedingungen angepasst.247
246 Vgl. Shelter Centre, Transitional Shelter Guidelines (Genf 2012) 94 247 Ibd. 169
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4.5.4 Emergency Relief Shelter Emergency Relief Shelters sind leicht transportier- und aufbaubare rapid-response Strukturen für Krisensituationen. Sie können von Kräften vor Ort mit einfachem Werkzeug und Hebegerät errichtet werden. Der Bedarf an Fundierung ist gering, sodass die Einrichtung auf unterschiedlichsten Oberflächen erfolgen kann. Darüber hinaus sich solche Systeme wiederverwendbar. Die folgenden drei Merkmale zeichnen die Vorteile solcher Strukturen aus. Einfache Transportierbarkeit: die Strukturen können bis auf 1% ihres Nutzvolumens zusammengepackt werden, passen platzsparend in einen ISOContainer und sind auch für den Lufttransport geeignet. Einfache Installation: die Errichtung kann mittels einfachem Werkzeug und Equipment erfolgen. Die Komponenten sind zur einfachen Identifizierung farblich codiert und haben den größtmöglichen Grad an Austauschbarkeit. Raumeffizienz: die Form der Strukturen ist so konzipiert, dass sie das größtmögliche Volumen zur Verfügung stellen können.
5 Conclusio Zahlreiche Anzeichen deuten darauf hin, dass die Gesellschaft weltweit eine Phase beträchtlichen Wandels durchläuft. Umwälzungen in etlichen gesellschaftlichen Bereichen fordern unsere Reflexion und Anpassungsfähigkeit. Unterschiedlichste Prognosen deuten auf turbulente globale Entwicklungen hin, die sich in hohem Maße auf spätkapitalistische Dispositionen zurückführen lassen. Soziale Transformationen induzieren Bewegungsströme und werden gleichzeitig von diesen beeinflusst. Diese Ströme sind dabei vollkommen kontingent und lassen sich nicht auf klassische Muster festlegen. Im Zuge der aktuellen Finanzkrise, die beispielsweise auch Hobsbawm als die heftigste in der Geschichte bezeichnet und vor deren Folgen er warnt, haben sich die Gesetze der Globalisierung geändert – die traditionelle Wirtschaftsordnung, in der die 81
sogenannten Schwellenländer den wohlhabenden Industrieländern auf Gedeih und Verderb folgen müssen, ist im Umkehren begriffen. Auch die Zukunft der atlantischen Orientierung Europa's ist offen. Einer epochalen Umstrukturierung der Hegemonialmächte folgen aller Voraussicht nach Verschiebungen in den Zirkulationsprozessen. Die Auseinandersetzung mit Migration und ihrer räumlichen Implikationen wird zu einem Leitthema. MigrantInnen werden zu einem zentralen Akteur in internationalen Beziehungen, indem sie Grenzen und Identitäten überwinden und soziale, ökonomische und politische Interdependenzen aufzeigen. Die Migrationsfrage bewegt sich in einem Spannungsfeld von globalisierter Ökonomie und territorialer Souveränität: die Wirtschaftsordnung ist wesentlich abhängig von Mobilität und fördert Bewegung, nationale Partikularinteressen trachten jedoch nach einer Beschränkung derselben, um ihre Kontrolle aufrecht zu erhalten. Diese Spannungen führen dazu, dass sich an ihren Kulminationspunkten Orte bilden, an denen die Bewegungen eingefroren und zur weiteren Bearbeitung konserviert werden. In Europa wurde mit dem Schengenraum ein Mobilitätsraum eingerichtet, der die interne Bewegung (von Arbeitskraft) erleichtern und ein Eindringen von Außen zumindest behindern soll. Immense Aufwendungen werden getätigt, um die Union in eine Gated Community zu transformieren. Hochtechnologisierte Überwachungs- und Kontrollmechanismen und normative Maßnahmen haben die Grenzen zu einem Festungswall gemacht, der den Eindruck einer Sicherheitsenklave erzeugen soll. Restriktive Asylpolitik, ein strenges Visa-Regime und proaktive Grenzkontrollen sind Teil eines umfassenden Konzepts, das dem „Schutz“ der Union dienen soll. Die Einrichtung von hunderten sogenannter detention camps in ganz Europa entspricht dieser Abschottungsideologie. Bemerkenswert ist, dass eine tendenzielle Annäherung der gesetzlichen Grundlagen für den rechtlichen Umgang mit MigrantInnen und mit Kriminellen stattfindet, was sich ebenso auf eine konzeptuelle Annäherung der räumlichen Konstellationen niederschlägt. Anhaltezentren gleichen somit mehr und mehr einer Gefängnistypologie. Es sind zwar einige dieser Anlagen permanent eingerichtet, insgesamt herrscht jedoch eine große Fluktuation: existierende Lager werden geschlossen, andere neu eröffnet und oft nur für einen kurzen Zeitraum betrieben, 82
was eine Verfolgung und Aufzeichnung schwer macht. Solche Anlagen bilden eine direkte räumliche Reaktion auf im Zunehmen begriffene Migrationsbewegungen und sind prototypisch temporär. Eine wünschenswerte Perspektive im fortlaufenden europäischen Integrationsprozess der nächsten Jahrzehnte wäre die allmähliche Suspendierung oben genannter Mechanismen zumindest innerhalb der Union, um Staatsangehörigkeiten und somit Nationalstaatlichkeit vollends zu überwinden. Angesichts der Logik des derzeitigen Wirtschaftssystems ist durchaus zu erwarten, dass die Einschränkungen der Zirkulation von Arbeitskraft sukzessive aufgehoben werden, wie das auch mit der fortschreitenden Liberalisierung des grenzüberschreitenden Handels mit Dienstleistungen (GATS) geschieht. Dieser Dynamik folgend ist ein Abkommen über einen „MigrantInnen-Status“, das die rechtlichen Bedingungen einer „freien“ Bewegung regelt, zwar eine absehbare Perspektive, voraussichtlich jedoch unter strenger Reglementierung. Es wäre nicht überraschend, wenn die Freiheit der Bewegung mit rigiden Maßnahmen zur Identitätskontrolle verbunden ist. Uneingeschränkte Zirkulation hat ihrerseits Räume zur Folge, an denen sich die Arbeitskraft niederlässt. Ob es sich dabei um „klassisch“ migrantisch gefärbte Orte wie beispielsweise Vororte großer Städte handelt oder neue Siedlungstypologien hervorgebracht werden, wird Gegenstand künftiger Betrachtungen werden. Die weitere Konsequenz sind signifikante demographische Verschiebungen, die ihrerseits zu Spannungen führen. Freie Bewegung ist also sowohl ein dringendes Erfordernis als auch eine Gefährdung der gegenwärtigen Ordnung – was laut Negri und Hardt auch zu deren Überwindung führen wird. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird daher alles unternommen werden, um dieser Herausforderung mit Steuerungsmaßnahmen zu begegnen. Es bleibt abzuwarten, ob dies angesichts der enormen Zirkulationskräfte überhaupt möglich ist. So unterschiedlich diese Kräfte auch sind, sie sind alle mit daran beteiligt, Orte entstehen und verschwinden zu lassen. Aufgrund der nomadische Dynamik sind die Zirkulationen nicht mehr auf sesshafte Strukturen angewiesen. Die 83
Beobachtung von Meta- und Megatrends macht sichtbar, dass es sich bei der zunehmenden Beschäftigung mit temporärer und mobiler Architektur nicht nur um eine soziokulturelle Modeerscheinung handelt. Es ist kein Zufall, dass solche Architekturformen zunehmend an Aufmerksamkeit gewinnen, sondern symptomatisch für den sich wandelnden Umgang mit gebauter Umwelt. Etliche Anforderungen an Raum können permanente Gebäude nicht mehr leisten. Transitorische Architektur spiegelt systemische Transformationen im gesellschaftlichen Gefüge wider und ist Ausdruck des Flexibilitätsparadigmas, das eine globalisierte Ökonomie mit sich gebracht hat. Ein bewusster Wandel in Bezug auf den Umgang mit der Natur wird aller Voraussicht nach allerdings zu einer Notwendigkeit werden. In der Entwicklung von mobiler Architektur werden Bereiche erschlossen, die den Herausforderungen solcher grundlegender Veränderungen gerecht werden. Der militärische und humanitäre Bereich bildet momentan noch die Speerspitze einer Entwicklung im Umgang mit einer relativ neuen Form von Lebensraum. Neue Bauweisen und Materialien kommen unter Rücksichtnahme auf ökologische Bedingungen zum Einsatz. Technologien wie das 3D printing werden fundamentale Auswirkungen auf die Herstellung von transienten Gebäuden haben. Mittlerweile lebt ein signifikanter Prozentsatz der Weltbevölkerung in semipermanenten Einrichtungen, um in Krisenfällen vorübergehend Schutz zu finden. Diese Einrichtungen und die darin befindlichen Unterkünfte werden von PlanerInnen unterschiedlicher Organisationen konzipiert, wobei die Planung meist nach pragmatischen Gesichtspunkten erfolgt. Daraus ergeben sich praktikable und zweckmäßige Lösungen, bei deren Entwicklung sich die IngenieurInnen nach neuesten Standards richten. Eine tiefergehende Berücksichtigung der performativen Wirkung ist ihnen größtenteils allerdings nicht gewidmet – hier sind durchaus noch Potentiale erkennbar. Die humanitäre Hilfe ist zu einer Industrie geworden, in welcher der Baubereich eine große Rolle spielt. Spezialisierte Firmen stellen ausgefeilte Systeme für den humanitären Einsatz her, die sich durch hohe Effizienz und Belastbarkeit auszeichnen. Damit hat sich eine Typologie abseits der architektonischen 84
Auseinandersetzung entwickelt, die mit dem Schicksal einer gigantischen Anzahl von Leben verbunden ist. Zwar entspricht es dem moralischen (und eben nicht strategischen) Imperativ der humanitären Hilfe, das Wohlergehen von Menschen zu verbessern. Vor allem in Krisenfällen erfordert die Erfüllung dieses Anspruchs allerdings komplexe Berücksichtigungen. ArchitektInnen können hier eine entscheidende Rolle einnehmen und ihre Expertise im Umgang mit Lebensraum einbringen. Auch der Beitrag von IngenieurInnen und anderen Fachleuten aus dem Baubereich ist von unbestritten immenser Bedeutung. Was ArchitektInnen und RaumplanerInnen hier allerdings leisten können, ist die strategische Planung der räumlichen Maßnahmen unter Berücksichtigung der Imponderabilien des Prozesses und in Hinblick auf den Einsatz von Raum einen raumpolitischen Standpunkt einzunehmen. Vor allem in Fällen, in denen Camps vorsätzlich protrahiert werden, da es ungeachtet der menschlichen Schicksale politischen Zielen dient, ist nicht nur ein umfassendes architektonisches Konzept ein Schlüsselfaktor in Bezug auf das Wohlergehen der BewohnerInnen. PlanerInnen als raumpolitische ExpertInnen sind hier gefordert, Stellung zu beziehen, Auswirkungen zu explizieren und Möglichkeiten aufzuzeigen. Dies erfordert jedoch eine umfangreiche Kenntnis aller erforderlichen Maßnahmen und verfügbaren Mittel. Die dafür notwendige Ausbildung muss universellen Charakter haben und sämtliche Aspekte der räumlichen und raumpolitischen Konzipierung beinhalten, um so dem strategischen Anspruch der Aufgabe gerecht zu werden – sie muss die involvierten ArchitektInnen zu universellen Sachverständigen des Raums machen. Diese Eigenschaft als „General-SpezialistInnen“ ist nicht nur für die Einrichtung von humanitären Anlagen von Bedeutung sondern besíspielsweise ebenso für die künftig an Signifikanz gewinnende räumliche Konzipierung bei extraterrestrischen Missionen. Laufende Studien zu Lebensbedingungen außerhalb unseres Planeten unterstreichen die Relevanz der architektonischen Expertise von sowohl der lebensräumlichen Gestaltung und Ausstattung von habitablen Modulen als auch dem davon abhängigen Arrangement extraterrestrischer Siedlungen. Eine Weiterentwicklung im Umgang mit menschlichem Lebensraum und 85
Anpassung an künftige Herausforderungen setzen ein Verständnis für grundlegende architektonische Mechanismen voraus, die auf unterschiedlichste Weise zum Tragen kommen. Die performative Wirkung eines räumlichen Arrangements, die Einfluss auf das Verhalten von Menschen hat, kann geplant oder ungeplant, bewusst oder unbewusst auftreten. Bei semipermanenten Strukturen zeigt sich, dass eine Abstufung oft schwer sichtbar ist. So ist das humanitäre Camp als Reaktion auf Krisenfälle unzweifelhaft ein Ort der Unterkunft, des Schutzes und der Hilfe. Als politisches Instrument kann es allerdings oft nicht Schutz und Hilfe gleichermaßen leisten. Seit den schlimmsten missbräuchlichen Anwendungen von Lagern steht diese Typologie, und mit ihr auch humanitäre Camps, unter biopolitischem Generalverdacht. Nun sind organisierte Lager von ihrer historischen Entwicklung militärisch geprägt, weshalb ihnen Mechanismen wie Kontrolle und Disziplin inhärent sind. Ihre Herkunft erlaubt also eine vermeintlich einfache Diagnose ihrer performativen Eigenschaften. Um der Natur humanitärer Camps näherzukommen, bedarf es jedoch einer genaueren Betrachtung der Umstände ihres Gebrauchs. Trotz der strukturellen Gegebenheiten herrscht in erster Linie der humanitäre Imperativ. Um das Wohlergehen der Menschen sicherzustellen, sind neben den physischen Bedürfnissen vor allem soziale Aspekte von elementarer Bedeutung. Diese beinhalten nicht nur die sozialen Kontakte untereinander sondern auch Faktoren wie Bewegungsfreiheit, ökonomische Tätigkeiten, Unterstützung bei initiativen Handlungen und Möglichkeiten zur Mitbestimmung. Zahlreiche in der humanitären Hilfe tätige internationale NGOs vertreten durchaus einen solchen Anspruch. Vor allem in Flüchtlingscamps trifft dieser jedoch auf eine tradierte Ordnung, die durch organisatorische und logistische Notwendigkeit begründet ist. Insbesondere bei Langzeit-Camps treten daher konzeptuelle Dissonanzen auf. ArchitektInnen und RaumplanerInnen können hier als verbindendes Element wirken und einen Nexus finden, indem sie räumliche Erfordernisse an soziale Dynamiken anpassen. Als Anwalt der BewohnerInnen ist der/die ArchitektIn im Idealfall nicht nur in die strategische Planung involviert sondern führt auch eine operative Begleitung durch und vereint so organisatorische und soziale Anforderungen. In der operativen Begleitung nimmt die Einbindung der BewohnerInnen einen zentralen Stellenwert ein. Maßnahmen zur partizipativen Siedlungsentwicklung können nicht nur zur 86
Identitätsstiftung beitragen sondern sind auch von demokratiepolitischer Relevanz, um eine Aufhebung des Ausnahmezustands zu erreichen. Interessanterweise werden Modelle radikaler Partizipation in ähnlichen Strukturen erprobt. Mit einer Vielzahl von Protestcamps weltweit etabliert sich ein neues Verständnis von Demokratie und emanzipatorischer Praxis. Barcamps, Hackercamps, Konferenzcamps sind ebenfalls Beispiele für demokratische Selbstorganisation. Abgesehen von Camps und ähnlichen quasi-transitorischen Räumen sind es neue Formen nomadischer Architektur, die durch Mobilisierung hervorgebracht werden. Bemerkenswert daran ist, dass sich eine Entwicklung an zwei diametral gegenüberliegenden Polen vollzieht. Auf der einen Seite ist das die Reflexion neuer Lebenswelten und -modelle, die von Veränderung und Kurzlebigkeit, Flexibilität und Anpassung geprägt sind. Auf der anderen Seite steht die Erfüllung elementarer humanitärer Funktionen. Beide Pole und ihre dazwischenliegenden graduellen Abstufungen sind jedoch gleicher Deszendenz. Die Analyse macht deutlich, dass in Hinblick auf künftige Entwicklungen zeit- und raumungebundene Strukturen insgesamt, vor allem, wenn sie auch schnell einsetzbar sind, eine bestimmende Rolle spielen werden. Der nomadische Charakter verspricht dabei zwar neue Möglichkeiten der Mobilität, die wirklichkeitskonstituierende und normative Wirkung im politischen oder wirtschaftlichen Einsatz darf allerdings nicht außer Acht gelassen werden. Umso wichtiger ist ein reflektierter und sachverständiger Umgang. Die Veränderungen im Gebrauch von Raum und seinem politischen Einsatz erfordern eine intellektuelle Position, die eine angemessene Auseinandersetzung ermöglicht. ArchitektInnen und RaumplanerInnen können hier eine zentrale Rolle als ExpertInnen für Raum und Raumpolitik einnehmen.
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