Aus Briefen & Liedern Erinnerungen an Krakau
no more publishing, 2011
Hell. Der Morgen. Gleißend. Das Licht fließt über die Schwelle, strömt. So strahlend hell dieser Morgen!
M채nner tragen. Schuhe Stiefel schwer. Schritte hallen. Angst rast mit meinem Herzschlag.
Frische Blumen in der Vase. Taunasse Blätter. Duft aus meiner Kindheit. Erinnerung woran? Woran bloĂ&#x;?
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Familien gehen verloren. Verschwinden. Am helllichten Tag. Vor unseren Augen.
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Kirchenschiff. Stolze Takelage. Segel aufgebl채ht, hart am Wind. Mann 체ber Bord! Jesus? Jesus??
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Traumverloren in den Tag gefallen. Herzzerrissen angesp端lt an einer fremden K端ste. Verloren. Verbannt. Ohne Zukunft, ohne Hoffnung. Ohne Nachricht von Dir!
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Gl체cklicher! Erw채hlter! Lass das Vergangene, ohne Sentimentalit채t. Wie es war. Wie es ist. Unaussprechlich.
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Die Stiege hinauf! Aufs Dach! Über die Dächer! Auf die Straße, im Flug! Entkommen?
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Mach mir noch ein Gedicht! Ein letztes, ein erstes. Eines unter freiem Himmel, als Schutz vor dem bodenlosen Abgrund. Mach es mir schnell, die finstere Taubheit drischt schon gegen die T端r!
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Weine nicht mehr! Die Tage sind wieder lang und voller Licht. Lass Deinen Schmerz hinter Dir! Ă–ffne das Zelt, lass ein was kommt. Liebste!
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Paukenschlag! Schlag auf Schlag! Trommelgetrampel! Flieh, Liebste, flieh!
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Wir waren am Fluss. Erinnert ans Fließen kehrten wir zurück in die Trägheit. Jetzt fremd, so fremd.
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Mach Dir aus Kastanienblättern ein Kleid, aus Kohlen zwei Schuhe. Mach Dich schön für eine Ewigkeit ohne Spiegel. Wie sind alle schön, jenseits der eitlen Spiegel. Jenseits der Hast und der beflissenen Gedankenlosigkeit.
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Der Herbst ist noch weit. Jetzt ist die Schale voller Kirschen. Rot, so rot. So rot! So rot l채chelt Dein Kirschmund.
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Wie ich Dich vermisse! Wo bist Du bloĂ&#x; hingegangen? Ohne die geringste Spur zu hinterlassen ...
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Die neue Wohnung ist beinahe fertig. Bald werden wir sie beziehen. Oh, wie ich mich freue, Liebster!
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Kühl. Unter den riesigen Linden und Platanen ist es kühl und schattig. Ich schlage das Buch auf und Dein letzter Brief fällt mir in den Schoß.
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Stehen wir auf der Liste? Alle? Fehlt auch keiner? WeiĂ&#x;t Du es ganz gewiss? Es hängt so viel davon ab. So unendlich viel, Du hast ja keinen Begriff davon.
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Amerika! Bald werden wir auf dem Schiff sein, gerettet sein!
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Meine Augen suchen Dich verzweifelt in der Menge. Bist Du an Bord? Stand Dein Name auf der Liste? Hast Du ein Ticket bekommen?
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Jeden Morgen laufe ich die selbe Strecke am Fluss entlang. Wie schÜn sie ist, unsere Wisła!
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Weihrauch. Schwaden von Weihrauch steigen hinauf in die Höhe, zu den Deckengemälden, zu den gemarterten Märtyrern, den schrecklich Leidenden. Am Altar hängt ein geschundener Mann am Kreuz und darf nicht sterben, muss unsterblich leiden. In welch gnadenloser Hölle bin ich gestrandet?
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Das Fahrrad liegt hingeworfen in den B端schen, der Tascheninhalt verstreut. Wen solch ich suchen? Wessen Namen laut rufen? Um wen mir Sorgen machen?
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Dreckige Scheiben. Zerbrochene Scheiben. Glassplitter am Hallenboden. Maschinen längst abgebaut, Arbeiter lange schon entlassen. Hier also hast Du geschuftet bis an Dein Ende. Trostlose Tage voll sinnleerer Arbeit. Was hätte nicht alles werden können aus Deiner großen Zärtlichkeit, aus Deiner unerkannten Begabung für mich und die Musik?
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Lass mich einmal noch Deine Lippen k端ssen, einmal noch Deinen K旦rper fest an meinen dr端cken, nur einmal noch! Schon bellen ihre herrischen Stimmen in dieser fremden Sprache 端ber den Hof.
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Meine schรถnsten Stunden verdanke ich Dir. Das sollst Du wissen.
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Wie schรถn der letzte Abend war, im Fliederduft. Im Holunderduft. Im Jasmin- und Robinienduft. In Deinen Armen, bis an den Rand der Erinnerung. So unvergesslich schรถn!
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Mach Dich nicht schuldig!
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Im botanischen Garten, beim Glashaus an der hohen Mauer, dort warte auf mich – wie in alten Zeiten. Träume mich mit aller Kraft herbei! Wie soll ich sonst entkommen? Wie sonst den Weg zu Dir finden aus ihren kalten Fängen?
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Du spielst das Lied – als hättest Du es eben erst komponiert, so frisch und neu und voller Esprit. So stark in Deiner kaum gezügelten Leidenschaft. An wen denkst Du, Liebster?
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Mach die Kerze aus, komm! Der Tag hat seine Schuldigkeit getan, alle Last mag abfallen von Dir und mir. Lass Frieden sein, Glßck, Geborgenheit – und wozu wir sonst noch Talent haben. Wir, zwei Engel nach Feierabend.
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Weiß ist Dein Kleid und so frisch. Wie köstlich Dein Haar duftet. Wie es glänzt, wie es fliegt, wenn Du Dich lächelnd drehst im Maisonnenschein. Unauslöschliche Bilder von Dir trösten mich jetzt, da ich an mein Ende komme. Liebste!
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Keine Nachricht von Dir! Verzweifelt gehe ich zur端ck in die kleine Wohnung im dritten Stock, um einen weiteren Tag zerm端rbt zu werden von der Ungewissheit und den bangen Fragen. Hast Du Dein Schiff erreicht? Bist Du wohlbehalten angekommen? Lebst Du?
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Die Fotos wurden im Mai 2011 – während einer beruflichen Reise nach Krakau, Polens zweitgrößter Stadt – mit einem Handy und der Applikation Hipstamatic aufgenommen. Die Texte entstanden auf der Reise und kurz danach in Wien. Gewidmet ist „Aus Briefen und Liedern“ meiner Frau Stella. Peter Bachler, 2011 storyteller@hts.at