Passagen Nr. 53

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passagen

Kunst macht gl체cklich! Bekenntnisse in der Petrischale: Der K체nstler im Labor S. 6 Sprechende W채nde: Schweizer Klangkunst in San Francisco S. 36 Rom inspiriert: Die Zeit in Kunst verwandeln S. 38 DAS KU LTU RMAGAZ IN V ON PR O H E LV E T IA, N R . 5 3 , AU SG Ab E 2 / 2 0 1 0


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10 – 35 Thema: KUNST MACHT GLÜCKLICH!

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EDITORIAL Woher das Glück kommt Von Janine Messerli

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PRO HELVETIA AKTUELL Intelligente Spiele / Schweizer Tonkunst / Pariser Traumlandschaften / Kreatives Rückspiel

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REPORTAGE Bekenntnisse in der Petrischale Von Brigitte Ulmer (Text) und Caroline Minjolle (Bilder)

Titelbild: The Band, 2007 (Ausschnitt) Foto von Olaf Breuning

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ORTSZEIT San Francisco: Nachbarschaften des Klangs Von Peter Kraut Rom: Streifzüge durch die Ewige Stadt Von Kordula Doerfler

Make art and be happy!, empfiehlt der Schweizer Künstler Olaf Breuning. Wie das geht, zeigt er mit 13 Foto­ grafien und Skulpturen.

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PARTNER Loterie Romande: Treibstoff für künstlerisches Schaffen Von Ariane Gigon

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Geteiltes Glück ist doppeltes Glück Von Pius Knüsel

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IMPRESSUM PASSAGEN ONLINE AUSBLICK

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Schwieriger Kunstgenuss Von Peter Schneider

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KOLUMNE Wellenreiter und Ethnopoeten Von Guy Krneta

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Das Dilemma zwischen Kunst und Kanalisation Von Gerhard Schulze

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SCHAUFENSTER Plattform für Künstlerinnen und Künstler Global Garden Von Tom Tirabosco

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Dem Bann des Schreibens erliegen Von Michel Layaz

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Über den Zweck der Kunst Von Eleonora Belfiore

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Das Timing zum Glück Von Philip Ursprung

Olaf Breuning 1970 in Schaffhausen geboren, lebt und arbeitet Olaf Breuning heute in New York. Nach seiner Ausbildung zum Fotografen besuchte er die Zürcher Hochschule der Künste. Zahlreiche Einzelausstellungen, unter anderem in New York (Metro Pictures, 2009), Zürich (Migros Museum, 2007), Brisbane (IMA, 2006) und London (Chisen­ hale, 2005) sowie Gruppenausstellungen in Toulouse (Les Abattoirs Museum, 2010) und St. Gallen (Kunstmuseum, 2010). Zum Glück und seinem Schaffen befragt, meint er: «Ich weiss nicht, ob mich Kunst glücklich macht. Ich weiss nur, dass ich ohne sie unglücklich wäre.» www.olafbreuning.com


EDITORIAL

Woher das Glück kommt Jeder ist seines Glückes Schmied behauptet ein altes Sprichwort. In diesem festen Glauben haben die Amerikaner das Recht auf die Glücks­ suche, The Pursuit of Happiness, in ihrer Unabhängigkeitserklärung ver­ ankert und die Japaner sogar in der Verfassung. Andere sind der Ansicht, das Glück sei eine flüchtige Erscheinung, etwas, das schwer zu fassen und schon gar nicht zu schmieden sei; ein launischer Gast, der einkehrt, wo es ihm gefällt. Die aktuelle Ausgabe von Passagen fragt nach dem Glück, das uns die Kunst bereitet. Sie ist in Zusammenarbeit mit dem Forum Kultur und Ökonomie entstanden, das sich dieses Frühjahr dem Thema Kunst macht glücklich! widmete. Der Schriftsteller Michel Layaz beschreibt das Glück und die Freude, die ihm das Schreiben bescheren (nicht ohne den Schweiss und die Qualen zu erwähnen). Aus philosophischer Sicht fragt der Psychoanalytiker Peter Schneider, was denn Kunst und was Glück überhaupt sei und wie das eine das andere «zu machen» vermöge. Die Wirkungen, welche die Gesellschaft der Kunst zuschreibt, sind indes viel­ fältig: Kunst soll den Menschen bilden, das Leben verschönern oder zum Nachdenken anregen. Diese Argumente erhalten im Kontext staat­ licher Kultursubventionen ein besonderes Gewicht. Wie die Professorin für Kulturpolitik, Eleonora Belfiore, aufzeigt, hat sich in Grossbritannien die Kulturpolitik zunehmend an die soziale und ökonomische Agenda angedockt, um von den grösseren Budgets zu profitieren. Die Argumente sind auch hierzulande geläufig: Kultur fördere die soziale Integration und verstärke den gesellschaftlichen Zusammenhalt, sie sei ein Motor für die wirtschaftliche Entwicklung und verschaffe Standortvorteile. Dass der gesellschaftliche Nutzen von Kunst und Kultur schwieriger zu fassen ist als etwa jener der Kanalisation, thematisiert der Kultur­ soziologe Gerhard Schulze in seiner Rede an den Steuerzahler. Gemäss Schulze erfahren wir das Glück durch Kunst in der Begegnung mit dem Kunstwerk, die uns ein Erlebnis der Selbsttranszendenz ermöglicht. Und das, so Schulze, macht uns glücklich. Wer das Glück lieber handfest beim Schopf packt, dem sei Make art and be Happy! von Olaf Breuning empfohlen (S. 18). Wir haben seinen mit Witz und Hintersinn ausgestatteten Werken unsere Bildstrecke ge­ widmet. Weil auch Schmunzeln glücklich macht.

Janine Messerli Redaktionsleiterin Passagen 3


P R O H ELVETIA A K TU ELL

Intelligente Spiele Computerspiele gehören zu den be­ liebtesten Unterhaltungsformen der Gegenwart. Sie sind mittlerweile ein fes­ ter Bestandteil der Alltagskultur gewor­ den – nicht nur von Jugendlichen. Die öffentliche Diskussion dreht sich vor allem um «Killerspiele» und die Sucht­ gefahr einer übermässigen Nutzung. Kaum wahrgenommen wird hingegen, dass es gerade rund um die Hochschu­ len Schweizer Gamedesigner gibt, die innovative, intelligente Formen des neu­ en Mediums entwickeln. Dies zeigt eine Bestandesaufnahme, die Dr. Beat Suter von der Zürcher Hochschule der Künste im Auftrag von Pro Helvetia durchgeführt hat. Hier setzt Pro Helvetia mit ihrem neuen Programm GameCulture an: In den nächsten zwei Jahren will sie gezielt

Computerspiel Colorbind von Nonverbal.

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anspruchsvolle Computerspiele fördern. Auftakt des Programms GameCulture bildet ein Call for Projects, der am 9. September gemeinsam mit dem Bun­ desamt für Kultur und der SUISA­ Stiftung für Musik am internationalen Festival für Animationsfilm Fantoche in Baden lanciert wird. Schliesslich ber­ gen Computerspiele schöpferisches Potenzial für Künstler unterschiedlichs­ ter Sparten, von Drehbuchautoren über Designer bis hin zu Komponisten. Begleitet wird das auf zwei Jahre angelegte Programm, das ein Gesamt­ budget von 1,5 Millionen Franken umfasst, von verschiedenen Ausstellun­ gen und Diskussionsforen. Sie sollen die ästhetischen, gesellschaftlichen, aber auch die wirtschaftlichen Aspekte von Computerspielen beleuchten und Informationsarbeit leisten. Mit an Bord sind Partner wie die Hochschule der Künste Zürich, die Eidgenössische Tech­ nische Hochschule Zürich und das Neuchâtel International Fantastic Film Festival. www.prohelvetia.ch

Schweizer Tonkunst

Anna Spina, Musikerin am Tonkünstlerfest.

Ob grosser Orchesterauftritt oder Solokonzert, ob Improvisation oder Klanginstallation, Théâtre Musical oder Volksmusik – am 11. und 12. September zeigt sich die zeitgenössische Schweizer Musik von ihrer spannendsten Seite. Das Tonkünstlerfest feiert heuer eine Pre­ miere: Zum ersten Mal in seiner 110­jäh­ rigen Geschichte ist der Grossanlass für zeitgenössische Musik ans renom­ mierte Lucerne Festival eingeladen. Die­ ses widmet der Schweizer Musikszene im diesjährigen Sommerfestival einen Schwerpunkt. Als Gastgeschenk präsen­ tieren die Tonkünstler am zweiten Sep­ temberwochenende 24 Uraufführungen. Neben etablierten Komponisten wie dem diesjährigen Composer­in­Residence Dieter Ammann, werden auch jüngere Persönlichkeiten vorgestellt. Pro Helvetia hat für das Tonkünstlerfest sechs Schwei­ zer Komponistinnen und Komponisten mit einem Auftragswerk betraut: Cécile Marti, Xavier Dayer, Stefan Wirth, Nadir Vassena, Michael Wertmüller und Dieter Ammann. Informationen unter www.tonkuenstlerfest.ch und www.lucernefestival.ch


Pariser Traumlandschaften Gerda Steiner und Jörg Lenzlinger lieben das Verspielte. Sie füllen Wände mit psychedelischen, an die 1960er­Jahre erinnernden Mustern. Aus industriell hergestelltem Harnstoff züchten sie künstliche Pflanzen und kristalline Tropfsteingebilde. Diese wachsenden und wieder vergehenden Traumlandschaften entwickelt das international bekannte Künstlerpaar vor Ort, um die lokalen Ge­ gebenheiten in seine Interventionen einzubeziehen. Ausgestellt hat das Duo schon in so unterschiedlichen Räum­ lichkeiten wie der Stiftsbibliothek St. Gal­ len oder einer verlassenen Silbermine im Elsass. Die neueste Schau wird am 18. September im Centre Culturel Suisse in Paris eröffnet. Ein wahres Sammelsurium an aus­ gestopften Tieren und anderen Arbeits­ materialen wurde im Sommer vom zürcherischen Uster, wo Steiner und

Lenzlinger ihr Atelier haben, per Last­ wagen nach Paris verfrachtet. Dies be­ richten die beiden Kuratoren des Centre Culturel Suisse, Jean­Paul Felley und Olivier Kaeser. Sie haben das Künstler­ duo anlässlich des 25­Jahre­Jubiläums

der ersten Aussenstelle von Pro Helvetia nach Paris eingeladen. Dort, mitten in der Flanierzone des Marais­Quartiers, entwickelte das Künstlerpaar über mehrere Wochen seine aufs Centre zuge­ schnittene Ausstellung. In der Pariser Kunstszene sind Gerda Steiner und Jörg Lenzlinger, die seit 1997 zusammenarbeiten, indes schon lange keine Unbekannten mehr. Bereits drei Ausstellungen haben sie in der französischen Hauptstadt realisiert. www.ccsparis.com

Werk von Gerda Steiner und Jörg Lenzlinger, 2009.

Foto unten: Donata Ettlin

Kreatives Rückspiel

Treatment / Heiler werden – eine schweizerischchinesische Theaterproduktion

Was versteht ein Schweizer unter Krankheit oder Heilung? Was ein Chine­ se? Die Basler Theatergruppe Capri­ Connection und das Pekinger Living Dance Studio gehen in ihrer Produktion Treatment/Heiler werden diesen Fragen vom schweizerischen Emmental bis ins chinesische Qingdao nach. Heiler wer­ den ist eines von sechzig Projekten des Pro­Helvetia­Austauschprogramms Swiss Chinese Cultural Explorations. Weitere sino­helvetische Kollaboratio­ nen sind vom 16. September bis zum 7. Dezember am Festival Culturescapes in verschiedenen Schweizer Städten zu entdecken. Das Festival ist mit China als Gastland und seiner Vielfalt an Kunst­

projekten aus allen Sparten der ideale Anlass, um die Früchte des Kulturaus­ tauschs zu präsentieren: Was nun in der Schweiz gezeigt wird, war zuvor bereits im Reich der Mitte zu sehen. Dass die Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und China nicht nur sprachliche, son­ dern auch kulturelle Übersetzungsleis­ tungen erfordert, thematisiert Culture­ scapes mit der Veranstaltungsreihe Translating Cultures. Am 30. Oktober lädt Pro Helvetia im Rahmen eines Symposiums in Bern Künstlerinnen und und Künstler beider Länder dazu ein, ihre Erfahrungen mit dem Publikum zu teilen. Informationen und Programm unter www.culturescapes.ch 5


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Bekenntnisse in der Petrischale Mikroorganismen des Chriesbachs in Dübendorf sind die Hauptdarsteller in den neusten Videos des chinesi­ schen Künstlers Aniu. Wäh­ rend fünf Monaten arbeitete er im Schweizerischen Wasser­ forschungsinstitut EAWAG. Mit Hilfe wissenschaftlicher Geräte und Verfahren schuf er Bilder von poetischer Kraft und verschaffte den Wissenschaft­ lern neue Einblicke in eine vertraute Materie.

Neue Einsichten in die Wasserwelt: Der chinesische Künstler Aniu vor seinen Werken.

Von Brigitte Ulmer (Text) und Caroline Minjolle (Bilder) Im Bachbett des Chriesbachs in un­ mittelbarer Nachbarschaft der mehrspuri­ gen Überlandstrasse in Dübendorf steht QingJun Chen, mit Künstlername Aniu, in grünen Fischerhosen und ruft enttäuscht: «This time no animals!» Hier, im Nie­ mandsland der Zürcher Agglomeration, wo die Restnatur unromantisch auf die Zivi­ lisation stösst, hat das Wasserforschungs­ institut der Eidgenössischen Technischen Hochschule, die EAWAG, ihren Sitz. Aniu, der im Rahmen eines fünfmonatigen Künstlerresidenz­Programms hier Quar­ tier bezogen hat, befindet sich, wie Montur und Fischernetz zeigen, auf Feldforschung: Sein Netz ist mit Erde gefüllt, Schlamm und Schmutz, aber es krabbelt nichts, je­ denfalls nicht von blossem Auge besehen. Aniu müsste es allerdings besser wissen: Im Plankton, einem wichtigen Bestandteil des Ökosystems Wasser, verstecken sich Millionen von Mikroorganismen; bis zu zwei Millionen haben auf einem Kaffee­ löffel Platz. Andererseits hat er recht: Es zappelt und hüpft diesmal nichts aus der braunen Brühe. Die letzten dreissig Male aber, die der 41­jährige feingliedrige Künstler aus Shenzhen in den vergangenen Monaten für sein Kunstprojekt ins Wasser stieg, 7


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wurde er fündig. Er sammelte Wasserpro­ ben im Plastikkessel, stieg damit hoch in eines der sterilen Labors der EAWAG, setzte sich ans Mikroskop und beobachtete konzentriert das Leben im Wasser in der Petrischale. Als würde er die Methodik der Wissenschaftler imitieren, benutzte er dieselben Utensilien und machte diesel­ ben Handgriffe. Doch daraus resultier­ ten nicht empirische Daten, mit denen Theorien zum aquatischen Ökosystem und seiner Biodiversität verifiziert werden konnten. Stattdessen entstanden alche­ mistisch anmutende Fotografien und Videos von aussergewöhnlicher poeti­ scher Kraft. Kreativer Austausch zwischen Kunst und Wissenschaft Im Rahmen des Artists­in­Labs­ Programms der Zürcher Hochschule der Künste, zu dem Aniu mit Unterstützung von Pro Helvetia eingeladen wurde, hat der Künstler mehrere Projekte entwickelt und realisiert, die Wissenschaft auf emotionale Weise reflektieren sollen. Eine unabhän­ gige Jury hatte ihn letztes Jahr ausgewählt, für das Programm ein Kunstprojekt zu realisieren, genau wie seinen Landsmann Liao Wenfeng. Dieser wurde in die Eid­ genössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) in Birmens­ dorf eingeladen, um in die Welt der Dend­ rochronologie, der Jahrringforschung, einzutauchen. Zwei Schweizer Künstler hielten sich derweil in chinesischen Labo­ 8

Die persönlichen Botschaften der Wissenschaftler taucht der Künstler Aniu in die Wasserproben des Chriesbachs. Den Auflösungsprozess hält er fotografisch fest.

ratorien auf: der Genfer Alexandre Joly im Chengdu Institute of Biology und Aline Veillat aus Basel im Instiute of Mountain Hazards and Environment, beides renom­ mierte Forschungsanstalten in Chengu, im Westen Chinas. Das Kulturprojekt fügt sich in die Aus­ landstrategie von Pro Helvetia, die ihr En­ gagement in Asien seit 2004 intensiviert. Mit dem Programm Swiss Chinese Cultu­ ral Explorations (2008–2010) und einer neuen Aussenstelle, die diesen Herbst in Shanghai eröffnet wird, verstärkt sie den Kulturaustausch mit China. Die Zürcher Hochschule der Künste hat im Rahmen des China/Swiss Residency Exchange­ Programms von Pro Helvetia ihr bestehen­ des Artists­in­Labs­Programm erstmals mit Künstlern aus dem Ausland ergänzt. Das Artists­in­Labs­Programm will den Künstlern neue Möglichkeiten der Krea­

tivität eröffnen, der Öffentlichkeit einen leichteren Zugang zur Forschung ver­ schaffen und das Innovationspotenzial der Wissenschaft durch die Kreativität der Künstler erweitern. Für den schweizerisch­chinesischen Austausch wurden Forschungslabors aus­ gewählt, die im Bereich Ökologie arbei­ ten. In der aufstrebenden Industrienation China, die sich mit massiven Umweltpro­ blemen konfrontiert sieht, könnten Künst­ ler, so der konzeptionelle Hintergrund des Programms, in ihrer Arbeit Umweltthe­ men reflektieren und damit das Bewusst­ sein für Umweltprobleme schärfen. Umweltverschmutzung als künstlerisches Thema Anius Interesse für Ökologie ist bio­ grafisch begründet. In seiner Heimatstadt Shenzhen im Pearl River Delta, im Süden


der Provinz Guangdong, hat er die rasante Entwicklung vom Fischerdorf zur Boom­ town und deren Folgen für die Umwelt mit eigenen Augen beobachtet. Sie ist eine der am schnellsten wachsenden Städte der Welt: 1979 lebten hier 30 000 Menschen, heute sind es 12 Millionen. In Fotoprojek­ ten thematisierte er das endlose Gewirr der Stadtautobahnen, aber auch den Druck und den wachsenden Stress der Menschen. Der Anblick des von den Chemikalien der

haupt, eröffnet. Chris, das ist Christopher Robinson, ein 50­jähriger amerikanischer Wasserforscher. Der Mann mit den lusti­ gen Augen und dem freundlichen Gesicht ist ein Spezialist für die Auswirkungen der globalen Umweltveränderungen auf Öko­ systeme in fliessenden Gewässern. Fünf Monate lang teilte Aniu das Büro mit dem Wissenschaftler und tastete sich langsam ans mysteriöse Universum der Wasser­ forscher heran, das aus Wasser, Mikroben, Theorien und viel Zahlenmaterial besteht.

«Die ersten Wochen hatte ich keine Ahnung, was sich in diesem Gebäude abspielte», sagte Aniu. «Es war Win­ ter, das Wetter trüb, mein Geist gefroren.»

Das menschliche Wesen hinter dem Forscher erkunden Dank Kantinengesprächen mit jun­ gen Wissenschaftlern – in der EAWAG ar­ beiten 400 Angestellte aus 26 Nationen, man muss sich das babylonische Gewirr im Betriebsrestaurant vorstellen – und mit Unterstützung von Chris Robinson ent­ standen Anius künstlerische Projekte. Anius Kernidee bestand darin, die Bezie­ hung zwischen dem Forscher und seinem Forschungsobjekt zu untersuchen. «Wis­ senschaftler tragen grossartige Dinge zu unserem Planeten bei, die manchmal tra­ gische Auswirkungen auf den Menschen haben», meint Aniu. Er verweist auf das megalomane Dammprojekt im Jangtse­ Fluss in China, den Drei­Schluchten­ Damm in der Provinz Hubei. Wegen des Wasserkraftwerks wurden über eine Mil­ lion Menschen vertrieben, und neben der Zerstörung wichtiger archäologischer Stätten zeitigt das gigantische Projekt auch gravierende Folgen für die Umwelt: Die Verschmutzung des Flusses ist vorpro­ grammiert, damit auch die Auslöschung gewisser Tierspezies, und das Risiko der Überflutung wächst bedrohlich. «Wenn ich mich mit Forschung beschäftige, dann muss ich zuerst das menschliche Wesen hinter dem Forscher erkunden und seinen Bezug zur Umwelt», ist Aniu überzeugt. Per E­Mail verschickte er über hundert Fragebogen, um die Bezie­ hung der EAWAG­Wissenschaftler zum Wasser in Erfahrung zu bringen. Was be­ deutet Ihnen Wasser? Was ist Ihre erste Er­ innerung an Wasser? Wie schätzen Sie die Rolle der Wissenschaft in der Gesellschaft ein und was treibt Sie an? Pointierte, über­ raschende und auch sehr persönliche Ant­ worten kamen zurück, etwa jene aus dem Büro BU­R07: «Water means mystery to me». Aniu wählte die prononciertesten aus,

Industriebetriebe verunreinigten Fluss­ wassers hat sich ihm tief eingeprägt. «Ich erinnere mich daran, als das Wasser kris­ tallklar war. Heute ist es schwarz», sagt er. Die Umweltverschmutzung, so Aniu, ein Kollateralschaden des rasanten Wirt­ schaftswachstums, sei eines der grössten Probleme Chinas. Obwohl die Regierung sich um Verbesserung bemühe und viel Geld investiere, nütze der Effort nichts. «Die Bevölkerung sollte mehr Respekt vor der Natur haben», findet er. Der Anfang seiner Künstlerresidenz in der Schweiz war schwer. Nicht nur der Wechsel von der Strasse, seinem Arbeitsort als Fotograf der Agentur Vu, ins Wissen­ schaftslabor machte ihm zu schaffen, son­ dern auch der temporäre Umzug von der vibrierenden 12­Millionenstadt ins stille schweizerische Dübendorf. «Die ersten Wochen hatte ich keine Ahnung, was sich in diesem Gebäude abspielte», sagte Aniu. «Es war Winter, das Wetter trüb, mein Geist gefroren». Er lächelt in sich hinein, erzählt von Chris, seinem Mentor. Dank ihm habe sich ihm langsam die Welt der Wasserforschung, der Wissenschaft über­

suchte die Forscher in ihren Büros auf und liess sie einen ausgewählten Satz mit Tinte auf einen Zettel schreiben. Die Zettelchen legte er dann an seinem Laborplatz eins ums andere ins Mikroorganismen­Bad in der Petrischale und filmte mit der Video­ kamera. Videos zwischen 30 Sekunden und 30 Minuten sind entstanden, in denen Eintagsfliegen, Wasserspinnen und Libel­ len um die Sätze wieseln und schliesslich die Buchstaben fressen: ein Schauspiel, über das sich der Wissenschaftler Chris Robinson königlich amüsiert. «Die Videos vermitteln das Wesen von Mikroorganis­ men sehr plastisch», findet Robinson. «Sie öffnen uns wieder die Augen für grundle­ gende Prozesse und die Interaktionen von Mikroorganismen im Gewässer.» Die an­ dere Perspektive des Künstlers, so der Was­ serforscher, helfe dabei, die Wissenschaft Nicht­Eingeweihten zu kommunizieren. Er kann sich deshalb gut vorstellen, das Video in einer Vorlesung für angehende Wasserökologen einzusetzen. Ob aber die Kunst, wie es sich die Initianten des Pro­ gramms erhoffen, das Innovationspoten­ zial der Wissenschaft erweitert, bleibt da­ hingestellt. Nach fünf Monaten ist Aniu Teil der Belegschaft geworden. Er grüsst in den Gängen einen israelischen und einen indischen Forscherkollegen. Im Foyer bietet die kleine Ausstellung mit Anius Fotografien unter den Forschern viel Ge­ sprächsstoff. Es sind delirisch wirkende Aufnahmen von sich in Wasser auflösen­ den Tintenschwaden, die an die chine­ sische Shan­Shui­Malerei erinnern. Das Mikrouniversum Wasser, vom Künstler ins Grossformat aufgeblasen, vermag selbst Wasserspezialisten zu begeistern, die täg­ lich mit der Materie zu tun haben. Ausstellungen mit Werken des Artists­in­Labs­ Programms sind ab Herbst in Vevey und Bern zu sehen: both ways, Art Forum, Vevey, 7.–17.10.2010 und PROGR, Zentrum für Kulturproduktion, Bern 20.11.–3.12.2010. www.artistsinlabs.ch Brigitte Ulmer ist Historikerin und Kunstpubli­ zistin. Sie schreibt für Du, die Neue Zürcher Zeitung und Kataloge und hat 2008 im Helmhaus Zürich die Ausstellung Manon – Eine Person mitkuratiert. Caroline Minjolle ist freischaffende Fotografin in Zürich, Mitglied der Ateliergemein­ schaft Kontrast und der Fotoagentur Pixsil. www.kontrast.ch

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Kunst macht glücklich!

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unst macht das Leben schöner. Sie bildet. Sie rüttelt auf. Sie generiert Geld und poliert das Image. So die gängigen Argumente. Ein guter Grund also, das Glücks­ potenzial der Kunst genauer unter die Lupe zu nehmen. In Zusammenarbeit mit dem Forum Kultur und Ökonomie hat Passagen verschiedene Stimmen zum Thema Kunst macht glücklich! versammelt: Vom Schriftsteller über die Kul­ turwissenschaftlerin bis hin zum Psychoanalytiker spüren sie den Wirkungen der Kunst nach. Begleitet werden sie von bildnerischen Zwischen­ rufen des Schweizer Künstlers Olaf Breuning. 10


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Easter Bunnies, 2004

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eit Hilmar Hoffmann, Kul­ Unter diesen Bedingungen erhält Kul­ terstützten Projekte gemeinsam haben, ist turstadtrat von Frankfurt turförderung einen ganz besonderen Sinn allein die Unterstützung durch unser Land am Main, 1979 seinen Slo­ – als System des Teilens. Die Gesellschaft – dadurch werden sie zu Schweizer Kunst­ gan «Kultur für alle» pro­ stellt Mittel zur Verfügung, die umverteilt werken. Genau das ist es, was den Zusam­ pagierte, gilt die Kunst als werden an bestimmte Gruppen, in unse­ menhalt des Gemeinwesens stärkt: Dass Zaubertrank, welcher die rem Fall Künstler und Kunstanbieter. Die ein Künstler, für den sich vielleicht nur ein Gesellschaft von allen möglichen Gebres­ Partizipation an der kollektiven Ressource winziges Segment der Bevölkerung inter­ ten heilt: vom Mangel an Zivilisation, vom Finanzmittel ist es, was Zusammenhalt essiert (und manchmal auch ein grosses!), Übermass an Rassismus, von bedrohlichen schafft, weil Teilhabe Verbindlichkeit und an der kollektiven Ressource teilhaben Parallelgesellschaften, von Demokratie­ Verbindungen herstellt, Standards der Ver­ kann. Dass sein Beitrag Eingang findet in und Bildungsdefiziten sowie von Inte­ ständigung, welche sogar jene akzeptie­ den komplexen Bestand des schweizeri­ grationsproblemen, von Standortmängeln ren, welche leer ausgehen. Es gibt in den schen Geisteslebens und dass er diesen und vom Mangel an wirtschaftli­ Bestand reicher macht, ihm eine cher Innovation, von Sinndefizi­ neue Farbe hinzufügt. Darin ten und von der Faulheit der bête liegt die Notwendigkeit einer Einrichtung wie Pro Helvetia: humaine ganz allgemein. «Kul­ Dass sie lauter kleine Glücks­ tur für alle» war der grosse Trei­ ber der jüngeren Kulturpolitik; er momente produziert, indem sie hat zu jener mächtigen Aus­ Teilhabe ermöglicht, die mit weitung des Kulturbegriffs wie einer schöpferischen Leistung des Angebotes geführt, welche vergolten wird, die wiederum in unseren kollektiven Fundus die Postmoderne auszeichnet. eingeht. Dort findet sich Jodel Die Zahl der Wirkungs­ neben Computermusik, Sche­ versprechen, sagt Max Fuchs, Geschäftsführer des deutschen renschnitt neben Experimental­ Kulturrates, spiegelt die Schwie­ video, Laientheater neben Welt­ rigkeit, die Wirkungen tatsäch­ literatur. Dabei kommt es gar nicht darauf an, jede einzelne lich nachzuweisen («Kulturpoli­ dieser schöpferischen Leistun­ tik als Kontrollpolitik», Forum 99 Wirkungen schreibt man der Kultur und Ökonomie 2008). gen zu mögen. Je widersprüch­ Kunst zu, 99 Arten, wie sie Kulturpolitik hat sich deshalb licher sie sind, je vielfältiger, der Gesellschaft dient, 99 Gründe, sie zu im Tausch gegen Subventionen umso besser taugen sie als Gär­ fördern. Aber macht Kunst die immer mehr an die Agenda der stoff für die Gesellschaft, die ei­ Sozial­ und Wirtschaftspolitik nen beschleunigend, die anderen Welt wirklich gerechter, die Menschen angehängt, sodass sie jetzt nur verlangsamend. intelligenter? Macht sie glücklich? mit Mühe aus diesen Korsetts Was für Pro Helvetia gilt, Die Antwort ist einfach: wieder herausfindet, sagt Eleo­ gilt auch für regionale und kom­ nora Belfiore in ihrem Beitrag Das Glück liegt in der Teilhabe. munale Förderer. Es ist auf allen «Über den Zweck der Kunst» Ebenen das Prinzip, dass der Ge­ auf S. 26. Verliert ein Politikfeld förderte (und jene, die er vertritt) Von Pius Knüsel an Bedeutung, gehen auch die an der kollektiven Ressource teil­ Gelder zurück. Wie kann, so die haben kann, womit staatliche Grundfrage, Kulturförderung sich als stete 1500 Kunstprojekten, die Pro Helvetia Förderung Zusammenhalt erzeugt. Pri­ staatliche Aufgabe definieren? jährlich unterstützt, kein durchgehendes vate Förderung kann das, so unverzichtbar Jede Epoche, jede Nation muss darauf schweizerisches Merkmal. Ben Vautier hat sie ist, nicht leisten, weil ihre Mittel nicht ihre eigene Antwort finden. Weshalb benö­ es 1992 an der Weltausstellung in Sevilla gemeinsam erarbeitet sind. Deshalb kann tigt unser Land eine Einrichtung wie Pro deutlich genug gesagt mit «La Suisse ein Land, das etwas auf sein Geistesleben Helvetia – und Kantone und Städte ihre n’existe pas». Was alle von Pro Helvetia un­ hält, auf öffentliche Förderung nicht ver­ eigenen Förderstrukturen? Die Schweiz zichten. In ihr steckt die Anerkennung, dass Leute, welche die Fantasie als Roh­ als Nation betont föderalistische Vielfalt, Darin liegt die Not­ Kleinräumigkeit und Bürgernähe. Bereits stoff benutzen, für das gemeinsame Glück wendigkeit einer Einrich­ die Bundesverfassung von 1848 wollte unverzichtbar sind. tung wie Pro Helvetia: Dass verhindern, dass ein nationaler künstle­ Pius Knüsel, Direktor Pro Helvetia risch­kultureller Kanon entstünde. Des­ sie lauter kleine Glücks­ halb gab sie die Kultur in die Hoheit der momente produziert, indem Kantone. Einheitlichkeit ist unserem sie Teilhabe ermöglicht… Lande ein Gräuel.

Geteiltes Glück ist doppeltes Glück

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Clouds, 2008

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acht Kunst glücklich? Am einfachsten wäre es natürlich, diese Frage schlicht als dumm, da inadäquat, zurückzuweisen. Das ginge allerdings nicht ohne schlechtes Gewissen, denn angeblich gibt es ja keine dummen Fragen, sondern nur dumme Antworten. Ich neige einer dritten Variante zu: Es gibt dumme Fragen, aber gerade wegen ihrer Dummheit bringen sie einen ins Grübeln – weil sie nämlich von vornhe­ rein jene Kategorien unterlaufen, welche man in seiner Antwort als selbst­ verständlich voraussetzen wollte. Also: Macht Kunst glücklich? *

dann mit: «Geniessen Sie Ai Weiweis Tem­ plate, ohne dabei an die Entwicklung Ihres chinesischen Immobilienfonds denken zu müssen»? Das ginge schon eher, wenn eine * solche Werbebotschaft auch in höchstem Dagegen mit Adorno darauf zu beharren, Masse zynisch wäre, weil sie genau jenen dass allein der Begriff des «Kunstgenus­ Zusammenhang zwischen Baumboom ses» den Geniesser als Banausen entlarvt, und kultureller Destruktion unterschlägt, der die unwiderrufliche «Emanzipation welcher den kritischen Gehalt von Ai der Künste von den Erzeugnissen der Kü­ Weiweis Skulptur ausmacht. Gibt es also che» rückgängig machen wolle, ist gut ge­ (harmlose?) Kunst, die (unter gewissen meint. Aber letztlich doch nur ein hilfloses Umständen) glücklich machen kann, und Autoritätsargument, das gegen den Slogan Kunst, deren Wesen geradezu darin be­ «Glück durch Kunst» wenig auszurichten steht, unglücklich zu machen? Diese Frage zu bejahen, ist naheliegend. Aber gerade im Hinblick auf die an­ geblich notwendigerweise un­ glücklich machende Kunst (wie die Ai Weiweis) hat dieses Ja ein paar unangenehme Impli­ kationen: Reduziert es nicht das Kunstwerk auf eine zwar aufwen­ dig hergestellte, aber genauso gut in einer knappen politischen Pro­ Kunst macht gewiss nicht glücklich testnote formulierbare Aussage? Und wird damit nicht die Wir­ wie Valium schläfrig oder Ritalin kung eines Kunstwerks auf die aufmerksam macht, findet der Psycho­ allzu schlichte und naiv thera­ analytiker Peter Schneider. peutische Formel des Erinnerns an das Verdrängte gebracht? Der Kunstgenuss ist komplizierter.

«Geniessen Sie Kirchners Alp­ leben, ohne an Performance­ kurven denken zu müssen.» Oder: «Geniessen Sie Hoppers Gas, ohne an Ihre Energietitel denken zu müssen.» Wenn man der Kampa­ gne der Zürcher Kantonalbank glauben darf, mit welcher diese un­ ter Verwendung von bekannten Werken der bildenden Kunst für ihr Private Banking wirbt, lautet die Antwort: Ja, Kunst macht glücklich, aber nur unter gewissen Bedingungen: Nämlich wenn man es sich leisten kann, sie sich da­ heim an die Wand zu hängen, und wenn man ausserdem allfällige Sorgen um die Bewahrung und Mehrung seines Vermögens einer Bank seines Vertrauens überlassen kann, sodass der Kunstgenuss durch keinerlei trübe Gedanken abgelenkt oder geschmälert wird. Und das ist viel­ leicht gar nicht einmal die dümmste Ant­ wort, die man auf die Frage, ob Kunst glücklich macht, geben kann. Der gänzlich indiskrete Charme die­ ser Werbekampagne liegt darin, dass sie die Implikationen des gängigen, aber zugleich ästhetisch höchst verdächtigen Kurzschlusses von Kunst und Glück res­ pektive Kunst und Genuss in einer un­ verfroren affirmativen Weise zur Sprache bringt. Und zugleich umstandslos jedwede Diskussion darüber umgeht, was denn nun eigentlich Kunst und was Glück sei und was man sich darunter vorzustellen habe, wie das eine – das Glück – vom anderen – der Kunst – «gemacht» werde: Wofür soll 14

Kunst sonst gut sein, als sie zu geniessen und von ihr ein Glück zu empfangen, das man nirgendwo sonst erhält?

Schwieriger Kunstgenuss

* Von Peter Schneider

vermag. Und wenn Adorno dekretiert: «Tatsächlich werden Kunstwerke desto we­ niger genossen, je mehr einer davon ver­ steht», so deckt sich das in gewissem Sinne sogar mit dem, was die Werber auch insi­ nuieren. Nur wird dieses Nichtverstehen/ Nichtwissen in den Inseraten für die Pri­ vatkundschaft positiv gewendet: Glücklich ist, wer es sich leisten kann, zu vergessen. * Aber was vergessen? Könnte man den Slo­ gan kreieren: «Geniessen Sie Ai Weiweis Template, ohne dabei an die Zerstörung jahrhundertealter Denkmäler der chinesi­ schen Kultur denken zu müssen»? Kaum, denn diese monumentale Skulptur, die Ai Weiwei aus Holztüren und Fenstern zer­ störter Ming­ und Qing­Dynastiehäuser zusammengefügt hat, lässt sich nicht be­ trachten, ohne dass man an genau jene Zerstörung gemahnt wird. Wie wäre es

Kunst macht gewiss nicht glück­ lich, wie – sagen wir – Valium schläfrig oder Ritalin aufmerk­ sam macht. Sarah Kofman spricht von der «Melancholie der Kunst», welche da­ raus entsteht, dass Kunstwerke uns in ei­ ner für sie konstitutiven Weise stets fremd bleiben, da das, was sie uns präsentieren, stets mehr ist als die blosse Repräsen­ tation von etwas anderem. Doch in dieser «Melancholie» liegt eben auch das Glücks­ moment von Kunstwerken: Dass sie uns ihrerseits mehr sagen, als wir über sie sagen können. Peter Schneider (*1957), lebt und arbeitet als Psychoanalytiker und Publizist in Zürich. Er lehrt als Privatdozent für Psychoanalyse an der Universität Bremen. Zahlreiche Buch­ publikationen, zuletzt: Das Gehirn und seine Psyche. www.peterschneider.info


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Small Brain Big Stomach, 2009

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er Nutzen der Kunst ist hung wechselseitigen Vorschussmisstrau­ menbruch des Gemeinwesens noch mehr einerseits chronisch erklä­ ens zwischen Staat und Bürger an: Der Angst hätten als davor, für dumm verkauft rungsbedürftig, anderer­ Staat sieht die Steuerzahler als abgabe­ zu werden. So etabliert sich die Beziehung seits muss man befürch­ pflichtige Subjekte unter dem Pauschalver­ zwischen Staat und Steuerzahlern als ein ten, als Banause zu gelten, dacht einer gewissen durchschnittlichen von missmutigem, murrendem Pragma­ wenn man auch nur da­ Hinterziehungsbereitschaft, die schon im tismus eingerahmtes Tauschverhältnis. nach fragt. Vielleicht erntet man nur Steuersatz einberechnet ist. Umgekehrt se­ Ich gebe zu, das ist nur ein Aspekt der Schweigen und ein resigniertes Lächeln. hen sich die Steuerzahler als abkassierte vielschichtigen Symbiose von Bürger und Subtext: Wer so fragt, ist zu Staat, aber viele haben die blöd für jede Antwort. Neben Floskeln der politisch Ver­ dieses immer noch virulente antwortlichen schon zu oft Mundtot­Machen durch Di­ gehört, um noch mehr darin stinktion ist heute die pau­ zu sehen als Beschwichti­ gungsformeln, deren Wirk­ schale Bedeutungssuggestion getreten. Von Finnland bis Gi­ samkeit weniger in der Über­ braltar liegt ein kulturpoliti­ zeugung der Beschwichtigten scher Konsens wie ein ewiges liegt als in ihrer Ermüdung. Hochdruckgebiet über Europa: Lassen Sie uns also die Dinge einmal pessimistisch die permanente Versicherung, dass Kunst und Kultur wichtig sehen, lassen sie uns zweifeln an der heilen Welt des Kunst­ sind. Überall gibt es kulturpo­ litische Vereinigungen, Lehr­ betriebs, um mit frischer Neu­ stühle für Kulturmanagement, gier fragen zu können: Was Kulturdezernenten, Förder­ soll das eigentlich alles? einrichtungen, Kongresse und Doktorarbeiten. All dies exis­ Ist Fussball notwendig? tiert im Klima einer umfassen­ Was bei solcher Distanz den Übereinstimmung, mag als erstes erkennbar wird, ist sein, zu Recht. Aber wenn ich eine öffentliche Routine von Rechtfertigung und Achsel­ etwa in irgendeinem Jahrbuch zucken, in der die Unter­ der Kulturpolitischen Gesell­ Die Müllabfuhr, der Strassenbau und die schaft in Deutschland blättere, stellung, mit dem Einsatz von Kanalisation sind nützliche Einrichtungen. dann wirken die Worte Kunst Geld für Kunst könne man Kein Steuerzahler würde das eigentlich gar nichts falsch und Kultur nach einigen Seiten bestreiten. Wie aber verhält es sich mit dem Lektüre auf mich wie Stimm­ machen, noch einmal beson­ fühlungslaute, um einen Be­ ders schematisch wirkt. Wa­ Nutzen der Kunst? In seiner Rede griff der Ornithologie zu ge­ rum ist das so? Worin besteht an den Steuerzahler unterzieht der renom­ denn, diskurssoziologisch ge­ brauchen. Zusammen mit den mierte Soziologe Gerhard Schulze die Kunst anderen unvermeidlichen Wör­ sehen, der Unterschied zwi­ schen der Finanzierung von tern – Partizipation, Bildung, einer kritischen Steuerprüfung. Die Begeg­ Kunst einerseits und Auf­ Kreativität, Chancengleich­ nung mit Kunst ermöglicht Selbsttranszen­ heit, Demokratisierung etc. – wendungen für den Bau einer denz. Und die macht glücklich. Ein Argument, formt sich ein Klang, als ob Autobahnbrücke andererseits? sich die Kunst etwas kosten zu lassen. eine Mundharmonika an einen Was solche Politikbereiche Haarföhn angeschlossen wäre, wie der Strassenbau der Kunst ein unterbrechungsloser C­ voraushaben, ist die Mess­ Von Gerhard Schulze barkeit des Erfolgs, die An­ Dur­Akkord, ein Zuviel an Har­ monie ohne spannende Zwi­ schaulichkeit der Ergebnisse, Objekte eines fiskalpolitischen Tyranno­ die Konkretisierbarkeit von Nutzen und schentöne. saurus Rex mit dem Bauch eines Molochs Verschwendung. Den Nutzen einer Auto­ und dem Hirn eines Spatzen; was auch im­ bahnbrücke kann jeder einsehen. Den Der murrende Steuerzahler als Richter Auf der Suche nach ein wenig Dialek­ mer sich der Moloch an Steuern einverlei­ Nutzen eines Wollfadens, der durch einen tik rufe ich den verdrossenen Steuerzahler, ben mag, verwandelt er in ein nicht ganz Raum in der Pinakothek der Moderne in der mit Kunst und Kultur wenig am Hut salonfähiges Stoffwechselprodukt. München gespannt ist und im Katalog als hat, als Richter an. Ich will der Frage nach­ Dieses Gleichgewicht der Skepsis Installation ausgewiesen wird, kann nicht gehen, was die Kulturpolitik gerade ihm zu würde in totaler Staatsblockade enden, jeder sehen, wie sich dem ratlosen Ge­ sagen hat. Dabei nehme ich eine Bezie­ wenn nicht beide Seiten vor dem Zusam­ sichtsausdruck der Besucher entnehmen

Das Dilemma zwischen Kunst und Kanalisation

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lässt. Stellen wir uns nun versuchsweise einen Fussballfan vor, den sonst nichts an­ deres interessiert. Mit dem Kunstliebhaber scheint ihn auf den ersten Blick wenig zu

Den Nutzen einer Auto­ bahnbrücke kann jeder einsehen. Den Nutzen eines Wollfadens, der durch einen Raum in der Pinakothek gespannt ist und im Katalog als Installation ausgewiesen wird, kann nicht jeder sehen… verbinden. Er sieht ein, dass man Bahn­ höfe braucht, die Müllabfuhr, Schulen und Gefängnisse. Aber die Oper, das Museum, das Orchester, der Wollfaden, muss das wirklich sein? Nein, müsste man ihm ant­ worten. Doch dann könnte man ihm eine Gegenfrage stellen: Und was ist mit dem Fussball? Muss der eigentlich sein? Hier zeigt sich ein Mangel an evidentem Sinn, der Fussballfans und Kunstfreunde gleich­ stellt. Gerade Kunst und Fussball haben ihre leidenschaftlichen Liebhaber. Das Begründungsproblem betrifft also keines­ wegs nur die Kunst: Wie lässt sich der Einsatz von Steuermitteln für Zwecke be­ gründen, die letztlich nur im Innenleben wechselnder Teilgruppen von Bürgern de­ finiert sind? Vom Nutzen zum Glück Man kommt der Antwort auf diese Frage ein Stück näher, wenn man die Mitte zwischen dem leeren Nutzenbegriff der Ökonomie einerseits und den abertausend Ausprägungen individueller Wünsche an­ dererseits sucht. Lassen Sie es uns einmal mit dem Begriff Glück versuchen. Viel­ leicht ermöglicht er ein Minimum an wechselseitigem Verstehen sowohl zwi­ schen öffentlicher Hand und Steuerzah­ lern als auch zwischen Fussballfan und Ausstellungsbesucher. Noch nie haben sich so viele Leute so intensiv mit dem Glück beschäftigt wie heute. Manche sehen darin den Sieg des Hedonismus auf der ganzen Linie, als ob nun alle nur noch Spass bis zum Abwinken im Sinn hätten. Man wird dem Glücksdis­ kurs der Gegenwart aber nicht gerecht,

wenn man schlicht von Werbespots und Lifestylemagazinen auf den tatsächlichen Zeitgeist schliesst. Menschen im Alltag, Steuerzahler eben, greifen heute ernstzu­ nehmende Themen auf, die bisher der Phi­ losophie vorbehalten waren: Wer bin ich eigentlich? Was will ich? Wie bekommt mein Leben einen Sinn? Was brauche ich? Fragen dieser Art wurden in den letzten Jahrzehnten immer populärer. Sie ver­ schwinden nicht, sie sind nicht bloss eine Mode. Damit reagieren die Menschen auf das selbstverantwortliche Handeln in der fortgeschrittenen Moderne. Ihre Wahl­ möglichkeiten sind unendlich gewachsen, gleichzeitig sagt ihnen niemand mehr, was sie tun sollen, sie müssen es schon selbst herausfinden: im Supermarkt, im Internet, bei der Partnerwahl, im Urlaub, bei Bil­ dungsentscheidungen, beim Fernsehen oder vor dem Ablaufen jener Lebensspanne, in der eine Frau noch Kinder bekommen kann. Menschen lesen und reden über Glück, Sinn, Werte, gutes Leben oder wie immer sie dazu sagen, weil sie herausfinden möchten, wie sie leben sollen. Darum geht es heute, wenn Steuergelder ausgegeben werden. An die Stelle despotischer, religiö­ ser, nationalistischer, rassistischer oder kol­ lektivistischer Begründungsmuster ist das Glück der vielen getreten. Es fragt sich nur, wie man dieses Motiv im Einzelfall politisch ausbuchstabieren kann. Die Schiebewurst und die Wurstfabrik Hier hilft nun eine fundamentale Un­ terscheidung von zwei Dimensionen des Glücks weiter. Ich will sie zunächst mit ei­ nigen Beispielen illustrieren. In den Hun­ gerjahren nach dem zweiten Weltkrieg dichteten die Deutschen ein bekanntes Volkslied um. Sie sangen: «Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die Wurstfabrik.» Zur gleichen Zeit ent­ stand die sogenannte Schiebewurst. Das war keine Wurstsorte, sondern eine Form des Wurstverzehrs, eine Kulturtechnik, die heute längst wieder in Vergessenheit gera­ ten ist. Man schob das eine Wurststück, das man ergattern konnte, beim Essen der Brotscheibe mit den Zähnen bis zum letz­ ten Bissen vorwärts, um es am Ende mit geschlossenen Augen zu geniessen. Das Brot war für das Überleben da, die Wurst für das schöne Leben. Nach dem Grenz­ nutzentheorem haben die Menschen heute wesentlich weniger von der Wurst als da­

mals, nicht obwohl, sondern weil sie we­ sentlich mehr Wurst haben. In der Paradiesvorstellung der Wurst­ fabrik einerseits und in der Luststrategie der Schiebewurst andererseits begegnet uns ein Dualismus von Glücksvorstellun­ gen, der den Menschen in die Wiege gelegt zu sein scheint. Theodor Fontane hat es so formuliert: Um glücklich zu sein, brauche ich ein paar Freunde und keine Zahn­ schmerzen. Glück 1, das sind Wurstfabrik und keine Zahnschmerzen, Glück 2, das sind die Schiebewurst und die Freunde. Glück 1 betrifft die Umstände, Glück 2 das Innenleben. Zwischen diesen beiden Mus­ tern von Glücksauffassungen pendeln wir hin und her. Im Lateinischen gibt es für Glück 1, also für objektive Umstände, das Wort fortuna. Glück 2 dagegen, das sich im Innenleben abspielt, heisst felicitas. Über Glück 1 lässt sich eindeutig und verbind­ lich reden, über Glück 2 nicht. Das Opern­ haus als Infrastruktur gehört zur Sphäre von Glück 1. Über das Material, aus dem es besteht, über seine Statik, seine Akustik und seine Instandhaltungskosten können sich Handwerker, Techniker und Finanz­ fachleute bestens verständigen. Aber ob eine Oper von Hans Werner Henze über­

Gerade Kunst und Fussball haben ihre leidenschaft­ lichen Liebhaber. Das Begründungsproblem betrifft also keineswegs nur die Kunst. haupt noch als Musik durchgehen kann, oder ob es eine gute Idee ist, Figaros Hoch­ zeit von blutbesudelten Halbnackten sin­ gen zu lassen, darüber kann man endlos streiten. Glück 2 ist zwar die Hauptsache, sonst hätte man sich das Opernhaus sparen können – aber es gibt keine Mög­ lichkeit, das Preis­Leistungsverhältnis zu quantifizieren. Glück 2 als öffentliches Anliegen Diese Schwierigkeit betrifft nicht nur die Kulturszene, sie ist umfassend. Die Mo­ derne hat uns in ein Stadium katapultiert, in dem es immer wichtiger, ja unvermeid­ lich wird, über Glück 2 nachzudenken und sich darüber zu verständigen. Wir finden uns damit in einer schizophrenen Situa­ 17


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Champagne Dog, 2008

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tion wieder: Glück 2 ist einerseits Privat­ sache, andererseits aber oft auch ein ge­ meinsames Projekt. Glück 2 wird zum öffentlichen Anliegen, so unzugänglich es für Diskurse sein mag, und je weiter die Moderne voranschreitet, desto mehr. Die Diskursbedürftigkeit von Glück 2 erfasst Gott und die Welt: etwa Massenprodukte

Noch nie haben sich so viele Leute so intensiv mit dem Glück beschäftigt wie heute. wie das Auto, Fernsehformate, Bildungs­ inhalte, Forschungsthemen, Gentechnik, Geschlechterrollen, Stadtplanung, Land­ schaftsarchitektur, Religionskonflikte und politische Ordnungen bis hin zum Sozial­ versicherungsrecht. Sollen beispielsweise die Kosten für Psychotherapie, die ja eine reine Glück­2­Intervention ist, erstattungs­ fähig sein? Und wie steht es mit Zahnersatz, mit Schönheitschirurgie, mit Fettabsau­ gungen? Sind massive Glück­2­Störungen aufgrund selbst empfundener körperlicher Defizite nicht genauso schlimm wie ein Magengeschwür? Vielleicht – aber wie soll man sich darüber verständigen, was ein körperliches Defizit ist? Die Frage des kri­ tischen Steuerzahlers, ob eine Oper von Henze überhaupt noch Musik sei, hat nur einen anderen Fokus, führt aber zur glei­ chen Ungewissheit. Hier ertönt nun ein entrüsteter Zwi­ schenruf: «Und was ist mit dem Leid der Welt? Schickt die Kunstfreunde nach Kal­ kutta, damit sie erkennen, worauf es wirk­ lich ankommt! Solange es Hunger, Kriege, Aids und Unterdrückung gibt, dürfen wir doch kein Geld für hedonistische Egotrips ausgeben.» Dem kann man entgegenhal­ ten, dass inzwischen ein wesentlicher Teil der globalen Ökonomie auf der Suche der Menschen nach Glück 2 beruht und es ohne diesen Impuls erst recht keine Hoff­ nung für die Bedürftigen mehr gäbe. Aus­ serdem ändern moralisierende Einsprüche keinen Deut an der Tatsache, dass sich Menschen durch Glück 2 herausgefordert fühlen, sobald es ihre Möglichkeiten erlau­ ben. Für viele ist die Suche nach Glück 2 identisch mit der Suche nach dem Sinn ihres Lebens. Dabei lassen sie sich tausend Dinge einfallen. Sie polieren ihr Auto, kaufen sich das zwanzigste Paar Schuhe, flirten per

SMS, lassen sich per iPod entrücken oder pilgern nach Santiago de Compostela. Bei all dem führen immer wieder die gleichen zwei Ideen Regie; die eine bezeichne ich als Erlebnisrationalität, die andere als Selbsttranszendenz. Beide Ideen schauen gewissermassen in entgegengesetzte Rich­ tungen. Erlebnisrationalität wendet sich nach innen. Sie geht Glück 2 direkt an, sie zielt auf felicitas ab, auf Emotion, Faszi­ nation, Freude, Melancholie, Spannung, Entspannung. Erlebnisrationalität ist in­ nengerichtetes instrumentelles Handeln. Man will subjektive Ziele durch situative Mittel erreichen: Konsumgüter, Urlaubs­ orte, Fernsehprogramme, Sportveranstal­ tungen, Konzerte usw. Die Haltung der Selbsttranszendenz wendet sich dage­ gen nach aussen, auf etwas jenseits des Subjekts. Das oberste Ziel ist nicht im In­ nenleben definiert, es hat vielmehr den Charakter der Begegnung, des Berührt­ Werdens, der Kontaktaufnahme mit etwas anderem. Die Mittel für diese Selbsttrans­ zendenz mobilisiert der Handelnde in sei­ nem Innenleben; unter anderem gehören Konzentration dazu, Bildung, Selbstbeob­ achtung oder intensive Gespräche. In der Kulturgeschichte Europas nach dem Zwei­ ten Weltkrieg spielte zunächst das Motiv der Erlebnisrationalität die Hauptrolle. In­ zwischen tritt Selbsttranszendenz immer mehr in den Vordergrund. Auf dieses neu­ ere Motiv konzentrieren sich die folgenden Überlegungen. Musik als Erlebnis der Selbsttranszendenz Eine ihrer prägnantesten Ausprägun­ gen hat die Idee der Selbsttranszendenz in der Kunstrezeption seit Beginn des bür­ gerlichen Zeitalters in Europa gefunden. Lassen Sie mich dies am Beispiel der Ge­ schichte des Musikhörens illustrieren: Im späten 17. Jahrhundert wird aus Amster­ dam von Gasthäusern berichtet, soge­ nannten Musikherbergen, in denen die Gäste verpflichtet waren, ein Musikstück vorzutragen. Zur selben Zeit entstanden in Deutschland bürgerliche und studentische Zirkel, die öffentlich musizierten. Johann Sebastian Bach trat in Kaffeehäusern mit einem musikalischen Collegium auf, das Georg Philipp Telemann 1702 in Leipzig gegründet hatte. Zehn Jahre später luden Gastwirte in London wöchentlich zu Kon­ zerten ein. Eine neue Form des Musik­

hörens in Europa nahm ihren Ausgang ausgerechnet in der Kneipe. Kein Wunder freilich: Die Kneipe war der Bezirk von jedermann, sie war der Platz des erwa­ chenden bürgerlichen Selbstbewusstseins. Hätte es damals schon Kulturkritiker gegeben, sie hätten gewiss das Ende der Musik nahen sehen: ihren Absturz in die Niederungen des Massengeschmacks. Was eintrat, war das genaue Gegenteil. Die Menschen lernten Stillsitzen statt Stamp­ fen, Schweigen statt Schwatzen, Konzen­ tration statt Zerstreuung. Der Habitus des aufmerksamen Musik­Hörens ist eine bis auf den heutigen Tag bewahrte Kultur­ leistung des damaligen bürgerlichen Pu­ blikums. Alle reden von Massenverblödung – hier haben wir ein Beispiel von Massen­ vergeistigung. Ursprünglich war Musik eher eine schöne Nebensache. Sie hatte anderen Zwecken zu dienen als nur dem Er­ lebnis. In der Kirche sollte Musik die Litur­ gie begleiten und religiösen Inhalten Aus­ druck verleihen. An den Höfen der Fürsten und Könige diente Musik vorwiegend als

An die Stelle despotischer, religiöser, nationalis­ tischer, rassistischer oder kollektivistischer Begrün­ dungsmuster ist das Glück der vielen getreten. Statussymbol, als akustische Dekoration und als Medium, in dem die Höflinge schwammen wie die Fische im Wasser. Bei Volksfesten war die Musik dazu da, die Leute in Stimmung zu bringen. Diese und ähnliche Formen der Funktionalisierung von Musik sind zwar bis heute nicht ver­ schwunden. Aber etwas Neues kam hinzu und blieb: die Idee, Musik absolut zu set­ zen. Fortan brauchte Musik keinen Anlass mehr, sie war sich selbst genug. Auf der Suche nach Aura Anders, als Walter Benjamin in sei­ nem berühmten Essay über die Kunst im Zeitalter der technischen Reproduzierbar­ keit vorhersagte, hat die heute erreichte Verfügbarkeit von Musik an jedem Ort und zu jeder Zeit die gerade beschriebene Haltung des konzentrierten Musikhörens nicht etwa zerstört, sondern eher noch ver­ stärkt und demokratisiert. Vergleicht man 19


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etwa einen Auftritt der Band Tokio Hotel mit einem Konzert von Arturo Benedetti Michelangeli, so stechen erst einmal die Unterschiede ins Auge. Dabei übersieht man leicht eine fundamentale Überein­ stimmung: Es geht in beiden Fällen nicht

In einer Welt totaler Verfüg­ barkeit haben Unikate und das Unwiederholbare als öffentliches Ereignis Konjunktur wie nie zuvor, auch jenseits der Hochkultur. um das Haben, sondern um das Sein; nicht um Steigerung, sondern um Ankunft; nicht um fortuna, sondern um felicitas. In beiden Fällen dominiert die Idee der Selbsttranszendenz, die Suche nach Aura, die Sehnsucht nach Begegnung mit Phä­ nomen jenseits des eigenen Innenlebens. Was sich vor bald dreihundert Jahren in der bürgerlichen Kunstrezeption angekün­ digt hat, ist lebendig wie nie und hat längst den Kontext der Kunst überschritten. Dass es sich mit der bildenden Kunst ähnlich verhält wie mit der Musik, zeigt sich schon darin, dass immer mehr Men­ schen ins Museum gehen und Ausstellun­ gen besuchen. Warum sehen sie sich die Bilder nicht im Internet an? Sie suchen die Begegnung mit dem Einzigartigen im Re­ sonanzraum der öffentlichen Würdigung. Benjamins Prognose, so zeigt sich nun im Zeitalter der extrem weit fortgeschritte­ nen technischen Reproduzierbarkeit von Kunstwerken, war zu pessimistisch. Es stimmt zwar: In der Alltagswelt überfluten uns Bilder und Musik bis zum Abwinken. Sich auf alles einzulassen, ist unmöglich. Aber genau danach sehnen sich die Men­ schen umso mehr: sich auf etwas einzu­ lassen. In einer Welt totaler Verfügbarkeit haben Unikate und das Unwiederholbare als öffentliches Ereignis Konjunktur wie nie zuvor, auch jenseits der Hochkultur. Auf der Suche nach Aura strömen die Men­ schen ins Fussballstadion, statt sich das Spiel im Fernsehen anzuschauen. Steuerprüfung der Kunst Das hört sich gut an, aber eignet es sich auch für die Steuerprüfung? Was sagt unser Richter, der murrende, kulturophobe 20

Steuerzahler? Wir könnten versuchen, ihn damit zu überzeugen, dass sich der Wert der Kunst weder auf das Werk noch auf den Betrachter reduzieren lässt. Der Wert ent­ steht wie geschildert durch die Begegnung, also sobald sich jemand mit der Kunst be­ schäftigt. Dabei treten drei dominierende Muster hervor, die sich am besten durch Tätigkeitsworte beschreiben lassen: er­ kunden, bewohnen, mitspielen. Alle drei Tätigkeiten bezeichnen Formen der Selbst­ transzendenz. Das Erkunden kann man mit einem Puzzle vergleichen. Man sitzt erst einmal vor den vielen Teilen und weiss gar nicht, wo man anfangen soll, aber man weiss, dass es eine Lösung gibt, oder man vertraut wenigstens darauf. Einige Kunst­ werke sind leichter zugänglich, andere schwerer und manche erst einmal gar nicht. In der Musik hat das Erkunden viel mit der allmählichen Identifikation von Mustern zu tun, aber auch Malerei und Bildhauerei haben bestimmte Codes etab­ liert, die es für den Betrachter zu knacken gilt. Das Bewohnen ähnelt dagegen einem Spaziergang durch eine Stadt oder eine Landschaft, die man schon seit langem kennt. Klassische Musik ist so eine Land­ schaft. Sie steht unter allerstrengstem Na­ turschutz, keine einzige Note darf verän­ dert werden. Die Kunstgeschichte ist so eine Landschaft. Kafka, Proust, Tchechow, Brecht, Musil, Thomas Mann und andere haben Oeuvres wie Landschaften hinter­ lassen, denen man ein Leben lang immer wieder neue Facetten abgewinnen kann. Das Mitspielen schliesslich ist ein Hin und Her mit verschiedenen Akteuren. In der

Der Wert entsteht wie geschildert durch die Begegnung, also sobald sich jemand mit der Kunst beschäftigt. Oper oder im Theater wohnt der Zuschauer einem Spiel bei, dessen Abfolge durch ein Skript festgelegt ist. Doch er ist nicht nur Zuschauer, er ist auch selbst Mitspieler. Eine Opernaufführung ist ein Ritual, das jeden einbezieht. Schon was man anzieht und wie man sich zurecht macht, gehört zum Skript der Opernaufführung, die Pünktlichkeit des Beginns, die konzen­ trierte Ruhe während der Darbietung, Zwischenapplaus und Schlussapplaus – all

dies hat in seinem Gleichbleiben etwas Liturgisches. Ähnliches gilt für Festivals, Ausstellungen, Lesungen. Durch dieses Mitspielen wird das Publikum im Hier und Jetzt einbezogen, die Rituale schaffen einen Rahmen der Begegnung mit der Kunst. Erkunden, bewohnen, mitspielen sind Ausdrucksarten der Selbsttranszen­ denz. Sie setzen ein Äusseres voraus, etwas Gegebenes jenseits des Innenlebens, mit dem man in Kontakt treten kann, ob der Rahmen des Erlebens nun «Kunst» ge­ nannt wird oder nicht. Auf der ganzen Welt, so hat die kulturvergleichende Forschung herausgefunden, erleben Men­ schen dies als beglückend – ganz im Ge­ gensatz zur Bezahlung ihrer Steuern. Ein Teil davon wird zum Fenster hinausgewor­ fen, ein Teil davon in Nützliches investiert, ein Teil davon dem flüchtigen Glück geop­ fert. Das Erste bringt die Steuerzahler auf die Palme, das Zweite nehmen sie seufzend hin, das Dritte macht sie lächeln. Prof. Gerhard Schulze lehrt Methoden der empirischen Sozialforschung an der Universität Bamberg. Sein besonderes Interesse gilt Zeitdiagnosen und zukünftigen Entwicklungen. In vielen Kooperationen mit Wirtschaft, Politik, Medien und Kulturszene brachte er seine Ideen ein. Zuletzt erschien von ihm das Buch Krisen. www.gerhardschulze.de Bei diesem Artikel handelt es sich um die gekürzte Fassung des Referats, das Prof. Gerhard Schulze im März an der Tagung Kunst macht glücklich! des Forums Kultur und Ökonomie hielt. Sie finden das Referat in voller Länge unter www.kulturundoekonomie.ch


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Fire, 2008

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Impossible Balance Act, 2008

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Collage Family, 2007

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eine Epoche, in der das tes, das weit über die ursprünglichen Ab­ liebevollen Verhältnis vollzieht. Diese Be­ Denken nicht versucht sichten hinausgeht. Und dieses Ereignis, ziehung, diese Begegnung, das sind privi­ hätte, das Glück zu definie­ das durch den Akt des Schreibens ge­ legierte Momente; niemand wird sie mir ren, die Kunst zu definie­ schieht, dieser Weg, der sich im Verlauf der nehmen können, niemand wird mir die Be­ ren; dass man sich fragt, Zeilen herausbildet, hat nicht seinesglei­ geisterung abmurksen, auf meiner Bezau­ ob Kunst glücklich mache, chen, er reizt, er ist es wert, dass man sich berung herumtrampeln können. Und das das verblüfft. Man hätte Lust, den Kopf ihm hingibt. Genau wie das, was gelingt, verleiht eine Kraft, die sich nichts macht einzuziehen und seines Weges zu gehen. Es gehören in diesem Spiel das Sichheran­ aus Macht, eine Unverwundbarkeit, die auf gibt für mich nur eine Art, mich über diese tasten, das Abschweifen, die Holzwege, die Kokarden und Lorbeeren pfeift. Liesse sich Verblüffung hinwegzusetzen: indem ich Niederlagen zum Abenteuer. ein kostbareres, wenn auch immer wieder von meinem eigenen Schreiben rede, von Und da bin ich schon entzückt, in zu eroberndes Privileg erträumen? dem was ich erlebe in dem Moment, da ein Bann gezogen, hingerissen, gefangen ge­ * Text sich zu entfalten beginnt. nommen. Durch die Worte. Die Sprache. Schliesslich, wenn Schreiben heisst, sich Sie ist schon lange da, wird noch lange da abzukapseln, so ist diese Abkapselung * Sagen wir es ohne Umschweife: ein Mittel zum Handeln, eine Art, diese Momente des Schreibens sich nicht zufrieden zu geben, das haben Ähnlichkeit mit einer Art Substanzlose abzulehnen, gegen Freude, obwohl nichts je einfach Belanglosigkeit ins Feld zu ziehen, diese Abkapselung ist ein Weg, das ist, obwohl es auch Mutlosig­ keit, Wut, Müdigkeit gibt, Lust, al­ besser in Betracht zu ziehen, was les hinzuschmeissen. Aber diese rings um uns Zeichen gibt, gesagt Mühen wiegen nicht schwer neben werden möchte. Dank der Worte können die Verzweiflung anderer, der sinnlichen Notwendigkeit, die Worte zu erfassen, zu umfangen, mein eigener Schmerz, aber auch über sich hinauswachsen zu las­ die Freuden, die auszudrücken sen, ohne dass ich mich darum sich die Literatur so schwer tut, kümmere, was aus diesen hitzigen sich verwandeln, einen neuen Sta­ tus erreichen. Und selbst wenn das Nahkämpfen früher oder später hervorgehen wird. nur eine Illusion sein sollte, ist doch Die Sprache ist ihm Freundin, Komplizin der Genuss dieser Illusion ein sehr * Zunächst ist da die Pflicht, sich realer Genuss und wird es schaffen, und Geliebte, und ihrem Bann zu zurückzuziehen, sich provisorisch so hoffe ich immer, sich auf den Le­ erliegen, ein Privileg: Der Schriftsteller von der Welt zu lösen, der Stille ser zu übertragen, ihm eine leben­ Michel Layaz über Momente des und Einsamkeit Raum zu geben. dige Materie darzubieten, die ihn Zwar ist der Akt egoistisch, ent­ mitreisst. Glücks, der Wut und der Mutlosigkeit, zieht sich den andern, doch es ist * die ihm das Schreiben beschert. gut, das menschliche Elend, die Real ist ebenfalls, und darin liegt Habgier, die Dummköpfe hinter vielleicht der wichtigste Punkt, Von Michel Layaz dass das Schreiben mich zwar sich zu lassen, die Gelüste, die Rachsucht, die Schäbigkeit des All­ stärkt, aber zugleich hindert zu tags und auch jene hinter sich zu wissen, welcher ich bin, mich hin­ lassen, die zählen, die man liebt. dert, von mir Besitz zu ergreifen. Sich ganz der Literatur zu widmen, der ge­ sein. Es liegt mir daran, sie zu pflegen, Ich bin ein Subjekt in Bewegung, ein Vaga­ genüber – mag die Formulierung meinet­ vielleicht, weil sie auf ihre Weise auch bund, der sich auf Worten, durch Worte wegen weihevoll klingen – der Schriftstel­ für mich sorgt. Wenn ich das Territorium vorwärts bewegt. Und ja, so ist es beglü­ ler Verantwortung übernimmt. eines im Entstehen begriffenen Textes be­ ckend, von Text zu Text, sich in die Realität setze, und ich, faktisch, auch durch ihn des Schreibens zu stürzen, diesem Bann * Danach kann die Arbeit beginnen, abge­ begrenzt bin, fühle ich mich gut. Die Spra­ zu erliegen, der mich drängt, einen Klang schirmt. Ich habe ein paar Empfindungen che und ich, wir sind zugleich Freunde, zu suchen und auch die Frage zu stellen, im Gedächtnis, ein paar Ideen, ich habe Komplizen und Verliebte. Ich ahne, wel­ wieder und wieder die Frage zu stellen: Wer vor allem Wörter, die durcheinander auf­ ches Glück ich habe. Die erotische, kör­ sind diese «Ichs» in mir? tauchen, Konstruktionen, die angerast perliche Komponente ist wichtig, selbst Michel Layaz wurde bekannt durch Les Larmes kommen, Farben, die klarer hervortreten, wenn Pflegen eine gewisse Gewaltsam­ de ma mère (Zoé, 2003) und La Joyeuse Tonalitäten, die es mir ermöglichen, nicht keit nicht ausschliesst, Schlachten, Ver­ Complainte de l’idiot (Zoé, 2010). Sein jüngstes Werk Cher Boniface, ist 2009 erschienen. nur meine anfänglichen Ideen oder Emp­ zerrungen oder einfache Verstauchungen, www.layaz.com findungen zu übersetzen, sondern eine Nasenstüber; nichts Verhängnisvolles Aus dem Französischen von Yla M. von Dach Form hervorzubringen, etwas Unerwarte­ jedenfalls, weil das Ganze sich in einem

Dem Bann des Schreibens erliegen

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Can Someone Tell Us Why We Are Here??, 2006

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as prägendste Merkmal der der Kulturbereich die Strategie der «poli­ Stadtentwicklung, Gesundheitsförderung, öffentlichen Debatten über tischen Anbindung»: Als Sektor mit ver­ Bildung oder Kriminalprävention. Aller­ den gesellschaftlichen Wert hältnismässig bescheidenen finanziellen dings hatte die Anbindungsstrategie auch von Kunst und Kultur ist Ressourcen und geringem politischem Ge­ nachteilige Auswirkungen, wie die Ten­ die zunehmende Schwie­ wicht begann er, sich an ökonomische und denz zu «evidenzbasierter Politikgestal­ rigkeit, ein überzeugendes soziale Agenden «anzubinden», um von tung» und die Einführung des Mantras Argument für staatliche Kulturförderung den höheren Budgets und vom grösseren «Was zählt, ist, was funktioniert» als zu finden, das Politiker, Kulturverwalter, politischen Einfluss dieser Bereiche staat­ Richtschnur für die Politikgestaltung und Künstler und Steuerzahler gleichermassen licher Tätigkeit zu profitieren. Als Folge da­ die Verteilung der öffentlichen Mittel. akzeptieren. Verantwortlich dafür ist die von wurden die beiden wichtigsten instru­ Staatlich unterstützte Kulturorgani­ vermeintliche Krise des Wohlfahrtsstaats, mentellen Argumente für die Bewertung sationen müssen heutzutage ihren Geld­ ausgelöst durch einen angeblichen, globa­ der Rolle von Kunst und Kultur in der heu­ gebern gegenüber belegen können, dass lisierungsbedingten «Rückzug des Staa­ tigen Gesellschaft immer beliebter: einer­ ihre Aktivitäten messbar zum Erreichen tes», die Belastung durch die alternde seits, dass Kunst positive Veränderungen sozioökonomischer Ziele beitragen. Zu diesem Zweck erheben sie Bevölkerung und die daraus systematisch Daten über resultierenden Probleme im Gesundheits­ und Sozial­ die Zusammensetzung und wesen sowie die allgemeine die kulturellen Konsum­ Tendenz, die finanziellen gewohnheiten ihres Publi­ Ressourcen einzuschränken. kums und nehmen Evalua­ Zudem wird die Rechtfer­ tionen vor, um aufzuzeigen, tigung staatlicher Kultur­ inwieweit die vorgegebenen subventionen dadurch ver­ sozioökonomischen Ziele kompliziert, dass es immer erreicht worden sind. Die schwieriger zu belegen ist, gesammelten Zahlen und Um mehr Geld und Einfluss zu erhalten, hat sich weshalb bestimmte Formen Fakten sollen schlüssig be­ die Kulturpolitik in Grossbritannien zunehmend künstlerischen Schaffens un­ weisen, dass Kunst tatsäch­ an die soziale und ökonomische Agenda angehängt. lich in der Lage ist, einen terstützt werden sollen, wäh­ Die Argumente sind bekannt: Kultur wirke wertvollen Beitrag zu ver­ rend sich andere ohne Hilfe schiedensten Vorhaben zu auf dem freien Markt durch­ sozial integrativ und bringe auch wirtschaftliche schlagen müssen. Früher, als leisten. Dazu gehören die Standortvorteile. Die zunächst erfolgreiche Förderung der Stadtent­ es eine klare und weithin Strategie führt aber zunehmend in eine Sackgasse. anerkannte Hierarchie des wicklung und der lokalen künstlerisch Wertvollen gab, Wirtschaft, soziale Integra­ Eine Wertediskussion ist unumgänglich. war es einfach zu bestimmen, tion und gesellschaftlicher Zusammenhalt, die Förde­ welche künstlerischen Akti­ Von Eleonora Belfiore vitäten staatliche Förderung rung körperlicher und psy­ verdienten. In den letzten 40 chischer Gesundheit, päda­ Jahren stellte die Kulturtheorie mit neuen bewirkt und dadurch die soziale Integra­ gogische Ziele oder sogar die Verringerung Ansätzen die anerkannte Definition des tion und den gesellschaftlichen Zusam­ der Kriminalität. Dies führte zu einer Flut kulturell Wertvollen jedoch zunehmend in menhalt fördert; und andererseits, dass von «Wirksamkeitsstudien», die behaup­ Frage, wie zum Beispiel die Zweiteilung Kultur als Motor für die wirtschaftliche ten, messen und bewerten zu können, in­ zwischen Hochkultur und Populärkultur Entwicklung dient, sowohl auf lokaler als wieweit die subventionierte Kultur soziale oder kommerzieller Kunst, wodurch sich auch auf nationaler Ebene (z.B. in Berei­ und/oder ökonomische Auswirkungen hat im soliden Fundament, auf dem der Begriff chen wie Beschäftigung, Freizeitkonsum und ob sie zur Umsetzung der staatlichen Wirtschafts­ und Sozialpolitik beiträgt. Kultur ruhte, tiefe Risse auftaten. Dieser oder Stadtentwicklung). postmoderne Angriff auf das traditionelle Die «Anbindung» hat sich, zumindest Durch den wachsenden Stellenwert Verständnis von Kunst und Kultur und ihre in Grossbritannien, in vielerlei Hinsicht als von Evaluationen und Analysen reduzierte Institutionen erschwerte die Formulierung erfolgreiche Strategie erwiesen. So stand sich die öffentliche Debatte über Kultur­ jeglicher Kulturpolitik, da die Entscheidun­ die Kultur auf der Insel noch nie so stark finanzierung zunehmend auf sozioöko­ gen, welche künstlerischen Praktiken un­ im Fokus der politischen Debatte (wenn nomische Aspekte – dies auf Kosten einer terstützt werden sollen, immer auf Wertur­ auch nicht immer im positiven Sinn), wie offenen Diskussion über den Wert von Kul­ dies heute der Fall ist. Durch seine Bereit­ tur und ihre Funktion in der heutigen teilen basieren. schaft, soziale und ökonomische Ziele zu Gesellschaft. Mittlerweile scheint mehr Kultur soll den Zusammenhalt fördern verfolgen, hat der Kulturbereich zudem Energie in die Suche nach der perfekten Als Reaktion auf das komplexere kul­ Zugang zu beträchtlichen Mitteln aus an­ Methode zur Wirkungsbestimmung inves­ turelle und politische Umfeld entwickelte deren Etats erhalten, wie denjenigen für tiert zu werden als in das Bemühen zu ver­

Über den Zweck der Kunst

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stehen, was mit den «Auswirkungen von Kunst und Kultur» eigentlich gemeint ist. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die öffentlichen Debatten über staatliche Kulturförderung intellektuell verarmen, weil sie immer stärker vom vereinfachten und befangenen Jargon der Politik und des Kultursektors dominiert werden, während gleichzeitig keine völlige Klarheit darüber herrscht, was die Kunst bei ihrem Publi­ kum auslöst und welche Veränderungen sie bewirken kann. Ein zweischneidiges Schwert Die Mängel der verwendeten Metho­ den zur Wirkungsevaluation (sowohl in sozialer als auch in ökonomischer Hin­ sicht) haben auch erhebliche politische Konsequenzen. In Grossbritannien sind sich Politikanalytiker, Politikgestalter und Vertreter der New­Labour­Regierung (ver­ antwortlich für die instrumentalistische Prägung der britischen Kulturagenda) weitgehend darüber einig, dass die Evi­ denzbasis für schlüssige Aussagen über die sozioökonomischen Auswirkungen von Kunst und Kultur nicht ausreichend ist. Wenn jedoch die Rechtfertigungen für Kulturausgaben auf der Annahme solcher Auswirkungen beruhen, besteht natürlich die Gefahr, dass das gesamte Legitimie­ rungsgefüge in sich zusammenbricht. Trotzdem sind instrumentalistische Argu­ mente sehr populär und haben zumindest in Grossbritannien erfolgreich dazu beige­ tragen, den Kulturbereich mit zusätzli­ chen finanziellen Mitteln auszustatten; sie

Das in Grossbritannien von der New Labour­Regierung eingeführte Mantra «Was zählt, ist, was funktio­ niert» ist bestenfalls naiv und schlimmstenfalls irreführend. könnten sich letztlich aber als zweischnei­ diges Schwert erweisen. Paradoxerweise hat der Mangel an so­ liden Beweisen für die sozioökonomischen Auswirkungen von Kunst und Kultur aber nicht zu einem Bedeutungsverlust dieser Argumente geführt, ganz im Gegenteil. Um über das Evidenzproblem hinwegzu­ helfen, war bei der Präsentation von sta­

tistischen Daten aus Wirksamkeitsstudien natürlich ein gewisses Mass an Selektivi­ tät erforderlich; dazu kam eine bewusste Überbewertung des Potenzials von Kunst und Kultur in Bezug auf die erhofften individuellen und gesellschaftlichen Ver­ änderungen. Wie sich diese, zumindest in Grossbritannien, häufig anzutreffende Haltung in der Praxis auswirkt, schilderte 2003 Chris Smith, der erste Kulturminis­ ter der New­Labour­Regierung: «Ich gebe ungeniert zu, dass ich zu meiner Zeit als Minister jedes Mal, wenn ich gegen das Finanzministerium in die Schlacht zog, sehr darauf bedacht war, die richtigen Knöpfe zu drücken» – soll heissen, dass er stets den enormen sozioökonomischen Nutzen betonte, den die von ihm bean­ tragte Kulturförderung ganz gewiss ha­ ben werde. Dass kulturpolitische Debatten zu­ meist nicht offen und unbefangen geführt werden, zeigt sich auch daran, dass die Behörden meist davon ausgehen, die Ver­ änderungskraft der Kultur führe in jedem Fall zu einer Verbesserung (moralischer, verhaltenstechnischer, pädagogischer, psy­ chologischer oder anderer Art). Wenn Kunst und Kultur tatsächlich nachhaltige Wirkungen auf ihr Publikum haben, ist es jedoch nur logisch, dass diese Effekte so­ wohl positiv als auch negativ sein können und dass das Ergebnis nicht zwingend eine Verbesserung sein muss. Kulturförderung ist eine politische Entscheidung Müssen wir also stets über den Gar­ tenzaun der Kultur hinausblicken, um glaubwürdige Argumente für ihre gesell­ schaftliche Relevanz zu finden? Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Fest steht jedoch, dass wir das Potenzial evidenzbasierter Politik realistischer ein­ schätzen sollten. Die Vorstellung eines ideologiefreien Raums, in dem Entschei­ dungen allein aufgrund der Belege für die Wirksamkeit einer bestimmten kulturpo­ litischen Massnahme getroffen werden, ist schlicht unsinnig. Das in Grossbritannien von der New Labour­Regierung einge­ führte Mantra «Was zählt, ist, was funkti­ oniert» ist bestenfalls naiv und schlimms­ tenfalls irreführend. Die Beliebtheit von Wirkungsnachweisen und instrumentalis­ tischen Rechtfertigungen für Kulturförde­ rung ändert nichts an der Tatsache, dass

Politikgestaltung immer einen ideologi­ schen und von Natur aus politischen Cha­ rakter haben wird. Dass die Gestaltung der Kulturpolitik ein zutiefst politisches Unterfangen ist, zeigt sich schon alleine daran, dass es trotz der Unzulänglichkeit der verfügbaren Be­ weise für die sozioökonomischen Effekte weiterhin Kulturförderung gibt. Hinge die Vergabe von Mitteln tatsächlich vom Nach­ weis ab, dass die Kultur zum Erreichen po­ litischer Ziele beiträgt, wäre sie in echten Schwierigkeiten. Dass der dürftige Wir­ kungsnachweis nicht zu Kürzungen von Fördergeldern geführt hat, zeigt, dass die Entscheidung, Kunst und Kultur zu unter­

Hinge die Vergabe von Mitteln tatsächlich vom Nachweis ab, dass die Kultur zum Erreichen politischer Ziele beiträgt, wäre sie in echten Schwierigkeiten. stützen, letztlich eben doch eine politische Entscheidung ist, die unabhängig von Er­ hebungen und Statistiken gefällt wurde. Die Bereitstellung von öffentlichen (und privaten) Mitteln für die Kultur ist keine Frage von nachgewiesenem Nutzen, son­ dern von Politik und von Werten; es geht um die Art von Gesellschaft, in der wir le­ ben wollen – eine Frage, wie sie politischer kaum sein könnte. Werte und Überzeu­ gungen kommen in den öffentlichen De­ batten über Kulturförderung und ­politik selten zur Sprache, weil sie heikel und kon­ trovers sein können; tatsächlich sind sie aber die wahren Gründe dafür, dass es überhaupt Strukturen zur Unterstützung der Kunstschaffenden gibt. Wenn wir vom übermässigen Ver­ trauen auf instrumentalistische Rechtfer­ tigungen der Kulturförderung abrücken wollen, müssen wir anerkennen, welch zentrale Rolle Werte und Überzeugungen in politischen Prozessen spielen, wie sich Kunst und Kultur auf den Einzelnen und die Gesellschaft auswirken und was sie wertvoll und damit unterstützungswürdig macht. Dass solche Überzeugungen nicht (oder noch nicht) durch die Art von Nach­ weisen abgestützt sind, die sich Politikge­ stalter so sehnlich wünschen, negiert oder 27


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relativiert in keiner Weise ihre Wichtigkeit. Wenn wir eine andere, weniger instrumen­ telle Definition des Werts von Kunst und Kultur anstreben, müssen wir akzeptieren, dass diese eine ideologische Dimension hat und daher ein Konsens nicht immer mög­ lich sein wird. Der «Instrumentalismus» ist 2500 Jahre alt Tröstlich mag in diesem Zusammen­ hang sein, dass in der Geschichte der westlichen Zivilisation noch nie Einigkeit darüber geherrscht hat, aus welchen Gründen Kultur «gut» oder eben auch «schlecht» für die Menschen ist. Wie der Blick zurück zeigt, war in der Vergangen­ heit die Diskussion über die Verände­ rungen, die Kultur bewirken kann (zum Besseren und zum Schlechteren), viel­ schichtig und komplexer, als man auf­

Die Bereitstellung von öffentlichen (und privaten) Mitteln für die Kultur ist keine Frage von nachgewie­ senem Nutzen, sondern von Politik und von Werten. grund der heutigen kulturpolitischen De­ batten meinen würde. Zudem waren die Debatten über die Funktionen von Kunst und Kultur schon immer stark politisiert – so findet sich die erste Formulierung ei­ ner kohärenten instrumentellen Kultur­ politik bereits in Platons Politeia, einer Be­ schreibung des idealen, gerechten Staates. Historisch gesehen ist der «Instrumen­ talismus» also rund 2500 Jahre alt, so alt wie die westliche Zivilisation selbst; neu­ zeitlich hingegen ist die Fixierung auf Messungen und «Wirkungsnachweise». Die Tatsache, dass über mehr als zweiein­ halb Jahrtausende hinweg so viele illustre Persönlichkeiten vom Einfluss der Kultur auf Glückseligkeit, Gesundheit, Moral­ empfinden und Bildung der Menschen so­ wie auf die Schaffung einer gerechteren Gesellschaft überzeugt waren, ist unab­ hängig von der Frage der Nachweisbarkeit ein guter Ausgangspunkt für das Bestre­ ben, uns weg von einengenden instru­ mentellen Rechtfertigungen der Funk­ tionen von Kunst und Kultur und hin zu einer abgerundeteren und intellektuelle­ 28

ren Betrachtung dessen zu bewegen, was Kunst und Kultur wertvoll macht. Interessanterweise wurde in früheren Zeiten vermehrt auch die «negative Ver­ änderungskraft» von Kunst und Kultur angesprochen, also ihr Potenzial, den Menschen zu verderben, vom rechten Weg abzubringen und unglücklich zu machen. Dieser Gedanke ist in der intel­ lektuellen Tradition der westlichen Welt fest verwurzelt und geht auf niemand Geringeren als Platon zurück, den Be­ gründer der abendländischen Philosophie. Wenn wir anerkennen, dass Kunst und Kultur die Fähigkeit haben, Individuen und ganze Gesellschaften nachhaltig zu beeinflussen, müssen wir ebenso akzep­ tieren, dass die Veränderung manchmal auch zum Schlechteren sein kann. Kunst kann uns durchaus glücklich machen – sie kann aber auch Unbehagen und Irritation auslösen. Gemäss der Theorie der sozialen Ansteckung können bestimmte Formen von Kunst und Populärkultur sogar zu gefährlichem oder gewalttätigem Verhal­ ten führen. Wir müssen deshalb eine auf­ richtige Diskussion über die Werte von Kunst und Kultur anstreben, die sich mit den schwierigen und kontroversen Aspek­ ten der Frage «Wie verändert Kunst den Menschen?» befasst. Dies ist natürlich ein viel anspruchsvollerer Ansatz, der sich aber langfristig als sinnvoller und nützli­ cher erweisen könnte. Weiterführende Literatur: Belfiore, E. (2009): «On bullshit in cultural policy practice and research: Notes from the British case», in International Journal of Cultural Policy, Vol. 15, Nr. 3, S. 343–359. Belfiore, E. und Bennett, O. (2008): The Social Impact of the Arts: An intellectual history. Palgrave/MacMillan, Basingstoke. Gray, C. (2002): «Local government and the arts», in Local Government Studies, Vol. 28, Nr.1, S. 77–90. Dr. Eleonora Belfiore ist Associate Professor am Zentrum für kulturpolitische Studien der Universität Warwick in England. Ihre Forschung konzentriert sich auf den Stellen­ wert sozioökonomischer Argumente in kulturpolitischen Debatten und die theoreti­ schen und methodologischen Probleme, die dadurch entstehen. Frau Belfiore hielt dieses Referat am diesjährigen Forum Kultur und Ökonomie zum Thema Kunst macht glücklich! Aus dem Englischen von Reto Gustin


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Mr. Lucky and Mr. Unlucky, 2006

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Mammoth, 2008

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The Angry Face, 2007

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I

n der griechischen Mythologie gibt es den Gott Kairos, also den Gott der «rechten Zeit», der «günstigen Gelegenheit». Ein Epigramm des Dichters Posei­ dippos aus dem 3. Jahrhundert vor Christus ist überliefert, welches dieser in Betrachtung des Bildnisses von der Hand des Bildhauers Lysippos schrieb.

spät kommt, den bestraft das Leben». We­ nige Wochen später fiel bekanntlich die Mauer, und Honeckers Regime brach zu­ sammen. Wenn man will, kann man Kairos auch mit «Timing» übersetzen, etwas, das eng mit der Vorstellung von Glück zusam­ menhängt. Dem Glück kann man mit dem richtigen Timing durchaus manchmal auf die Sprünge helfen, und nichts, das wissen wir alle, macht unglücklicher als verpasste

die Verbindung von Kunst und Alltag heute aussähe, wenn Andy Warhol 1960 nicht die Zeichen der Zeit erkannt und sich von sei­ ner Karriere als Werbegrafiker verabschie­ det hätte, um Künstler zu werden. Und auch das «Swiss Wonder», also der inter­ nationale Triumph einer neuen Künstler­ generation aus der Schweiz in den 1990er­ Jahren war kein von höherem Geschick gelenkter Ausgleich nach einer langen Wer bist du? Phase der künstlerischen Stagnation. Viel­ Ich bin Kairos, der alles über­ mehr sind Phänomene wie der windet. Durchbruch von Pipilotti Rist Re­ sultate von vielen einzelnen Fakto­ Warum läufst du auf Zehenren, von einer ganzen Kette von Entscheidungen, die stets damit spitzen? zu tun haben, dass Chancen ge­ Ich laufe beständig. nutzt wurden. Ich gehe davon aus, Warum hast du Flügel an den dass alle an diesem Glück beteilig­ Füssen? ten Akteure die Expansion der kulturellen Sphäre früh erkann­ Ich komme plötzlich wie der Wind. ten, dass die Künstlerin die Mög­ lichkeiten der Technik und das Interesse des Publikums nutzte, Warum hast du in der rechten Die Idee «der günstigen Gelegenheit» dass die Vermittler das Potenzial Hand eine Schneide? hängt eng mit der Vorstellung erkannten, die Kritiker sich mit­ Um den Menschen zu zeigen, von Glück zusammen. Ein Künstler, reissen liessen und die Händler dass ich schärfer zertrenne als der die Bedeutung des Glücks alle anderen. im richtigen Moment die richtigen Kontakte spielen liessen. Dies in Kunst und Leben als Schauspiel Warum fällt dir eine Haarlocke wiederum wäre nicht möglich ge­ inszenierte, war Allan Kaprow. in die Stirn? wesen ohne unzählige einzelne, Der Kunsthistoriker Philip Ursprung Damit derjenige, der mir be­ bereits viel früher einsetzende Ent­ gegnet, mich auch ergreifen scheidungen. Dazu gehört die seit erzählt, weshalb Kaprows den 1980er­Jahren verstärkte För­ kann. Happenings für ihn eine Quelle des derung der Ausbildung junger Glücks sind, und welche Warum in Gottes Namen hast Künstler, das Netz von Stipendien Kulturpolitik glücklich macht. du einen kahlen Hinterkopf? und Austauschateliers, der Sup­ Wenn ich einmal vorbeigeflo­ port eines feinmaschigen, dezent­ gen bin, wird mich keiner von ralen Netzes von kleinen Kunst­ Von Philip Ursprung hallen, Ausstellungszentren und hinten ergreifen, so sehr er sich auch bemüht. Festivals durch den Staat und die Gelegenheiten. Dies gilt nicht nur für das Privatwirtschaft und der Wille, im Ausland Warum hat dich der Künstler geschaf- tägliche Leben, sondern auch für die Ge­ präsent zu sein. fen? schichte der Kunst und die Kunstpolitik. Ausgehend von der Prämisse, dass Wegen euch, Wanderer, als Denkan­ eine glückliche Kunstpolitik, eine glückli­ stoss. che Kunst und glückliche Menschen un­ Die Kunstgeschichte – eine Reihe trennbar zusammenhängen, möchte ich richtiger Augenblicke Bis heute lebt die Vorstellung des Kai­ Die Kunstgeschichte als solche ist ja im Folgenden einen Künstler präsentieren, ros in der Umgangssprache weiter, etwa in im Grunde eine Aneinanderreihung von der die Rolle des Timing in seinem Oeuvre der Redewendung, dass man eine günstige richtigen Augenblicken. Man stelle sich immer wieder umkreiste, die Bedeutung Gelegenheit «beim Schopf packen müsse», vor, wie die Geschichte der Architektur ver­ des Glücks in Kunst und Leben performa­ damit sie einem nicht entwische. Die be­ laufen wäre, wenn der englische Entre­ tiv aufführte und meine eigene Vorstellung rühmteste Anspielung auf den Kairos in preneur und Ingenieur Joseph Paxton die des Zusammenhangs von Kunst und Glück der jüngeren Vergangenheit ist der Satz, Chance nicht ergriffen hätte, innerhalb prägte. Es handelt sich um den amerika­ den Michail Gorbatschow im Oktober 1989 von nur vier Monaten den Crystal Palace nischen Künstler Allan Kaprow, geboren Erich Honecker bei seinem Besuch in Ost­ für die erste Weltausstellung in London 1927, gestorben 2006. Als meine Kollegin Berlin gesagt haben soll, nämlich, «Wer zu 1851 zu errichten. Man stelle sich vor, wie Hedy Graber und ich Kaprow im Sommer

Das Timing zum Glück

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1996 zu einem Workshop in die Kunsthalle Palazzo in Liestal einluden, führte er mit uns eine Reihe von sogenannten Activities durch. Sie trugen den Titel Performing Life – «das Leben spielen». Eine davon be­ stand darin, dass jemand mit einer Kreide einen Strich auf die Strasse zog und ein anderer diesen mit einem Radiergummi wieder auslöschte. Die Activity dauerte so lange, bis entweder die Kreide oder der Gummi aufgebraucht waren. Als ich auf dem Bahnhofsplatz kniete und meinen Strich malte, während mein Partner eifrig rubbelte, um diesen wieder unsichtbar zu machen, schaute uns eine wartende Frau zu. Sie fragte uns schliesslich, was wir tä­ ten. Ich antwortete, dass ich einen Strich zöge, den mein Partner wieder ausradiere, solange bis entweder die Kreide oder der Gummi verbraucht seien. Sie rief: «Ja, aber das ist ja wie im Leben!» Keine Zuschauer, nur Mitspieler Die Annäherung der Kunst an das Le­ ben zieht sich als roter Faden durch die Kunst von Allan Kaprow. Er suchte wie viele seiner Generation in den 1950er­Jah­ ren nach einem Weg, der dominierenden Malerei des Abstrakten Expressionismus zu entkommen. Er sah das kunsthisto­ rische Dilemma der 1950er­Jahre perso­ nifiziert in der Figur von Jackson Pollock, der zwar die Grenzen des Tafelbildes radi­ kal erweitert hatte, der aber letztlich dis­ tanziert blieb und nicht ins Bild eintau­ chen konnte. In seinen Augen war Pollock charakteristisch für den tragischen, also unglücklichen künstlerischen Helden. Im Unterschied dazu interessierte er sich für die glückliche Kunst, welche er im Spiele­ rischen und Experimentellen suchte – etwa wenn er betonte, dass die experimen­ telle Kunst nie tragisch, sondern ein Präludium sei. Kaprow löste das Problem der Beschränkung auf das Tafelbild mit den sogenannten Environments, also at­ mosphärischen Umgebungen, in welche die Betrachter buchstäblich eintauchen konnten. Er setzte sie einem Ambiente von Eindrücken aus, die alle Sinne umfassten, wo sie, wie in Yard, einem Feld aus alten Reifen, die Objekte anfassen und verän­ dern durften. Anfang der 1960er­Jahre entwickelte er diese Methode weiter in den Happenings. Die Bilder wurden quasi lebendig, sie wurden aufgeführt wie in A Spring Happening, wo ein Akteur mit

einem Rasenmäher die erschreckten Zu­ schauer auseinandertrieb. In einem dritten Schritt hob er die Trennung zwischen Akteuren und Zuschauern, die an die Struktur des Theaters erinnerte, ganz auf. Bald gab es in seinen Happenings keine Zuschauer mehr, sondern nur Mitspieler. Handlung und Ort, Akteure und Zuschauer verschmolzen untrennbar miteinander zu einem Ereignis, das gänzlich in der Gegen­ wart stattfand. Der Geschlechterkampf als Happening In seinem Happening Household – griechisch: «Ökonomie» – im Mai 1964 führten Studenten der Cornell University auf einer Mülldeponie während eines Tages eine Art Geschlechterkampf. Nach Kaprows Einführung in einem Hörsaal fuhren die Teilnehmer in ihren Autos zum Schauplatz. Es gab keine Zuschauer. Die Handlung war ein ritualisierter Geschlech­ terkampf, ausgetragen zwischen einer Frauen­ und einer Männergruppe, wäh­ rend eine dritte Gruppe als Chor im Hin­ tergrund fungierte. Der Vormittag wurde mit Aufbauen verbracht. Die Männer er­ richteten einen «Turm» aus gefundenen Stangen, Brettern, Seilen, Autoreifen und sonstigem Müll. Die Frauen bauten ein «Nest», und zogen darum herum eine Wä­ scheleine, an die sie alte Hemden aufhäng­ ten. Am Nachmittag kamen Autos an mit der «Beute» eines rauchenden Autowracks im Schlepptau. Die Männer stiessen das

Wenn Joseph Beuys sagte: «Jeder Mensch ist ein Künstler», hätte Kaprow entgegnen können: «Jeder Künstler ist ein Mensch.» Wrack in eine Grube, und bestrichen es mit Marmelade. Die Frauen blieben in ih­ rem Nest und kreischten. Der Chor um­ ringte die Szenerie, versteckt hinter Bäu­ men. Danach gingen die Männer zum Nest und stahlen die aufgehängten Kleider. Die Frauen gingen zum Auto und leckten die Marmelade weg. Die Männer zerstörten in dieser Zeit das Nest, kamen danach zum Auto, vertrieben die Frauen und begannen selber Marmelade zu essen, die sie mit Brotscheiben aufstippten. Die Frauen rannten schimpfend weg und demolierten den Turm der Männer. Der Kampf der

Geschlechter nahm seinen Gang. Die Männer kehrten daraufhin zum Auto zu­ rück und zertrümmerten es, angefeuert von den Frauen, mit Vorschlaghämmern. Nachdem sie das Auto angezündet hatten, verliessen die Frauen laut hupend in den Wagen, in denen sie gekommen waren, den Schauplatz. Die Männer scharten sich um das rauchende Wrack, zündeten sich Zigaretten an und warteten, bis das Auto ausgebrannt war. Danach gingen sie nach Hause. Ausgehend von Tätigkeiten wie Bauen und Einrichten, Spielen und Tanzen kul­ minierte Household im symbolischen Ver­ speisen eines Autowracks. Das Happening evozierte Themen wie die sexuelle Befrei­ ung und das erwachende Interesse für das Leben auf dem Lande bis hin zur Kritik der Wegwerfgesellschaft. Die Teilnehmer hat­ ten anlässlich des Happenings Gelegen­ heit, Freud und Leid des gemeinsamen Wohnens, Essens und vor allem auch des Kontakts mit dem anderen Geschlecht performativ aufzuführen. Von ihrer Mit­ wirkung hing der Erfolg des Happenings ab. Die Form war Resultat eines Prozesses, der sich der Planung widersetzt und auf kollektiven, pragmatischen Entscheidun­ gen beruht. Kunst als Kinderspiel Die Vergänglichkeit von Household gehörte laut Kaprow zu den Eigenschaf­ ten, die seine Happenings von früheren Kunstformen unterschieden. Es war eine Folge der in seinen Augen stetig kürzer werdenden Lebensdauer von Kunstwer­ ken. Indem er den Fokus auf die Lebens­ dauer der Kunst legte, zeigte Kaprow, dass er sich nicht mehr für die Frage nach dem Wesen der Kunst interessierte, sondern vielmehr nach ihrem Ort und ihrer Funk­ tion fragte. Es ging ihm also nicht um die Gretchenfrage der Moderne «Was ist die Kunst?», also die Frage nach deren Wesen oder Natur, sondern vielmehr um die Frage «Wo ist die Kunst?», «Wie lange dauert sie?», «An wen ist sie gerichtet?», also die Frage nach ihrer Funktion und ihrem Ort. Er war sich der Rolle des Timings stets ge­ nau bewusst und betonte, dass die Künst­ ler nicht auf einen Nachruhm hoffen durf­ ten, sondern sich in ihrer Gegenwart Gehör verschaffen mussten. «[The artist] must put­up or shut­up, succeed in conveying his vision in reasonably good time or con­ 33


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sider giving up the attempt.» Seine Wur­ zeln lagen im amerikanischen Pragmatis­ mus, nicht im europäischen Idealismus. Wenn Joseph Beuys sagte: «Jeder Mensch ist ein Künstler», hätte Kaprow entgegnen können: «Jeder Künstler ist ein Mensch.» Wenn er von der Verschmelzung von Kunst und Leben sprach, teilte er damit nicht das Ziel der Avantgardekünstler, die mittels der Kunst das Leben verbessern und die Pro­ bleme der Wirklichkeit lösen wollten. Viel­ mehr ging es ihm darum, die Kunst zu verbessern, indem er sie der Komplexität und Widersprüchlichkeit des Lebens expo­ nierte. Seine Happenings waren nicht Auf­ führung von etwas, sondern das «Gesche­

Wir wurden unterstützt und in Ruhe gelassen. Darauf, so meine Überzeu­ gung, fusst eine glückliche Kulturpolitik. hen» konkreter, einmaliger kollektiver Erfahrung. Strukturell erinnern sie an Kinderspiele, also daran, sich kurzfristig gemeinsam selber gewählten Regeln zu unterwerfen – im Unterschied zu den Spielen der Erwachsenen, die in der Regel ein Wettkampf sind. Dieses vorüberge­ hende Aufheben der Distanz einerseits, die Lösung von einem Zweck andererseits, führt, so würde ich behaupten, zu glückli­ chen Momenten. Das Spielen nach selbst gewählten Regeln, wo keiner verlieren, kei­ ner Fehler machen kann, löste den Druck, ein bestimmtes Ziel erreichen zu müssen, und erlaubte es allen Teilnehmern, ganz im Hier und Jetzt zu agieren. Den Rücken frei haben Als Hedy Graber und ich Allan Kap­ row 1996 nach Liestal einluden, stand er am Tiefpunkt seiner Bekanntheit. Einer seiner Studenten hatte uns auf ihn auf­ merksam gemacht. Selbst Experten wuss­ ten damals nicht, ob er überhaupt noch lebte. Unser kuratoriales Timing, die un­ mittelbare Wirkung betreffend, so könnte man einwenden, war also schlecht. Die Ausstellung zog etwa zwei Dutzend Besu­ cher an, und den Katalog verkauften wir vielleicht zehn Mal. Aber die Activities – neben derjenigen auf dem Bahnhofplatz beispielsweise, sich die Hand zu geben und zu fragen «Is it warm yet?», bis einer sagt 34

«yes» –, hinterliessen bei uns Teilnehmern einen bleibenden Eindruck. Für mich ver­ änderten sie die Art der Wahrnehmung von ganz alltäglichen Gesten und das Ge­ fühl für den Lauf der Zeit. Am Ende des Workshops hatte ich den Eindruck, viel geleistet und besser sehen gelernt zu ha­ ben. Im Moment des Geschehens, aber auch im Rückblick, erfuhr ich ein Gefühl des Glückes. Dieses Glücksgefühl wirft die Frage auf, ob das Timing wirklich so schlecht gewesen war. Es mag sein, dass die Presse nichts berichtet hat und der Kunstmarkt keinerlei Reaktion zeigte. Aber die Kon­ stellation hat doch einiges in Gang ge­ bracht. Ich selber hatte endlich den Stoff für mein Buch über das Happening ge­ unden, ein Thema, das mich bis heute nicht losgelassen und das sich inzwischen auf viele Studierende übertragen hat. Und wenn ich die Teilnehmerliste mit der kleinen Gruppe von Studenten in unserem Katalog durchblättere, dann sind viele darunter, die als Künstler, Schauspieler, Architekten und Kuratoren internationale Karrieren verfolgen. Alle Teilnehmer, die ich seither wieder traf, haben diese Stun­ den mit Kaprow als glückliche Zeit in Er­ innerung. Um glücklich zu sein, muss man den Rücken freihaben. Und darin liegt die Rolle der Kulturförderung. Hedy Graber und ich hatten in den 1990er­Jahren das Privileg, das ausstellen zu dürfen, was wir wollten. Die Kulturförderung von Kanton und Bund subventionierte unsere Arbeit, ohne sich in irgendeiner Form einzumischen. Wir durften unsere Fragen selber stellen, ungeachtet von Zielvereinbarungen, Leit­ bildern, Besucherzahlen. Wir wurden un­

Die Kultur ist ein fragiles und flüchtiges Phänomen, so wie der Kairos selbst. Sie muss ihre Orte haben und ihre Plattformen. terstützt und in Ruhe gelassen. Darauf, so meine Überzeugung, fusst eine glückliche Kulturpolitik. Ohne Alimentierung kann die Kultur nicht existieren. Es reicht, einen Blick auf die einst blühenden Kunstszenen zu werfen, die ohne Rückendeckung aus­ kommen müssen und innerhalb weniger Jahre verdorrt sind, beispielsweise jene in

Moskau, in Santiago de Chile, aber auch jene im heutigen Italien ausserhalb der Kunstbiennale, um festzustellen, wie ex­ poniert die Kultur der Gegenwart bleibt, wie abhängig sie von Förderung ist und wie vital der Zugang zu den Märkten nach wie vor ist. Ohne den Schutz der Staaten und der Institutionen riskiert sie, inner­ halb kurzer Zeit zu verschwinden. Die Kultur ist ein fragiles und flüchtiges Phänomen, so wie der Kairos selbst. Sie muss ihre Orte haben und ihre Plattfor­ men. Und vor allem ist es unumgänglich, dass wir denjenigen, die sich entscheiden, als Produzenten von Kultur zu arbeiten, den Rücken frei halten. Sie nicht zu stören und ihnen gleichzeitig Raum zu geben, ist die Hauptsache. Dann stellt das Glück sich ein. Philip Ursprung, (*1963 in Baltimore, MD.), ist seit 2005 Professor für Moderne und zeitgenössische Kunst an der Universität Zürich. Zuletzt erschien vom ihm Die Kunst der Gegenwart, München, C.H. Beck, 2010. Bei diesem Artikel handelt es sich um die gekürzte Fassung des Referats, das der Autor an der Tagung Kunst macht glücklich! des Forums Kultur und Ökonomie im März hielt.


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Smoke Bombs, 2008

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OR T SZEI T

Die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia unterhält ein weltweites Netz von Aussen­ stellen. Sie dienen dem Kultur­ austausch mit der Schweiz und erweitern die kulturellen Netzwerke.

San fR an c I S c O n Ew yO R k paR IS ROm wa R Sc hau kaIR O kapSTa d T n Ew dE lh I Sh an g haI

Flow Space, interaktive Installation von Daniel Bisig/ Martin Neukom/Jan Schacher, 2009.

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swissnex San Francisco zeigt in der Ausstellung Milieux Sonores Werke von Schweizer Künstlern, Komponisten und Sounddesignern. In den imaginativen Klangräumen vereinen sich Symbolisches und Hochtechnologisches zu einem akustischen Erlebnis der besonderen Art.

Von Peter Kraut, Zürich – Sprechende Wände – das kennt man aus billigen Mietwohnungen oder Krimis. Mit unseren Ohren können wir feste Mauern durch­ dringen, ins Material hinein lauschen und erahnen, was hinter der Wand vor sich geht. Und wer schon einmal in einer Musikhochschule durch lange Korridore geschlendert ist, kennt die eigenwillige akustische Zufallspoesie aus Bruchstücken der Musikgeschichte, die sich beim Fort­ schreiten überlagern. Solche akustischen Alltagssituationen finden in der Ausstellung Milieux Sonores des Institute for Computer Music and Sound Technology (ICST) der Zürcher Hochschule der Künste ihre künstlerische und wissenschaftliche Entsprechung. Ur­ sprungsidee war, «imaginative Räume» in einer Ausstellung umzusetzen, wie Marcus Maeder, Kurator und Öffentlichkeitsbeauf­ tragter des ICST, sagt. In der Theorie wid­ met man sich virtuellen Klangräumen seit einiger Zeit, aber im Medium der Ausstel­ lung sind sie noch vergleichsweise un­ erforscht. «Baue uns einen imaginativen Klangraum», lautete also die Forderung an die Künstler – ein erstes Resultat konnte man bereits im Februar 2009 im Kunst­ raum Walcheturm in Zürich erleben. Fünf ganz unterschiedliche Positionen waren zu hören – aber auch zu sehen und zu erfor­ schen – Positionen, die von Künstlern, Komponisten, Sounddesignern und Künst­

Fotos: Lorenzo Pusterla

Nachbarschaften des Klangs


lerteams inszeniert wurden: Yves Netzhammer/Bernd Schurer, Felix Profos, Rob van Rijswijk/Jeroen Strijbos sowie das Trio Daniel Bi­ sig/Martin Neukom/Jan Schacher liessen sich auf das nicht ganz einfache Vorhaben ein, akustische Umgebungen zu gestalten, die dann auch im realen Raum als at­ traktive Ausstellungsarchitektur ihren festen Ort finden mussten. Geheimnissvolle Geräusche aus dem Nebenzimmer Eine Neuauflage der Aus­ stellung findet nun auf Einladung von swissnex San Francisco in der Gray Area Foundation for the Arts statt. swissnex San Francisco, eine Aussenstelle des Staatssekre­ tariats für Bildung und Forschung, widmet sich dem schweizerisch­ amerikanischen Wissensaustausch in den Bereichen Wissenschaft, Bildung, Kunst und Innovation. 2008 hat swissnex San Francisco gemeinsam mit Pro Helvetia ein Programm lanciert, das die Wech­ selwirkungen von Kunst, Wissen­ Mutmassliche Windlasten, Soundskulptur mit Environment schaft und Technologie untersucht von Yves Netzhammer und Bernd Schurer, 2009. – die Ausstellung Milieux Sonores passt also bestens ins Programm. «Die San stimmen, dann setzt das sofort Fantasien Francisco Bay Area ist für unsere Arbeit in Gang. Profos fördert genau das, denn ideal», erklärt Programmleiter Luc Meier: er lässt den Besucher in einem kargen «Das Zusammentreffen von höchstentwi­ Raum mit Monitor und Kopfhörer allein, ckelter Technologie mit den Unternehmen sodass er sich die geheimnisvollen Geräu­ des Silicon Valley, von wissenschaftlichem sche aus den Nebenzimmern selbst aus­ Know­how und der urbanen, liberalen Kul­ suchen kann. Sogleich beginnt das Rät­ tur dieser Stadt schaffen ein extrem frucht­ seln, worum es sich bei diesen Geräuschen, deren Ursprung man nicht sieht, denn bares Klima.» Für die Zweitauflage der Ausstellung handeln könnte. Ein zentraler Ort der Ausstellung und in San Franciso wird die Architektur nochmals überarbeitet: Wenn das Akusti­ auch ein wichtiges Instrument in der For­ sche, also das Uneinsehbare, im Zentrum schungsarbeit des ICST ist ein rund drei stehen soll, dann scheint eine dunkle, et­ Meter hoher, vieleckiger geometrischer was geheimnisvolle Grundstimmung pas­ Körper. Dieser Dodekaeder ist ein «Testob­ send. Entlang eines minenartigen Baus jekt zur Beherbergung künstlerischer Ar­ mit kristalliner Struktur werden Arbeiten beiten», so Maeder. Steht man im Zentrum in separaten Räumen eingerichtet. Felix dieses Körpers, so ist man umgeben von Profos etwa spielt bewusst mit dem Effekt zahlreichen Lautsprechern, die nun alle des «Nebenraums», wie man ihn auch aus Arten von akustischen Umgebungen simu­ Arbeiten der Klangkünstler Janet Cardiff/ lieren können, die weit über das hinaus­ George Bures Miller kennt: der irritieren­ gehen, was man heute im Kino als «Sur­ den und anregenden Divergenz von akus­ round­Sound» erlebt. In diesem Objekt tischer und visueller Wahrnehmung. bleibt der Besucher an Ort, aber das akus­ Anders gesagt: Wenn die Informationen tische Geschehen dreht und bewegt sich unserer Augen und Ohren nicht überein­ eindrücklich um ihn herum.

Eine weitere Installation, in der sich Symbolisches und Hoch­ technologisches trifft, stammt vom Duo Yves Netzhammer/ Bernd Schurer. In Mutmassliche Windlasten spielt Netzhammer mit sanft abstrahierten, aber asso­ ziationsreichen Objekten: Tisch, Schubladen, Säulen, Kissen – und einem Soundtrack von Bernd Schurer, der diese geheimnisvolle Installation nochmals um ein paar vieldeutige Facetten erweitert. Schnittmenge aus Kunst und Wissenschaft Die drei Beispiele zeigen, wie nahe in diesem Thema Poesie und Rationalität, präzise Technologie und Nicht­Formulierbares stehen. Marcus Maeder weist darauf hin, dass es letztlich um die Schnitt­ menge aus Kunst und Wissen­ schaft geht, wobei das eine dem anderen nicht als Krücke dienen soll. Vielmehr sind es die Wechsel­ wirkungen zwischen der akus­ tischen Wahrnehmung und den anderen Sinnen, die präzise in Szene gesetzt und befragt werden. Das Konzept der Ausstellung Milieux Sonores erinnert so auch an die Idee, die der Kulturphilosoph Aby Warburg in seiner berühmten Bibliothek umgesetzt hatte: die gute Nachbarschaft der Bücher und Themen anstelle einer Logik der hierarchischen Klassifizierung. Wer sich dennoch theoretisch mit dem Thema aus­ einandersetzen will, dem sei die Begleit­ publikation Milieux Sonores / Klangliche Milieus. Klang, Raum und Virtualität empfohlen, die zur Ausstellung erscheint. Milieux Sonores ist vom 11.9.–12.11.2010 in der Gray Area Foundation for the Arts in San Francisco zu sehen. Informationen unter www.gaffta.org; www.swissnexsanfrancisco.org und www.icst.net Peter Kraut ist Sozialwissenschaftler und arbeitet in verschiedenen leitenden Funktionen an der Hochschule der Künste Bern. Er schreibt, lehrt und vermittelt im Bereich der zeitgenössischen Musik, Popkultur und bildenden Kunst.

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OR T SZEI T

Politische Plakate, Müll­ berge und das Abendmahl Michelangelos dienten der Luzerner Künstlerin Michelle Grob als Inspirationsquelle. Während ihres 12­monatigen Atelieraufenthalts am Istituto Svizzero in Rom ist sie in die Ewige Stadt eingetaucht.

Fahrten durch die Jahrtausende, die in Rom übereinandergeschichtet liegen wie kaum an einem zweiten Ort auf der Welt. Was für die Römer Alltag ist, ist für Fremde, für Künstler erst recht, ein schier uner­ schöpflicher Fundus an überwältigenden Sinneseindrücken. Durch die Zeit fahren hiess auch das Projekt, an dem Michelle Grob am Istituto Svizzero arbeitete. Einem Dutzend Künstlern und Wissenschaftlern gibt das Schweizer Kulturinstitut jedes Jahr die Möglichkeit, für ein knappes Jahr in Rom zu leben und zu arbeiten. Eine Ausstellung über eine Ausstellung Im Garten der herrschaftlichen Villa Maraini, gleich neben der Via Veneto, liegt Michelle Grobs Atelier, ein heller schlichter Raum in einem funktionalen Neubau mit Blick auf Palmen und Zypressen. Dort traf ich sie im Mai, noch mitten in der Arbeit. Draussen, neben dem Eingang, stapeln sich Obstkisten aus Plastik, drinnen Woll­ knäuel in allen Farben. «Was mich an Rom

Selbstporträt der jungen Künstlerin vor der Villa Maraini.

Von Kordula Doerfler, Rom – Am An­ fang stand eine Reise. Auf dem Landweg näherte sich Michelle Grob Rom, so wie es Bildungsreisende und Künstler der vergan­ genen Jahrhunderte schon immer taten. Sie fuhr, zeitgemäss, mit der Vespa, hielt mal hier, mal dort. Nach einer Woche ver­ schluckte die italienische Hauptstadt sie, mit ihrem tosenden, chaotischen Verkehr. Fast ein Jahr lang bewegte sich die junge Schweizer Künstlerin täglich durch die nie kleiner werdende Blechlawine, immer schauend, suchend, sammelnd. Es waren 38

zutiefst fasziniert, sind die Gegensätze», sagt Grob. «Überall sind diese Haufen aus Stein aus unterschiedlichsten Zeiten. Sie liegen herum wie Müll – und daneben gibt es die moderne Stadt und ihren modernen Müll.» Das hat die Luzerner Künstlerin inspiriert. Sie sammelt Roms Müll, achtlos weggeworfene Produkte der Globalisie­ rung: Regenschirme aus China, die beim ersten Windstoss bersten, Plastikgegen­ stände, die niemand mehr braucht und niemand entsorgt. Dazu kommt ein sehr italienisches Produkt, die Plakate, mit de­

nen Italiens ungeliebte Politikerkaste ihr Wahlvolk praktisch täglich beglückt. Was am Ende ihrer Streifzüge herauskommen würde, wusste die Künstlerin oft selbst nicht, doch ihr Atelier zeugt eindrücklich von ihrer Kreativität. Michelle Grob hat Menschen fotografiert, die in Rom eine Ausstellung von New Yorker Künstlern be­ suchen, und daraus neue Plakate gemacht. Am Ende soll eine Ausstellung über eine Ausstellung entstehen, eine Verfremdung, wie sie typisch ist für Grobs Arbeitsweise. Gehäkelte Porträts Bekannt geworden ist Grob mit Vi­ deoinstallationen – und eigenwilligen Hä­ kelkreationen. Häkeln ist ihr Markenzei­ chen geworden. Es begann alles mit einer Kappe. An der Kunsthochschule in Luzern schwebte der aus dem sankt­gallischen Wil stammenden Studentin eine bestimmte Art der Kopfbedeckung vor, die sie nir­ gends finden konnte. Also beschloss sie, selbst eine zu häkeln. Wie das geht, musste sie erst einmal im Internet nachschauen. Nach dem vierten Entwurf aber war sie zufrieden – und begann serienmässig zu häkeln und die Produkte auch zu ver­ kaufen. «Es ist eine Tätigkeit, die süchtig macht», lacht sie. Es folgten gehäkelte Ob­ jekte und schliesslich Porträts, auch von Schweizer Politikern, ein hintergründiges, ironisches Spiel mit einer scheinbar biede­ ren Hausfrauentätigkeit. Auch dabei hat Rom Spuren hinterlassen. Mit Strassen­ malern setzte sich Grob an die Spanische Treppe – um Konterfeis zu häkeln statt zu malen. Auch vom Abendmahl Michelange­ los in der Sixtinischen Kapelle, von dessen erotischen Darstellungen, liess sie sich in­ spirieren, und häkelte eine Serie pornogra­ fische Bilder, in den Farben stumpfer als das Original, in der Wirkung umso irritie­ render. Bis zum Juni sammelte die Künst­ lerin Kontraste, dann ging es zurück in die Schweiz. Rom, sagt sie und schmunzelt, sei trotz aller Faszination nicht «ihre» Stadt: «Ich bin eher ein Landei.» Ausstellung in der Galerie Widmer + Theodoridis contemporary in Zürich vom 29.10.–24.12.2010. www.0010.ch Kordula Doerfler lebt seit 2007 als Korres­ pondentin in Rom und arbeitet für die Berliner Zeitung und die Frankfurter Rundschau.

Foto: Michelle Grob

Streifzüge durch die Ewige Stadt


pa R Tn ER : lO TER I E ROmandE

Treibstoff für künstlerisches Schaffen

Illustration: Raffinerie

Swiss Lotto, Tribolo, Euro Millionen: Auf den ersten Blick haben diese Glücksspiele mit Kultur nur wenig zu tun. Und trotzdem: Ohne sie und die Loterie Romande hätte das kulturelle Gesicht der Westschweiz nie dieselbe Ausstrahlung. Von Ariane Gigon – Die Lokalität im Herzen von Lausanne sieht nicht beson­ ders einladend aus. Die Loterie Romande habe kein Geld in Prestige und Prunk in­ vestieren wollen, wird einem drinnen er­ klärt. Die schlichte Einrichtung lässt ver­ gessen, dass hier die künstlerische Existenz von fast allen Kunstschaffenden der fran­ zösischen Schweiz mehr oder weniger auf dem Spiel steht. Fast, denn es gibt keine Informationen dazu, wie viele der West­ schweizer Künstlerinnen und Künstler von der Loterie Romande profitieren. Si­ cher ist aber, dass diese das Kunstschaffen finanziell sehr breit abdeckt. 2009 erhiel­ ten allein im Kanton Waadt 324 Kultur­ institute, ­verbände oder ­stiftungen alles

in allem 13,5 Mio. Franken. «Ohne die Loterie Romande hätten wir unsere Pro­ jekte nie realisieren können», sagt Michel Décosterd vom Musiker­ und Plastiker­Duo Cod.Act aus La Chaux­de­Fonds, das vor kurzem in Linz den angesehenen Prix Ars Electronica erhalten hat. Nach Abzug von Einnahmen und Betriebskosten blieben 2009 192,6 Mio. Franken zum Verteilen. Die Kultur ist mit durchschnittlich 35 bis 40 Prozent des Ge­ samtbetrags – das sind ungefähr 300 000 Franken pro Tag – die Hauptempfängerin, weit vor dem Sozialen, dem Kulturerbe, der Forschung oder der Jugend. «Gewisse Gruppen brauchen nur kleine Beträge», er­ klärt Robert Bielmann, Vorsitzender der Präsidentenkonferenz der Verteilerorgane, welche die Vorsitzenden der Westschweizer Kantone vereinigt und die Loterie Romande verwaltet. «So verlangte die Gruppe älterer Leute, die in Altersheimen singt, nur gerade 500 Franken und war sehr froh, dass sie diese bekam! Am anderen Ende der Skala unterstützt die Loterie Romande aber auch den Bau des Freiburger Theaters mit 2,5 Mio. Franken oder ganze Theatersaisons.» Unabhängig von politischen Behörden Die 1937 gegründete Loterie Romande half anfänglich Leuten, die Opfer der Wirt­ schaftskrise geworden waren, ruft der Prä­ sident Jean­Pierre Beuret in Erinnerung. «Mit dem Konjunkturaufschwung ver­ lagerte sich die Hilfe ganz natürlich auf Kulturprojekte.» Heute funktionieren die Verteilmechanismen und Auswahlkrite­ rien wie geschmiert. Die Gesamtsumme wird den kantonalen Verteilorganen bereit­ gestellt: Die eine Hälfte ist proportional zur Zahl der Bevölkerung, die andere Hälfte proportional zum erzielten Bruttoein­ kommen in diesen Kantonen. Die Zuspre­ chungen werden durch die politischen Behörden ratifiziert, aber die Loterie Ro­ mande ist völlig unabhängig von ihnen, im Gegensatz zu Swisslos in der deutschen Schweiz und im Tessin, deren Gewinne an

Lotteriefonds gehen, die direkt von den Kantonsregierungen verwaltet werden. Damit die Gesuche in der Westschweiz ge­ nehmigt werden können, müssen sie von Verbänden, Stiftungen oder Institutionen kommen. «Privatpersonen unterstützen wir nicht», sagt Robert Bielmann, «eben­ sowenig Projekte, die auf öffentliche Auf­ träge zurückgehen. Unsere Unterstützung ist subsidiär, sie stopft ein Loch in einer öffentlichen Finanzierung.» Von daher überrascht es nicht, dass sich Kunstschaffende mobilisieren, um die Lotterie zu unterstützen, wenn diese an­ gegriffen wird. So geschehen, als die Eid­ genössische Spielbankenkommission be­ schloss, die elektronische Lotterie Tactilo zu verbieten. Das Dossier liegt noch immer beim Bundesgericht. Mit ruhigem Gewissen Doch Leute zum Spielen zu bewegen, um Künstlerinnen und Künstler sowie das Gemeinwohl zu unterstützen, führt das nicht zu einem Gewissenskonflikt? «Nein, überhaupt nicht», antwortet Jean­ Pierre Beuret ohne zu zögern. «Schon immer haben die Völker der Welt gespielt, und sie werden dies auch in Zukunft tun. Die beste Art, diesen Sektor zu verwalten, ist, ihn der öffentlichen Ordnung zu unterstellen. Sonst fällt er in die Hände krimineller Kreise. Zudem dürfen sich Privatpersonen nicht an Geldspielen berei­ chern; die Gewinne sollen dem Gemein­ wohl zugute kommen.» Die Loterie Romande unterstützt nicht nur Informations­ und Präventions­ programme gegen Suchtverhalten, son­ dern sie wirkte auch bei der Lancierung der Volksinitiative Für Geldspiele im Dienste des Gemeinwohls mit, die fordert, dass alle Gewinne aus Geldspielen für gemeinnützige Zwecke verteilt werden, auch die aus Spielbanken. «In der fran­ zösischen Schweiz ist die Lotterie volks­ nah – die Initiative wird dort bestimmt angenommen», sagt Jean­Pierre Beuret optimistisch voraus. www.loterie.ch Ariane Gigon ist freischaffende Journalistin und arbeitet regelmässig für verschiedene Medien der französischen Schweiz wie die Tageszeitung La Liberté und swissinfo. Aus dem Französischen von Markus Hediger

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Im pRESSum

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Herausgeberin: Pro Helvetia Schweizer Kulturstiftung www.prohelvetia.ch

Passagen Das Kulturmagazin von Pro Helvetia online: www.prohelvetia.ch/passagen

Die zehnte Kunst Computerspiele, einst als Suchtmit­ tel verschrobener Nerds verschrieen, gehören heute zur Alltagskultur breiter Bevölkerungsschichten. Spielproduzen­ ten sind Auftraggeber für Kunstschaffen­ de verschiedener Sparten. Deshalb wird die sogenannte 10. Kunst auch für die Kulturförderung zum Thema. In der nächsten Ausgabe von Passagen fragen wir nach dem Kunstwert von Computer­ spielen, statten dem Disney­Forschungs­ zentrum für Computeranimation in Zürich einen Besuch ab und fragen einen Spielforscher, was an den Games eigent­ lich neu ist und weshalb der Mensch spielt. Zudem erfahren Sie, wie sich Pro Helvetia in Sachen Computergames engagiert und wie die Gameförderung in Deutschland und Frankreich aussieht. Start Game heisst es dann Mitte De­ zember.

Pro Helvetia aktuell Aktuelle Projekte, Ausschreibungen und Programme der Kulturstiftung Pro Helvetia: www.prohelvetia.ch

Redaktion: Redaktionsleitung und Redaktion deutsche Ausgabe: Janine Messerli Mitarbeit: Isabel Drews und Elisabeth Hasler

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Die Redewender Nr. 52

Die Redewender: Zur Kunst des Übersetzens Alice im Zululand: Berner Musiker auf Afrika-Tournee S. 6 Transatlantische Wahlverwandtschaft: Adolf Dietrich in New York S. 38 Kunst im öffentlichen Raum: Die eierlegende Wollmilchsau S. 41 D A S K U LT U R M A G A Z I N V O N P R O H E LV E T I A , N R . 5 2 , A U S G A B E 1 / 2 0 1 0

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Die Kunst(ver)führer Nr. 51

Die Kunst(ver)führer Neue Aussichten: Kunst geht bergwärts S. 6 Warschau: Alltagsgeschichten für die Bühne S. 36 Kunst in der Krise: Optimismus um jeden Preis S. 41 D A S K U LT U R M A G A Z I N V O N P R O H E LV E T I A , N R . 5 1 , A U S G A B E 3 / 2 0 0 9

Die Stiftung Pro Helvetia fördert und vermittelt Schweizer Kultur in der Schweiz und rund um die Welt. Sie setzt sich für die Vielfalt des kulturellen Schaffens ein, ermöglicht die Reflexion kultureller Bedürfnisse und trägt zu einer kulturell vielseitigen und offenen Schweiz bei.

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Duett oder Duell? Nr. 50

Duett oder Duell? Zum Verhältnis von Kultur und Politik Kunst im To Tow ownship: Fe F stival fü f r Brenda Fassie S.6 Im Schat a ten der Pyramiden: Schw at h eizer Kunst au hw a s Kairo S.42 0.02692308 Gramm: Das E-Book macht Lektüre leicht S. 45 D A S K U LT U R M A G A Z I N V O N P R O H E LV E T I A , N R . 5 0 / 2 0 0 9

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kOlumn E

Wellenreiter und Ethnopoeten

Illustration: Aurel Märki

Von Guy Krneta – Lange bevor es Schrift und Buchdruck gab, wurden Ge­ schichten erzählt, wurde Sprache geformt und rhythmisiert. Doch auch in Zeiten standardisierter Sprachen übt die Münd­ lichkeit ihren Einfluss auf die Literatur aus. Das ist in vielen Sprachräumen der Welt, insbesondere in den angelsächsi­ schen, eine Selbstverständlichkeit. In der Deutschschweiz wird daraus ein Problem gemacht. Die Deutschschweiz – eine Re­ gion, in der 5 Millionen Menschen leben, mit unterschiedlichen Mundarten, die un­ tereinander gut verständlich sind und flies­ sende Übergänge ins Badische und Vorarl­ bergische haben – spricht anders, als sie schreibt. Wer hier literarische Texte in Um­ gangssprache verfasst, steht im Verdacht, ein Wellenreiter zu sein. Alle paar Jahre hat die Deutsch­ schweiz nämlich ihre Mundartwelle. Vor einigen Jahren hiess es, die Mundart er­ obere die grossen Bühnen des Landes. Es hatte gerade mal drei oder vier nicht­büh­

nendeutsche Aufführungen an Stadtthea­ tern gegeben. Dann war der Spuk offenbar vorbei. Doch die neue Mundartwelle in der Rockmusik, die zu Beginn der Neunziger­ jahre ihren Anfang nahm, scheint nicht mehr verebben zu wollen. Mundartrock bezeichnet heute mehr als die Sprache, in der gesungen wird, sie meint ein Genre. So konnte ich neulich in einer Konzertbespre­ chung über eine englischsprachige Band lesen, sie mache «quasi Schweizer Mund­ art­Rock mit englischen Versen». Es war vernichtend gemeint. Die aktuelle Mundartliteratur da­ gegen bezieht sich nur bedingt auf frü­ here Mundartliteratur. Viel entscheidender scheinen mir die weltliterarischen Ein­ flüsse zu sein, die Autorinnen und Autoren dazu bringen, sich mit den sie umgeben­ den Sprech­Sprach­Realitäten auseinan­ derzusetzen. Umgangssprachen eignen sich, um soziale Realitäten unverblümt zur Darstellung zu bringen. Und die künstleri­ schen Gestaltungsmöglichkeiten gehen

weit darüber hinaus. 1964 forderte Kurt Marti, einer der wichtigen Exponenten der damaligen modern-mundart-Bewegung (mit deutlicher Bezugnahme auf die etwas frühere Wiener Gruppe), in der Mundart­ literatur sollten «endlich jene literarischen Techniken angewandt werden, wie sie Ex­ pressionismus, Dadaismus, Surrealismus, konkrete Poesie usw.» entwickelt haben. Die Forderung ist in der Schweiz seit lan­ gem erfüllt, auch wenn eine Kritikerin neulich, anlässlich des Erscheinens von Pedro Lenz’ Roman Der Goalie bin ig, allen Ernstes wieder fragte, ob man die Mundartliteratur bisher vielleicht unter­ schätzt habe. Im Schweizer Bildungssystem jeden­ falls haben Mundarten keinen Platz. Im Alltag und in den elektronischen Medien erfreuen sie sich grösster Beliebtheit. Be­ merkenswert ist ausserdem, dass sie derzeit nicht nur einen Grossteil unserer münd­ lichen Kommunikation ausmachen, son­ dern – gerade bei jüngeren Generationen – auch unserer schriftlichen. Während die Bildungsverantwortlichen das Schwinden der Schreibkompetenz beklagen, befinden wir uns tatsächlich in einer Phase unge­ heurer sprachlicher Kreativität. Im Um­ gang mit den neuen Medien werden fort­ während neue Schriftsprachen und Codes entwickelt, in denen Buchstaben bisweilen auch durch andere Zeichen und Bilder er­ setzt werden. Gesprochene Sprachen verändern sich schneller als standardisierte. Sie sind sehr durchlässig für anderssprachige Wörter, die aufzunehmen sie in der Lage sind. Sie passen ihren Sound Bevölkerungsentwick­ lungen an, ohne ihre Eigenständigkeit zu verlieren. Sie machen uns bewusst, dass einzelne Sprachen an sich vielsprachig sind. Wenn wir uns vor Augen führen, mit wie vielen Sprachen wir täglich zu tun ha­ ben, wie selbstverständlich wir im Alltag zwischen verschiedenen Sprachen hin und her wechseln, können wir uns nur wun­ dern, wie wenig die Literatur mit dieser Realität anzufangen weiss. Die Mundart­ literatur könnte eine Tür sein für eine in sich vielsprachige Literatur. Guy Krneta ist Theaterschriftsteller und Spoken­Word­Autor. Es ist Mitglied des Spoken­ Word­Ensembles Bern ist überall und Initiant des Schweizerischen Literaturinstituts in Biel.

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Sch a uf EnSTER

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SCHAUFENSTER Plattform für Künstlerinnen und Künstler Global Garden, 2000 Ausschnitt aus dem gleichnamigen Comic von Tom Tirabosco Pastellfarben und Monotypie (Abrieb ab Glasplatte) «Im Comic Global Garden dreht sich alles um einen Traum, in dem meine Skepsis gegenüber dem sogenannten Fort­ schritt, der Technologie und des ungebändigten Wachstums aufscheint. Es ist eine etwas melancholische und nostalgische Geschichte, die sich grosszügig an Figuren und Charakteren aus alten Bildern bedient und gleichzeitig mit Codes und Klischees des modernen Comic arbeitet.» Tom Tirabosco Der Comic ist Teil der chinesischen Spezialausgabe des Magazins Strapazin. Es soll dem Reich der Mitte einen Ein­ blick in die Glanzstücke der zeitgenössischen Schweizer Comicszene vermitteln. Die von Pro Helvetia unterstützte Ausgabe kann unter www.strapazin.ch bezogen werden. Im September erscheint im Gegenzug ein Heft mit Beiträgen chinesischer Comiczeichnerinnen und ­zeichner. Der Illustrator und Comiczeichner Tom Tirabosco (*1966) lebt und arbeitet in Genf.

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«Die Sprache und ich, wir sind zugleich Freunde, Komplizen und Verliebte. Ich ahne, welches Glück ich habe.» Dem Bann des Schreibens erliegen Michel Layaz, S. 24

«Wenn Joseph Beuys sagte: ‹Jeder Mensch ist ein Künstler›, hätte Kaprow entgegnen können: ‹Jeder Künstler ist ein Mensch.›» Das Timing zum Glück Philip Ursprung, S. 32

«Darin liegt die Notwendigkeit einer Einrichtung wie Pro Helvetia: Dass sie lauter kleine Glücksmomente produziert, indem sie Teilhabe ermöglicht…» Geteiltes Glück ist doppeltes Glück Pius Knüsel, S. 12

«Noch nie haben sich so viele Leute so intensiv mit dem Glück Dilemma zwischen Kunst und beschäftigt wie heute.» Das Kanalisation. Gerhard Schulze, S. 16 www.prohelvetia.ch/passagen

Die Stiftung Pro Helvetia fördert und vermittelt Schweizer Kultur in der Schweiz und rund um die Welt.


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