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A Theory of Everything?
from philou. #12 Chaos
by philou.
Wie die Physik versucht, Ordnung in unsere Welt zu bringen
KARLA WEINGARTEN
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PHYSIK
Um unsere Welt zu beschreiben, kennen die Wissenschaften zahlreiche Theoreme, Axiome, Gesetze und Formeln. Dabei ist nicht immer einfach ersichtlich, ob – und wenn ja, wie – diese zusammenhängen. Insbesondere wenn ein physikalisches Gesetz experimentell motiviert ist, ist erst einmal kein direkter Zusammenhang zu einem anderen gegeben. Zahllose verschiedene Theorien sind aber nicht nur unpraktisch, in einem Dschungel von unzusammenhängenden Gleichungen, Axiomen und Theoremen lässt sich leicht der Überblick verlieren. Solches Chaos widerspricht auch einem gewissen Bedürfnis der Menschen, die Welt, die sie umgibt, erklären zu können (vgl. Ayan 2014). Gleichzeitig werden besonders simple und besonders allumfassende Theorien von vielen Physiker*innen als besonders ästhetisch empfunden (vgl. Rovelli 2015). Eine Kombination dieser beiden Ziele hat in vielen Wissenschaften, neben den Natur auch etwa den Sozialwissenschaften, ein Streben nach Vereinheitlichung der Theorien hervorgebracht (vgl. Cat 2022). Es lässt sich allgemein sagen, dass „Vereinheitlichung erreicht [ist, wenn] unabhängige Entitäten (oder Strukturen) in der neuen Theorie auf eine einzelne Entität (oder Struktur) reduziert werden können“ (Salimkhani 2021: 7). Insbesondere in der Physik ist dieses Prinzip zu einer Suche nach einer einzigen Theorie, die alles beschreibt, sozusagen einer Weltformel oder Theory of Everything (TOE), avanciert. In der Literatur ist die Kenntnis dieser nach Belieben entweder für den Aufstieg oder den Untergang der Menschheit verantwortlich, etwa in Dürrenmatts Roman „Die Physiker“. Die Suche nach dieser noch unbekannten Formel treibt auch in der Realität die physikalische Forschung nicht unwesentlich an und bestimmt als Leitprinzip mitunter, in welche Richtung geforscht werden soll. (vgl. Müller 2014) In Anbetracht aktueller Forschung, die gerade auf der Suche nach der TOE auch viele Rückschläge verkraften muss (vgl. Mättig/Stoelzner), stellt sich jedoch die Frage, inwieweit die Idee einer allumfassenden Theorie als wissenschaftliches Leitprinzip taugt. Kann dieses Streben nach Vereinheitlichung in der Praxis zu neuen Erkenntnissen – und somit eventuell zu einer Weltformel – führen, oder wäre eine solche zwar ästhetisch und befriedigend für unser Ordnungsbedürfnis, in der Praxis aber nicht umsetzbar?
Vereinheitlichung kann sowohl zwischen zwei Disziplinen, etwa der Chemie und der Physik, als auch zwischen Theorien innerhalb einer einzelnen Fachrichtung erreicht werden. In den meisten Fällen beschreibt Vereinheitlichung eine Reduktion, also zum Beispiel die Idee, dass alle Phänomene innerhalb der Chemie durch die Gesetze der Physik ausgedrückt werden können. So war etwa der Philosoph Rudolf Carnap Vertreter einer reduktionistischen Version der Vereinheitlichung der Naturwissenschaften, die salopp auch unter „Alles ist Physik“ bekannt ist. (vgl. Access Science 2014) Reduktion spielt auch eine Rolle, wenn sich Physiker*innen auf die Suche nach der Weltformel begeben: Schon bekannte Theorien sollen in einer neuen, einen größeren Bereich abdeckenden Theorie wiederfindbar und somit auf sie reduzierbar sein. Die alte Theorie ist damit nicht falsch, aber überflüssig geworden.
Die fundamentalsten Theorien in der Physik sind die vier Grundkräfte, mit denen die Wechselwirkung zwischen Materieteilchen beschrieben werden kann: Die elektromagnetische Kraft, die die Anziehung zwischen Ladungen beschreibt, die starke Kernkraft, die Atomkerne zusammenhält, die schwache Kraft, die zur Beschreibung von radioaktiven Zerfällen benötigt wird, sowie die Gravitation, die die Anziehung von Körpern aufgrund ihrer Masse beschreibt. Diesen Kräften werden jeweils ein oder mehrere Austauschteilchen zugeordnet, mit denen die Wechselwirkungen modelliert werden können. Wenn von Vereinigung in der Physik gesprochen wird, ist damit gemeint, dass es „eine Theorie gibt, in der keine Unterschiede zwischen diesen vier Kräften mehr bestehen“ (Maudlin 1996: 139). Mit besseren Messmethoden und neuen mathematischen Techniken hat sich das Wissen
über diese Kräfte vergrößert. Im Jahr 1865 fand James Clerk Maxwell heraus, dass magnetische und elektrische Felder ineinander umwandelbar und durch eine einzige Theorie beschreibbar sind. Die zwei ursprünglichen Theorien konnten auf ein System aus nur vier Gleichungen reduziert werden, die das Fundament des oben als erste Theorie genannten Elektromagnetismus bilden. (vgl. Müller 2014) Ein Jahrhundert später, in den 1970er Jahren, kam die elektroschwache Theorie auf. Obwohl sich die elektromagnetische und die schwache Kraft in den für uns zugänglichen Energien sehr verschieden äußern – die schwache Kraft hat eine Reichweite kleiner als ein Atomkern, während die elektromagnetische Kraft prinzipiell unendlich weit reichen kann – wird bei deutlich höheren Energien die Einheit der Kräfte sichtbar. Solche hohen Energien sind etwa kurz nach dem Urknall aufgetreten. Mit dem Abkühlen des Universums hat sich die elektroschwache Kraft in zwei Teile geteilt. (vgl. Morrison 2013) Mithilfe der elektroschwachen Theorie konnten neue Teilchen vorhergesagt werden, die später auch experimentell nachgewiesen wurden, was zur allgemeinen Akzeptanz der Theorie unter Physiker*innen führte (vgl. Müller 2014). Zusammen mit der elektroschwachen Kraft ist die Kernkraft im sogenannten Standardmodell der Teilchenphysik zusammengefasst, sie bleiben dort aber als unabhängige Theorien bestehen. Die Suche nach einer Vereinheitlichung dieser beiden Kräfte in einer sogenannten großen vereinheitlichten
Theorie (Englisch Grand Unified Theory, GUT) ist Gegenstand aktueller Forschung. Die Energien, die zur experimentellen Überprüfung einer GUT benötigt werden, liegen weit über den aktuellen technischen Möglichkeiten. Daher konnte bisher keine mögliche GUT überprüft oder bestätigt werden, sodass mehrere Kandidaten mit unterschiedlich starker Akzeptanz in der Community kursieren. (vgl. Access Science 2014) In einer GUT wären drei der vier eingangs beschriebenen physikalischen Grundkräfte vereint. Eine TOE müsste auch die vierte Grundkraft, die Gravitation, berücksichtigen. Dies stellt eine besondere Herausforderung dar, da die Gravitation im Gegensatz zu den anderen drei Kräften nicht im Rahmen der Quantenmechanik beschrieben werden kann und sich somit mathematisch von ihnen unterscheidet (vgl. ebd.). Allerdings setzt die Suche nach einer TOE voraus, dass die schwache, starke und elektromagnetische Kraft erfolgreich vereinigt wurden (vgl. Morrison 2013). Dies ist jedoch, wie oben erläutert, noch nicht geschehen und wird aller Voraussicht nach auch nicht in der nächsten Zeit passieren. Aktuelle Experimente, etwa am Teilchenbeschleuniger CERN, bestätigen die bereits bekannten Theorien, liefern aber keine Hinweise auf Physik jenseits des Standardmodells der Teilchenphysik, unabhängig von der Art (vgl. Mättig/Stoelzner 2020). Die Suche nach der TOE, egal ob aus pragmatischer oder ästhetischer Motivation, steht damit vor einigen Herausforderungen, führt sie aktuell zu keinen neuen Erkenntnissen. Neben dem momentanen Scheitern der Vereinheitlichung als Leitbild wird der Vereinheitlichungsgedanke auch durch sogenannte emergente Phänomene vor Probleme gestellt. Diese beschreiben Materieeffekte, die nicht durch das Verhalten der zugrundeliegenden Teilchen beschrieben werden können und treten etwa in der Festkörperphysik auf. Hier ist eine Reduktion auf eine einzelne grundlegende Theorie nur schwer vorstellbar. (vgl. Morrison 2013)
Kann der Vereinheitlichungsgedanke noch zu neuen Erkenntnissen führen oder sollte sich die Physik andere Motive suchen, die ihre Forschung anleitet? Kian Salimkhani argumentiert, dass der Vereinheitlichungsgedanke nicht von metaphysischen – also außerhalb der Physik stehenden, eher philosophischen – Annahmen abhängt, sondern „das Ergebnis guter wissenschaftlicher Praxis ist“ (Salimkhani 2021: 20). Vereinheitlichung sei kein äußerlich angenommenes Prinzip, sie entstehe innerhalb des wissenschaftlichen Prozesses als direkte Folge der Suche nach der bestmöglichen Erklärung.
Die Frage, ob das Ziel der Vereinheitlichung, die ganze Welt mit nur einer Formel beschreiben zu können, ein erreichbares und überhaupt erstrebenswertes ist, lässt sich also nicht einfach mit ja oder nein beantworten. Obwohl das Streben nach der simpelsten Beschreibung unserer Welt und damit die ultimative Bändigung des Chaos aus metaphysikalischer und ästhetischer Perspektive als nobles Ziel angesehen werden kann, ist an der Praktikabilität, insbesondere innerhalb der Physik in den letzten Jahrzehnten, zunehmend Zweifel aufgekommen. Die Entdeckung immer neuer Phänomene in der Festkörperphysik scheint die Existenz einer TOE ebenso zu untergraben wie die Tatsache, dass die Teilchenphysik auf dem Weg, die Grundkräfte zu vereinheitlichen, aktuell nicht weiter vorankommt.
Access Science (2014): Unification theories and a theory of everything. In: McGraw Hill Access Science. Online verfügbar unter: https://www.accessscience.com/content/unification-theories-and-a-theory-of-everything/ BR0814141 [Zugriff: 06.06.2022]. Ayan, S. (2014): Why We Wonder Why. In: Scientific American, 08.09.2014. Online verfügbar unter: https://blogs.scientificamerican.com/mind-guest-blog/why-we-wonderwhy/ [Zugriff: 13.06.2022.] Cat, J. (2022): The Unity of Science. In: Zalta, E. (Hg.): The Stanford Encyclopedia of Philosophy. Stanford: Metaphysics Research Lab.
Mättig, P.; Stoelzner, M. (2020). Model landscapes and event signatures in elementary particle physics. In: Studies in History and Philosophy of Science Part B: Studies in History and Philosophy of Modern Physics, 69. S. 12–25.
Maudlin, T. (1996): On the Unification of Physics. In: The Journal of Philosophy, 93(3). S. 129–144.
Morrison, M. (2013): Unification in Physics. In: Batterman, R. (Hg.): The Oxford Handbook of Philosophy of Physics. Oxford: Oxford University Press. Müller, A. (2014): Vereinheitlichung. In: Spektrum. Online verfügbar unter: https:// www.spektrum.de/lexikon/astronomie/vereinheitlichung/512 [Zugriff: 06.06.2022]. Rovelli, C. (2015): The most beautiful physical theory. In: Rovelli, C. (Hg.): General Relativity: The most beautiful of theories. Berlin, München, Boston: De Gruyter. S. 1–6. Salimkhani, K. (2021): Explaining unification in physics internally. In: Synthese, 198. S. 5861–5882.
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„Ich sage euch: man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Ich sage euch: ihr habt noch Chaos in euch.“
FRIEDRICH NIETZSCHE
1844–1900
Chaos im Gefühl
„Dein Gehirn ist ein Dschungel wie jedes andere Gehirn auch. Ein wilder, gefährlicher und gnaden- und gesetzloser Urwald voller unberechenbarer Kreaturen. Perfekte Ordnung und totales Chaos, Diktatur und Anarchie, freier Wille und irrer Zwang, Fressen und Gefressenwerden – all das existiert darin. Wie in einem Zoo, in dem alle Käfigtüren offenstehen.“
Walter Moers (2017): Prinzessin Insomnia & der alptraumfarbene Nachtmahr
ÜBER DAS ES
Einer der populärsten Ansätze zur Erklärung der Persönlichkeit ist die von Sigmund Freud begründete Psychoanalyse. Diese ist zwar in vielen Punkten empirisch nicht haltbar, hat aber die moderne Psychologie stark beeinflusst und wird teilweise noch immer weiterentwickelt. Insbesondere die Vorstellung vom Es, Ich und Über-Ich als zentrale und miteinander konkurrierende Persönlichkeitsbestandteile prägt noch heute die Vorstellung vieler Menschen. Während das Ich gewissermaßen die Exekutive der Persönlichkeit darstellt, sind im Über-Ich Weltanschauungen und Prinzipien verinnerlicht. Über das Es, bei dem es sich um den triebhaften Teil der Persönlichkeit handeln soll, schrieb Freud:
„[Das] Es ist der dunkle, unzugängliche Teil unserer Persönlichkeit; das wenige, was wir von ihm wissen, haben wir durch das Studium der Traumarbeit und der neurotischen Symptombildung erfahren und das meiste davon hat negativen Charakter, läßt sich nur als Gegensatz zum Ich beschreiben. Wir nähern uns dem Es mit Vergleichen, nennen es ein Chaos, einen Kessel voll brodelnder Erregungen. Wir stellen uns vor, es sei am Ende gegen das Somatische offen, nehme da die Triebbedürfnisse in sich auf, die in ihm ihren psychischen Ausdruck finden, wir können aber nicht sagen, in welchem Substrat. Von den Trieben her erfüllt es sich mit Energie, aber es hat keine Organisation, bringt keinen Gesamtwillen auf, nur das Bestreben, den Triebbedürfnissen unter Einhaltung des Lustprinzips Befriedigung zu schaffen. Für die Vorgänge im Es gelten die logischen Denkgesetze nicht, vor allem nicht der Satz des Widerspruchs.“
Siegmund Freud (1940): Gesammelte Werke XV