Fortbildung
Zervikale Bandscheibenprothese
Eine bewegungserhaltende Therapieoption J. Kuchta, P. Simons
Bandscheibenvorfälle und die Osteochondrose der Halswirbelsäule sind im Erwachsenenalter häufig. Durch den Einsatz einer Bandscheibenprothese bleibt die Beweglichkeit der Wirbelsäule erhalten. Diese Therapieoption ist vor allem für die jüngere Altersgruppe der Patienten mit Bandscheibenvorfall geeignet.
© Dr. Andersson/ Dr. Steimel, MediaPark Klinik Köln
Abb. 1: Bandscheibenvorfall HW 5/6 mit deutlicher Wurzelkompression C6 links. Klinisch sensomotorisches C6-Syndrom mit Armbeugerschwäche und radikulärer Sensibilitätsminderung bis zum Daumen.
Abb. 2: Intraoperative Kontrolle der erfolgten Dekompression von dorsalen Osteophyten durch Einbringen von zwei Tasthäkchen in den Spinalkanal.
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andscheibenvorfälle und knöcherne Stenosen der Halswirbelsäule können das zentrale Rückenmark, sowie die seitlich die Halswirbelsäule verlassenden Nervenwurzeln komprimieren (Abb. 1). Die klinischen Symptome unterscheiden sich bei diesen beiden Formen der zervikalen Kompressionsyndrome erheblich (Tabelle 1). Eine Indikation zur operativen Behandlung ist nach Ausschöpfung der konservativen Maßnahmen bei therapieresistenten Schmerzen oder zunehmenden neurologischen Ausfällen gegeben. Bei einer dekompressiven Operation wird die Bandscheibe meist von ventral ausgeräumt, das hintere Längsband reseziert sowie der Bandscheibenvorfall
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entfernt oder Spondylosen abgetragen. Das Rückenmark und die austretenden Nervenwurzeln sind dann wieder frei von Kompression. Um ein postoperatives Zusammensintern des Bandscheibenraumes und eine zusätzliche Belastung der Facettengelenke zu vermeiden, wird ein Platzhalter zwischen die beiden angrenzenden Wirbelkörper eingesetzt. In der Vergangenheit wurde oft ein Knochenstück aus dem Becken verwendet, das im Rahmen einer zusätzlichen Operation explantiert wurde. Viele dieser Patienten klagten nach dieser Knochenspanentnahme über Beschwerden an der Entnahmestelle am Beckenkamm, teilweise kam es auch zu schwereren Komplikationen wie Einblutungen und Mus-
kelabrissen. Aus diesem Grunde werden heute bei Fusionsoperationen, bei denen die Wirbelkörper vollständig erhalten bleiben, häufig Platzhalter aus Knochenzement, Titan oder Kunststoff eingesetzt. Die postoperativen Ergebnisse nach einer Dekompression und Fusion an der Halswirbelsäule sind in der Regel gut. In über 80 % der Fälle kann eine befriedigende Schmerzlinderung erreicht werden. Trotzdem beeinflusst auch eine monosegmentale Versteifung die Beweglichkeit der gesamten HWS. Die angrenzenden Segmente werden durch vermehrte Bewegung messbar stärker belastet. Hilibrand et al. fanden bei einer Untersuchung von 374 Patienten zehn JahORTHOPÄDIE & RHEUMA
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Abb. 3: Intraoperative Mobilisation und Distraktion des Bewerbungssegments. Die Distraktion des Bandscheibenfaches erfolgt zunächst durch die beiden Casparschrauben, die in den angrenzenden Wirbelkörpern verankert sind. Die Mobilisation mit der in den Bandscheibenraum eingebrachten Distraktionszange lässt den Grad der erhaltenen Mobilität unter seitlicher Durchleuchtung abschätzen.
re nach ventraler Fusion an der Halswirbelsäule bei jedem vierten Patienten behandlungspflichtige Probleme in den Nachbarsegmenten. Eine andere Studie von Goffin et al. untersuchte das radiologische Auftreten dieser sogenannten Anschlussdegeneration nach Fusionen an der Halswirbelsäule. Bei 92% aller operierten Patienten lassen sich im Verlauf nach einigen Jahren Schädigungen des Nachbarsegmentes durch bildgebende Verfahren nachweisen. Diese und andere Studien zeigen, dass alle Anstrengungen unternommen werden sollten, die Mobilität der Halswirbelsäule in allen Segmenten zu erhalten. Dies ist durch Implantation einer Bandscheibenprothese in sehr naturähnlicher Weise bezüglich Extension, Flexion, Seitneigung und Rotation möglich. Indikation
Die Hauptindikationen für die Implantation einer zervikalen Bandscheibenprothese sind in erster Linie „weiche“ Banda
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scheibenvorfälle und „harte“ Wurzelkompressionssyndrome durch Spondylosen der Wirbelhinterkanten. Bei Therapieresistenz auf konservative Behandlung oder bei progressiven neurologischen Ausfällen und nachgewiesener Kompression im Kernspintomogramm ist eine Operation indiziert. Bei der Indikationsstellung ist zu beachten, dass ein großer Teil der Nackenschmerzen und nicht-radikulär zuzuordnenden lokalen Beschwerden oft zu Lasten der zervikalen Facettengelenke geht. Hier hilft auch die Druckentlastung durch den Höhengewinn bei einer Bandscheibenprothese oder einem anderen Implantat. Die Facettengelenke der HWS sind wirkliche synoviale Gelenke mit knorpliger Kapsel. Facettenschmerzen entstehen durch Reizung freier und eingekapselter Nervenendigungen. Hier hilft eine diagnostische Facetteninfiltration bei der Zuordnung der Schmerzen. Länger anhaltende Schmerzlinderung kann in solchen Fällen oft auch durch eine Kryo- oder Thermoc
denervation der Facettengelenke erreicht werden. Eine Prothese sollte nur nach erfolgtem Nachweis einer erhaltenen Beweglichkeit im betroffenen Segment implantiert werden. Dies kann präoperativ anhand von Röntgen-Funktionsaufnahmen in lateraler Projektion erbracht werden. Einfacher und realistischer ist jedoch die intraoperative Prüfung nach erfolgter Nucleotomie und nach Entfernen von Osteophyten (Abb. 2 und 3). Hier lässt sich selbst bei präoperativ scheinbar unbeweglichen Segmenten eine deutliche Beweglichkeit nachweisen. Dies ist auch bei Patienten in höherem Alter und bei vorbestehender Osteochondrose der Fall. Ist durch leichte Spreizung intraoperativ keine relevante Beweglichkeit nachweisbar, so sollte auf die Implantation einer Bandscheibenprothese verzichtet werden. Auch bei einer ausgeprägten vorbestehenden Überbeweglichkeit im betroffenen Segment sollte keine Prothese implantiert werden. Diese ist jedoch selten und meist nur nach Verletzung der dorsalen Strukturen (Muskulatur, Lamina, Bandapparat) festzustellen. Bei der HWS gibt es nicht wie etwa beim Hüftgelenk ein festes Rotationszentrum. Die Bewegung beinhaltet fast immer eine komplexe Kombination von Rotation, Gleiten und Transposition in der AP-Richtung, wobei durch die Achsenstellung der Facettengelenke ein Großteil der Bewegungsmöglichkeiten vorgegeben ist. Operationstechnik
Der Patient wird mit neutraler Kopfposition in Rückenlage operiert. Für die intraoperative Kontrolle der operierten d
Abb. 4 a–d: Modelle verschiedener Bandscheibenprothesen für die Halswirbelsäule. a: BRYAN (Medtronic, ca. 16.000 Implantationen weltweit), b: PCM (Cervitech, ca. 4.000 Implantationen weltweit, c: PRO-DISC-C (Synthes), d: PRESTIGE (Medtronic) ORTHOPÄDIE & RHEUMA
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Abb. 5: Schema der unteren Halswirbelsäule mit einer in das Bandscheibenfach eingebrachten Bandscheibenprothese. Die Mittellinie wird durch die beiden Processi Uncinati vorgegeben, welche die knöcherne äußere Begrenzung des Bandscheibenraumes darstellen. Die Position wird intraoperativ mittels seitlicher und AP-Projektion verifiziert.
Höhe wird ein Durchleuchtungsgerät benötigt, das vor dem Abdecken in Position gebracht wird. Bei Vorfällen der unteren Halswirbelsäule kann die Darstellung des betroffenen Segmentes aufgrund des von den Schultern verursachten Röntgenschattens schwierig sein. Nach einem 3 cm langen Hautschnitt entlang einer Hautfalte erfolgt die Präparation im Bereich der Faszienloge rechts paramedian. Dies geschieht ohne spitze Instrumente, also stumpf und atraumatisch mit dem Zeigefinger der rechten Hand. Der Gefäßstrang mit A. Carotis und V. Jugularis wird mit dem M. Sternocleidomastoideus durch den Zeigefinger nach lateral verlagert. Nach Präparation von Luftröhre und Speiseröhre nach medial wird ein Weichteilsperrer eingesetzt. Um das Bandscheibenfach etwas auseinanderzuspreizen und die Ausräumung des Faches zu erleichtern, werden in den beiden angrenzenden Wirbelkörpern Halteschrauben angebracht. Die betroffene Bandscheibe wird dann von ventral her ausgeräumt. Die erste Hälfte der Nucleotomie kann makroskopisch erfolgen, mit zunehmender Nähe zum Rückenmark ist dann die Hilfe des Mikroskopes erforderlich. Nach erfolgter mikroskopisch kontrollierter Dekompression und nach Austasten der beidseitigen Wurzelabgänge (Abb. 2) wird zunächst ein passendes Probeimplantat eingebracht. Zur Veran34
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Klinische Symptomatik bei Wurzel- und Rückenmarkskompression (Myelopathie) Krankheitsbild
Tabelle 1
Wurzelkompression
Myelopathie
Verlauf
akutes Auftreten, häufig nachts
schleichender Beginn
Schmerzen
starker, stechender Schmerz
kaum Schmerzen
Reflexbild
Ausfall der Muskeleigenreflexe (nur obere Extremitäten)
Steigerung der Muskeleigenreflexe, Reflexzonenerweiterung, Kloni (auch an den unteren Extremitäten)
Motorik
isolierte Paresen der Kennmuskulatur
Paresen nicht radikulär, Ataxie steht im Vordergrund
Kriterien zur Indikationsstellung für die zervikale Bandscheibenprothetik, der „MediaPark-Algorhythmus“ Fusion
Prothese
eher älterer Patient
eher jüngerer Patient
keine segmentale Beweglichkeit (prä- oder intraoperativ)
erhaltene segmentale Beweglichkeit (prä- oder intraoperativ)
massive Osteochondrose
fehlende/milde Osteochondrose
nur ein Segment betroffen
mehrsegmentales Problem
Tabelle 2
ohne Voroperationen
bei anderem, ggf. bereits fusioniertem Segment
bei ausgeprägter Myelopathie
bei fehlender/milder Myelopathie
bei ausgeprägtem Facettensyndrom
bei fehlendem/mildem Facettensyndrom
kerung der Prothese wird mittels eines Meißelsystems eine Nut in die angrenzenden Wirbelkörper gearbeitet. Das Meißelsystem hat einen einstellbaren Anschlag, was zusätzliche Sicherheit für das unmittelbar unter dem OP-Feld liegende Rückenmark schafft. Alle Arbeitsschritte erfolgen unter seitlicher Röntgenkontrolle, was eine gute Tiefenabschätzung zulässt (Abb. 2). Die Ausrichtung der Prothese in Bezug auf die Mittellinie erfolgt anhand der seitlich freiliegenden Processus Uncinati, die die lateralen Begrenzungen des Bandscheibenraumes darstellen (Abb. 5). Die Processus Uncinati sollten in jedem Falle erhalten werden, da sie auch den wichtigsten Schutz vor Verletzungen der etwas unterhalb und lateral des Operationsgebietes verlaufenden Aa. Vertebrales bilden. Nach Einsetzen der definitiven Prothese werden die Distraktionsschrauben in den angrenzenden Wirbelkörpern entfernt. Das Operationsfeld wird sorgfältig mit Wasser gespült. Bei klarem
Rücklauf der Spülflüssigkeit wird das Operationsgebiet durch eine resorbierbare Naht verschlossen. Das Einlegen einer Redondrainage ist bei unauffälligem Operationsverlauf nicht notwendig. Nachbehandlung und Ergebnisse
In fast allen Fällen sind die radikulären Beschwerden unmittelbar postoperativ verschwunden oder sie haben sich deutlich gebessert. Auch lokale Symptome wie Verspannungen, Nackenschmerzen und in das Hinterhaupt ausstrahlende Schmerzen zeigen meist eine Besserung. Wichtig ist in diesem Rahmen die richtige Größenauswahl der Prothese. Bei zu flach ausgewählter Prothese können die Lokalsyndrome durch eine zu starke Gewichtsbelastung der Facettengelenke persistieren, bei zu hoch ausgewählter Prothese entstehen Schmerzen durch Überdehnung der Facetten. In unserer Klinik sind bei regelmäßiger Implantation von vier verschiedenen ProthesenORTHOPÄDIE & RHEUMA
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Abb. 6: Postoperative radiologische Stellungs- und Funktionskontrolle bei Z. n. Implantation einer Bandscheibenprothese in Segment HW 5/6. Aufnahmen einer Inklination, Neutralstellung und Reklination zeigen eine regelrechte postoperative Stellung sowie einen physiologischen Bewegungsumfang.
modellen (Abb. 4) und über 50 ventralen Operationen an der Halswirbelsäule pro Jahr lediglich drei Fälle mit postoperativer Heiserkeit aufgetreten. In einem dieser Fälle konnte durch Laryngoskopie eine Lähmung des rechtsseitigen Stimmbandes als Ausdruck einer Läsion des N. Laryngeus Recurrens nachgewiesen werden. Der Entstehungsmechanismus dieser Schädigung ist bisher nicht klar, die beschriebenen Veränderungen besserten sich jedoch in fast allen Fällen nach einigen Wochen. Obwohl eine intraoperative Druckschädigung durch Einsetzen des Sperrers als Ursache wahrscheinlich erscheint, konnten entsprechende Untersuchungen keinen Zusammenhang zwischen dem durch den Sperrer applizierten Druck und dem Auftreten einer Stimmbandlähmung nachweisen. Unserer Erfahrung nach sind die Kontrolle und die Nachregulation des Tubus-Cuffdruckes nach Aufspreizen des Weichteilsperrers wichtig. Nach Einsetzen des Sperrers kann der Cuffdruck von normalerweise 20 mmHg auf über 50 mmHg ansteigen. Über diesen Mechanismus sind druckbedingte Nervenschädigungen des Stimmbandnerven denkbar. Da bereits intraoperativ eine ausgiebige radiologische Kontrolle der Prothesenlage erfolgt ist, und da bei korrekter Implantation eine hohe primäre Belastungsstabilität besteht, können die Patienten postoperativ bereits im Aufwachraum voll mobilisiert werden. Das Tragen einer Halskravatte oder ähnliches 36
ist nicht erforderlich. Einige Studienergebnisse legen eine postoperative Medikation mit Diclofenac über zwei Wochen nahe, da eine sekundäre Verknöcherung im operierten Segment unter dieser Medikation seltener auftrat. Eine spezielle physiotherapeutische Nachbehandlung nach zervikaler Bandscheibenprothese ist in der Regel nicht erforderlich. Da es sich bei Spondylosen und Bandscheibenvorfällen jedoch in den seltensten Fällen um rein einsegmentale Probleme einer sonst vollkommen gesunden Wirbelsäule handelt, ist nach einigen Wochen der Beginn einer speziellen Kräftigungstherapie zum Muskelaufbau (z. B. Yoga, Pilates oder ähnliches) indiziert. Eine vorübergehende Dysphagie tritt nach ventraler HWS-Operation in circa 10–20 % aller Fälle auf, Risikofaktoren sind Revisionschirurgie, weibliches Geschlecht und Operationen in mehr als zwei Höhen. Die von Patienten und Chirurgen so gefürchteten möglichen schweren Komplikationen (A. Carotis-/A. Vertebralis-Verletzung, Rückenmarksschädigung mit Querschnittsyndrom, Duraverletzung, Speiseröhrenperforation, Nachblutungen usw.) sind zwar prinzipiell möglich, bleiben im Zeitalter der mikroskopisch assistierten Chirurgie jedoch tragische Einzelfälle und sind in unserer Klinik bisher nicht aufgetreten. Die Beweglichkeit im implantierten Segment kann in den meisten Fällen nachweislich langfristig erhalten werden (Abb. 6). Nach aktuellen radiologischen
Langzeituntersuchungen beträgt die segmentale Beweglichkeit im implantierten Bandscheibenfach durchschnittlich 8° und enspricht somit weitgehend der natürlichen Beweglichkeit. Eine manchmal zur sekundären Versteifung führende verstärkte knöcherne Überbauung im operierten Segment, die „heterotope Ossifikation“, wurde in 18 % aller untersuchten Fälle in geringem Ausmaß beobachtet. Im Rahmen einer im Jahre 2007 in der Zeitschrift „Spine“ veröffentlichte Studie (Mummaneni et al.) wurden die Ergebnisse der HWS-Fusionsoperation mit den Ergebnissen nach Implantation einer Bandscheibenprothese verglichen. Prothesenpatienten wurden durchschnittlich schneller wieder arbeitsfähig, Folgeoperationen mussten nach einer Prothesenimplantation seltener durchgeführt werden. Die zervikale Bandscheibenprothetik hat somit das Potenzial, in Zukunft viele Fusionsoperationen an der Halswirbelsäule zu ersetzen. Dr. med. Johannes Kuchta Drs. Patrick Simons Praxis für Neurochirurgie MediaPark Klinik Köln Im MediaPark 3 50670 Köln
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