Brentanos Studio – Goetheanum – Hannes Weigert

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Brentanos Studio Hannes Weigert





Brentanos Studio

Goetheanum



Bilder Hannes Weigert

Texte Alexander Schaumann

Johannes Nilo



Johannes Nilo

Der Ausgangspunkt für diesen Text über Hannes Weigerts Werk ‹Øya› ist eine schwer beschreibbare Erfahrung. Schwer zu beschreiben, weil sie nicht mit einer mehr oder weniger präzisen Bildinterpretation bzw. Bildbeschreibung festzuhalten ist, da der Bildraum selbst, den das Werk versuchsweise zu öffnen sucht, nicht fixierbar ist. So ging es mir bisher mit den Bildern. Patrick Müllerschön, Maler und langjähriger Freund von Hannes Weigert, brachte die Erfahrung auf den Punkt, als er sagte, «man kann sich die Bilder eigentlich nur im Vorbeigehen anschauen»1. Das ist insofern eine paradoxale Formulierung, als das Gelingen einer jeglichen Anschauung einen Ruhepunkt voraussetzt. Ein mild-kühles und helles grünes Dreieck auf weißem Hintergrund war das Bild, das die Richtung angab für die ‹Øya›-Serie. Als ich es zum ersten Mal sah, dachte ich an ein Segel. Es gibt da kein Boot zu sehen, das Weiß will kein Meer sein, das Grün kein Segel. Was es aber vermittelt, ist Aufbruch und Richtung – nach rechts, leicht nach innen. Dies trifft nicht nur auf das Schaffen der 77 Bilder zu, das in diesem Moment noch vor Weigert lag, sondern auch auf das Motiv selbst: die 77 hauptsächlich jugendlichen Menschen, die ein Jahr zuvor, am 22. Juli 2011, bei einem Anschlag erschossen oder in die Luft gesprengt worden waren. In Oslo und auf der Insel Utøya in Norwegen. Der Bildraum also ist deshalb so schwer zu fassen, weil er


nichts abbildet – es ist ein geistiger Raum. Es ist der Raum, der uns mit den Toten verbindet. Die buchstäbliche Schwere, die vielen der Bilder anhaftet und die die Bildempfindung wie Blei beschwert, ist ebenso ein konstituierendes Moment der Bilder wie die sich auflösende Helligkeit. Wie gesagt, man muss sie sich im Vorbeigehen aneignen. Das geht nur portionsweise. Für den Maler wie für den Betrachter. Die Rezeption von ‹Øya› hängt von der Bereitschaft ab, die Eigenbewegung in diesem unbestimmten Raum ernst zu nehmen. Um den Zugang zu diesem unbestimmten Raum wenigstens einzukreisen, werde ich im Folgenden einen kunsthistorischen Exkurs über die Auffassung von dem malerischen Raum der Moderne und über den Bruch mit dieser Auffassung in der Kunst um die Wende vom 19. Zum 20. Jahrhundert einschalten. Seit der Renaissance und Leon Battista Albertis Traktat über die Malerei (‹De pictura›) von 1435 gilt das gemalte Bild als Fenster zur Welt. Alberti verband zudem das offene Fenster («finestra aparta») mit der Idee der Zentralperspektive. Auf dem zweidimensionalen Bildträger lässt sich die dreidimensionale Wirklichkeit als Illusion darstellen. Wir sehen in einen Raum hinein. Das Bewusstsein wacht auf für seine eigene Wirklichkeit. Es bemerkt, dass es teilnimmt an der Wirklichkeit und dass das Sehen einen bis dahin

ungesehenen produktiven Akt darstellt. Die Entdeckung der Zentralperspektive ist zugleich die Entdeckung des Ich, das sieht. Ab diesem Punkt beginnt das Aufwachen des Künstlers an dem eigentümlichen Sein, das wir Ich nennen. Die Entdeckung der Zentralperspektive ist aber verräterisch und versperrt zunächst die Hoffnung auf einen Zugang zum Ich, die sie selbst schenkte. Die Faszination von der Möglichkeit, Wirklichkeit im Bild ‹getreu› zu repräsentieren, wirkt für die kommenden Jahrhunderte ablenkend. Wohl bemerkt, für diese besondere Form der Ich-Realisation als Eigensein. Nicht für die Realisation des Ich als unabhängige Kraft gegenüber der Natur. Das Selbstbewusstsein erfährt im Gegenteil eine Stärkung als Ruhepunkt, von dem aus die Welt regierbar wird. Genau diese Kraft, ohne welche wir die Entwicklung des Westens mit Schlagbohrmaschinen, Dreischichtglas und gps nicht denken können, wird aber für das Ich zum Verhängnis. Es könnte sein, dass es zu einer unaufhaltsamen Verschiebung dessen kommt, was in dem Moment der Entdeckung aufleuchtet. Sich im Selbstbewusstsein unreflektiert aufzuhalten, ist ein gefährliches Geschäft. Es gefährdet das Ich. Gleichwohl ist es erst diese Kraft, die Bewusstsein mit dem Eigensein als Ich ermöglicht. Die Dialektik von Schein und Sein scheint dem Ich eingeboren zu sein. Dies ist der Hintergrund, auf dem ich die Malerei von Hannes Weigert betrachten möchte.


Gegen Ende des 19. Jahrhunderts gerät die Überzeugung vom Wert der Repräsentation ins Wanken und wird schließlich gänzlich aufgegeben. Statt durch das Bild etwas anderes zu schauen, soll die Bildoberfläche uns anschauen. Die Farben und Formen sollen nicht etwas anderes repräsentieren, sondern sich selbst darstellen. Wilhelm Worringer schreibt in seiner Dissertation ‹Abstraktion und Einfühlung› von 1906: «Die banalen Nachahmungstheorien, von denen unsere Ästhetik dank der sklavischen Abhängigkeit unseres gesamten Bildungsgehaltes von aristotelischen Begriffen nie loskam, haben uns blind gemacht für die eigentlichen psychischen Werte, die Ausgangspunkt und Ziel aller künstlerischen Produktion sind.»2 Eine reine Malerei interessiert sich nur für die Eigendynamik der ihr eigentümlichen Materialität, für die Farben und für die Flächigkeit. Die Idee einer «abstrakten» Malerei wird geboren und durch mitunter dogmatische, sich gegenseitig ausschließende Programme begründet. Im Extremfall werden nur reine formale Elemente akzeptiert. Inhaltliche Referenzen, sinnliche Repräsentationen oder Symbole und Zeichen müssen einer reinen Abstraktion bzw. wie im Minimalismus dem reinen Materialwert weichen. Mit beispielloser Deutlichkeit hat Marcel Duchamp den Bruch mit der Idee des Bildes als Fenster zur Welt markiert. Zum Beispiel mit dem


Werk ‹Fresh Widow› von 1920. Duchamp ließ einen Schreiner eine Miniatur eines französischen Fensters herstellen und beklebte die Scheiben mit schwarzem Leder. Die Aussicht bzw. die Durchsicht war dadurch versperrt. Die Leder, so Duchamp in einem Gespräch 1966, müssten «eigentlich jeden Morgen wie ein Paar Schuhe gewichst werden, damit sie blinken wie richtige Fensterscheiben».3 Das auf Hochglanz polierte Leder wird zur Reflexionsfläche. Duchamp macht ein Fenster und macht seine Hauptfunktion rückgängig, indem er die Scheiben mit Leder verkleidet. Das Fenster erfährt durch die polierte Oberfläche eine Umkehrung und öffnet sich einer geistigen Welt. Es ist eine Absage von dem Sichtbaren oder – mit Duchamp gesprochen – von dem bloß ‹Retinalen›, also von dem, was bloß für die Netzhaut sichtbar ist, was nur das Auge anspricht. Für Duchamp bedeutet diese Einschätzung und Kritik einer einseitigen Kunst des L’art pour l’art den Anfang einer völligen Neudefinition des Kunstwerkes. Er verschiebt das Gewicht von dem Werk auf den Akt der Rezeption als kreativem Akt an sich. Es wird lange dauern, bis dieses Prinzip durchschlägt. Erst im Situationismus der sechziger und siebziger Jahre gewinnt es an Breite und Bedeutung. Duchamp versteht es folgendermaßen: das vom Künstler geschöpfte Kunstwerk ist in einem Rohzustand, ‹á l’état brut›, der vom Zuschauer ‹raffiniert› werden muss:

«Der kreative Akt bekommt einen anderen Aspekt, wenn der Zuschauer das Phänomen der Transmutation erfährt; durch die Wandlung der leblosen Materie in ein Kunstwerk hat eine eigentliche Transsubstantiation stattgefunden, und die Rolle des Zuschauers ist die, das Gewicht des Werks auf der ästhetischen Waage zu bestimmen. Alles in allem wird der kreative Akt nicht vom Künstler allein vollzogen; der Zuschauer bringt das Werk in Kontakt mit der äußeren Welt, indem er dessen innere Qualifikationen entziffert und interpretiert und damit seinen Beitrag zum kreativen Akt hinzufügt. Dies wird noch deutlicher, wenn die Nachwelt ihr endgültiges Verdikt ausspricht und manchmal vergessene Künstler rehabilitiert.»4 Beide von Duchamp geschilderten kreativen Akte, die Transsubstantiation der Materie in ein Kunstwerk und die Rezeption des Kunstwerkes finden sich in Rudolf Steiners Ästhetik. In seinem Vortrag ‹Goethe als Vater einer neuen Ästhetik›, gehalten im Wiener Goethe-Verein 1888 und als Autoreferat publiziert, entwickelte Steiner eine Kritik an der idealistischen Kunstauffassung, wie sie beispielhaft in Schellings Philosophie zum Ausdruck kommt. Für Schelling sei das Kunstwerk nicht an sich durch das, was es ist, schön, sondern dadurch, dass es die Idee der Schönheit abbilde. Der Inhalt der


Kunst sei derselbe wie jener der Wissenschaft. Die Kunst sei somit nicht mehr als die objektiv gewordene Wissenschaft.5 Dagegen formuliert Steiner: «Nicht auf ein Verkörpern eines Übersinnlichen, sondern um ein Umgestalten des Sinnlich-Tatsächlichen» kommt es in der Kunst an. Und weiter heißt es: «Das Wirkliche soll nicht zum Ausdrucksmittel herabsinken: nein, es soll in seiner vollen Selbständigkeit bestehen bleiben; nur soll es eine neue Gestalt bekommen, eine Gestalt, in der es uns befriedigt.»6 Mit dem Umgestalten der Materie ist aber das Kunstwerk nicht fertig. Vielmehr ist damit erst die Vorlage für den zweiten Akt, für die kreative Rezeption, gegeben. Im Zusammenhang mit dem Bau des ersten Goetheanum, mit der plastischen Ausgestaltung der Architektur und mit der Kuppelmalerei entwickelte Steiner eine überraschende Metapher: «Also dasjenige, in dem Sie, wenn Sie in den Bau hineingehen, darinnenstehen, was Sie nicht sehen können, sondern fühlen müssen, das ist es eigentlich, worauf es ankommt. Ich habe schon früher gesagt: Das Prinzip unseres Baues ist das eines Gugelhupftopfes. – Gugelhupftopf ist ein Ausdruck, den man hier nicht gut verstehen wird. Aber denken Sie sich hier einen Topf: das ist die Form, da drinnen backt man einen Gugelhupf. Auf was kommt es denn da an bei diesem Gugelhupftopfe? Es kommt

nicht auf den Topf an, sondern es kommt auf den Kuchen an, dass der eine richtige Form bekommt und in der richtigen Weise drinnen gedeiht. Der Topf muss nur so sein, dass, wenn man Teig hineingießt und ihn bäckt, der Gugelhupf in der richtigen Weise zustande kommt. So kommt es bei unserem Bau auch nicht darauf an, was die Umgebung ist, sondern auf das, was darinnen ist. Und darinnen werden sein die Gefühle und Gedanken derer, die im Bau darinnen sind. Die werden dadurch entstehen, dass der Mensch bis an die Grenze des Baues sieht, dass er die Formen fühlt, und dass er sich ausfüllt mit Gedankenformen. Das, was darinnen ist, das wird der Gugelhupf sein, und das, was wir bauen, ist die Hülle, die Form. Aber die muss so sein, dass das Richtige darinnen gedacht, gefühlt und empfunden wird. Und das ist das Prinzip, sehen Sie, der neueren Kunst gegenüber der alten Kunst. Bei den alten Künsten kam es immer darauf an, was draußen im Raume ist. Bei der neuen Kunst kommt es nicht darauf an, was im Raume draußen ist. Was draußen ist, das ist der Topf, und das, worauf es ankommt, das kann man eigentlich gar nicht machen, sondern das ist darinnen. Das gilt nicht nur in Bezug auf plastische Formen, sondern auch in Bezug auf Malerei. Es kommt auch da nicht darauf an, was gemalt wird, sondern was dabei empfunden und erlebt wird. Auch die Malerei ist bloß ‹Gugelhupftopf›.


Das ist, möchte ich sagen, der Kernpunkt des Evolutionsfortschrittes, in dem wir darinnenstehen, dass wir wirklich – verzeihen Sie den Ausdruck – aus dem Topf in den Kuchen hineinkommen. Im Topfe bleiben heißt Materialismus; in den Kuchen hineinkommen heißt bei uns Spiritualismus, und der ist dasjenige, dem wir entgegenarbeiten. Wenn man das nicht berücksichtigt, wird man auch alles Künstlerische, um das es sich bei uns handelt, nicht in der richtigen Weise beurteilen können. Wenn man künstlerisch unseren Bau nach dem Muster des Alten auffasst, so wird man sagen können: Ja, aber um Gotteswillen, du hast gar keinen schönen Topf gemacht! – Man wird nämlich nicht wissen, dass es auf den Topf nicht ankommt, sondern auf den Gugelhupf. Damit nähern wir uns, mit einem solchen künstlerischen Prinzip, dem ganzen Sinn und der ganzen Bedeutung des Evolutionsfortschrittes durch die Geisteswissenschaft. Der Mensch muss sich durch den Fortschritt der Geisteswissenschaft herausarbeiten aus dem Topf und muss sich in den Gugelhupf hineinarbeiten.»7 In der «neuen Kunst» verschiebt sich der Schwer­punkt von dem Kunstwerk als einem in sich vollkommenen und abgeschlossenen Objekt zu einem Prozessualen, erst durch die Rezeption zu erschließenden und zum Abschluss zu bringenden inneren Vorgang. Zum engeren

Kontext dieses Übergangs zählt die Publikation von Wassily Kandinsky ‹Über das Geistige in der Kunst›, deren erste Auflage im Januar 1912 in München erscheint. Im Sommer 1912 befinden sich Duchamp, Kandinsky und Steiner gleichzeitig in München. Steiner inszeniert die ersten beiden Mysteriendramen und schreibt an dem dritten Drama ‹Der Hüter der Schwelle›, während Duchamp sich in ein minutiöses Studium ‹Über das Geistige in der Kunst› vertieft. Vor allem fasziniert ihn die Farbenkapitel über das ‹geistige Sehen›. Den etwa dreimonatigen Münchner Aufenthalt bezeichnet Duchamp später als seine «vollständige Befreiung».8 Duchamp fand in Kandinskys Kritik an dem L’art-pour-l’art-Prinzip Bestätigung. So stellt Kandinsky fest: «Mit kalten Augen und gleichgültigem Gemüt wird [das] Werk beschaut.» Weiter heißt es: «Die Kenner bewundern die ‹Mache› (so wie man einen Seiltänzer bewundert), genießen die ‹Malerei› (so wie man eine Pastete genießt). Diesen Zustand der Kunst nennt man L’art pour l’art. Dieses Vernichten der inneren Klänge, die der Farben Leben ist, dieses Zerstreuen der Kräfte des Künstlers ins Leere ist ‹Kunst für Kunst›.»9 Es besteht kein Zweifel, dass wir Hannes Weigerts ‹Øya›-Bilder so betrachten müssen: Es sind keine Bilder zum Bewundern und Genießen, so wie man eine Pastete genießt. Es handelt sich



nicht um ‹schöne›, eher um verstörende und schreckliche Bilder. Aber nur wenn man sich auf sie einlässt. Lässt man sich nicht auf sie ein, dann könnte man die Tonalität, zum Beispiel, tatsächlich genießen. Es sind keine Fenster, in die wir hineinschauen oder durch die wir mit gleichzeitiger Bewahrung unserer Sicherheit hinausblicken können. Bei vielen der Bilder könnte eher der Eindruck entstehen, dass es sich um zugemalte Fenster handelt. Das Übermalen ist übrigens eine Praxis, die immer wieder von Hannes Weigert praktiziert wurde.10 Die Fläche wird dadurch betont und erscheint mitunter wie ein Vorhang. Aber ein Vorhang, dessen Hauptfunktion nicht im Zudecken liegt, sondern im Schimmern und Zittern. Die Fläche bekommt Bedeutung an sich. Nicht als bloße Oberfläche, sondern als eine Fläche des Schimmerns. Sie ruft mich in meinem Bewusstsein an einer bestimmten Stelle wach. Dort, wo das Bewusstsein zu ahnen beginnt, dass es hinter sich selbst zurückgehen kann. Insofern sind die Bilder eine Art Umschlagplatz für das Bewusstsein. Hier würde der leider etwas abgenutzte Begriff ‹Schwelle› tatsächlich sehr gut passen. Die Schwelle im geisteswissenschaftlichen Sinn ist der Ort, wo das Bewusstsein abgedunkelt bzw. aufgehellt wird. Es ist der Ort der Entblößung, der völligen Nacktheit, aber zugleich der Ort der Tarnung und des Verhängens. Es ist der Ort der Wende. An der Schwelle steht das Schicksal auf dem Spiel.

Das Bewusstsein ist objektiver geworden – ausgedehnt und perspektivisch verschoben. Die Zentralperspektive ist aufgehoben. Der Bewusstseinsraum dehnt sich zunächst nach hinten aus – als Effekt der Bildbetrachtung. Die Bildelemente, die nicht selten wie ausgespart erscheinen und als Köpfe, Gesichter, Profile, Masken gesehen werden können, sie scheinen oft vor dem ‹Vorhang› zu liegen. Der Raum vor dem Bild – das ist der Bewusstseinsraum – wird gefühlt. Als Betrachter kann ich mich wie hineingedreht erleben. Ist das der Bildraum, von dem Hannes Weigert oft gesprochen hat? Auf seiner Webseite zitiert er eine Werkreihe der schwedischen Künstlerin Cecilia Edefalk, ‹To view the painting from within› von 2002.11 Skulptural anmutende Maskengesichter, die in einer hellblauen, atmosphärisch gemalten Fläche schweben. Auch das sukzessive Drehen der Gesichter im Bild ist in Edefalks Bildern zu sehen. Das Bild von innen sehen, wäre jedoch bei Weigert als eine tatsächliche Bewusstseinserweiterung zu verstehen. Das Bild als Fenster zum Bewusstsein.


1 Mündlich am 22. Januar 2017, Arlesheim. 2 Zitiert aus der «Einführung» von Max Bill, in: Wassily Kandinsky, ‹Über das Geistige in der Kunst, insbesondere in der Malerei›, Sulgen: Benteli Verlag 2013, S. 14. 3 Isabelle Malz, «Die Fenster von Marcel Duchamp. Zwischen ‹Präzisionsmalerei› und ‹Indifferenzschönheit›», in: ‹Fresh Widow. Fenster-Bilder seit Matisse und Duchamp›, hrsg. von der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf: Hatje Cantz 2012, S. 88. 4 Marcel Duchamp, «Der kreative Akt» in: ‹Der kreative Akt. Duchampagne brut›, Hamburg: Edition Nautilus Verlag Lutz Schulenburg 1992, S. 11f. 5 Rudolf Steiner, ‹Kunst und Kunsterkenntnis›, Dornach: Rudolf Steiner Verlag 1985, S. 27. 6 Ebenda, S. 29. 7 Rudolf Steiner, Vortrag vom 21. November 1914, in: ‹Der Zusammenhang des Menschen mit der elementarischen Welt›, S. 127f. 8 Herbert Molderings, «Die Entdeckung des geistigen Sehens», in: Hrsg. Helmut Friedel et al., ‹Marcel Duchamp in München 1912›, München: Schirmer/Mosel 2012, S. 33. 9 Ebenda, S. 24. Im Original in: Kandinsky wie Anmerkung 2, S. 29. 10 Vgl. Hannes Weigert, ‹Kores Haus. Zeichnungen und Übermalungen. Norwegen 1998–2010›, Arlesheim: Nilo Press 2015 11 www.hannes-weigert.com



Hannes Weigert






































































Hannes Weigert, ‹Øya›, 77 Bilder Acryl auf Papier, auf mdf, Maße variierend: 47 × 68 cm bis 59 × 84 cm 22. Juli 2012 bis 4. März 2013, Malerverksted Vidaråsen, Norwegen


Alexander Schaumann

Die Bilder von Hannes Weigert geben Rätsel auf, denn das einzelne Bild, was ist das schon? Ein stumpfes, nur wenig nuanciertes Grau bildet den Hintergrund für eine einzige konturierte Form, die aus zwei nach rechts und einem nach links gewandten Bogen besteht, der manchmal noch dunkel umrandet ist. Selten, dass sich die Farbigkeit steigert. Das Grau wird manchmal zu einem zarten Rosa und zu einem blassen Hellgrün. Deutlicher schon ist eine Steigerung ins Weiß, das im Gegensatz zur Unbestimmtheit des Grau eine deutliche, entgegenkommende Präsenz besitzt. Dem Betrachter fehlt damit der Anhaltspunkt für einen Einstieg. Sein Interesse rutscht am einzelnen Bild gleichsam ab. Kaum aber reiht sich ein weiteres Bild an das erste, ändert sich die Situation. Der Betrachter gewahrt nun Tiefe und Transparenz und ein Sprechen, das sich nur schwer lokalisieren lässt. Sprechen die Bilder selbst oder ist es die Interferenz zwischen den Bildern oder ist es das eigene Innere, das antwortet? Es öffnet sich ein Raum, der von Wesen durchwoben scheint und den Blick in die Tiefe lenkt. Denn in der seltsamen Form erkennt man nun Wange, Schläfe und Ohr eines in die Tiefe blickenden Kopfes. Es entsteht ein Schauen, das zugleich ein Lauschen ist und das von der dunklen Weite des Raumes in Anspruch genommen wird. Wie können derart spröde und unbestimmt erscheinende Bilder derart weitreichende Eindrücke erwecken?


Anlass dieser Bilder ist das Geschehen, das am 22. Juli 2011 die Welt erschütterte. Als selbsternannter Rächer zündete Anders Breivik in Oslo eine Autobombe und schoss anschließend auf der nahe gelegenen Insel Utøya in eine Gruppe junger Leute, die an einem traditionellen Ferienlager der sozialdemokratischen Arbeiterpartei Norwegens teilnahmen. 77 Menschen kamen dabei ums Leben. Für Hannes Weigert wurde aber erst der Jahrestag dieses Ereignisses zum entscheidenden Datum. Ohne einen klaren Vorsatz malte er am 22. Juli 2012 das erste Bild, fasste aber schon bald die Idee, die Reihe auf 77 anwachsen zu lassen. Dabei dachte er lediglich daran, die 77 Personen auf seine Weise gegenwärtig zu machen oder, wie er selbst sagt, «ein Gefühl dafür zu entwickeln und auch zu vermitteln, dass sie noch immer da sind». Welche Krisen und Durchbrüche damit verbunden sein würden, ahnte er damals nicht. Die Geste, mit der das Grau den Blattgrund bedeckt, erinnert mich an Rudolf Steiners Übung zur Inspiration. Das in der Meditation aufgebaute Bild wird ausgelöscht mit der Frage, ob auf anderer Ebene etwas übrig bleibt, ob die Kräfte, die das Bild aufgebaut haben, nun als solche erfahren werden können. Die Diskrepanz zwischen dem Beinahe-Nichts des einzelnen Blattes und der sich im Nebeneinander öffnenden Weite ist erstaunlich. Ist man aber

in diesem Raum etwas heimisch geworden, ist man auch in der Lage, die Bilder neu zu lesen. Die Unterschiede zwischen den Bildern treten hervor. Scheint sich das einzelne Bild infolge seiner Einförmigkeit geradezu zu verschließen, so kann jetzt die Verschiebung einer Kante zum Drama werden. Denn ein Zentimeter scheint gemessen am Gesamtformat gering. Tatsächlich aber scheint sich alles zu verändern. Auf die eine Verschiebung antwortet eine zweite. Es entsteht ein neuer Schwerpunkt. Gesten werden erfahrbar, die eine neue Ausrichtung oder einen Richtungswechsel erkennen lassen. Auch der Grund kann sich verändern, kann sich verschließen, sodass anstelle von Transparenz eine abweisende Dichte entsteht und das Licht nicht mehr aufgesogen, sondern abgewiesen und zurückgeworfen wird. Weil jede Nuance in einem Gesamtzusammenhang wahrgenommen wird, wird sie bedeutend und als eine Veränderung erlebt, die insgesamt Abläufe erkennen lässt. Dabei ist stets die bange Frage zu spüren, ob es gelingt, den inneren Faden zu halten, oder ob er gar schon verloren ist. Immer wieder verschließt sich das Bild. Es kommt zu Fixierungen. Es werden Vorstellungen spürbar, die vom Künstler als Hindernis erlebt werden, an denen sich aber, wie mir scheint, der Prozess doch konturieren und verdichten konnte. Es ist wie in der Meditation, deren Entwicklung


auch nicht geradlinig verläuft. Vielmehr kennt sie Durststrecken, während derer man sich fragt, ob man noch auf dem rechten Weg ist, die dann aber unverhofft zu neuen Ausblicken führen und Erfahrungen zugänglich machen, die so anders sind, dass der Zusammenhang mit den zuletzt gemachten keineswegs auf der Hand liegt. Es kommt zu Wendungen, die verstanden und begriffen werden wollen, was ohne ein fortwährendes Umkrempeln des inneren Koordinatensystems jedoch nicht möglich ist. Blatt 1 ist ein Beispiel für die Einfachheit, die die Schwierigkeit dieser Bilder ausmacht. Hingewiesen auf die Bedeutung der zentralen Form, erkennt man einen in die Tiefe schauenden Kopf, ohne dass sich das Grau tatsächlich öffnen würde. Erst durch den Vergleich mit Blatt 2 beginnen die Nuancen zu sprechen. Man bemerkt nun ein Wandern des Dunkels von rechts nach links. Ebenso scheint das vorher kaum bemerkte Rosa aus dem wolkigen Umkreis in die konturierte Form hinein zu wandern. Das Ohr wird zu einem neuen Schwerpunkt. Es scheint den Kopf im Lauschen nach hinten zu öffnen, nimmt die Sicht in die Tiefe zurück und wendet sie nach innen. Im tätigen Mitvollziehen dieser Veränderungen öffnet sich der beschriebene Raum, an dessen ahnungsvolle, geradezu saugende Weite die Köpfe unverwandt hingegeben sind, bevor Blatt 3 mit seinem viel glatteren, nun wieder

rosafarbenen Grund bereits eine Summe zieht. Mit dem Glanz eines in sich ruhenden Buddhas scheint die verheißungsvolle Tiefe nach vorne geholt und dem Betrachter entgegenzublühen. Blatt 4 lässt dagegen eine erste Verfestigung erkennen. Es wird reicher. Durch einen nur wenig rosafarbenen Streifen am unteren und oberen Blattrand erhält der Kopf einen Hof, der selbst eine gewisse Eleganz und mit seinem Terrakottaton eine fast materielle Präsenz besitzt. Vor allem aber ist die Tiefe ein wenig verschlossen, sodass eine neue Bewusstheit entsteht. Es ist ein Einschlag spürbar, der Erwartung und Anspannung erzeugt und der mit dem Entschluss, die Reihe auf 77 Blätter anwachsen zu lassen, verbunden ist. Das Bewusstsein des Künstlers schafft Komplikationen, mit denen aber auch ein neues Entwicklungspotenzial entsteht. In dieser Weise könnte Blatt für Blatt auf weitere Veränderungen hingewiesen werden. Immer wieder wird man einen Wechsel zwischen Öffnen und Vertiefen einerseits und einem sich verschließenden Konzentrieren andererseits finden, das in größeren und kleineren Rhythmen den Prozess begleitet. Dabei ist es gerade das Öffnen, das Neues zutage treten lässt. So bringt Blatt 7 eine Versunkenheit, die sich suchend verschiebt und vertieft und damit schrittweise das Blatt als Ganzes ergreift. Blatt 14 bringt dann eine neue Wende. Gleich flüssigem Silber


scheint die Gesichtsform aus dem Bild heraus dem Betrachter entgegenzuleuchten. Das Verhältnis zwischen der schauenden Form und der ahnungsvollen Tiefe verändert sich. Die Figur wird aktiver, scheint in Blatt 18 Fragen zu stellen, ja scheint zu einer Ganzfigur zu werden, bis mit Blatt 26 ein neues Schauen erreicht ist. Das unbestimmte Dunkel ist einer seelischen Erfülltheit gewichen, die sich auf eine zweite, lichte Ebene zu öffnen beginnt. Doch schon Blatt 28 zeigt einen neuen Beginn. Die Gesichtsform schrumpft zur Form einer Bohne, deren Glanz eine neues Werden verspricht, aus dem – über eine Arbeitsunterbrechung und ein neues Hineinfinden hinweg – mit Blatt 34 tanzende Wesen hervorgehen. Zugleich entsteht eine neue, man könnte sagen ‹unseelische› Farbigkeit, das Weiß dominiert, sodass unverkennbar eine neue Stufe erreicht ist. Die Gesichtsform wird zur zuckenden Linie, ja droht sich in unzugängliche Bereiche zu entziehen, bis schließlich die entscheidende Wende erreicht ist. Immer wieder entsteht nun auf der linken Seite eine Öffnung, der sich die Figur nach manchem Schwanken zuwendet, bis sie in Blatt 53 aus dem Bild herausschaut und zum Gegenüber wird. Diente die Gesichtsform zunächst als Anhaltspunkt, das Schauen des Betrachters in die Tiefe zu leiten, so hat sich das Schauen des Künstlers nun so weit verdichtet, dass in dem von ihm geschaffenen Raum ein Gegen-

über auftreten kann, das nun zunehmend an Selbständigkeit gewinnt. Die mit Blatt 61 auftretende Figürlichkeit scheint einen geradezu gegenständlichen Charakter zu haben, ist nach all dem Durchgemachten aber nur Ausdruck der gewonnenen Begegnungsfähigkeit. Mit Blatt 69 mündet sie schließlich in einen Jubel der ‹unio mystica›, bevor die folgenden Blätter zu einem Rückblick ansetzen. Es gibt Zählprobleme. Ein paar kleine Arbeiten wurden nicht in die Reihe aufgenommen. Mit ihnen wäre Blatt 73 das letzte. Und tatsächlich bilden die letzten vier ein Kapitel, das sich von dem Vorangegangenen insgesamt unterscheidet. Alles Bisherige war erschaut. Die roten Konturen der Blätter 74 bis 77 ergreifen dagegen das Blatt, sodass dieses selbst eine plastische Körperlichkeit erhält. Mit neu gewonnener Souveränität treten uns Figuren entgegen, die ihr eigenes pulsierendes Leben besitzen. Zeigen die Blätter von Hannes Weigert all das, was mit diesen Worten angedeutet wurde? Ja, insofern sie diese Erfahrungen zugänglich machen. Nein, insofern sie all dies nicht darstellen. Sie schaffen Situationen, deren Durchschreiten es dem Betrachter erlaubt, den meditativen Forschungsweg des Künstlers mit seinen Durchbrüchen und Gefährdungen nachzuvollziehen und sich dadurch auch in der eigenen meditativen Arbeit angesprochen und ermutigt zu fühlen.


Es kommt mir vor wie eine Wendung im Bild. Eine Bewegung, die seit Monaten, Jahren, die Bilder durchzieht. Eine langsame Wendung des Kopfes. Mit ihr einher geht eine Verwandlung des Sehens vom blossen Hinsehen zum fühlenden Schauen. Hannes Weigert, 5. 8. 2011



Für Reidun Larsen Tor Janicki Arnkjell Ruud

Hannes Weigert 1964 in Stuttgart geboren. 1985-95 Studium und Lehrtätigkeit an der Malschule am Goetheanum, Dornach. Lebt und arbeitet seit 1995 in Norwegen. Werke und Projekte: Kores Haus (mit Patrick Müllerschön, 1996-2003), The School of Nature (2003-10), Lichtgold (2009), Malerverksted (seit 2009), Øya (2012-13).



Impressum Publikation zur Ausstellung ‹Brentanos Studio› von Hannes Weigert Goetheanum, Dornach 26. März 2017 bis 7. Januar 2018 Herausgegeben von der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft Sektion für Bildende Künste, Leitung: Marianne Schubert © Texte: Johannes Nilo, Alexander Schaumann · Bilder: Hannes Weigert Fotografien der Werke: Duilio A. Martins · Gestaltung: Philipp Tok Mit Unterstützung der Stiftung Freie Gemeinschaftsbank




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